KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR / LESUNG Titel der Sendung : Grünes Zelt und Zauberort. Der literarische Wald zwischen Sehnsucht und Schrecken AutorIn : Patric Seibel Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 10.1.2012 Regie : Beatrix Ackers Besetzung : 2 Stimmen Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Grünes Zelt und Zauberort. Der literarische Wald zwischen Sehnsucht und Schrecken. Von Patric Seibel Deutschlandradio Kultur: 10.1.2012 Redaktion: Barbara Wahlster Musik: Carl Maria von Weber: Der Freischütz, aus der Ouvertüre, steht kurz, dann während der ersten Zitate langsam herunterblenden Atmo: Wald, Wind, liegt während der vier Zitate unter Zitator (Die vier Zitate in verschiedener Sprechweise/Flüstern etc mit Kreuzblende montieren, evtl. verschied. SprecherInnen) "Es war einmal ein altes Schloss mitten in einem großen Wald, darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberin. Am Tage machte sie sich zur Katze oder Nachteule, des Abends aber wurde sie wieder ordentlich wie ein Mensch gestaltet. Wenn jemand auf hundert Schritte dem Schloss nahekam, so musste er stille stehen und er konnte sich nicht von der Stelle bewegen, bis sie ihn lossprach." "Es war einmal ein König, der hatte einen großen Wald bei seinem Schloss, darin lief Wild aller Art herum. Zu einer Zeit schickte er einen Jäger aus, der sollte ein Reh schießen, aber er kam nicht wieder..." "Hänsel meinte doch, den Weg nach Hause zu finden und zog die Gretel mit sich: aber sei verirrten sich bald in der großen Wildnis, und gingen die Nacht und den ganzen Tag, da schliefen sie vor Müdigkeit ein. Dann gingen sie noch einen Tag, aber sie kamen nicht aus dem Wald heraus..." "Als er an den Rand des Waldes gekommen war, rief er dreimal `Eisenhans`, so laut, dass es durch die Bäume schallte. Gleich darauf erschien der wilde Mann und sprach, was verlangst du?" Sprecher Die Brüder Grimm haben den deutschen Wald weltweit berühmt gemacht. Ohne Märchenwälder sind ihre Märchen nicht vorstellbar. Dort lauern finstere Mächte, Zauberer und Hexen. In den Wäldern müssen sich die Märchenhelden bewähren. Manchmal aber kommt aus dem Wald auch das Rettende: Der Jäger, der Schneewittchen verschont und die Zwerge, die es wieder zum Leben erwecken. Musik: C.M. v. Weber, aus Der Freischütz, aus der Ouvertüre, einblenden, kurz stehen lassen, ausblenden Sprecher Im Wald der Brüder Grimm rauschen keine Blätter. Kein Bach murmelt. In diesem Bannwald weben archaische Kräfte eine Aura unheimlicher Macht, die selbst die Natur versteinert. Zitator "In den Märchen der Grimmschen Sammlung wird kein Wald je beschrieben oder auch nur charakterisiert; und welcher Wald wäre doch so sehr einer wie der aus den Märchen." Sprecher Das schreibt Theodor W. Adorno. In der Tat: Diese Märchenwälder haben sich so sehr ins kollektive Bewusstsein eingepflanzt, dass jeder Spaziergänger eine unausgesprochene aber intuitive Vorstellung von einem Märchenwald hat, auch wenn die Brüder Grimm ihn tatsächlich nirgends in sprachlichen Farben ausgemalt haben. Sie schreiben den Wald gezielt in die Drehbücher ihre Märchen hinein und zwar von Ausgabe zu Ausgabe immer häufiger. Warum das so ist, erklärt Jacob Grimm in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm vom 18. Januar 1805: Zitator "Die einzige Zeit, in der es möglich wäre, eine Idee der Vorzeit, wenn Du willst der Ritterwelt frisch in uns aufgehen zu lassen, wird jetzt in einen Wald verwandelt." Sprecher Die Brüder Grimm siedeln demnach ihre Märchen bewusst in den Wäldern an, um eine stimmige Kulisse für die magischen Erzählungen zu gewinnen. Der Wald wird zum Eingangstor in die von Jacob Grimm als "Ritterwelt" beschriebene diffuse "Vorzeit", in der das Wünschen noch geholfen hat. Der Plan der Brüder Grimm geht auf. Ihr Märchenwald wirkt bis heute als Zauberspiegel. Warum aber zieht der Wald die Leser und Zuhörer der Märchen so verführerisch hinein in seinen dunklen Zeittunnel? Musik Der Freischütz, aus der Wolfsschluchtszene steht kurz, ausblenden Atmo Wald, Wind, liegt unter Sprecher Eine Antwort liegt in der literarischen Romantik. Sie hat den Wald mit einer poetischen Strahlkraft ausgestattet, wie keine andere Literaturepoche vorher oder später. Den Romantikern war der Wald Sehnsuchtsort, wenn auch nicht immer frei von Schrecken. Autoren wie Tieck, Novalis oder Eichendorff beschrieben die Wälder als Gegenwelten zur heraufziehenden Moderne. Während die natürlichen Wälder schrumpften, Götter und Sagengestalten aus ihnen verschwanden, verzauberten die Romantiker den Wald literarisch zum spirituellen Raum. In Novalis´ Romanfragment "Heinrich von Ofterdingen" erscheint der Wald dem Wanderer auf der Suche nach der blauen Blume wie eine hermetische Glocke aus dichtem Laub. Dann öffnet sich der Raum nach oben hin, zu etwas Heiligem: Zitator "Es kam ihm vor, als ginge er in einem dunklen Walde allein. Nur selten schimmerte der Tag durch das grüne Netz. Bald kam er an eine Felsenschlucht, die bergan stieg. Er musste über bemooste Steine klettern, die ein ehemaliger Strom heruntergerissen hatte. Je höher er kam, desto lichter wurde der Wald." Sprecher Mit den Kontrastspielen aus hell / dunkel, dicht und licht greift Novalis auf physikalische Licht- und Schatteneffekte aus dem natürlichen Wald zurück. Dahinter steht eine Erfahrung, die bereits die Menschen des Mittelalters machten: Das typische Raumerlebnis in einem mitteleuropäischen Mischwald ähnelt dem in einer gotischen Kathedrale, deren Säulenwald nach oben zum Licht strebt. Die Romantiker erfanden das Waldmotiv nicht neu, sondern verstärkten und belebten eine reiche und alte Waldtradition in der deutschsprachigen Literatur. Die Deutschen haben ein besonderes Verhältnis zu ihrem Wald und daran sind sicherlich vor allem ihre Dichter schuld. Aber zunächst entsteht und wächst das Waldverhältnis aus historischen geografischen Bedingungen heraus. Auf dem Gebiet des späteren Deutschland gibt es eben viel Wald - schon zur Zeit der ältesten Schriftzeugnisse. So berichtet bereits der Römer Tacitus in seiner Schrift Germania aus dem Jahr 98 nach Christus: Zitator "Zwar unterscheidet sich das Land nach seiner Gestalt durchaus, doch ist es im Allgemeinen entweder von schaurigen Wäldern oder von abscheulichen Sümpfen bedeckt." Sprecher Auch wenn Tacitus diese Wälder nur vom Hörensagen kennt und deren Ausmaß wohl übertrieben darstellte: Die germanischen Wälder prägten für Jahrhunderte die Lebenswelt der Menschen, und damit auch den Erfahrungshorizont der Autoren und Dichter. Drei typische Beschreibungsfelder, die immer wieder auftauchen, entwickeln sich im Schreiben über den Wald. Es sind die drei grünen "Gs": Gottliches, Gefahr und Grenze. Zitator: Das Göttliche: Sprecher Der Wald wird wahrgenommen als göttliches Gebiet, als religiös aufgeladener Raum. Diese literarische Ader führt zur Herzkammer des spirituellen Waldes der Romantik, aber auch zum patriotisch übersteigerten nationalen deutschen Wald. Zitator: Die Gefahr Sprecher Im realen Wald lauern wilde Tiere, Räuber und bewaffnete Horden. Wanderer können sich in ihm verirren. Der vormoderne Glaube an magische Kräfte verdoppelt diese tatsächlichen Gefahrenerlebnisse indem er sie auf übersinnliche Mächte projiziert. Diese wirken quasi als Schatten der Religion im Wald, der dadurch zum magischen und übersinnlichen Gefahrenort wird. Die Magie führt auf den Weg zu den Hexen und Zaubermächten der Märchen. Zitator: Die Grenze Sprecher Wer den Waldsaum überschreitet, verlässt die menschliche Gesellschaft. Viele Erzählungen sprechen vom Wald als Limes, als einer Grenze zu einem Gebiet außerhalb menschlicher Zivilisation. An sie schließen die Brüder Grimm an, die den Wald als Passage in die Vorzeit nutzen. Der Wald verwandelt jeden, der ihn betritt. Seine Grenze führt nicht nur ins Dunkel der Bäume, sondern auch ins Innere der menschlichen Seele. Der Wald steht in vielen Texten Modell für die menschliche Psyche, für dunkle Begierde, verbotene Lust, existenzielle Angst oder tiefe Sehnsucht. Musik aus: Richard Wagner, Siegfried, Waldweben steht kurz, dann herunterblenden Sprecher Für den urdeutschen Helden Siegfried wird der Wald zur tödlichen Gefahr. An einer Quelle im Odenwald wird er von seinem Gegenspieler Hagen ermordet, so erzählt es das Nibelungenlied. Dahinter steht eine höfische Intrige, also Politik. Gegen diese zivilisatorische Macht der Staatsräson ist der Wagnersche Waldheld Siegfried trotz seiner physischen Stärke machtlos. Die Gefahr kommt von außerhalb und ereilt ihn im Waldesinneren. Musik aus Richard Wagner, Parsifal, aus der Ouvertüre steht kurz, liegt unter erstenTextzeilen, ausblenden Sprecher In Wolfram von Eschenbachs "Parzival" finden sich alle drei grünen "Gs": Das Göttliche, die Gefahr, die Grenze. Parzival soll nach dem Plan seiner Mutter Herzeloyde innerhalb der Waldgrenzen aufwachsen und so für immer geschützt bleiben vor Rittertum und Hofleben. Die Grenze zum Wald erweist sich jedoch als durchlässig: Gepanzerte Ritter dringen ein und mit ihnen die höfische Außenwelt. Es gibt aber im "Parzival" noch einen zweiten, magisch-religiösen Wald und dieser ist tatsächlich undurchdringlich: Er erstreckt sich rund um die heilige Gralsburg, 30 Meilen weit. Er bildet eine unüberwindliche Grenze, denn nur der Auserwählte findet den Weg zur Burg. Musik Weber, Freischütz, Wolfsschlucht Sprecher Der Renaissancedichter Dante Alighieri berichtet von einem dunklen Wald voll Furcht und Schrecken. Es ist ein Grenzwald, er führt hinunter in die Unterwelt, zum Tod. Die Verse Dante Alighieris hat ein deutscher Dichter übertragen. In Stefan Georges Worten klingt die Grenzerfahrung so: Zitator "...Es war inmitten unsres wegs im leben - Ich wandelte dahin durch finstre bäume Da ich die rechte strasse aufgegeben. wie schwer ist reden über diese räume. Und diesen wald. Den wilden rauen herben. Sie füllen noch mit schrecken meine träume." Sprecher Aus den Zeilen spricht existenzielle Angst. Der Weg durch diesen Wald führt tief hinab in das eigene Unbewusste. Es ist kein natürlicher Wald, sondern eine versteinerte Landschaft. Nach außen gekehrter Innenraum der verängstigten Seele. So führt Dante schon sehr früh vor, wie der literarische Wald als Grenze zum menschlichen Inneren funktioniert. Musik Aus Robert Schumann Waldszenen, Nr. 4 "verrufene Stelle" steht kurz, herunterblenden Sprecher Immer wieder taucht der Wald als Grenze oder Grenzraum in der Literatur auf. 600 Jahre nach Dante beschrieb ihn er rechtskonservative Autor Ernst Jünger, mit ganz ähnlichen Formeln: Zitator "Der Wald ist das große Todeshaus, der Sitz vernichtender Gefahr. Waldgang ist in erster Linie Todesgang. Er führt hart an den Tod heran, ja, wenn es sein muss durch ihn hindurch. Der Wald als Lebenshort in überwirklicher Fülle erschließt sich, wenn die Überschreitung der Linie gelungen ist.". Sprecher Jünger stilisierte sich zum einsamen Waldgänger, der so seine Subjektivität vor den Zumutungen der Moderne bewahrte. Sein Wald liegt im Innern, ist eine Haltung, eine Bereitschaft zu Guerillakrieg. Zitator "Wald ist in diesem Sinne natürlich überall. Er kann auch in einem Großstadtviertel sein." Sprecher Jünger schloss mit seiner Figur an eine deutsch-patriotische Waldtradition an. Diese hatte bereits im 18. Jahrhundert die Waldgötter durch die "Nation" ersetzt. Das "heilige" wurde "deutsch". Klopstock formulierte: Zitator "O Vaterland! O Vaterland! Du gleichst der dicksten, schattigsten Eichel. Im innersten Hain, der höchsten, ältesten, heiligsten Eiche." Sprecher Zur Zeit der napoleonischen Kriege schwadronieren die Patrioten vom deutschen Waldgemüt und bringen es gegen die angeblich versteinerte, waldlose französische Kultur in Stellung. Später greifen die Nationalsozialisten diese Tradition auf. Die Propaganda erfindet den "ewigen Wald" und lädt ihn ideologisch auf. Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti sieht die deutsche Waldliebe auf fatale Weise mit dem deutschen Militarismus verschwistert: Zitator "Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber es war mehr, als das Heer: Es war der marschierende Wald. In keinem modernen Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben, wie in Deutschland." Sprecher Die völkisch-nationale Indienstnahme des Waldes hat dunkle Schatten auf dessen Image gelegt. Doch in Wirklichkeit ist die Ideologie des Nationalsozialismus in Beton gegossen: Sein Wahrzeichen ist der Bunker, seine natürliche Umwelt die Berge. Die nationale Indienstnahme des Waldes bedeutete eine Verzerrung seines ursprünglich religiösen Bedeutungsgehaltes. Musik Schumann Waldszenen Nr. 1, "Eintritt" steht kurz, herunterblenden Sprecher Das "Göttliche" des Waldes greift die Romantik verstärkt auf. Der Wald bekommt eine Aura. Wenn wir diese mit Walter Benjamin verstehen als Erscheinung einer Ferne, so nah diese auch sein mag, finden wir die Aura im Waldinnern tatsächlich: Weil die hintereinander gestaffelten Bäume und Lichteinfälle den Raum begrenzen und ihn gleichzeitig aufschließen. Er ist Ferne und Nähe zugleich. Musik Schumann, aus Waldszenen Nr. 1 "Eintritt" steht kurz, herunterblenden Zitator (Die beiden Zitate in verschiedener Sprechweise/Flüstern etc mit Kreuzblende montieren, evtl. verschied. SprecherInnen, s.S.1) Zitator "Das Grün des Waldes, die lichte Dämmerung, das heilige Rauschen der mannichfaltigen Wipfel, alles dies zog mich von frühester Jugend wie mit Zauber in diese Einsamkeit. Wie gern verirrte ich mich, verlor mich schon als Knabe in jenem Walde meiner Heimat." Zitator: "Ich ritt fort und rettete mich in die Dämmerung des Waldes hinein...in der Nacht tönte der Lauf der Bergquellen in mein Ohr, die Winde rauschten durch die Bäume, der Mond stieg herauf und ging wieder unter: alles, die ganze Natur in freier, willkürlicher Bewegung, nur ich war gefesselt." Sprecher Ludwig Tieck ist einer der ersten, die den romantischen Dichterwald populär machen. In mondbeglänzten Zaubernächten setzt dort die romantische Seele zu Höhenflügen an. Der Wald erscheint als Gegenentwurf zur Zivilisation. Tieck prägt die Formel von der "Waldeinsamkeit". Sie wird rasch populär: Zitator: "Waldeinsamkeit, Die mich erfreut / So morgen wie heut / In ewiger Zeit/ O wie mich freut Waldeinsamkeit." Musik: Schumann Lied "Waldeinsamkeit" hochblenden, kurz stehen lassen Sprecher Tieck greift seinen eigenen Slogan von der Waldeinsamkeit 40 Jahre nachdem er ihn erfunden hat, wieder auf. In der gleichnamigen Novelle wird der Begriff zum Werbeslogan in einer Immobilienanzeige. Zitator "Wo ein Gut angeboten wird, ... und indem der Verkäufer das Haus, den Garten und die Äcker beschreibt, fügt er hinzu, es finde der Liebhaber zugleich hinter dem Gemüsegarten eine sehr vortreffliche Waldeinsamkeit." Sprecher Jetzt ist sie von dieser Geschäftswelt absorbiert. Tieck erteilt in diesem Spätwerk dem Wald als Ort der besseren Welt eine Absage. Seine sinnliche Qualität ist zum Niveau eines Reklamebildes herabgesunken. Musik: Lied: Mendelssohn-Bartholdy: "Wer hat dich du schöner Wald aufgebaut so hoch da droben", etwas stehen lassen, dann herunterblenden Sprecher Joseph von Eichendorff, von dem diese Verse stammen, ist der populärste der deutschen Walddichter. Felix Mendelssohn-Bartholdy hat viele seiner Lieder vertont. Sie gehören bis heute zum Repertoire deutscher Männergesangvereine. Doch Eichendorff war in seinem Dichterwald nicht wirklich zu Hause. Nach Adornos Einschätzung war er kein Dichter der Heimat, sondern einer des Heimwehs. Zitator: "O Täler weit, o Höhen, O schöner, grüner Wald, Du meiner Lust und Wehen Andächt'ger Aufenthalt! Da draußen, stets betrogen, Saust die geschäft'ge Welt, Schlag noch einmal die Bogen Um mich, du grünes Zelt!" Sprecher Eichendorffs Wald biete keine dauerhafte Zuflucht. Viel mehr bleibt er als Sehnsuchtsort zurück. Die Zeilen "schlag noch einmal die Bogen, um mich du grünes Zelt", deuten es an: Es heißt Abschiednehmen. Die Fortsetzung des Gedichts lautet: Zitator: "Bald muss ich dich verlassen. Fremd in der Fremde gehen. Auf buntbewegten Gassen Des Lebens Schauspiel sehn, Und mitten in dem Leben Wird deines Ernsts Gewalt Mich Einsamen erheben, So wird mein Herz nicht alt." Sprecher Der Wald Eichendorffs ist ein Gedankenraum. Er hat spirituelle Kräfte. Nichts ist Eichendorff ferner, als die forstwirtschaftlich genaue Beschreibung. Sein Phantasiewald beschwört das romantische Biotop der Poesie. Der Dichter trägt ihn mit sich durch die buntbewegten Gassen der Welt, gleichsam wie einen grünen Mantel um die Schultern geworfen. Musik: Schumann, Waldszenen Nr. 9, "Abschied" kurz stehen lassen, herunterblenden Zitator "Nun war einmal eine Jungfrau, die hieß Jorinde, sie war schöner als alle andere Mädchen, die, und dann ein gar schöner Jüngling namens Joringel, hatten sich zusammen versprochen. Sie waren in den Brauttagen, und sie hatten ihr größtes Vergnügen eins am andern. Damit sie nun einmalen vertraut zusammen reden könnten, gingen sie in den Wald spazieren. Hüte dich, sagte Joringel, dass du nicht so nahe ans Schloss kommst." Sprecher Das vielleicht schönste der Grimmschen Märchen, Jorinde und Joringel, versammelt beinahe idealtypisch die verschiedenen Waldmotive. Eine mächtige Zauberin wohnt in dem alten Waldschloss. Sie verwandelt alle Jungfrauen, derer sie habhaft wird, in Nachtigallen und sperrt sie in Käfige. Hinter einer Grenze lauert die mit der Sexualität verbundene magische Gewalt. Es sind Jungfrauen, die die Zauberin verzaubert. Eine Ahnung des Schreckens ergreift Pflanzen, Tiere und die Liebenden. Mit großer literarischer Kraft webt das Märchen den Zauberbann zwischen Blätter und Stämme: Zitator "Es war ein schöner Abend, die Sonne schien zwischen den Stämmen der Bäume hell ins dunkle Grün des Waldes und die Turteltaube sang kläglich auf den alten Maibuchen. Jorinde weinte zuweilen, setzte sich hin im Sonnenschein und klagte. Joringel klagte auch. Sie waren so bestürzt, als wenn sie hätten sterben sollen: sie sahen sich um, waren irre, und wussten nicht, wohin sie nach Haus gehen sollten. Noch halb stand die Sonne über dem Berg, halb war sie unter. Jorinde sah durchs Gebüsch, und sah die alte Mauer des Schlosses nah bei sich, er erschrak und wurde todbang." Sprecher "Jorinde und Joringel" ist insofern eine Ausnahme unter den Märchen der Grimmschen Sammlung, als hier der Wald tatsächlich genauer beschrieben wird. Vielleicht nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass es aus der Feder eines Försters stammt, der mit den Augen seines Berufsstandes den Wald wahrnimmt. Musik Schumann Waldszenen, Nr. 1 einblenden, kurz stehen lassen, ausblenden Sprecher Im Gegensatz zu den vormodernen und verzauberten Wäldern der Brüder Grimm sind im Märchenwald Wilhelm Hauffs magische und reale Welt miteinander verschränkt. ATMO: Sturm, Äste fallen, Bäume ächzen Zitator "Draußen im Wald heulte der Sturm und raste in den Tannen; man hörte da und dort sehr heftige Schläge, und es schien oft, als ob ganze Bäume abgeknickt würden und zusammenkrachten. Die furchtlosen Jungen wollten hinaus in den Wald laufen und dieses furchtbar schöne Schauspiel mit ansehen, ihr Großvater aber hielt sie mit strengem Wort und Blick zurück. Ich will keinem raten, dass er jetzt vor die Tür geht, rief er ihnen zu, bei Gott, der kommt nimmermehr wieder, denn der Holländermichel baut sich heute Nacht ein neues Floß im Wald." Sprecher Im Märchen "Das kalte Herz", erschienen im Jahr 1827 und damit vor Grimms Märchen, ist der Schwarzwald ein realer Wirtschaftsraum mit Holzhandel, Glasbläserei, Uhrmachern und Kohlenmeilern. In dieser Kulisse hausen Waldgeister: Der böse Holländermichel und der gute Geist: das Glasmännlein. Sie greifen den Menschen helfend unter die Arme. Der Holzfäller Holländermichel mit Geld, das Glasmännlein mit abstrakten Gaben. Sie sind in verschiedenen Teilen des Schwarzwaldes angesiedelt und durch magische Grenzen voneinander getrennt. Der Märchenwald Wilhelm Hauffs trägt neben den magischen auch moderne Züge. Seite an Seite mit den Geistern leben die Menschen und üben ihre Gewerbe im Wald aus. Musik Schumann, aus Waldszenen Nr. 5, "freundliche Landschaft", kurz stehen lassen, ausblenden Zitator (Zitate mit Kreuzblende) "Die vielzweigige Erle geht am Wasser hin." Zitator "Die leichte Buche mit den schönfarbigen Schaften." Zitator "Die feste Eiche." Zitator "Die schwankenden Halme der Fichten stehen gesellig, und plaudern bei gelegentlichen Windhauchen." Zitator "Dunkle Tannen und lichtere Buchen schritten fast bis an seinen Wagen heran." Sprecher So farbig wie Adalbert Stifter schildert kein Autor die Wälder. Sie wirken wie eine literarische Fototapete. Realistisch, mit Förstern und Waldarbeitern bevölkert. Er selbst hat sich ohne Erfolg um eine Försterstelle beworben. Stifter wird gefeiert als Meister des "trompe-l´oeil", also für seine Fähigkeit, wie die Maler das menschliche Auge zu täuschen und dreidimensionale Räume zu erschaffen. Musik liegt leise unter , C.M. v Weber, Der Freischütz, aus der Ouvertüre Sprecher Stifter vergleicht seine Wälder mit Tuch, Band, Feengürtel, Teppich, Samtkissen. Sie fallen wie Talare, breiten sich wie Spitzengewebe. Sie sind ihm Perlenflor und Lichtschleier: Metaphern aus dem Juweliergeschäft und dem aristokratischen Salon. Bei aller sprachlichen Veredelung geht es in den Stifterschen Wäldern letztlich doch realistisch zu. Sie bieten keinen Rückzugsraum vor den Zumutungen der Welt. Auch bei Stifter fällt ein "Waldgänger" aus dem Rahmen, also ein Mann, der nur zum Vergnügen im Forst flaniert. Die Anrainer betreten den Wald nicht freiwillig ... Zitator "außer wenn das Holz ausgetheilt und angewiesen wird, wenn sie Schwämme oder Beeren oder Feuerschwamm suchen, und endlich, wenn der eine oder der andere ein Jagdfreund ist, und von den Jägern im Herbste eingeladen wird..." MUSIK C.M. v. Weber, aus: Der Freischütz, Jägerchor Sprecher Im zwanzigsten Jahrhundert ist der Wald ein Freizeitort geworden. Aus der romantischen Erhebung wird Erholung. Zitator "Ach ist das schön hier im Wald so am sonnigen Morgen. Ist das schön, frei zu sein. Mag jetzt eine Seele an mich denken. Mag sie oder mag sie nicht, jedenfalls denkt die meinige an gar nichts." Sprecher Im Jahr 1906 beschreibt der Schweizer Robert Walser in seinem Roman "Geschwister Tanner" den Wald als Ort zum Atmen, als Zuflucht vor entfremdeter Arbeit, vor Technik und Großstadt. Die literarische Beschäftigung mit dem Sujet lichtet sich merklich. Die Stadt und ihre teils verstörende Vielfalt rückt in den Vordergrund. Wer den Wald besingt, findet die Motive allesamt im literaturhistorischen Bestand. Doch wie die Darstellungen auch ausfallen mögen, sie lassen sich wie die ihrer Vorgänger auf die drei Archetypen der Waldbeschreibung zurückführen: das Göttliche, das Gefährliche, die Grenze. Musik Débussy Feuilles Mortes (oder Ravel Sérénade Grotesque) stehen lassen, ausblenden Sprecher Wald als gesellschaftliche Metapher in stilistisch erlesener Form und reich an traditionellen Bedeutungsinhalten findet sich auch bei einem Autor, bei dem man es nicht vermuten würde, nämlich bei Marcel Proust. Im zweiten Band der "Suche nach der verlorenen Zeit" verlässt der Wald seinen geografischen Platz und wird zur Aura einer adligen Dame. Zitator "Madame de Guermantes hatte sich gesetzt. Ihr Name mit dem dazugehörigen Titel setzte ihrer Person jenen herzoglichen Charakter hinzu, der sie inmitten des Salons und auf ihrem Seidenpuff gloriolengleich mit der grüngoldenen Kühle der Guermantesschen Wälder umwob." (Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band II; Übersetzung: Eva Rechel-Mertens, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2000) Sprecher Proust geht den umgekehrten Weg wie Adalbert Stifter. Hatte dieser die Accessoires für seine Waldbeschreibungen aus den adligen Salons entwendet, bringt Proust den Wald aus der Natur in den Salon. Doch die Ahnengalerie der Guermantesschen Wälder reicht viel weiter zurück als zu Stifter. Es sind die undurchdringlichen Wälder der Gralsburg aus dem Parzival. Niemals nämlich gelingt es dem Ich-Erzähler, das Schloss der Guermantes aufzusuchen, so oft er auch die Gegend durchstreift. Musik s.o. stehen lassen, herunterblenden Sprecher Neben dem Dichterwald existiert im zwanzigsten Jahrhundert der natürliche Wald weiter. Aber er ist bedroht: Durch sauren Regen, durch menschliche Naturzerstörung. Mit der Sensibilisierung für Umweltschutz und Ökologie rückt er in den 80er-Jahren ins Zentrum apokalyptischer Szenarien. Wie in Günter Grass`Roman: "Die Rättin" . Zitator: "Abschied vom Kreuzweg im tiefen Wald. Abschied von den Wurzeln, gekrümmt, darüber zu stolpern und endlich ein Vierblatt, das Glück, zu finden. Zum Schluss verabschieden wir uns von den streitenden Wegweisern und vom Gasthof zum Wilden Mann, vom steigenden Saft und vom Grün, vom fallenden Laub und allen Briefen, die so beginnen. Gelöscht wird, was geschrieben steht über den Wald und die Wälder hinter den Wäldern. Kein Schwur in Rinden geschnitten. Nie wieder lehrt uns der Kuckuck zählen. Ohne Märchen werden wir sein." Sprecher Das "Waldsterben" bedroht als eine Art Götterdämmerung der Bäume nicht nur den mitteleuropäischen Forst, sondern das deutsche kulturelle Erbe insgesamt. Musik ??? Sprecher Einen weniger apokalyptischen Zugang zum ökologischen Dichterwald wählt der provenzalische Autor Jean Giono. In der Geschichte vom Mann, der Bäume pflanzte, erzählt er eine grüne Utopie. Zitator "Nach dem Mittagsmahl nahm er die Arbeit wieder auf. Da ich eindringlich fragte, erzählte er mir ein wenig. Er pflanzte nun seit drei Jahren Bäume in dieser Einöde. Er hatte bisher schon hundert Tausend gepflanzt. Davon trieben etwa zwanzigtausend aus. Er rechnete damit, die Hälfte davon durch Nagetiere oder durch Unvorhergesehenes zu verlieren. Das ergab, dass dort, wo vorher Wüste war, nun zehntausend Eichen wuchsen." Sprecher Nach Jahren hat Gionos Einsiedler Quadratkilometer von toten Steinflächen in einen lebendigen Wald verwandelt. Musik Schumann Waldszenen Nr. 5, "Freundliche Landschaft", kurz, dann herunterblenden Sprecher Der Blick auf den Wald in der Literatur ist nüchtern geworden. Seine zeitgemäße Rolle spielt er als ökologischer Faktor des Weltklimas und als Rückzugsraum für Freizeitwanderer. Die letzten sagenhaften Spuren von Übersinnlichem scheinen verdunstet. Die schwedische Autorin Kerstin Ekman versucht, sie zu retten. Sie hat aus ihrem eigentlich als Sachbuch konzipierten Werk "Der Wald" ein Brevier für aufgeklärte Naturmystiker des 21. Jahrhunderts gemacht. Zitator "Und gibt es aus dem Dilemma unserer Zivilisation keine Erlösung, so gibt es zumindest noch alles, was ich sehe, und dann haben der Wald und die Wiese ein Auge bekommen. Dass ich einen Ort gefunden habe, wo ich keine Angst mehr zu haben brauche! Viele würden die Angst gern loswerden. Wir haben genauso viele Gründe, uns zu fürchten, wie die Menschen des Mittelalters. Mögen Magie, Psychotherapie, Beschwörungen und Psychopharmaka helfen oder nicht. Und heute wie damals bewaffnet man sich. Zwischen den Bäumen hört alle Angst auf. In der schummrigsten Nacht." 1