COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 16. Juli 2012, 19.30 Uhr Aufbegehren gegen Ausverkauf. Die Zukunft der Städte in Deutschland Von Ruth Jung Atmo Stadtgeräusch 1. O-Ton Christoph Twickel, Hamburg Die Stadt ist ja immer auch ein Versprechen und wir wehren uns dagegen, dass dieses Versprechen mehr und mehr an hohe Einkommen geknüpft wird und sagen: die Stadt muss für alle da sein, weil die Städte eben die Orte sind, wo sich ganz viele Leute auch hinbewegen, weil sie sozusagen Anteil nicht nur an der ökonomischen Potenz von Städten haben wollen, sondern weil sie auch lebensweltlich dort sich verorten, weil sie dort eben andere Lebensmodelle entdecken, freier sein können. 2. O-Ton Berthold Vogel Ich glaube, das ist eine große Errungenschaft der europäischen Städte generell, dass die Stadtentwicklung immer mit einem Integrations- und einem Ausgleichsversprechen verbunden war. Musik Unter Ansage Aufbegehren gegen Ausverkauf Die Zukunft der Städte in Deutschland Ein Feature von Ruth Jung 3a O-Ton Tim Schuster draußen Das Gebäude ist zum einen denkmalgeschützt, also eigentlich dürfte es gar nicht abgerissen werden, das ist aber natürlich kein Hindernisgrund, und es steht für nen ganz bestimmten, auch architektonischen Aufbruch nach dem zweiten Weltkrieg Sprecherin: Eine Ortserkundung auf dem Gelände der 1914 gegründeten Goethe-Universität im Frankfurter Stadtteil Bockenheim. Tim Schuster steht vor einem Ende der 50er Jahre errichteten Zweckbau, dem sogenannten Philosophicum: Theodor W. Adorno hatte hier sein Arbeitszimmer. Weiter 3b O-Ton Tim Schuster Der Skandal ist eigentlich, dass dieses Gebäude seit zehn Jahren leersteht. Seitdem die Institute auf den IG-Farben-Campus im Westend gezogen sind, steht das Gebäude leer und wenn man bedenkt, wie viel Raum in Frankfurt gebraucht wird, Wohnraum zum einen, zum anderen eben aber auch Raum für Künstler und einfach Freiraum in der Stadt, ist es ein ziemlich großer Skandal, dass das Gebäude seit zehn Jahren leer steht und auch ziemlich heruntergekommen. Sprecherin: Tim Schuster, Anfang Dreißig, wohnt in Bockenheim, gerade hat er hier sein Studium mit der Promotion abgeschlossen. 4. O-Ton Tim Schuster Ich bin aktiv in der Gruppe, die sich für den Erhalt des Studierendenhauses einsetzt und dort ein offenes Haus der Kulturen machen möchte, ein selbstverwaltetes und offenes Haus. Gleichzeitig sind wir Teil des Netzwerks "Wem gehört die Stadt". Und dieses Netzwerk besteht aus ungefähr 20 Gruppen, sehr unterschiedlichen Gruppen teilweise, die auch schon länger bestehen und die sich jede auf ihre Weise auch mit dem Thema Stadt auseinandersetzen. Es sind einmal die steigenden Mieten und die zunehmende Schwierigkeit von vielen gesellschaftlichen Gruppen, in der Stadt überhaupt noch zu wohnen, leben zu können. Sprecherin: 2017 soll der Umzug aller Uni-Institute auf den neuen Campus im Westend abgeschlossen sein. Moderner Bürokomplex, Kulturcampus, bürgerfreundliches Wohnquartier ? - was aus dem 16 Hektar großen Areal in dem attraktiven Stadtteil nahe der Internationalen Messe werden soll, darüber streiten Politiker, Stadtplaner, Investoren einerseits und aufgebrachte Bürger andererseits. Deutsche Metropolen verändern sich derzeit rasant. 5. O-Ton Dieter Bartezko, Architekturkritiker Ja, da haben wir in Frankfurt eine spezielle, aber für ganz Deutschland glaube ich charakteristische Situation, dass im Moment in Frankfurt alles, was an Städteplanung und an städtischen Bauten erfolgt ist in den 50er und 60er Jahren mehr oder weniger radikal und brutal abgerissen wird, dass also die Stadt sich im Moment fast von Grund auf erneuert und das nicht immer zu ihrem Besten. Sprecherin: "Wir hausen im Land der Niederreißer", bedauert Dieter Bartezko, Architekturkritiker und Feuilleton-Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 5b O-Ton Dieter Bartezko Was Sie jetzt direkt für die Situation im Moment ansprechen, ist auch ein Trend, bei dem Frankfurt selbstverständlich wieder einmal Vorreiter ist, aber ein allgemeiner Trend, eine Nivellierung der Architektur im Sinne von International Style, die jetzt erfüllt, was eigentlich in den 20er Jahren ein Traum war und jetzt zum Alptraum wird, dass tatsächlich alle großen, in irgendeiner Weise bedeutenden Städte auf der ganzen Welt sich zunehmend ähneln und auch zunehmend brutal vorgehen oder umgehen mit der Bevölkerung. 6. O-Ton Tim Schuster Bevor diese Idee mit dem Kulturcampus kam, hatte die Stadt den Plan, 60 Prozent Büros und nur 30 Prozent Wohnen hier auf dem Campus zu entwickeln, der Büromarkt ist zusammengebrochen, sie kriegen die Erlöse, die sie kalkuliert haben nicht, und in dem Moment kam dann die Idee dieses Kulturcampus ins Spiel ‚wir wollen hier ein kulturelles Leuchtturmprojekt', so wird's immer genannt, ‚machen' Das wird von der Stadt auch relativ offen sogar gesagt, da ist die Kultur ein Imagefaktor für eben den Verkauf von hochpreisigen Wohnungen und Büros. 7a O-Ton Anette Mönich Da wird ein neuer Stadtteil entstehen und da war von Anfang an absehbar, dass, wenn wir uns da nicht massiv einmischen, es zu einer Aufwertung dieses Stadtteils kommt. Sprecherin: Anette Mönich, Initiatorin des Stadtteilbüros der Bürgerinitiative Zukunft Bockenheim. 7b O-Ton Anette Mönich Die Stadt möchte da auch Wohnungen bauen, aber es ist immer wieder das gleiche, wir sind für erschwinglichen Wohnraum für mittlere und untere Einkommensgruppen und das Interesse der Stadt ist, immer wieder teuer zu bauen. Sprecherin: Für immer mehr Stadtbewohner sind steigende Mieten das Hauptproblem. 8. O-Ton Anette Mönich Was in Frankfurt neu ist, das ist, dass Lagenzuschläge erhoben werden, die sich nicht dadurch auszeichnen, dass man sagt, das ist eine gute Lage, weil da ist es schön ruhig oder grün, Rasen, ist halt schön, sondern diese Lagenzuschläge werden nur noch danach vergeben, wie die einzelnen Stadtteile zu dem Zentrum stehen und wie in den letzten Jahren dort Eigentumswohnungen verkauft werden konnten. Sprecherin: Die Bürgerinitiative kämpft gegen den neuen Mietspiegel und die bislang bundesweit einmalige Praxis, für innenstadtnahe Viertel pauschal Zuschläge verlangen zu können. 1. Atmo türkischer Markstand Bockenheim 9. O-Ton Ingrid Hanuk, Rentnerin, Bockenheim Bockenheim ist gemütlich. Ma fällt aus der Tür, ma hat Cafés, ma hat zum Einkaufen, ma hat seine Freunde da, die Buga ist der Nähe für die Hunde oder man setzt sich ma zum Kaffeetrinken auf die Leipziger, man trifft immer jemand, das ist einfach schnuckelig gemütlich. Sprecherin: Ingrid Hanuk wohnt seit 16 Jahren in Bockenheim, ist Mieterin einer Zweizimmerwohnung bei einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft. 10. O-Ton Ingrid Hanuk Ich wohne in der großen Seestraße hier ums Eck in Bockenheim und meine Miete die hat sich erhöht von 460 auf 544, also das sind etwas über 80 Euro, 20 Euro fallen auf die Umlagen, die sich natürlich auch sofort erhöht haben und 60 Euro auf die Miete und das ist ein ganz schöner Prozentsatz, wenn man ne kleine Rente hat. 11. O-Ton Anette Mönich Viele Blocks aus den 60er Jahren sind hier in Bockenheim betroffen, und deswegen hat auch der Widerstand gerade in Bockenheim begonnen, weil wir haben hier sozusagen den zweithöchsten Zuschlag hier 1,24 Euro pro Quadratmeter, jetzt 1,29 Euro ab Juni durch eine erneute Erhöhung durch die Stadt, ganz pauschal, der Hausbesitzer muss nichts dafür tun, nur die Tatsache, dass das zum Kerngebiet Bockenheims gehört und dadurch als ne interessante Immobilie oder als interessantes Grundstück muss man wohl eher sagen, betrachtet werden kann, kann jetzt die Miete erhöht werden und wurden auch Mieten erhöht, und zwar massenhaft vor allen Dingen durch die Wohnungsbaugesellschaften. Die großen Wohnungsbaugesellschaften in Frankfurt wie GWH, wie die ABG Holding, eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Stadt Frankfurt. Ausgerechnet in den Straßenzügen, wo früher Sozialwohnungen, die mittels städtischer Gelder auch entstanden sind, wo die stehen, wo ganze Blocks stehen, da wurde sozusagen alles, was möglich war an Mieterhöhungen vorgenommen. 12. O-Ton Ingrid Hanuk Wie lange kann man die Erhöhung noch mitmachen. Das geht nicht mehr allzu lange hier, so wie die Frau Mönich sagte, wird's noch mal um vier Prozent erhöht, ja, dann wird nächstes oder übernächstes Jahr wieder erhöht und dann ist Sense. Das ist das, was ich immer moniere hier, gell, dass ich immer sag: es sind zu wenig, die aufstehen. 13. O-Ton Anette Mönich Was ich jetzt auch an dieser Politik so irritierend finde, wirklich, dass da Visionen von einer Global City existieren, die eigentlich nichts mit den Lebenszusammenhängen der Frankfurter Bürger zu tun haben. Sie machen auch was daraus, was auch für reiche Leute, die in so einer Stadt wohnen wollen, stinklangweilig is. Es können keine funktionierenden Strukturen auf diese Art und Weise entstehen und es kann auch für die neu hinzugekommenen Bürger, die vielleicht ein bisschen mehr verdienen, ist das eigentlich uninteressant so was, weil es eigentlich kein soziales Leben mehr ist, ist nicht mehr urban, sondern es sind nur noch irgendwelche Wohnkästen mit Spezialeinrichtungen, wo die Leute sich dann gegenseitig anöden. Sprecherin: Im November 2011 endete eine öffentliche Veranstaltung in Bockenheim mit einem Eklat. Aufgebrachte Bürger protestierten lautstark gegen die Stadtverordneten und die Oberbürgermeisterin, die Versammlung wurde aufgelöst. Die Aktivisten des Netzwerks "Wem gehört die Stadt" prangerten die "neoliberale Umgestaltung des öffentlichen Raums" an. Die damalige Oberbürgermeisterin Petra Roth, CDU, versprach, die "Bürger mitzunehmen". Planungswerkstätten wurden eingerichtet. 2. Atmo Baustelle Frankfurt am Main, Baustelle Skyline-Plaza, Europa-Viertel Sprecherin: Überall in Frankfurt, wie hier auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs nahe der Messe, ist Baulärm allgegenwärtig. Als Krönung des neuen Europa-Viertels entsteht ein riesiger Glasturm, Skyline-Plaza mit Einkaufs- und Kongresszentrum. Die Bewohner des angrenzenden alten Arbeiterviertels Gallus werden nach und nach vertrieben. 1.650 Euro warm kostet eine nagelneue Dreizimmerwohnung im Europa- Viertel. Wer kann sich das leisten? Atmo hoch 14. O-Ton Susanne Heeg Es gibt eine junge, strebsame Schicht, die auf den sozialen Aufstieg schielt und diese junge Schicht, die ist vor allem jene, die den innerstädtischen Wohnraum nachfragt. Sprecherin: Susanne Heeg ist Professorin für geographische Stadtforschung am Institut für Human-Geographie an der Goethe-Uni. Sie beschäftigt sich mit Folgen der neoliberalen neuen Raumordnung und der Funktion von Global Cities. 15. O-Ton Susanne Heeg Das ist ein neuer Städtetypus, der mit der Liberalisierung der Weltwirtschaft entstanden ist. Das Entscheidende ist, dass im Zuge der Liberalisierung von Märkten, insbesondere von Finanzmärkten, Handel weltweit stattfindet, Produktionen weltweit verlagert werden können, Direktinvestitionen weltweit stattfinden können. Und das zu koordinieren, also das Kontroll-, Koordinations- und Managementpotential dafür sitzt in Global Cities. Global Cities wie London, Tokio, New York als die erste Sahne der Städte und darunter liegen weniger wichtige, aber trotzdem noch als Global City bezeichnete Städte und dazu gehört auch Frankfurt. Sprecherin: Der Umbau der Städte orientiert sich vor allem an den Bedürfnissen einkommensstarker Schichten, aber das gilt nicht nur für Global Cities. 16. O-Ton Susanne Heeg Wie gesagt, können sie Gentrifizierung auch in kleineren Städten wie Halle, Leipzig oder Dresden erleben, das sind alles Städte, wo man nicht davon ausgeht, dass es Global Cities sind. Insofern haben wir mit Gentrifizierung gegenwärtig ein Phänomen, was viele Städte weltweit erfasst und was bedeutet, dass innerstädtische Wohnräume wieder erkannt werden, wahrgenommen und wertgeschätzt werden und zwar insbesondere von diejenigen, die es sich auch leisten können. Die Investoren unterscheiden sich. In Halle werden es eher regionale Investoren sein, in Frankfurt sind es tatsächlich internationale Investoren. Sprecherin: Riverside Financial District, Europa-Viertel, Maintor, Goethe-Plaza. Schillernde Namen für Großprojekte, die alle dasselbe versprechen: Glaspaläste mit Luxuseigentumswohnungen, Büros und Geschäften. 17. a O-Ton Dieter Bartezko Die Gentrifizierung ist eines der größten Probleme und wird noch sehr viel problematischer werden, weil mit dem Fertigstellen der neuen EZB, auch eine äußerst attraktive Architektur, aber eine, die auch so in Shanghai stehen könnte, in Hongkong oder in London, mit der Vollendung dieser EZB wird sich wieder ein neuer Zug von den Nomaden hierher bewegen und das wird eine neue Welle der Vertreibung auch bedeuten für Bewohner. Sprecherin: Sagt der Publizist Dieter Bartezko. 17. b O-Ton Dieter Bartezko Und wenn da nicht ein Ausgleich auf Dauer geschaffen wird, könnten auch die Verhältnisse sich zuspitzen wie sie sich beispielsweise zeitweise in Paris in letzter Zeit zugespitzt haben. Sprecherin: Gentrifizierung ist zu dem Reizwort geworden. Gentry bezeichnet im Englischen den niederen Adel. 18a O-Ton Christoph Twickel Gentrifizierung ist eine Maschinerie, die die Teilhabe an der Stadt an Geld und Herkunft festmacht oder über Geld und Herkunft regelt. Sprecherin: Christoph Twickel, Journalist in Hamburg und Autor der Streitschrift Gentrifidingsbums oder eine Stadt für Alle. 18b O-Ton Christoph Twickel Gentrifizierung ist derzeit das vorherrschende Stadtentwicklungsrezept, mit dem unsere Politiker die Städte und ihre Einwohner und Einwohnerinnen drangsalieren und insofern auch ein extrem relevantes Thema für uns alle, weil wir alle damit konfrontiert sind, dass Politiker glauben, mit der Aufwertung der Städte wären sie fein aus dem Schneider, also die Aufwertung unserer Städte würde irgendwelche Probleme lösen. Die Idee, so wird es uns zumindest verkauft, ist ja immer, wenn Leute mit mehr Geld kommen, weil etwas attraktiver wird, dann haben alle was davon, weil dann die Städte oder die Stadtteile, die entsprechenden Viertel, ein Stück weit von der Armut befreit sind. Das Gegenteil ist aber der Fall, was passiert ist ja nur ein Verdrängungsprozess. Sprecherin: Zum wohlfahrtsstaatlichen Modell der Nachkriegsjahre gehörte es, eine Stadt zu schaffen, in der auch Menschen mit kleinem Einkommen leben konnten. Wobei die im Geiste des Funktionalismus wiederaufgebauten Städte mit ihren Trabantensiedlungen auch ein trostloses Bild boten. Der Frankfurter Psychoanalytiker und Kulturkritiker Alexander Mitscherlich hielt sie für untauglich zur Entwicklung demokratischer Gesellschaftsstrukturen. In seiner 1965 veröffentlichten Streitschrift "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" heißt es: Zitator: "Man pferche den Angestellten hinter den uniformierten Glasfassaden dann auch noch in die uniformierte Monotonie der Wohnblocks, und man hat einen Zustand geschaffen, der jede Planung für demokratische Freiheit illusorisch macht." Sprecherin: Mitscherlich deckte auf, wie sich die Verödung der Städte auf die Seele und die Kommunikation auswirkte. Sein Buch war ein Bestseller und wurde von Frankfurter Bürgerinitiativen in den 70er Jahren gegen die Immobilienspekulation im Westend zitiert. Er warnte vor dem hemmungslosen Umgang mit Grund und Boden in den Städten. Zitator: "Jeder Einsichtige weiß, dass die Notwendigkeit, zu einer Neuregelung der Bodenbesitzverhältnisse in den Städten zu kommen, überhaupt nichts mit Ideologie zu tun hat, sondern eine Konsequenz der veränderten Lage ist, in der wir uns alle befinden." Sprecherin: Während Amsterdam beispielsweise 76 Prozent des Bodens besitzt, gehören der Stadt Frankfurt am Main derzeit noch 40 Prozent. Das erschwert natürlich das Bauen von preiswerten Wohnungen. Musikakzent 19a O-Ton Monheim Die Städte sind bis auf wenige Ausnahmen kaum noch in der Lage, ja, ihre Aufgaben einigermaßen zu erfüllen, haben so gut wie keinen Spielraum neben dem Minimum, was man als Stadt sowieso machen muss, noch irgendwas selber zu gestalten. Sprecherin: Heiner Monheim, Professor für Raumentwicklung und Landesplanung an der Universität Trier. 19b O-Ton Monheim Das liegt schlicht und einfach an unserem Finanzsystem. Zunächst mal überhaupt an der Verteilung des Steuerkuchens auf Bund, Länder und Kommunen. Die Kommunen sind da immer in der schwächsten Position. Wir haben auch ne relativ schwache politische Repräsentanz der Städte in unserem Staatswesen. Wir haben natürlich nen deutschen Städtetag und einen Städte- und Gemeindebund und nen Landkreistag, aber die sind verglichen mit dem sonstigen Politikbetrieb eigentlich zu schwach aufgestellt, die können immer nur im Nachhinein in die Suppe spucken. Sprecherin: Deshalb plädiert Petra Roth, langjährige Frankfurter Oberbürgermeisterin und Vorsitzende des Deutschen Städtetags, für eine deutliche Stärkung der Kommunen. In ihrem 2011 veröffentlichten Buch "Aufstand der Städte - Metropolen entscheiden über unser Leben" heißt es: Zitator: "Grundsätzlich gilt: die Lage ist kritisch, mit einem Aufstand der Städte ist zu rechnen. Die Städte müssen handlungsfähig bleiben, denn sie erbringen einen Großteil der öffentlichen Leistungen für die Bürger (...) Um hierbei den wachsenden Herausforderungen gerecht zu werden, sollten Bund und Länder die Städte als Partner begreifen und nicht weiter ins Abseits drängen." 20. O-Ton Monheim Die Kommunen verhungern gewissermaßen am ausgestreckten Arm und das reduziert natürlich ihre Handlungsspielräume. Nehmen sie mal den ganzen kommunalen Wohnungsbestand, wenn sie den, was viele Kommunen gemacht haben, mehr oder weniger den Investitions- und Immobilienhaien zum Fraß vorwerfen, dann haben sie keinerlei Chancen mehr, auf Mietentwicklung nennenswert Einfluss zu nehmen. Und das war mal die Grundidee des sozialen Wohnungsbaus, dass man eben günstige Mieten am Markt auch durchsetzen kann, weil es einen hohen kommunalen Wohnungsbestand gibt. 3. Atmo und O-Ton Hafenrundfahrt Hamburg So und jetzt an Steuerbord gleich ein hoher Glasturm. Der Crystal-Palace, eine Ansammlung von Kaufimmobilien, die etwas reichere Leute hier an die Hamburger Wasserkante locken sollen. Von der Besenkammer bis zum 200 qm Luxus- Appartement ist dort alles zu beziehen. Letzteres Appartement zieht sich über die oberen beiden Etagen und ist für den Spottpreis von 5,4 Millionen Euro zu erwerben. (abblenden) 21. O-Ton Christoph Twickel Ich habe zusammen mit vor allem Musikern ein Manifest geschrieben mit dem Titel Not in our name! Marke Hamburg, wo wir gezielt auf diesen Umstand eingehen, dass jetzt plötzlich in Zeiten, wo die Städte quasi immer unbezahlbarer werden für die Leute mit kleinen Einkommen, ausgerechnet die, die auch ein kleines Einkommen haben, die aber offensichtlich für die Atmosphäre, für das Ambiente einer Stadt wichtig sind, also die sogenannten Kreativen, die Freaks, die Subkultur, die Szenekultur, dass die jetzt sozusagen angelockt und auch gefördert werden sollen, da haben wir nen Statement gemacht, was eben da hieß: Nicht in unserem Namen! Sprecherin: Christoph Twickel, Mitinitiator des Hamburger Netzwerks "Das Recht auf Stadt". 21. O-Ton Christoph Twickel Einerseits, finden wir, tut ihr nur so, als ob ihr tatsächlich Subkultur fördert, das macht ihr de facto gar nicht, andererseits finden wir das sowieso einen abscheulichen Gedanken, dass jetzt wir auseinander sortiert werden sollen mit den Milieus, in denen wir ja zum Teil auch groß geworden sind, die wir uns ausgesucht haben, also so ein Stadtteil wie Sankt Pauli lebt eben auch davon, dass da vieles nebeneinander stattgefunden hat und dass Leute allerlei Couleur hingezogen sind, weil sie dort freier sein können. Sprecherin: Marke Hamburg. Im modernen Stadtmarketing eine beliebte Floskel. So wie Firmen miteinander um Marktanteile konkurrieren, sollen auch Städte und Regionen miteinander um einen Imagefaktor konkurrieren Zitator: "Nicht mehr der Ausgleich sozialräumlicher Ungleichheiten soll im Fokus der Politik liegen" Sprecherin: schreibt Christoph Twickel . Zitatsprecher: "Vielmehr gilt nun das Dogma von der Ungleichheit als Anreizsystem: Lokale Entwicklungs- und Wirtschaftsstrategien sollen um Investitionen und Unternehmensansiedlungen streiten" 22a O-Ton Berthold Vogel Neben der allgemeinen Finanznot, mit der Kommunen konfrontiert sind, ist sicherlich die Frage der Interessenpolitik in den Städten, auch gerade für die lokale Politik eine ganz große Herausforderung. Sprecherin: Berthold Vogel, Soziologe, Autor einer Studie über soziale Brennpunkte in Hamburg 22b O-Ton Vogel Und das gilt ja auch für Hamburg in nem ganz starken Maße, weil man natürlich nicht unterschätzen darf, dass internationale Investorengruppen doch ein beträchtliches ökonomisches Kapital in die Waagschale werfen können und viele Kommunen, und daher kommt ja auch diese Kommerzialisierungstendenz, zum Teil auch ganz begierig darauf sind, dass sie Investoren finden, die sich entsprechend in den Städten engagieren. Sprecherin: Berthold Vogel leitet die Projektgruppe "Öffentliche Güter" am Hamburger Institut für Sozialforschung: 23. O-Ton Vogel Öffentliche Güter waren ja über viele Jahrzehnte Staatsaufgabe gewesen oder Aufgabe der Kommunen, zunehmend werden öffentliche Güter privatisiert. Und es findet eben vor allen Dingen eine Kommerzialisierung öffentlicher Güter statt, in sehr weiten Bereichen, das geht von der Wasser- über die Energieversorgung, aber auch im Bildungsbereich und im Gesundheitsbereich beobachten wir das. Und es gibt ja auch dieses schöne Schlagwort von dem privaten Reichtum und der öffentlichen Armut, also die öffentliche Armut schlägt selbst in einer so reichen Stadt wie Hamburg immer mehr durch, dann heißt das natürlich, dass auch Hamburg immer stärker dazu aufgefordert ist, sich neue Wege bei der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen, bei der Entwicklung von Infrastrukturen etc. zu überlegen und da kommen immer stärker private Akteure mit ins Spiel. 4. Atmo und O-Ton Hafenrundfahrt Das nächste Gebäude an Steuerbord zeigt, dass es mit der Seefahrt auch bergauf gehen kann. Wir haben hier das Altona-Cruise-Terminal, verziert durch einen gelbfarbenen Streifen. Dieser Neubau diente letztes Jahr 40 Schiffen von Aida- Cruises als Start- und Landeplattform zu den Nord-Ostsee-Kreuzfahrten. In der Nebensaison wird diese Halle auch gerne für Events vermietet, so wurde hier zum Beispiel Anfang dieses Jahres der neue BMW vorgestellt. Sprecherin: Mit knapp 1,8 Millionen Einwohnern ist Hamburg nicht nur die zweitgrößte Stadt Deutschlands, sondern auch ein Zentrum der Leiharbeit. Die Leiharbeitsbranche boomt in der Hansestadt. Gerade die großen Städte seien gefordert, die Probleme durch veränderte Arbeitsverhältnisse und neue Armut zu bewältigen. 24. O-Ton Berthold Vogel Ich würde auch mal unterstellen, dass auch das Engagement von Personen für ihre eigene Stadt, für ihr eigenes Wohnquartier, für ihr soziales Umfeld doch deutlich sinkt, wenn man selber in solche prekären Beschäftigungskonstellationen eingebunden ist. Also ich kann mir kaum vorstellen, dass eine Leiharbeitskraft, die mehr oder weniger wie ein Bauer auf dem Schachbrett hin und hergeschoben wird und sich in einer Art Monopoly der Wirtschaft befindet, dass eine solche Leiharbeitskraft in ihrer Freizeit noch sehr viel Engagement dafür aufbringt, sich in der Nachbarschaft für den Kindergarten, für die Schule, für öffentliche Parkanlagen, wie auch immer für all diese Dinge zu engagieren. In ner ähnlichen Weise geht's natürlich sehr vielen, die befristet beschäftigt sind, die nur in Minijobs sind, also man muss auch sagen, dass diese Entwicklung der Erwerbsarbeit eben nicht nur eine materielle Konsequenz hat, sondern sie hat auch eine kulturelle Konsequenz. 25. O-Ton Gina Infoladen - Gängeviertel Hier ist eine Plattform from the Künstlern im Gängeviertel and Info from the Gängeviertel und Galerien und alles was hier los ist for unsere Genossenschaft und unsere Verein, wie man das mitmachen kann und einfach die Künstler zu vorstellen, so eine Künstlerbetreuung sozusagen, weil es gibt in diesem Raum über siebzig Künstler. Sprecherin: Gina ist Amerikanerin. Vor zehn Jahren kam die Künstlerin nach Hamburg und ist dort hängengeblieben. Sie betreut den kleinen Infoladen im sogenannten Gängeviertel, wo Künstler abseits des Mainstream ihre Arbeiten präsentieren können. Aber das Gängeviertel ist nicht nur ein Ort für alternative Kunst 26. O-Ton Gina Es ist alles hier, wir haben unsere Möglichkeitsraum für Behinderte und Nichtbehinderte, wir haben unseren Faltentanz, wo Leute über sechzig Jahr hier kommen zum Tanzen and wir haben unsere Tischlerei, wo die Leute können mit Holz arbeiten und und und, also das ist nicht nur Künstler, es ist auch politisch, viele junge Leute die sind sehr politisch. 5. Atmo draußen im Hof Gängeviertel, laute Musik, Straßengeräusche im Hintergrund unter Sprecherin Im Hinterhof eines heruntergekommenen Backsteinhauses aus dem 19. Jahrhundert spielen junge Leute Tischtennis, andere sitzen an langen Holztischen, unterhalten sich, hören Musik. In direkter Nachbarschaft zu postmodernen Glas- und Bürohochhäusern eine unvermutete Oase. 2009 gelang es der von Künstlern getragenen Initiative "Komm in die Gänge" die historischen Gebäude vor dem Abriss zu bewahren und die Hamburger zur Rettung eines der ältesten Viertel ihrer Stadt aufzurufen. Atmo unter Zitat: "In Hamburg, Deutschlands Boomtown und Stadt der meisten Millionäre, ist etwas Besonderes passiert: der Senat hat ein Areal, das bereits an eine internationale Immobilienfirma verkauft war, zurückerworben und sich dem Protest gegen Gentrifizierung gefügt." Sprecherin: schrieb die Neue Zürcher Zeitung über den ungewöhnlichen Vorgang. Der Senat kaufte die Grundstücke von einem holländischen Investor wieder zurück. Über die zukünftige Nutzung entscheidet maßgeblich die 2010 gegründete Genossenschaft Gängeviertel. Das Beispiel könnte Schule machen, meint Mario Bloem. Er ist Stadtplaner und entwickelte Modelle, wie die Neue Mitte Altona aussehen könnte. Ein Jahrhundertprojekt. 27. O-Ton Mario Bloem, Stadtplaner, Hamburg Also in Altona sieht's so aus, dass ein großes Bahngelände eben neu bebaut werden soll, dafür sind einige Entscheidungen notwendig, eigentlich geht's darum Flächen zu vermarkten, die bisher für Bahnzwecke genutzt werden. Und da entsteht natürlich die Grundsatzfrage, wie ist eigentlich die Bahn damals zu den Flächen gekommen? Das waren ja günstig erworbene Grundstücke, die Bahn gehört immer noch der öffentlichen Hand, also warum gibt sie eigentlich nicht das zum günstigen Preis zurück, sondern macht ein Immobiliengeschäft daraus. Wenn wir jetzt die Chance haben, ein Stück Stadt neu zu bauen, dann stellt sich doch die Frage, müssen wir dann teuer einsteigen und dadurch auch einen teuren Stadtteil bauen oder können wir günstig, billigen Wohnraum und soziale Infrastruktur zur Verfügung stellen. Sprecherin: Erst waren alle begeistert, doch nun fordert das Bürgerforum einen Planungsstopp. Man befürchtet, dass sich die Stadt von Investoren über den Tisch ziehen lassen könnte und vor allem teure Eigentumswohnungen gebaut werden. 28. O-Ton Mario Bloem Also wir sind mittendrin im Prozess, wir haben uns sozusagen erst jetzt kräftig dazwischen stellen können. Die offizielle Planung ist aber weiterhin mit der Dampfwalze dabei, das Projekt möglichst zügig durchzusetzen und wir versuchen Gehör zu finden, um erstmal das Bewusstsein zu schaffen, das ist ne Jahrhundertchance, warum wird die jetzt so schnell durchgepeitscht trotz ungeklärter Sachlage werden Entscheidungen schon gefällt und die öffentliche Hand geht auch ins finanzielle Risiko, dass sie die Eigentümer freistellt von Kosten, die über 30 Millionen Euro hinausgehen, das heißt, wenn die Infrastruktur teurer wird, zahlt Hamburg drauf. Und jetzt haben wir in Hamburg natürlich unsere Elbphilharmonie als Desaster und jetzt sind wir alle doch ein bisschen kritischer geworden als Bürger, ist jetzt schon wieder in Anmarsch? 6. Atmo und O-Ton Hafenrundfahrt, Elbphilharmonie Ihr seht, hier entsteht ein großes Glasgebäude, das berühmte Hamburger Millionengrab. Wir bauen hier die Elbphilharmonie, ein Monumentalgebäude in Form einer riesigen Welle. ...Das Problem waren die Baukosten, ursprünglich sollten wir Hamburger Steuerzahler 70 Millionen Euro dafür bezahlen. Das größte Problem sind wohl die inzwischen knapp 500 Millionen Baukosten, die wir Hamburger son bisschen missmutig betrachten. (abblenden) 29. O-Ton Mario Bloem Wir müssen uns auch einsetzen für die Städte, das tun jetzt auch Altonaer Bürger oder auch die Bewegung Komm in die Gänge. Das ist eine neue Art von sag ich mal konstruktiver Kritik, es ist ja nicht eine Verweigerung oder so was alles, sondern eigentlich zu sagen, wir nehmen auch Stadtbereiche erneut ins Visier und versuchen, bessere Vorschläge zu entwickeln. Und das findet im Gängeviertel statt. Nachher freut sich jeder, dass man so was Tolles dann hat, oder in Altona, wenn wir es schaffen diesen Stadtteil, jetzt sage ich mal wirklich zukunftsweisend zu gestalten, danach werden dann alle sagen ach wie toll, ich war auch dafür. Musikakzent Sprecher vom Dienst: Aufbegehren gegen Ausverkauf Die Zukunft der Städte Ein Feature von Ruth Jung Es sprachen: Viola Sauer und Viktor Neumann Ton: Ralf Perz Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 2