Urlaub auf Sibirisch Autorin: Gesine Dornblüth Atmo 1: Ansage: Poezd Zimnjaja Skazka Novosibirsk alternativ: Atmo 2: noch mal Ansage (lebendig), verschiedene Bahnhofsgeräusche: Pfiffe, Zischen Autorin: Freitag Abend, kurz nach sieben. Novosibirsk, der Hauptbahnhof. Es ist dunkel. Menschen hasten vorbei, die Schultern hochgezogen. Wochenende. Eine rote Tafel zeigt Minus 15 Grad. Atmo hoch Auf Bahnsteig 1 strömen Menschen in bunten Winterjacken und Wanderschuhen zu einem Zug. Er heißt „Zimnjaja Skazka“, „Wintermärchen“. Der Atem dampft, die Nasen tropfen. Atmo 3: Sjuda, sjuda... Leute kommen angerannt. Vy na poezd? Autorin: Die Leute sind auf dem Weg ins Wochenende zum Skifahren. Der Zug fährt sie über Nacht aus der Stadt mit ihren 1,5 Millionen Einwohnern ein paar hundert Kilometer nach Süden, mitten in die Taiga. Ein Stück weiter beginnt das Altai-Gebirge, da hinter liegt die Mongolei. Am Sonntag Abend geht es zurück nach Novosibirsk. Atmo 5: Fahrt/ Gespräch im Gang Autorin: Unmerklich setzt sich das „Wintermärchen“ in Bewegung. Vier Liegen, ein Tisch, violette Tüllgardinen: die Abteile sind bequem. Oben Stauraum für Skistiefel und Rucksäcke. Auf dem Gang gibt es heißes Wasser für Getränke. Ein Mann kommt den Gang entlang. Auf seiner Weste steht: "Instrukteur". Denis Popov spricht ein junges Paar an. O-Ton 1: Sprecher auf O-Ton: Oft passiert es, dass SIE Ski fahren kann, ER aber nicht. Sie fährt los, er versucht, sie einzuholen, und... Letztes Wochenende hat sich ein junger Mann dabei das Bein gebrochen. Offener Bruch. Beim Skifahren muss man alles andere vergessen und nur an die Gesundheit denken. Klar? Atmo 6: devushka ne ubezhit... Lachen. Weiter Gespräch + Atmer Denis Autor: Der Junge lächelt, sagt: Mein Mädchen läuft mir schon nicht davon. Die Instrukteure sind ehrenamtliche Helfer. Sie beantworten Fragen, sorgen für Ordnung. O-Ton 2: Sprecher auf O-Ton: Seien Sie vorsichtig auf dem Gang mit dem heißen Wasser. Es gibt immer heißes Wasser für Tee. Wenn Sie Fragen haben – wir sind im 1. Abteil. Alles Gute. + Atmo Autorin: Die Schaffnerin bringt Bettwäsche. Das Skiwochenende kostet umgerechnet rund hundert Euro. Die elf Waggons sind ausgebucht. Atmo 7: Rattern der Räder im Durchgang Autorin: Im Übergang zwischen den Waggons ist der Boden offen. Schnee dringt durch die Ritzen in den Zug, setzt sich innen an Türen und Fenstern fest. Unten rauscht das Gleisbett vorbei. Zwei Frauen rauchen. Atmo 8: Tut gremit... Gehen ins Abteil Autorin: Jana zieht den Ärmel ihres Pullovers über die Hand, um die eisige Türklinke anzufassen. Sie und ihre Freundin Lena arbeiten im Psychiatrischen Krankenhaus von Novosibirsk. Die beiden Frauen sind mit sechs Kollegen unterwegs. Atmo 9: prochodite, prochodite. bozhe ty moi, radio, zachodite vy tuda... chto za radio? Autorin: Sie gehen zurück ins Abteil. Auf dem Tisch steht ein Kochtopf mit kalten Kartoffeln. Auf Alu-Folie liegen die Reste eines geräucherten Huhns. Vier Frauen und zwei Männer (?) trinken aus Plastiktassen: Wodka der Marke „Altaj“. Atmo 10: Durcheinander: Ich heiße du - Do you speak english... Autorin: Auf dem Boden stehen eine leere Flasche Kognak und eine leere Flasche Sekt. O-Ton 3: (Jana) Sprecherin auf O-Ton: Unsere Psychiatrie hat 2008 die erste Expedition mit diesem Zug unternommen. Die tollkühnsten und sportlichsten von uns haben sich jetzt erneut aufgemacht. Wir haben fest vor, das Wochenende ohne Unfälle zu überstehen, denn am Montag warten unsere Patienten auf uns. Und unsere Verwaltung auch. O-Ton 4: (Oberarzt) Sprecher auf O-Ton: Unsere Arbeitswoche ist anstrengend. Deshalb wollen wir uns erholen. (Sekretärin) Sprecherin auf O-Ton: Ja, am Freitag fällt der Stress ab. (Jana) Sprecherin auf O-Ton: Am Freitag gehen wir ins Wochenende, wie alle Russen. Am Montag sind wir wieder arbeitsfähig. Das wird man an unseren Gesichtern sehen. O-Ton 5: (Sekretärin) Sprecherin auf O-Ton: Und so ein Wochenende schweißt das Kollektiv zusammen. O-Ton 6: (Jana) Sprecherin auf O-Ton: Wir werden gemeinsam Ski laufen. Wir haben alle Ski dabei. (Sekretärin) Sprecherin auf O-Ton: Wir lernen das Skifahren schon in der Schule. + Lachen O-Ton 7: (Frau) Sprecherin auf O-Ton: Das Wetter ist uns egal, es gibt kein schlechtes Wetter. O-Ton 8: (Jana) Sprecherin auf O-Ton: Wir Psychiater können Wolken vertreiben und gutes Wetter machen. Das ist nachgewiesen. In Sibirien gibt es ein gutes Sprichwort: Auch Sibirier fürchten den Frost. Sie ziehen sich aber warm an. + Atmo Atmo 11: Vot oni rjumotschki – chistye rjumotschki Autorin: Die Wodkaflasche ist mittlerweile auch geleert. Einer der Männer holt wieder eine Flasche Konjak hervor, Marke „Königsberg“. O-Ton 9: (Frau) Sprecherin auf O-Ton: Du Weihnachtsmann, rück mal die Mandarinen raus. + Atmo „mandarinka“ Atmo 12: Jana deutsch: "Das wird heute wunderbar" Durcheinander Atmo 13: Fahrt nachts ohne Musik mit Schnarchen. Autorin: Milchig steht der Vollmond über der verschneiten Taiga. Wohl dem, der schläft, bevor der Nachbar schnarcht. Atmo hoch Autorin: Einmal fährt der Zug durch eine Stadt. An Hochhausfassaden grüne, rote und blaue Lichterketten. Dann wieder schneebedeckte Tannen. Atmo 14: Rascheln. Musik. Sachen packen. Reißverschlüsse Autorin: Samstag Morgen. Die Schaffnerin hat eine CD eingelegt und beschallt die Abteile. Der Zug steht mitten im Wald. Am Bahnsteig ein Toilettenhaus, Holzhütten, ein kleines Restaurant. Der Schnee ist vom Dach gerutscht, türmt sich drei Meter hoch. Nur die Fenster des Gasthauses sind freigeschaufelt. Und es schneit weiter. Das Thermometer zeigt immer noch minus fünfzehn Grad. Atmo 15: Hupen, Kind ruft. Motor geht aus, dann wieder an. Autorin: Ein Bus fährt zum "Grünen Berg", dem mit 1.270 Metern höchsten Gipfel. Der Bus ist alt. Neben dem Fahrer liegt ein Schraubenschlüssel griffbereit. Atmo 16: pri vychode! sorok rublej! Busfahrt mit Stimmen Autorin: Alle stehen dicht gedrängt. Die Scheiben beschlagen. Schweiß fließt. Nach einer halben Stunde der Parkplatz am Fuß des „Grünen Bergs“. Lautsprecher überall. Atmo 17: psychedelische Musik Rufen: Marina! bei 1:20 Vorbeigleiten mit Ski Autorin auf Atmo 17: Nikolaj Michajlovitsch und Olja Sergeevna schultern ihre Ski, setzen Sonnenbrillen auf. Sie trägt einen knallroten Skianzug, er eine einfache Steppjacke. Beide arbeiten in Novosibirsk in einer Lebensmittelfabrik. Sie sind schon zum zweiten Mal mit dem „Wintermärchen“ unterwegs. O-Ton 10: auf Atmo 17 (Nikolaj) Sprecher auf O-Ton: Hier kann jeder tun, was er möchte. (Sie wiederholt das – hochkommen lassen). Das ist ganz ungezwungen. Und zugleich merkt jeder: Ich bin nicht allein. Ich bin hier im Kollektiv. Und deshalb höre ich darauf, was ein Älterer oder ein Instrukteur mir sagt. Wir Russen versuchen im Urlaub immer, Kontakt zu anderen zu finden. (Olja) auf Atmo 17 Sprecherin auf O-Ton: Wir Russen wollen uns immer gleich mit allen verbrüdern! + Atmo Lachen, er: da da Autorin auf Atmo 17: Nikolaj und Olja stapfen zum Lift. Vorbei an Verkaufstischen mit Honig, Marmelade, Schnitzereien. Die Piste führt schnurgerade vom Gipfel hinunter ins Tal. Sie endet mit einem sanften Gefälle. Atmo 18: Gondellift: Fahrt Autorin: In den Gondeln Plastikbänke. Warnhinweise auf deutsch, englisch, französisch – aber nicht auf russisch. Ein Importprodukt. Auf dem Berg Nebel. Vereinzelt krumme Tannen. Schnee und Eis überziehen die Zweige. Die Abfahrt ist steil. Nur wenige fahren hier hinunter. Atmo 19: Leute schnallen Ski und Snowboards unter Autorin: Ein Stück weiter beginnen noch fünf andere Pisten. Eine Gruppe Urlauber schnallt sich Skier und Snowboards unter. Die Massen verlieren sich in den Weiten des Pulverschnees. Atmo 20: Musik weit weg Autorin: Unterdessen am Bahnsteig: In einem Schuppen wickelt ein Mann kerosingetränkte Stofflappen um Seile. Er trägt eine neonfarbene Skijacke, über seiner Mütze klemmt eine rote Skibrille. O-Ton 11: Sprecher auf O-Ton: Ich bereite das Abendprogramm vor. Wir machen ein riesiges Lagerfeuer. Da kommen sehr viele Leute. Ich lege Musik auf und mache eine Feuershow. Die ist ziemlich extrem. Ich zünde mich fast an. Ich finde das spannend, und die Leute amüsieren sich. Autorin: Der Mann nennt sich DJ Nik Nik. Mit richtigem Namen heißt er Nikolaj Nikolajewitsch. Er unterrichtet Sport an einem Gymnasium in Novosibirsk. Außerdem arbeitet er als Fitnesstrainer. Die Show in der sibirischen Wildnis macht er ehrenamtlich, Woche für Woche. O-Ton 12: Sprecher auf O-Ton: Manche Leute fahren ja mit dem Auto hier her zum Skilaufen. Sie mieten dann Apartments oder Zimmer. Tagsüber laufen sie Ski, abends gucken sie fern, duschen und schlafen. Bis auf das Skilaufen ist alles wie zu Hause. Manche Leute mögen das. Die Zugreise im „Wintermärchen“ ist etwas ganz anderes. Meist kennen sich alle im Abteil. Kaum sitzen sie im Zug, sind sie gut drauf. Sie trinken Tee oder auch etwas Härteres. Und reden. Dazu das Rattern der Räder. Das ist Romantik! Dann wachen sie auf und steigen alle an einem Ort aus. Sie lernen andere Leute kennen. Und abends verschwindet nicht jeder in seinem Apartment, sondern alle treffen sich hier am Lagerfeuer. Das ist ein richtiges Volksfest. Atmo 21: Holzhacken Atmo 22: Holzhacken mit Stimme Autorin: Das Holz für das Lagerfeuer hacken die Instrukteure. Die Scheite sind groß, hüfthoch. Denis Popov, der im Zug den jungen Mann vor einem Beinbruch gewarnt hat, gibt die Axt weiter, wischt sich den Schweiß ab. O-Ton 13: Sprecher auf O-Ton: Wir lieben die Natur. Das Skifahren. Den Sport. Novosibirsk ist mittlerweile eine Millionenstadt. Aus der möchte man gelegentlich fliehen. Möglichst weit weg. Autorin auf Atmo 21: Popov leitet den Sicherheitsdienst eines Novosibirsker Großunternehmens. Er zeigt in die Runde. O-Ton 14: Sprecher auf O-Ton: Der da ist Arzt, der Professor, der Banker, der ist Fabrikdirektor. Wir sind alle gestandene Leute. Und wir kennen uns mindestens 20 Jahre. Autorin auf Atmo 21: Die Männer kennen sich aus der Wander-Bewegung – eine Erfindung der Sowjetunion der 30er Jahre. Ihre Mitglieder müssen mehrtägige Touren laufen, mit Karten und Kompass umgehen können, in der Lage sein, Feuer zu machen, zu kochen, ein Zelt aufzustellen und eine Hütte zu bauen, sie müssen Tiere und Pflanzen der Heimat kennen und vieles mehr. Die Wander-Bewegung existiert in loser Form bis heute. Und ihre Werte - Gemeinsinn, Heimatverbundenheit, eine gesunde Lebensweise – sind in Russland wieder angesagt. Ein drahtiger Mann kommt dazu. Seine Füße stecken in Wanderschuhen, die Hände in dicken Fäustlingen. In seinen Augenbrauen hängt Schnee. Viktor Malavinskij unterrichtet Elektrotechnik an der Universität von Novosibirsk. O-Ton 15: Sprecher auf O-Ton: Ich möchte den Menschen vor allem Liebe zur Natur vermitteln. Sie kennen die Wildheit der Natur nicht mehr. Die Stadtmenschen haben verlernt, lange draußen zu sein. Für sie ist das hier ein Fest: So viel Schnee zu sehen. So viel Bäume. So viele Vögel, auch andere Tiere. Manchmal hüpft sogar ein Hase über den Weg. Autorin: Das Holz ist gestapelt: Abwechselnd längs und quer, dazwischen eine Lage Wellblech und Reisig. Atmo 23: Wedeln mit Plastikteller Autorin: Es dämmert. Am Zug steigt Rauch auf. Nikolaj Michajlovitsch und Olja Sergeevna, die beiden Fabrikarbeiter, haben den Grill angeheizt. Auf dem Rost liegen Spieße, die Fleischstücke dick wie Kinderfäuste. O-Ton 16: (Olja) Sprecherin auf O-Ton: Wir sind erst Abfahrtsski gelaufen. Dann sind wir mit Gummireifen den Berg hinunter. Jetzt freuen wir uns auf das Schaschlik. (Nikolaj) Sprecher auf O-Ton: Der Tag war ideal. Ich bin von ganz oben runtergefahren. (Olja) Sprecherin auf O-Ton: Dabei steht er heute erst zum zweiten Mal auf den Brettern. Und gleich von ganz oben! (Nikolaj) Ich hab's geschafft. So ein Adrenalinschub. Das ist ein sehr gutes Gefühl. + Atmo Olja spricht Autorin: Die beiden machen einen Betriebsausflug. Insgesamt sind es 72 Frauen und Männer. Die Gewerkschaft organisiert solche Ausflüge zwei, drei Mal im Jahr. Olja Sergeevna wendet die Spieße. Dann bespritzt sie das Fleisch mit Wasser. Wenig später ist eine Lage Schaschlik fertig. Ein junger Mann kommt aus dem Zug und bringt neue Spieße. 72 Leute wollen versorgt sein. O-Ton 18: Sprecher auf O-Ton: Morgen machen wir Fischsuppe. Echte sibirische Fischsuppe. Atmo 24: Pfiffe. Ansage: Derzhites' za menja, duraki! Lachen. Poechali! Katjuscha-Song mit Beats. Autorin: Halb acht am Abend. Die Instrukteure zünden das Lagerfeuer an. Die Flammen lodern mehrere Meter hoch. DJ Nik Nik springt vor dem Schuppen hin und her, rudert mit den Armen. Die Leute haben ihre Getränke aus den Abteilen geholt, wippen im Takt der Musik. So bleiben die Füße warm. Leuchtende Gesichter überall. Es sind minus 20 Grad. Atmo hoch Autorin: DJ Nik Nik zündet die ersten Raketen. Dann beginnt sein Einsatz. Atmo 25: Party, explodierende Raketen, Jubeln (reißt ab) und/oder Atmo 26: härtere Musik, laute Pfiffe, Applaus, Kreischen Autorin: Er reißt sich die Kleider vom Oberkörper, springt über das kerosingetränkte lodernde Seil, durch einen brennenden Ring, schwenkt Feuerbälle. Er schnappt sich einen Arm voll Schnee, verteilt ihn auf dem nackten Oberkörper, lässt seine Muskeln spielen, wirft sich auf den Boden, steckt sich Schnee in den Mund, grinst breit. Atmo 26 hoch: Pfiffe und Johlen Autorin: Dann springt er von der Bühne, rennt durch die Menge, verschwindet im dunklen Gebüsch - und winkt kurz darauf aus dem Wipfel einer Tanne. Atmo 27: Pfiffe – besser ausgesteuert Autorin: Die Frauen aus der Psychiatrie wärmen sich am Feuer. Natalja stellt die Rotweinflasche ab und steckt vier Finger zwischen die Lippen. Atmo hoch: Pfiff O-Ton 19: (Natalja) Sprecherin auf O-Ton: Das ist einfach super. Ein DJ, der auf eine 20 Meter hohe Tanne klettert und da weiter tanzt... Das ist klasse. Der ist schneller auf dem Baum, als man gucken kann. Was für eine Energie! So etwas kann nur ein russischer Mann. (Frau 1) Sprecherin auf O-Ton: Ach Quatsch, das ist die Persönlichkeit. (Frau 2): Sprecherin auf O-Ton: Außerdem ist das sein Job. Der kann doch sonst nichts. (Natalja): Sprecherin auf O-Ton: Und dann sind wir beeindruckt, dass die Disco nichts kostet. Die könnten doch Geld dafür nehmen, erst recht für die Show. Aber das ist alles im Ticket drin. Toll. Atmo: von oben Autorin: Um halb zehn ist Schluss. Die Instrukteure schicken die Leute in die Zugabteile. Schließlich sollen am nächsten Morgen alle wieder auf den Beinen sein, sich bewegen und die Natur genießen. Atmo 28: Lachen. My poidem na zapad. Atmo 29: Gruppe im Schnee Autorin: Sonntag Morgen. Minus 18 Grad, bedeckter Himmel. Boris Staschischin steht auf dem Bahnsteig, umringt von zehn Männern und Frauen. Einige tragen Gamaschen über der Hose, ein Schutz vor dem tiefen Schnee. Sie gehen wandern. O-Ton 20: Sprecher auf O-Ton: Wir befinden uns hier 300 Kilometer südlich von Novosibirsk. Die typischen Bäume sind Zedern, Tannen, Birken, Ebereschen, Faulbeeren. Autorin auf Atmo 29: Boris Staschischin ist mit 75 Jahren der älteste der Instrukteure und ein erfahrener Wanderer. Er war schon bei der ersten Fahrt mit dem „Wintermärchen“ 1968 dabei. Da hatte die Sowjetunion die 5-Tage-Woche eingeführt, und die Bürger machten sich Gedanken, wie sie die zwei freien Tage verbringen könnten. So entstand die Idee mit dem Zug. Boris Staschischin hat seitdem tausende Wochenendurlauber durch diesen Wald geführt, auf Skiern oder auch zu Fuß. O-Ton 21: Sprecher auf O-Ton: Im Sommer wächst das Gras mannshoch. Dann sind Paarhufer hier: Rehe, Elche, Hirsche. Aber sie verlassen die Gegend im Winter, denn der Schnee ist bis zu zwei Meter tief. Da finden nicht mal die Hirsche mit ihren langen, starken Beinen Futter. Hier bleiben Bären, Luchse, Hermeline, Zobel, Hasen. Autorin: Bären? Eine Frau guckt fragend. Normalerweise halten Bären Winterruhe. O-Ton 22: Sprecher auf O-Ton: Ich bin Gott sei Dank noch keinem Bären begegnet. Ich habe für unsere heutige Wanderung in jeder Jackentasche eine Leuchtrakete zur Abschreckung. Und generell gilt: Einem Bären niemals in die Augen sehen. Fliehen ist sinnlos, denn wenn Bären galoppieren, machen sie bis zu fünf Meter lange Sätze. Wir heben besser die Hände und zeigen, dass wir größer sind als sie. Und wir schreien aus aller Kraft. Und dann haben wir ja noch die Raketen. Atmo 30: Poidem. S'il vous plait. Losgehen Autorin: Mit gleichmäßigen Schritten schreitet Staschischin voran. Ziel der Wanderung ist ein Aussichtspunkt auf etwa 500 Metern Höhe. Ein Ziehweg führt leicht bergan. Am Ende der Gruppe geht Viktor Malawinskij, der Universitätsdozent, auch er in der Weste der Instrukteure. Früher haben sie im Winter in der Taiga übernachtet, erzählt er. O-Ton 23: Sprecher auf O-Ton: Du baust eine Höhle. Wenn der Schnee so tief ist wie hier, kannst du mannstief graben. Je dichter du an der Erde bist, desto wärmer ist es. Ich habe schon bei minus 33 Grad draußen übernachtet. Drinnen waren minus 3 Grad, nicht weniger. Wenn du nachts in der Taiga überrascht wirst, kannst du das jederzeit machen. Vorausgesetzt, du hast die richtige Ausrüstung dabei. Wenn nicht, musst du ein Feuer machen. Atmo 31: einige Schritte Autorin: An Birkenstämmen kleben Schneeklumpen. Flechten hängen von den Zweigen. Die Luft riecht frisch. Kein Bär weit und breit. Atmo 32: Boot, Kreischen Autorin: Nach zwei Stunden sind die Wanderer zurück am Bahnsteig. Noch vier Stunden bis zur Heimfahrt. Ein paar junge Leute sausen in einem Gummiboot einen Hügel hinunter. Das Boot dreht sich um die eigene Achse, kommt dann zum Stehen. Gleich noch mal. Atmo 33: Kreischen Atmo 34: in der Banja: Musik aus Radio und Wasser vom Duschen Autorin: Aus einer Holzhütte steigt Rauch auf. Die Banja, die russische Sauna. Sie steht direkt neben dem Bahnsteig. Drinnen zehn Duschkabinen. Der Raum zum Schwitzen wird mit Holz geheizt. Das Thermometer zeigt 110 Grad. Rimma, eine Frau um die vierzig, trocknet sich die Haare ab. O-Ton 24: Sprecherin auf O-Ton: Für mich gehört die Banja unbedingt zu so einem Ausflug dazu. Ich habe mich draußen müde gelaufen. Danach zu schwitzen und zu duschen ist das größte. Und das ist typisch russisch. (…) Natürlich musst du ein paar Regeln befolgen: Wenn du sehr müde bist oder sehr hungrig oder im Gegenteil übersättigt, dann darfst du nicht in die Banja. Aber mehr Regeln gibt es nicht. Der Rest ist Vergnügen. (…) Ich reibe mich hinterher mit Schnee ein und dusche kalt. Das ist ein tolles Gefühl und erhöht die Immunität. Ich war schon sechs Jahre nicht mehr krank. Atmo 35: Rausgehen, Schritte im Schnee Mann: Ooohh chudno, chudinko. Stöhnen, zamechatelno Autorin: Die Tür nach draußen geht ständig auf und zu. Ein Mann mit Glatze wirft seinen massigen Körper rücklings in den pulvrigen Schnee. Außer der Badehose trägt er nur eine Halskette mit einem goldenen Kreuz. O-Ton 25: Sprecher auf O-Ton: Jeder Russe liebt die Banja. Atmo 36: Mann stöhnt: o, a, ach, baba, a, o, blin weit weg Kreischen vom Schlittenfahren Autorin: Nikolaj Nikolajewitsch alias DJ Nik Nik sitzt vor der Banja auf einer Bank. Er hat heute frei. O-Ton 26: Sprecher auf O-Ton: Bestimmt ist es für viele ein Schock, wie wir Sibirier uns vergnügen. Wir können bei minus 25 Grad Eis essen oder uns nach der Sauna bei minus 30 Grad im Schnee wälzen. Für uns ist das normal. Atmo 37: Einsteigen Atmo 38: Zugfahrt im Abteil ohne Musik alternativ: Atmo 39: Zugfahrt im Abteil mit Musik Autorin: Um fünf Uhr setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Nach zwei Tagen Wildnis und Party geht es zurück nach Novosibirsk. Niemand hat sich verletzt. Die Psychiater sitzen einträchtig beim Tee. Die Instrukteure haben ihre Westen abgelegt und sich in ihre Abteile zurückgezogen. An diesem Abend wird es im „Wintermärchen“ früh ruhig. Auch ein Sibirier braucht Schlaf, um am Montag morgen wieder fit zu sein. Atmo hoch 1