Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 4. Dezember 2010 - 11.05 ? 12.00 Uhr Die Überwindung der Sprachlosigkeit: Armenien und die vorsichtige Annäherung an die Türkei Eine Sendung von Gesine Dornblüth Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar ? Eine Händlerin aus Armenien über das Verhältnis zu den türkischen Nachbarn: O-Ton: Wir kommen gut miteinander aus. Aber die Türken müssen den Genozid anerkennen, damit sich die Geschichte niemals wiederholt. Sprecher: Und ein junger Geschäftsmann über die Probleme Armeniens: O-Ton: Die vertrauen uns, die Türken. Erstaunlich, nicht wahr? Uns terrorisiert die eigene Regierung. Die ist schlimmer als das Osmanische Reich. Drücke ich mich klar genug aus? Sprecher: Gesichter Europas. Die Überwindung der Sprachlosigkeit: Armenien und die vorsichtige Annäherung an die Türkei. Eine Sendung von Gesine Dornblüth. Autorin: Bunte Blätter fallen auf die matschige Dorfstraße. Hühner picken im Schlamm. Straßenhunde liegen in der Sonne, alle viere von sich gestreckt. Männer stehen in Grüppchen herum. Sie schauen einem Lastwagen hinterher. Die Männer haben keine Arbeit. Alltag in Akhurik. Es ist das letzte Dorf im Westen Armeniens vor der Grenze zur Türkei. Der eiserne Vorhang, der einst die Welt in zwei Blöcke trennte ? hier ist er noch geschlossen. Die Grenze zwischen der Türkei und der ehemaligen Sowjetrepublik Armenien ist zu, und das seit bald hundert Jahren. In Akhurik gibt es keine Schule, keinen Kindergarten, kein Kulturhaus, nicht einmal eine Gasleitung. Viele Menschen haben das Dorf verlassen, auf der Suche nach Arbeit: Einige sind in die gut zwei Stunden entfernte Hauptstadt Eriwan gegangen, andere gleich ins Ausland, wie so viele ihrer Landsleute. Eine Frau kommt die Dorfstraße herunter. Sie trägt einen rotbraunen Ledermantel und eine rote Handtasche über der Schulter. Sie heißt Warditer Gasparyan und ist die Bürgermeisterin von Akhurik. Ein schwieriges Amt. O-Ton: Wir sind das letzte Dorf. Da stehen wir nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie haben ja die Wege gesehen. Die sind eigentlich gar nicht befahrbar. Was wir selbst machen konnten, haben wir getan: Die schlimmsten Schlaglöcher im Dorf haben wir mit Sand gefüllt. Der Rest wird hoffentlich nächstes Jahr gemacht. Diese Straße verbindet immerhin Staaten. Autorin: Aber nur auf der Landkarte. Tatsächlich kann niemand auf die andere Seite fahren, in die Türkei. Dabei verlief hier bis zum Beginn des vergangenen Jahrhunderts ein wichtiger Handelsweg zwischen Orient und Okzident. Damals gehörte das heutige Armenien zu Russland. Auch die Türkei gab es noch nicht, sondern das Osmanische Reich. In dessen Osten siedelten viele Armenier. Der Handel verband die Menschen über die Grenzen hinweg. Doch dann kam das Jahr 1915 ? das Schreckensjahr des Genozids der Türken an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten. Eineinhalb Millionen Menschen kamen damals bei Todesmärschen und Massakern ums Leben, sagen die Armenier. Hunderttausende wurden aus dem Osmanischen Reich vertrieben. Die meisten flohen nach Griechenland, Frankreich oder in die USA. Andere fanden im heutigen Armenien Zuflucht. Auch die Menschen, die das Dorf Akhurik vor gut neunzig Jahren gründeten, waren Überlebende des Völkermords. Warditer Gasparyan zeigt auf die niedrigen grauen Häuser. O-Ton: Wissen Sie, warum sie sich hier niedergelassen haben? Um ihrer Heimat möglichst nahe zu sein. Ich bin 52 Jahre alt, und ich habe die Erzählungen meiner Vorfahren schon gehört, als ich drei war. Autorin: Die Familie stammt aus der Nähe von Igdir. O-Ton: Alle haben oft über Igdir gesprochen. Abend für Abend, immer nur darüber. Immer hieß es: Erinnert ihr euch an unser Haus? Erinnert ihr euch an dieses, an jenes? Mir scheint oft, ich sei selbst dort gewesen. Autorin: Die Sehnsucht der Älteren blieb unerfüllt. Bald nach den Massakern kam die Sowjetunion, dann der Eiserne Vorhang ? und langes Schweigen. Und selbst, als in Berlin die Mauer fiel, als kurz darauf die Sowjetunion auseinanderbrach und neue, junge Staaten entstanden, blieb das Verhältnis zwischen Armenien und der Türkei eisig. Bis heute hat sich die Türkei nicht ihrer Vergangenheit gestellt. Wer die Ereignisse von 1915 als Völkermord bezeichnet, macht sich dort immer noch strafbar. Für die Armenier wiederum ist das Leugnen des Völkermords unerträglich. Die Bürgermeisterin steigt in einen alten Lada. Sie will die Grenzanlagen zeigen. Über die matschige Piste geht es leicht bergan. Rundherum Berge, schneebedeckt. Die meisten Gipfel liegen schon in der Türkei. Auch der Ararat, der heilige Berg der Armenier. Warditer Gasparyan zeigt auf ein eingemauertes Gelände: Ein Wachturm, zweistöckige Wohnblocks. Hier leben die Offiziere, die die Grenze bewachen. Die Straße wird zum Feldweg. Rechts davon ein Graben und ein schnurgerader Stacheldrahtzaun, mehrere Kilometer lang. Dies ist aber noch nicht die Grenze. Hinter dem Zaun liegen die Felder der Dorfbewohner. Sperrgebiet. Die Leute brauchen einen Passierschein, wenn sie ihr Land bestellen wollen. O-Ton: Die Grenzer lassen uns manchmal erst nach elf Uhr aufs Feld. Oder sie ordnen an, dass wir abends sehr früh zurückkehren müssen. Das ist natürlich nicht schön. Wir hoffen, dass die Grenze irgendwann ganz abgeschafft wird. Dass wir frei hin und her gehen können. Wir haben das 21. Jahrhundert! Die Türkei ist unser Zugang nach Europa. Dort gibt es Arbeit. Wir wünschen uns das seit Langem. Autorin: Beide Länder brauchen die Grenzöffnung: Armenien, um nicht weiter zu verarmen; die Türkei, weil sie Mitglied der Europäischen Union werden will. Dafür muss sie das Verhältnis zu ihren Nachbarn in Ordnung bringen. Direkt bis an den Grenzfluss heranzufahren, ist unmöglich. Journalisten benötigen dazu eine Sondergenehmigung, die wird aber von der armenischen Regierung derzeit nicht ausgestellt. Überhaupt hüllt sich die Regierung in Eriwan in Schweigen, wenn es um die armenisch-türkische Grenze geht. Dabei war noch vor kurzem Bewegung in die Beziehungen gekommen. Im Herbst 2009 unterzeichneten die Außenminister beider Länder Protokolle, in denen sie beschlossen, diplomatische Beziehungen aufzunehmen und die Grenze zu öffnen. Das wurde als Durchbruch gewertet. Doch dann folgten Proteste in beiden Ländern. Und besonders die Auslandsarmenier machten mobil. Die Folge: Wenige Wochen nach ihrer Unterzeichnung verschwanden die Protokolle wieder in den Schubladen, der Dialog war eingefroren. Die Regierungen beider Länder schieben sich seither gegenseitig die Schuld zu. Ein alter Mann kommt den Weg entlang. Er treibt drei Kühe vor sich her, in Richtung Grenze. Warditer Gasparyan blickt ihm hinterher. O-Ton: Die einfachen Leute, die hier im Schweiße ihres Angesichts arbeiten, wollen, dass die Grenze geöffnet wird. Die Leute in der Diaspora, in Amerika, in Europa, sind in dieser Frage kompromisslos, weil sie nicht hier leben. Es ist nicht so, dass wir uns nicht mehr an den Genozid erinnern wollten aber man kann nicht ewig über die Grenzöffnung reden. Die Politiker sollen endlich handeln. Literatur-Sprecher: Geworg Emin, Wir Was aber waren wir und unser Land? Wir saßen krumm, doch sprachen aufrecht: Ein Schiff, gestrandet auf trockenem Fels. Wir waren ein Kelch, doch tränengefüllt. Wir waren die Erde, doch versteinert vor Angst. Wir waren Gestein, doch schreiend vor Schmerz. Eine machtvolle Seele, doch körperlos, Ein tapferer Heerführer ohne Soldaten, ergeben dem Kult von Ruinen und Altem. Autorin: Vormittags in einem Fünfsternehotel im Zentrum von Eriwan. Der Internationale Frauenclub trifft sich zum Jour Fixe. Gut ein Dutzend überwiegend ältere Damen sitzen um einen Tisch herum. Die Frauen tragen goldene Armreifen und Perlenohrringe. Ihre Tweedjacken und Anoraks hängen über den Stuhllehnen. Schwere Vorhänge versperren den Blick auf den viel befahrenen Platz der Republik mit seinen mächtigen rötlich-grauen Regierungsgebäuden. Hier am Tisch wirkt alles gedämpft, unwirklich, fern der Realität. Die Frauen planen ihren alljährlichen Wohltätigkeitsbasar. Die meisten von ihnen kommen aus der Diaspora. Sie sind erst vor kurzem aus Kalifornien, Australien, dem Libanon oder dem Iran nach Eriwan gezogen um ihren Landsleuten in der Heimat zu helfen. Ihre Vorfahren konnten dem Genozid von 1915 entkommen. Zwei Drittel aller Armenier leben im Ausland. Sie schicken Geld, viel Geld. Für den Staatshaushalt Armeniens ist das unverzichtbar. Deshalb hat die Diaspora so einen großen Einfluss auf die armenische Politik. Die Auslandsarmenier bestehen darauf, dass sich die Türkei für den Genozid entschuldigen muss, bevor diplomatische Beziehungen aufgenommen werden. Viele verlangen sogar eine Entschädigung für das erlittene Leid. Maggie Jones sitzt an der Längsseite des Tisches. Sie trägt die Haare kurz geschnitten, einen schwarzen Pullover, eine Lesebrille. Vor ihr liegt ein dicker Quittungsblock, ein Kassenbuch, ein Stapel Geldscheine. Sie kümmert sich um die Finanzen. O-Ton: Der Basar ist immer ein großer Erfolg. Wir reservieren das Ganze Erdgeschoss des Hotels und vermieten Tische. Gerade hat eine junge Frau angefragt. Sie stellt Bio-Make-Up her und möchte das präsentieren. Mit den Einnahmen unterstützen wir verschiedene Dörfer: Zum Beispiel die Schulen dort. Autorin: Maggie Jones wurde in Teheran geboren und heiratete einen Briten. Mit ihm ging sie nach England. Seit einigen Jahren ist sie geschieden. Als die Kinder aus dem Haus waren, beschloss sie, sich eine kleine Wohnung in Eriwan zu kaufen und zog um. Nun arbeitet sie dort als Innenausstatterin, näht Gardinen, Sofakissen, Bettüberdecken. Davon kann sie leben. Ihre Freizeit verbringt sie im Wohltätigkeitsverein. Nach zwei Stunden sind alle Aufgaben für den Basar verteilt. Die Sonne scheint. Maggie Jones bricht auf zum Schwalbenhügel am Rand von Eriwan. Auf dem Plateau weht ein kühler Wind. Ein 44 Meter hoher Dorn aus Granit sticht in den Himmel ? die Genozid-Gedenkstätte. Mächtige Steinplatten bilden einen Kreis, neigen sich nach innen. Der Kreis symbolisiert das an die Türkei verlorene Westarmenien, die Spitze den zum Leben strebenden, kleineren östlichen Teil, die heutige Republik Armenien. Maggie Jones führt alle ihre Besucher hier hin. O-Ton: Mich bewegt es, aber mich bedrückt es auch. Wenn ich im April in Eriwan bin, nehme ich immer an der offiziellen Feier zum Genozid-Gedenktag teil. Wir müssen unserer Angehörigen gedenken, die ihr Leben verloren haben. Es ist wichtig, dass wir uns an sie erinnern. Autorin: In dem Rund aus Steinplatten brennt eine ewige Flamme, ringsum weiße und rote Nelken. Die Musik läuft den ganzen Tag. Maggie Jones bekreuzigt sich. Literatur-Sprecher: Zahrad, Unsere Kinder mit Schwarz getauft Unsere Kinder mit Schwarz getauft Weil wir geboren an schwarzen Tagen Für schwarze Tage Für schwarze Schwerter Unsere Kinder dem Tode geweiht Die Angst ist in uns ? in und außer uns ? Die Angst ist es das fließt durch unsere Adern Die Angst ist es das tropft von den Dachrinnen ? Die Angst ist das Warten auf den wartenden Tod Die Angst ist in uns wie ein schwarzer Schatten O-Ton: Ich denke an die Eltern meines Vaters. Ich denke an Gesichter, die ich nicht kenne, aber von denen ich weiß, dass sie meine Vorfahren waren: Brüder, Schwestern, Onkel, Tanten, die ihr Leben verloren haben. Und ich denke an meinen Vater. Autorin: Der Vater stammte aus Kars in der heutigen Osttürkei. Im Jahr der Massaker war er ein junger Mann, etwa zwanzig Jahre alt. Seine Mutter wurde vor seinen Augen getötet. Daraufhin lief er weg, bis nach Teheran. Dort blieb er, arbeitete sich vom Schuhputzer zum Schuhmacher hoch, machte später einen Lebensmittelladen auf. Er heiratete und gründete eine Familie. O-Ton: Mein Vater hatte zwei Brüder und eine Schwester. Er selbst floh, wie gesagt, in den Iran, ein Bruder floh nach Deutschland, der andere nach Frankreich, die Schwester landete in Boston in den USA. Ich habe sie zwei mal besucht. Mein Vater ist gestorben, ohne seine Schwester jemals wieder gesehen zu haben. Er hat nur einen der beiden Brüder noch einmal getroffen, den, der in Nizza lebte. Der Bruder in Deutschland war schon gestorben, als mein Vater herausfand, wohin er geflohen war. Sie sind damals um ihr Leben gerannt. Jeder, wohin er gerade konnte. Es war ihre einzige Chance. Da ist eine ganze Familie verschwunden. Wie schön ist es doch, zu einem Land zu gehören, einen Ort zu haben, den man Zuhause nennen kann. Autorin: Maggie Jones fühlt sich in Armenien zuhause. Sie bedauert nur eins: Dass ihr Vater ihren Umzug nach Eriwan nicht mehr erlebt hat, ihre "Heimkehr", wie sie sagt. Die Dokumentationsstätte. Der Ausstellungsraum liegt im Halbdunkel. Schwarz-Weiß-Fotos zeigen Stapel abgeschnittener Männerköpfe, nackte Körper, die an den Füßen von einer Brücke hängen. Eine bis auf die Knochen abgemagerte nackte Frau, die ihr Kind im Arm hält und der Kamera hilflos die Hand entgegenstreckt. O-Ton: Das war kein Alptraum. Das ist wirklich passiert. Aber viele Leute, Türken, denken, dass dies nie passiert ist. Was denken Sie? Ist der Genozid passiert, oder nicht? Autorin: Diese Frage stellen Armenier immer wieder, wenn sie mit Ausländern reden. Auch Deutschland hat den Genozid nicht offiziell anerkannt. Der Bundestag hat sich zwar 2005 mit dem Thema beschäftigt. Die abschließende Resolution sprach aber lediglich von "organisierter Vertreibung und Vernichtung", nicht von Völkermord. Die Begründung der Politiker: Die Bundesrepublik wolle den Dialog zwischen der Türkei und Armenien nicht durch derartige Stellungnahmen erschweren. Maggie Jones schüttelt nachdenklich den Kopf. O-Ton: Ich weiß nicht, warum andere Länder keine Resolution zum Genozid verabschiedet haben. Ich weiß nur, dass die meisten Leute die Anerkennung wollen. Und auch ich wünsche mir die Anerkennung der Massaker von 1915 als Völkermord und Frieden für alle Seiten. Literatur-Sprecher: Wir sind halbtaub, vernehmen zwar rasch jeden neuen Laut, können ihm aber nicht genau folgen. In unseren Ohren dröhnt noch Armeniens wirre Geschichte, auf der Suche, zum Wort zu werden. Wir sind gelähmt. Wohin wir den Fuß auch setzen, ob in die Wüste Syriens, auf einen Pariser Boulevard, an das Ufer des Nils, steckt unser zweites Bein noch im Bergschnee des Ararat. Autorin: Ein Wohnbezirk am Rand von Eriwan. Zwei- und dreistöckige Häuser. Dazwischen ragt ein Wohnblock mit zehn Etagen auf. Die Fassade glänzt in frischem Rosa. Davor steht ein Container mit Bauschutt, auf einem Balkon vergammelt die leere Verpackung eines Heizgerätes. In dem Haus wohnen armenische Flüchtlinge aus einem aktuellen Krieg, dem Krieg mit Aserbaidschan. Mehrere hunderttausend Menschen mussten Ende der 1980er-Jahre aus dem Nachbarland fliehen. Noch immer sind nicht alle mit Wohnungen versorgt. Etwa sechzig Familien haben hier erst im vergangenen Sommer eine Bleibe gefunden. Ein alter Mann tritt vor die Haustür. Er heißt Edik Petrosyan: Graues Haar, buschige Augenbrauen, das Gesicht von Furchen durchzogen. Er wohnt im achten Stock und zeigt bereitwillig die neuen Wohnungen. Edik Petrosyan ist 75 Jahre alt und längst Rentner. Früher war er Bauarbeiter. Der Fahrstuhl kommt schnell. O-Ton: Ihre Produktion. Der Lift kommt aus Deutschland. Es ist ein sehr guter Aufzug. Ich habe 20 Jahre in einem Kuhstall gelebt. Da gleicht das hier doch einem Wunder. Treten Sie ein. Autorin: Die Kabine ist aus Chrom und glänzt. Auf dem Spiegel kleben noch die Reste einer Schutzfolie. O-Ton: Ich bin zufrieden. Obwohl wir in Baku ein eigenes Haus und eine Mietwohnung zurückgelassen haben. Kommen Sie rein, schauen Sie, wie wir leben. Autorin: Die zwei Zimmer sind hell. Ein Tisch, drei Stühle, ein Fernseher. Statt eines Kleiderschranks eine Stange aus Holz, selbstgezimmert, darüber Hosen und Jacken. Auf dem Boden vor dem Fenster trocknen Aprikosen ? sie sollen gegen Herzkrankheiten helfen. O-Ton: Es ist doch nicht schlecht, oder? Was brauchen wir mehr? Morgen kriegen wir noch einen Gasanschluss. Wasser haben wir rund um die Uhr, Strom auch. Autorin: Die Unruhen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern begannen in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre. Damals gab es die Sowjetunion noch, und sowohl Armenien als auch Aserbaidschan waren Sowjetrepubliken. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen. Sie stritten um ein Fleckchen Erde, das Berg-Karabach heißt. Dort wohnten damals schon mehrheitlich Armenier; Berg-Karabach gehörte aber zur Sowjetrepublik Aserbaidschan. Bei Massendemonstrationen forderten die Armenier damals die Übertragung des Gebietes an "ihre" Sowjetrepublik. Die Demonstrationen schlugen immer offener in Gewalt um. Sie gipfelten in einem Massaker an den Armeniern. Das war 1988 in Sumgait, einer Industriestadt in Aserbaidschan. Edik Petrosyan setzt sich auf das Bett, hebt den Zeigefinger. O-Ton: Die Ereignisse von Sumgait werde ich nie vergessen. Verwandte von mir lebten dort. Zwei meiner Brüder wurden dort umgebracht. Den einen haben sie im Haus ausgeraubt und getötet; der andere lag krank im Bett. Ihn haben sie aus dem vierten Stock auf die Straße getragen, vor der Garage mit Benzin übergossen und angezündet. Wie kann man so etwas vergessen? Das kann man nicht vergessen. Und ich kann es ihnen auch im Leben nicht verzeihen. Autorin: Die sowjetischen Behörden meldeten damals offiziell 32 Tote, knapp 200 Verletzte, zwölf Vergewaltigungen, mehr als hundert geplünderte Wohnungen. Die Armenier sprechen von der doppelten Zahl an Opfern. Nach dem Pogrom setzte eine Massenflucht der Armenier aus Aserbaidschan ein. Erinnerungen an den Genozid von 1915 wurden wach, verstärkt noch dadurch, dass es sich bei den Aserbaidschanern um ein Turkvolk handelt. Heute, mehr als zwanzig Jahre später, sprechen viele Armenier wie selbstverständlich von Aserbaidschanern als "Türken". Edik Petrosyan geht hinüber zur Nachbarin. Anjuta Ter Gazaryan kocht dort gerade Kaffee, kräftigen Mokka. Sie hat Besuch von einer Bekannten, der 73jährigen Asja Petrosyan. O-Ton: Die Türken haben uns fortgejagt. Wir konnten nachts nicht mehr schlafen vor Angst. Sie haben gesagt: "Geht nach Armenien, da gehört ihr hin." Ich mag mich nicht daran erinnern. O-Ton: Meine Großeltern haben von den Massakern 1915 erzählt. Von den Horden, die damals einfielen, mordeten, plünderten, vergewaltigten. Wir kannten die Geschichten. Aber wir hätten niemals gedacht, dass so etwas siebzig Jahre später noch einmal geschieht. Wieviel Leid haben wir gesehen... Autorin: Die Armenier sehen sich als Volk von Opfern. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Nach dem Pogrom von Sumgait spitzte sich die Lage weiter zu. Nun vertrieben Armenier Aserbaidschaner. Und 1993 nahmen armenische Truppen Berg-Karabach mit Gewalt ein. Außerdem besetzten sie mehrere angrenzende aserbaidschanische Bezirke ? insgesamt ein Fünftel der Fläche Aserbaidschans. Die Sowjetunion hatte da längst aufgehört zu existieren. Armenien hält die Gebiete bis heute besetzt ? trotz internationaler Proteste. Die Türkei steht in dem Konflikt auf der Seite Aserbaidschans. Berg-Karabach belastet die armenisch-türkischen Beziehungen mindestens ebenso sehr, wie der Genozid vor fast hundert Jahren. Beobachter gehen davon aus, dass sich das Verhältnis zwischen Armenien und der Türkei erst dann verbessern kann, wenn Armenien in der Karabachfrage einlenkt. Das darf aber nicht passieren, sagt Anjuta Ter Gazaryan und schüttelt den Kopf. O-Ton: Berg-Karabach ist unser. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Autorin: Diese Haltung treibt Armenien immer weiter in die Isolation. O-Ton: Ich will nicht in die Türkei und auch nicht nach Aserbaidschan, ich will nirgendwo hin. In Armenien ist es gut. Ich bin Armenierin, also lebe ich in Armenien. O-Ton: Wissen Sie was: Die Türken geht die Karabachfrage gar nichts an. Die sollen sich nicht in unsere Angelegenheiten einmischen. Autorin: Der Rentner Edik Petrosyan tritt ans Fenster. Unter einer Dunstglocke liegt die Stadt. O-Ton: Sehen sie die hohe, dünne Spitze dort hinten? Das ist das Genozidmuseum auf dem Schwalbenhügel. Es erinnert an 1,5 Millionen Armenier. Plus einen. Den haben die Türken erst vor ein paar Jahren umgebracht. Autorin: Der armenische Journalist Hrant Dink war türkischer Staatsbürger. Er wurde 2007 in Istanbul auf offener Straße von einem türkischen Nationalisten erschossen. Literatur-Sprecher: Wir sind halbstumm. Wie oft schnitt man uns die Zunge ab, damit wir nicht unsere Gedanken sagen? Uns nicht freuen, nicht selbstbewusst sind und unsere vielen Opfer nicht beklagen? Autorin: Der Mezzo-Club im Zentrum von Eriwan. Schummriges Licht, Cocktailsessel, dunkle Holzvertäfelungen. In der Mitte eine Säule mit der aufgemalten Tastatur eines Klaviers. Auch die Treppenstufen sind schwarz und weiß. Im Mezzo-Club wird an diesem Abend der französische Jazz-Akkordeonist Richard Galliano auftreten, begleitet von dem armenischen Ensemble Cadence. Bis zum Auftritt bleiben noch ein paar Stunden Zeit. Techniker eilen hin und her, testen die Mikrophone, wechseln das Bühnenlicht. An einem Tisch sitzt Nika Babayan. Seine schütteren Haare sind weiß, der graue Bart ist sorgfältig gestutzt, er hat lebhafte braune Augen. Babayan ist Musikproduzent und der Manager des armenischen Ensembles Cadence. Er war es auch, der den Franzosen Richard Galliano nach Armenien geholt hat. Babayan ist ständig mit ausländischen Musikern in Kontakt, auch mit türkischen. Vor gut einem Jahr hat er ein armenisch-türkisches Jugendorchester ins Leben gerufen. Das erste und bisher einzige. Denn so wie es keine politischen und wirtschaftlichen Kooperationen zwischen Armenien und der Türkei gibt, so gab es Jahrzehnte lang auch fast keine gemeinsamen Kulturprojekte der verfeindeten Länder. Nika Babayan verlässt den Club und geht in ein Straßencafe gegenüber. Dort wird gebaut, wie fast überall in Eriwan. Mit Hilfe der Diaspora entstehen Straßen, Häuser, ganze Plätze. O-Ton: Die Idee, ein armenisch-türkisches Jugendorchester zu gründen, kam von einer armenischen Dirigentin, die in der Türkei geboren wurde, in Frankreich lebt und in Russland arbeitet ? eine internationale Karriere, wie sie für viele armenische Künstler typisch ist. Als wir begonnen haben, über dieses Orchester zu sprechen, war das internationale Interesse an einem Dialog zwischen unseren Ländern schon auf dem Höhepunkt. Und als wir dann unser Okay gaben, bekam ich sofort sehr positive Reaktionen von allen staatlichen Stellen und auch aus der Bevölkerung. Autorin: Noch im Winter 2009/2010 lud Nika Babayan armenische Musikstudenten zum Vorspielen ein. Der Andrang war groß, die Auswahl fiel schwer. Es gab viel mehr Bewerber als Plätze. Im Juli reisten etwa dreißig armenische Nachwuchsmusiker nach Istanbul. Die türkische Seite übernahm die Kosten. Türken und Armenier wohnten in einem Wohnheim, probten gemeinsam, machten Ausflüge. O-Ton: Als ich gesehen habe, wie die Jugendlichen im Orchester miteinander umgehen, habe ich gedacht: Hört mal, unsere Probleme sind doch nicht so schwer zu lösen. Sie haben bewiesen: "Wir können Freunde sein, gemeinsam arbeiten und Musik machen. Sollen die Erwachsenen von uns lernen, wie man Freundschaften aufbaut." Autorin: Der Kellner bringt Getränke. Das Orchester gab in Istanbul drei Konzerte, erzählt Babayan. Die Musiker spielten Beethoven, Biset, Smetana, dazu je ein Stück eines türkischen und eines armenischen Komponisten. O-Ton: Es ist eine Tatsache, dass sich unsere musikalischen Kulturen sehr ähneln. Wenn die Leute zum Beispiel sagen: Dieses Instrument ist ursprünglich armenisch, jenes ist türkisch ? dann wirft das bei mir immer viele Fragen auf. Denn in jedem Land behaupten sie, es sei ihr Instrument. Nehmen wir zum Beispiel das armenischste aller Instrumente, die Holzflöte Duduk. Sogar die UNESCO hat sie als armenisches Instrument anerkannt. Das mag so sein, darüber sollen Wissenschaftler entscheiden. Wenn es denn armenisch ist, macht mich das froh und glücklich. Aber viel interessanter ist doch, wie auf diesem Instrument gespielt wird. Und da gibt es eine sehr interessante Tradition, in Georgien, in Aserbaidschan, aber auch in der Türkei. Autorin: Babayan lächelt. Er möchte mit den armenischen und türkischen Orchestermusikern CDs einspielen, und er träumt von Konzerten in Israel und Palästina. Denn von dort kam das Vorbild für das armenisch-türkische Projekt. Der ehemalige Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper, Daniel Barenboim, brachte schon vor Jahren arabische und jüdische Musiker zusammen, um zur Versöhnung im Nahen Osten beizutragen. So etwas schwebt Babayan nun auch für Armenien und die Türkei vor. Doch es gibt ein Problem: das Geld. Zur Zeit reicht es noch nicht einmal, um die türkischen Musiker zu dem längst überfälligen Gegenbesuch nach Eriwan einzuladen. O-Ton: Jetzt stecken die politischen Beziehungen wieder in der Sackgasse, und das behindert auch den kulturellen Austausch. Zur Zeit ist kein einziger armenischer Unternehmer bereit, unser Projekt zu unterstützen. Vielleicht sind das einfach Feiglinge. Sie denken, dass der Staat ihr Engagement eventuell missbilligen könnte. Das ist dumm. Ein Geschäftsmann, der etwas auf sich hält, muss über solchen Dingen stehen und darf keine Angst haben. Sonst bleiben wir ewig in der Sackgasse stecken. Autorin: Die türkischen Organisatoren haben angeboten, finanziell einzuspringen. Doch das kommt für Nika Babayan nicht in Frage. Es geht ihm ums Prinzip, um die Geste. Ein Anruf der Assistentin. Nika Babayan muss zurück zur Probe. Die Bassistin kommt ihm entgegen. Sie heißt Lusine Hayrapetyan und hat vor kurzem ihr Studium beendet. Sie ist 26 Jahre alt und die erste Kontrabassistin des Landes. Mit dem Ensemble war sie schon in England, Frankreich, Russland, dem Libanon, den Arabischen Emiraten. Außerdem hat sie im armenisch-türkischen Jugendorchester mitgespielt. Das war eine ganz besondere Erfahrung, sagt sie. O-Ton: Ich hatte Angst vor der Fahrt in die Türkei, und meine Eltern auch. Ich bin mit meiner Schwester gefahren, und unsere Eltern wollten uns das sogar verbieten, weil sie um unser Leben fürchteten. Aber dann sind wir doch gefahren, und wir haben uns richtig mit den Türken angefreundet. Natürlich haben wir den Genozid dort nicht vergessen, aber die Türken haben sich nicht so verhalten, dass wir ständig daran hätten denken müssen. Im Gegenteil, sie waren sehr zuvorkommend. Wir haben unsere Eltern dann jeden Tag aus Istanbul angerufen und gesagt, dass alles in Ordnung ist. Allerdings waren wir auch sehr vorsichtig. Sobald es dunkel wurde, sind wir immer ins Wohnheim gegangen. Autorin: Die Musikerin massiert ihre Hände. Sie hat Lampenfieber. O-Ton: Ich spiele zum ersten Mal mit so einem bekannten Solisten, mit Richard Galliano. Das ist eine große Verantwortung. Autorin: Der Produzent, Nika Babayan, nickt ihr aufmunternd zu. Er hat noch eine Überraschung für sie: Wenn das Konzert mit dem französischen Star ein Erfolg wird, dann sollen Auftritte im Ausland folgen. Eine Einladung gibt es schon, ausgerechnet aus der Türkei. Literatur-Sprecher: Nur mit halbem Hirn begreifen wir die Welt. Die andere Hälfte ist getrübt von Verdammnis, von Schmerzen. Wir sind Hälften, halb sind wir nur. Autorin: Wanadzor, mit etwa hunderttausend Einwohnern die drittgrößte Stadt Armeniens. Mehrstöckige Wohnhäuser aus dem typischen armenischen rötlich grauen Tuffstein, ringsum kahle braune Berge, auf einigen liegt Schnee. Parallel zur Hauptstraße endlose Industriebrachen. Hier wird schon lange nichts mehr produziert. Das Leben findet auf dem Markt statt. Auf den Gehwegen verkaufen Frauen Nüsse, Kräuter, Obst. Es duftet nach frisch gemahlenem Kaffee. Unter einem hellblauen Plastikdach werden Socken, Strümpfe, Strumpfhosen in allen Varianten angeboten. Und Gürtel ? Raubkopien international bekannter Luxuslabel. Hochhackige Damenstiefel. Schlafanzüge. Bettwäsche. Gardinen. Herrenanzüge, gestreift und glänzend. Regenschirme. Rollkoffer. Plastiktaschen. Alles ist billig, alles kommt aus Istanbul. An einem Stand wartet Arman auf Kundschaft. Der 36jährige hat sich auf Herrenkleidung spezialisiert und verkauft Hemden, Pullover, Hosen und Socken. O-Ton: Das teuerste Stück kostet 10.000 Dram, das sind ungefähr 30 Dollar. Dieses Hemd hier zum Beispiel. Aber ich habe auch welche für die Hälfte. Teure Sachen gehen nicht gut. Die kaufen die Leute eher in Eriwan. Autorin: Arman holt die Ware selbst aus Istanbul ? wie die meisten Händler hier. Auch seine eigenen gebleichten Jeans und die spitzen schwarzen Halbschuhe hat er von dort. Da es keine offiziellen Handelsbeziehungen zwischen Armenien und der Türkei gibt, sind die Armenier auf Leute wie ihn angewiesen. Die Händler fahren meist mit Bussen nach Istanbul. Weil die Grenze zwischen Armenien und der Türkei geschlossen ist und die Busse über Georgien fahren müssen, dauert die Reise eine halbe Ewigkeit: 34 Stunden. Probleme mit den Türken? Er lächelt. O-Ton: Dort kann ich sogar ohne Geld hinkommen. Die vertrauen uns, die Türken. Erstaunlich, nicht wahr? Ich habe dort echte Freunde. Wir kaufen dort auf Pump ein, und sobald wir die Ware hier weiter verkauft haben, schicken wir ihnen das Geld. Über eine Firma oder über Bekannte. Autorin: Arman zeigt das Etikett in einem Pullover, ein bekannter Markenname, ebenfalls eine Raubkopie. Er betreibt den Stand gemeinsam mit seiner Frau. Die beiden sind eigentlich Lehrer, er hat Biologie unterrichtet, sie Sprachen. Wegen der niedrigen Gehälter quittierten sie den Schuldienst. Das war vor fünf Jahren. Da fuhr Arman zum ersten Mal nach Istanbul. Er blieb gleich drei Jahre da, arbeitete in Fabriken, in Läden, auf dem Bau. Und er lernte Türkisch. O-Ton: Meine Eltern haben sich keine Sorgen gemacht, eher meine Großeltern. Die Leute über 60. Wissen Sie, warum? Weil sie sich nicht auskennen. Die älteren Leute vertrauen unserer Regierung. Sie gucken nur das staatlich kontrollierte Fernsehen und glauben den Funktionären, die dort auftreten. Aber da begeht die ältere Generation einen Fehler. Wir jungen Leute bekommen die Probleme im Staat zu spüren, die Korruption. Uns terrorisiert unsere Regierung. Senden Sie das. Uns terrorisiert unsere eigene Regierung. Die ist schlimmer als das Osmanische Reich. Drücke ich mich klar genug aus? Und das ist jetzt nicht meine persönliche Meinung, sondern das ist die Wahrheit. Autorin: Transparency International hat Armenien auf der Liste der korruptesten Staaten auf eine Stufe mit Eritrea und Niger gesetzt. Regierungskritiker in Armenien klagen über Importmonopole und überhöhte Preise. Die Einfuhr von Zucker zum Beispiel oder von Benzin liege in den Händen weniger. Die wirtschaftliche Misere sei nicht nur auf die Blockade seitens der Türkei zurückzuführen ? sie sei hausgemacht. Arman verschränkt die Arme vor der Brust. O-Ton: Unsere Zukunft steht in den Sternen. Ich sehe hier keine Perspektive. Vielleicht fahre ich demnächst für immer in die Türkei. Dort suche ich mir Arbeit. Es ist nicht so, dass ich die Türkei besonders liebe. Es macht für mich keinen Unterschied, ob ich in die Türkei oder nach Angola gehe. Hauptsache, es gibt Arbeit. Literatur-Sprecher: Ja, wir sind klein, klein. Doch wie der Fels, der aus dem Gipfel drängt und kräftig wie ein Feldstein ist. Klein wie unsere Bergbäche, die wilde Kraft gesammelt haben, um fremde Ströme auszufüllen, die träge durch die Ebenen ziehen. Wir sind klein, gleich unserem Land. Klein wie das wundersame Uran, das unverlöschbar funkelt und strahlt, Jahrhunderte lang. Autorin: Istanbul. Das Händlerviertel Laleli. Lastenträger schieben ihre Karren über die schmalen Bürgersteige, schlängeln sich durch Kleiderständer, Schaufensterpuppe, Obstverkäufer und Passanten. Packer umwickeln Kleidersäcke mit Klebeband, stapeln sie am Straßenrand, beladen Lieferwagen. Textilverkäufer schaffen frische Ware in ihre Läden. In vielen Schaufenstern hängen Schilder mit kyrillischer Schrift. Darauf steht "optom", Verkauf "en gros". Händler aus ganz Osteuropa kaufen hier ein. Inmitten der Läden verbirgt sich der Eingang zu einem kleinen Hotel. Im Foyer abgewetzte Sitzgruppen, fleckige Fliesen, im Fernsehen laufen Musikvideos. Frauen zerren Tüten und Kartons aus dem Fahrstuhl, packen deren Inhalt - Blusen, Jacken, Kostüme - in große Säcke um. Die Namen der Empfänger stehen schon drauf. Alle enden auf die Endsilbe -yan, alle sind Armenier. Im Hotel wohnen fast nur Händler aus Eriwan. Etwas abseits sitzt Nelly Zakaryan und beugt sich über ein Notizheft. Sie geht eine Liste mit Zahlen durch. Am Vortag hat sie Pantoffeln gekauft, für umgerechnet mehr als 5.000 Euro. O-Ton: In Armenien kann ich davon leben. Nicht gut, aber es geht. Es ist allerdings erniedrigend, dass in Armenien fast niemand in seinem Beruf arbeitet. Ich bin eigentlich Juristin. Autorin: Nelly Zakaryan kommt aus Artaschat, einer Kleinstadt südlich von Eriwan, ganz nah an der Grenze zur Türkei. Sie hat dort zwei Läden. Das Geschäft mit den Pantoffeln läuft so gut, dass sie sich, anders als die meisten armenischen Händler, sogar ein Flugticket leisten kann. Einmal im Monat kommt sie nach Istanbul. Ihr Rückflug geht am nächsten Tag, bis dahin will sie noch etwas Kinderkleidung einkaufen. Nelly Zakaryan atmet schwer. Ihr Übergewicht macht ihr zu schaffen. Vorsichtig balanciert sie auf schmalen Schuhen über den holprigen Asphalt, über Stufen und Schwellen. Immerhin hat sie heute keine Angst mehr, sagt sie. Vor fünfzehn Jahren war das noch anders. Da waren sie und ihr Mann zum ersten Mal in Istanbul, unfreiwillig. Sie hatten Urlaub in Bulgarien gemacht, und wegen eines Schneesturms konnte das Flugzeug in Sofia nicht starten. Die Reisegruppe wurde nach Istanbul umgeleitet. Dort hatten sie einen Tag Aufenthalt. O-Ton: Ich habe damals sogar meinem Mann gesagt: Sag niemandem, dass wir Armenier sind. Und sprich bloß kein Armenisch auf der Straße. In einem Laden wurde ich damals gefragt: Kommen Sie aus der Ukraine? Ich habe ja gesagt. Als sie dann mitbekamen, dass ich aus Eriwan komme, waren sie ganz besonders aufmerksam. Und das ist auch jetzt so. Ganz egal, in welchen Laden man geht, sobald die Leute hören, Armenien oder Eriwan, sagen sie: Freund. Armenier werden hier besonders geachtet. Autorin: Zielstrebig steuert Nelly Zakaryan einen Laden mit Kinderkleidung an. Der Inhaber, ein älterer Mann mit buschigem Schnauzbart, lächelt, bietet Tee an. Alle verständigen sich auf russisch. O-Ton: Sehen Sie, wie nett sie sind. Haben Sie Bodies? Autorin: Nelly Zakaryan betastet die Stoffe, reibt sie zwischen den Fingern, nickt. Ein rosa Frotteeanzug mit einem aufgenähten Teddy gefällt ihr besonders gut. Er kostet 4,70 Dollar. Der Mann reicht ihr einen Taschenrechner. O-Ton: Ich nehme das mal 1,5. Weil ich 50 Prozent auf den Preis aufschlagen muss. Die Hälfte davon geht für meine Ausgaben drauf: Hotel, Taxi, Flugticket, dazu noch der Transport der Ware. Der kostet vier Dollar pro Kilo, inklusive Zoll. Das macht die Ware teurer. Wenn die Grenze zwischen Armenien und der Türkei offen wäre, würde der Transport wahrscheinlich nur die Hälfte kosten. Aber sie machen die Grenze nun mal nicht auf. Autorin: Schließlich nimmt sie ein gutes Dutzend verschiedene Modelle, vorwiegend in hellblau und rosa, immer drei bis fünf Stück. Später bringen die Verkäufer die beiden Pakete zu einem Transportunternehmen. Sie selbst muss sich um nichts kümmern. Alles beruht auf gegenseitigem Vertrauen. O-Ton: Als ich letztes mal in Istanbul war, habe ich in einem Laden mit dem Namen Odessa Pantoffeln gekauft. Der Verkäufer heißt Habib. Ich hatte mir notiert: 100 Paar davon, 100 davon, 100 davon. Als ich in Armenien war, habe ich nachgezählt und festgestellt, dass vier Packungen mit je sechs Paaren fehlten. Da habe ich ihn angerufen und gesagt: Habib, ich habe ein Problem. Vier Packungen fehlen. Er hat nur gesagt: Schwester, kein Problem, ich leg sie dir zurück. Ich hätte auch sagen können: mir fehlen zehn Packungen. Selbst dann hätte er gesagt: Kein Problem. Aber ich denke: Wenn ich ihn betrogen hätte, hätte ich das zu Unrecht eingenommene Geld bestimmt bei anderer Gelegenheit verloren. Autorin: Nelly Zakaryan begrüßt den Händler im Laden nebenan. Er verkauft Strickwaren. O-Ton: Die Armenier kaufen viel. Sie sind gute Kunden. Und sie kaufen gute Ware. Das Geschäft mit ihnen läuft. Das sind gute Menschen. Autorin: Nelly Zakaryan zieht weiter, von Geschäft zu Geschäft. Erst mittags gönnt sie sich eine Pause im Hotel. O-Ton: Hier interessiert sich niemand dafür, woher du kommst. Absolut nicht. Das sind alles Händler. Sie denken nur ans Geschäft. Mit Politik haben die nichts am Hut, und vom Genozid haben sie noch nie gehört. Aber sie müssen ihn anerkennen. Wir kommen gut miteinander aus, aber die Türken müssen den Genozid anerkennen, damit sich die Geschichte niemals wiederholt. Sprecher: Das waren Gesichter Europas. Die Überwindung der Sprachlosigkeit: Armenien und die vorsichtige Annäherung an die Türkei. Eine Sendung von Gesine Dornblüth ? mit Texten von Geworg Emin und Zahrad, der von Raffi Kantian übersetzt wurde. Sprecher war Tilmar Kuhn. Die Redaktion hatte Thilo Kössler. ------------ 21