Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 14. Januar 2012, 19 Uhr 30 Humboldt und die Effizienz Über die Ökonomisierung der Hochschulen Von Johannes Zuber Musik 01 01 O-Ton Herzog Wir brauchen einen neuen Aufbruch in der Bildungspolitik. 02 O-Ton Sprechchor Wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut! 03 O-Ton Lieb Es hat einen regelrechten Leitbildwechsel gegeben. Vom humboldtschen Universitätsideal, hin zu einer marktorientierten unternehmerischen Hochschule. 04 O-Ton Sprechchor: Bildung für alle, und zwar umsonst! 05 O-Ton Herzog Ihr müsst etwas leisten, sonst fallt ihr zurück. 06 O-Ton Hartmann Wir werden eine soziale Differenzierung bei den Studierenden bekommen, wir werden eine Konzentration bei den Wissenschaftlern bekommen. Sprecher vom Dienst: Humboldt und die Effizienz Über die Ökonomisierung der Hochschulen Ein Feature von Johannes Zuber Sprecher Die deutschen Hochschulen verändern sich. Aus altehrwürdigen Universitäten werden Wissensbetriebe, die sich wie international agierende Unternehmen verhalten. Effizienz, Konkurrenz, Wettbewerbsfähigkeit. Was steckt eigentlich hinter diesen Begriffen? Und was bedeutet der Wandel für die Universitäten, für die Gesellschaft? 01 Atmo Bahn Sprecher Ich bin Student an der TU Dortmund. Für meine Bachelorarbeit in Journalistik mache ich mich auf die Suche nach Antworten. Mein erstes Ziel: Bochum. 07 O-Ton U-Bahn Nächste Haltestelle: Ruhr-Universität. Musik-Bett rein (Werbefilm Bochum) 02 Atmo U-Bahn U-Bahn Tür schließt 08a O-Ton Werbefilm Bochum Willkommen auf dem Internationalen Campus der Ruhr-Universität Bochum (Musik weiter als Bett) Sprecher In einem Image-Film präsentiert die Uni ihre Pläne für den modernisierten Campus. 08b O-Ton Werbefilm Bochum: Der Campus der Zukunft ist Lebensraum einer urbanen, europäischen Universität. Sprecher Noch ist davon nicht viel zu sehen. Statt einer großzügigen Allee wie im Film führt eine Beton-Brücke von der U-Bahn-Station zu den grauen Hörsaal- und Bürogebäuden aus den 60er Jahren. Besucher können sich von einem Audioguide über den Campus führen lassen. 09 O-Ton Audioguide Nordforum2: Mit der U-Bahn-Haltestelle im Rücken, kann man rechts das Musische Zentrum sehen. Sprecher An der Betonwand des Gebäudes steht in bunten Buchstaben "The grey reality". (Bett abreißen raus) 10 O-Ton Scratch Sprecher Willkommen in der grauen Wirklichkeit. 11 O-Ton Audioguide Nordforum 3: Gegenüber liegt die Uni-Verwaltung. Hinter der Drehtür verbergen sich außerdem der Info-Point mit Uni-Shop und das Café Olé. Sprecher Oben im dritten Stock habe ich einen Termin mit dem Rektor. 12 O-Ton Weiler Elmar Weiler ist mein Name, Rektor der Ruhr-Universität. Sprecher Der Professor für Pflanzenphysiologie ist seit 2006 im Amt. Unter seiner Führung hat sich die Uni 2007 und 2011 im Rahmen der Exzellenzinitiative um Fördergelder beworben. Zum inoffiziellen Status der Eliteuni hat es beide Male nicht gereicht. 13 O-Ton Weiler Das muss man vielleicht ganz sportlich sehen. Sprecher Rektor Elmar Weiler. 14 O-Ton Weiler Und da waren wir schon sehr froh, dass wir wieder in diese Endrunde kamen und ich glaube, das ist auch ne gute Position für die Ruhr-Universität, dass wir da jetzt nicht erfolgreich waren, ist glaube ich nicht so kritisch. Sprecherin Die Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder fördert einzelne Universitäten in drei Bereichen. Finanziell unterstützt werden Einrichtungen, die Doktoranden ausbilden sowie Forschungsverbünde. Das meiste Geld aber gibt es in der dritten Linie, den sogenannten Zukunftskonzepten. Wer hier gewinnt, steht am nächsten Tag als Elite-Uni in der Zeitung. 14 b O-Ton Weiler Da sind wir mit einem Konzept angetreten, das die gesamte Universität umfasste, von der Philosophie bis zum Bauingenieur die komplette Disziplinenpalette, Und das war, wie ich finde, eigentlich ein ganz charmantes Konzept, weil es sichergestellt hätte, im Erfolgsfalle, dass die Universität sich nicht in zwei Lager zerteilt hätte, nämlich die die nicht gefördert werden und die die gefördert werden, das wollten wir von vornherein verhindern. Sprecher Einen zweistelligen Millionenbetrag hätte Weiler für seine Uni ergattern können. Angesichts dieser Summe ist es verständlich, dass man keine Mühen gescheut hat, um eine möglichst vielversprechende Bewerbung abzugeben. 15 O-Ton Weiler Der ganze Prozess ist sehr kompliziert. Sprecher Wer die erste Ausschreibungsrunde übersteht, muss sogenannte Vollanträge stellen. 16 O-Ton Weiler Die Anträge übereinander gestapelt wogen sieben Kilo. Also es war ne ordentliche Menge Papier, weit über tausend Seiten. Sprecher 450 Wissenschaftler und Bibliotheksangestellte haben neben ihren eigentlichen Aufgaben als Forscher oder Dozenten an den Anträgen gearbeitet. Auch die Verwaltung war zeitweise mit nichts anderem beschäftigt. 17 O-Ton Weiler Also man kann das berechnen, in Stundensätzen, haben wir so nicht gemacht. Man fragt sich natürlich letztlich, ob der Aufwand da so gerechtfertigt ist. Sprecherin Rechnet man alle Unis zusammen, die sich bei der Exzellenzinitiative beworben haben, dann kommt man auf mehrere Tausend Wissenschaftler, die über Monate nur für das Bewerbungsverfahren gearbeitet haben. Insgesamt zog sich der ganze Prozess über fast zwei Jahre. 02 Musik Day to Day_Munro Sprecher Die Exzellenzinitiative ist ein typisches Beispiel für das neue Denken im Hochschulwesen: Wettbewerb statt Gießkanne. Früher verteilte das Land seine Mittel relativ gleichmäßig über die gesamten Hochschullandschaft - wie mit einer Gießkanne eben. Heute wird ein wachsender Teil der Mittel durch Wettbewerbe wie die Exzellenzinitiative vergeben. Die Idee, dass mehr Wettbewerb bessere Ergebnisse und eine höhere Effizienz erzeuge, stammt aus der Wirtschaftswissenschaft. 1776 beschrieb der schottische Moralphilosoph Adam Smith, wie Arbeitsteilung und freier Wettbewerb zum Gemeinwohl beitragen können. Sein knapp eintausend Seiten starkes Buch wird seitdem häufig auf die Formel reduziert: Mehr Wettbewerb gleich höheres Gemeinwohl. Und: Weniger Staat gleich höhere Effizienz. Und deshalb soll auch im Hochschulwesen Wettbewerb herrschen. Universitäten sollen um Studierende, um Forschungsgelder und um gute Positionen in Rankings konkurrieren. 03 Atmo Aber kann man diese Idee aus der Wirtschaft wirklich auf Hochschulen übertragen? Um das herauszufinden, fahre ich nach Bayern. 18 O-Ton Bahn Bamberg: Wir verabschieden uns von allen Fahrgästen, die in Bamberg aussteigen und wünschen Ihnen einen angenehmen Tag, auf Wiedersehen. Atmo weiter laufen lassen. Sprecher Die fränkische Kleinstadt Bamberg sieht aus wie aus dem Mittelalter gefallen. Fachwerkhäuser, enge Gassen, ein Dom. Die Universität ist eine der ältesten in Bayern und bekannt für ihre Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. 19 O-Ton Münch Ich bin Richard Münch, Soziologie-Professor an der Universität Bamberg. Sprecher Richard Münch gehört zu den bedeutendsten deutschen Soziologen Spezialgebiet: Gesellschaftstheorie. 20 O-Ton Münch Die Hochschulleitungen sind erheblich gestärkt worden und die Autonomie der Hochschulen, insbesondere, was das Budget betrifft, ist erheblich erweitert, und dadurch ergibt sich ein Zwang, Universitäten wie Unternehmen zu führen. Sprecher Universitäten sollen nach Kosten-Nutzen-Rechnungen handeln: Was sich finanziell nicht lohnt, wird abgeschafft oder reduziert. Und so sind in den vergangenen Jahren schon viele Studiengänge und Lehrstühle dem Sparwillen oder dem Profilierungseifer zum Opfer gefallen. 21 O-Ton Münch Zur Universität gehört, dass sie aus ihrer Vielfalt auch schöpfen kann, es eine Basis für interdisziplinäre Forschung gibt, aber auch für die Studierenden ein breites Angebot da ist, dass sie Verschiedenes miteinander kombinieren können, wenn aber alle zu einer Spezialhochschule werden, ist es für das gesamte System schlecht. Sprecher Was dagegen Geld einbringt, wird ausgebaut. 22 O-Ton Münch Universitäten als Unternehmen können natürlich ihr Kapital vermehren, das dann für Forschung und Lehre zur Verfügung steht. Und in diesem Sinne können sie schon auf diesem Markt - dem Quasi-Markt, der da geschaffen wird - mehr oder weniger erfolgreich sein. Sprecherin Anders als in einem richtigen Markt führt Wettbewerb in einem solchen Quasi- Markt nicht zu höherer Effizienz. Denn das wichtigste Element fehlt: Sprecherin In einem Markt muss es einen Preis geben, der durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird. In vielen Bereichen gibt es keine oder nur unvollständig funktionierende Märkte, also inszeniert man Wettbewerbe. 23 O-Ton Bolt Startschuss (Atmo) Auf geht's mit einem Aufschrei. Bolt ist schon vorne. (Atmo) Atmo weiter laufen lassen Sprecherin Solche Wettbewerbe ohne Markt kennt man aus dem Sport. Sie können trotzdem sinnvoll sein, weil sie erstens Spaß machen und zweitens auch die Leistung der Sportler durch regelmäßiges Training steigern. 24 O-Ton Bolt Bolt gegen Blake! Er muss kämpfen, aber er schafft's. Und: Klasse Zeit! Atmo raus Sprecher Anders ist es in Wettbewerben wie der Exzellenzinitiative. Wer sich hier um Fördergelder bewirbt, verbessert damit nicht seine Forschungsleistung. Im Gegenteil: Ein Forscher, der tage- oder sogar wochenlang Bewerbungen und Anträge schreiben muss, kann in dieser Zeit nicht forschen. Seine Forschungsleistung verschlechtert sich. 25 O-Ton Münch Da hat man so ein neoliberales Paradigma als generelles Modell für Reformen, das den Blick auf die soziale Realität verengt; dann hat man noch eine verengte Vorstellung von Wettbewerb, und hat deswegen falsche Erwartungen davon, was daraus hervor geht, man sieht dann nicht die negativen Konsequenzen. Sprecher Das heißt nicht, dass es in der Wissenschaft keinen Wettbewerb geben soll. Ganz im Gegenteil: 26 O-Ton Münch Es gibt schon immer den wissenschaftlichen Wettbewerb zwischen Forscherinnen und Forschern um Anerkennung in der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Also dadurch, dass eben Forschungsergebnisse hervorgebracht werden, publiziert werden, man die Aufmerksamkeit der Kolleginnen und Kollegen gewinnt; das ganze wissenschaftliche Leben ist dadurch geprägt, dass man Beiträge leistet und dafür Anerkennung bekommt. Sprecher Neben der natürlichen menschlichen Neugierde jedes einzelnen Wissenschaftlers führt eben dieser Wettbewerb um Anerkennung dazu, dass neue Dinge erforscht und alte hinterfragt werden. Nur so entsteht neue Erkenntnis. Der neue Wettbewerb, wie ihn die Exzellenzinitiative inszeniert, ist aber nicht mehr ein Wettstreit zwischen Forschern um Erkenntnis. Es geht um die Konkurrenz zwischen ganzen Unis. 27 O-Ton Münch Dieser Wettbewerb zwischen Universitäten, der wird entschieden durch ihr Kapital. Habe ich viel Kapital, kann ich viele produktive Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen berufen. Hab ich welche berufen, dann kann ich mein Prestige steigern. Und mit diesem gesteigerten Prestige kann ich auch wieder mehr Geld akkumulieren und ich kann auch andere, weitere Wissenschaftler an mich ziehen. Das ist letzten Endes ein Verdrängungswettbewerb. Sprecherin Die TU München beispielsweise umwirbt Wissenschaftler weltweit. Dafür hat sie ein Netz aus Rekrutierungsbüros auf der ganzen Welt gespannt. In Zukunft möchte sie sogar mit einer Personalberatung zusammenarbeiten - sogenannten Head Huntern, die helfen sollen, einhundert neue Professoren nach München zu locken. Die kann sich die Uni vom Geld der Exzellenzinitiative leisten. 01 Musik Bett Automata_Bradley 28 O-Ton Pressesprecher: Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Freitag, 15. Juni, 15 Uhr 34 29 O-Ton Tagesschau-Sprecherin 1: Elf deutsche Hochschulen werden künftig als Elite-Unis besonders gefördert. 30 O-Ton Schavan 1: In allen Regionen in Deutschland gibt es heute gute Nachrichten. 31 O-Ton Tagesschau-Sprecherin 2: Elite-Unis bleiben: die Freie Universität Berlin, die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen sowie die Uni Heidelberg, die beiden Münchner Unis und die Uni in Konstanz. 32 O-Ton Rektor Konstanz: Das ist ein fantastischer Tag für die Uni Konstanz (Jubel) 33 O-Ton Tagesschau-Sprecherin 3: Neu hinzu kommen: Bremen, die Humboldt-Universität Berlin sowie die Unis in Köln, Tübingen und Dresden. 34 O-Ton Schavan: Natürlich, meine Damen und Herren, gehört zu einem solchen Tag auch Enttäuschung am einen und anderen Standort. Bett langsam raus Sprecher 2,7 Milliarden Euro für fünf Jahre. Zusätzlich zu den regulären Mitteln. Genug Geld, um ein Hochschulsystem ordentlich durchzurütteln. 04 Atmo Bahn Sprecher Ich will herausfinden, was die Förderung von Elite-Unis mit dem deutschen Hochschulsystem macht. Dafür setze ich mich wieder in den Zug . 35 O-Ton Hartmann Michael Hartmann, Professor für Soziologie an der TU Darmstadt. Sprecher Hartmann ist bekennender Linker und der wohl bekannteste Elitenforscher Deutschlands. 36 O-Ton Hartmann Die ganze Exzellenzinitiative hatte ein wesentliches Ziel: Die deutsche Hochschullandschaft, also die deutsche Universitätslandschaft zu hierarchisieren. Sprecher Die Exzellenzinitiative läuft nur bis 2017. Danach soll es erstmal keine weitere Förderrunde geben. Das heißt allerdings nicht, dass die Hierarchisierung damit auch wieder aufhört. In den meisten Bundesländern werden große Teile der Landesmittel nach Leistungskriterien vergeben. 37 O-Ton Hartmann Und eines der wesentlichen Kriterien - manchmal nur eins von dreien -sind immer die Drittmittel: d.h., die, die bei der Exzellenzinitiative zusätzliche Drittmittel eingeworben haben, die zählen ja als Drittmittel, werden noch mal belohnt durch einen höheren Anteil der Landesmittel, Was in NRW bedeutet, dass Aachen doppelt profitiert, während Universitäten wie Wuppertal oder Siegen doppelt benachteiligt sind. Sprecher: In Zukunft soll es einige Spitzenuniversitäten geben. Dort sollen sich die besten Forscher versammeln und an großzügig ausgestatteten Instituten Spitzenforschung betreiben. Das Ziel: Deutsche Universitäten sollen in der Liga der ganz Großen mitspielen. In einer Reihe mit Harvard, Oxford und Yale. An Großbritannien und den USA lässt sich aber auch erkennen, wie hoch der Preis für Spitzen-Universitäten ist. Eine wachsende soziale Kluft zwischen Elite-Unis und unterfinanzierten Massenhochschulen. 38 O-Ton Hartmann Wenn man sich andere Länder wie Frankreich, Großbritannien, die USA anguckt, da haben wir ein paar Spitzenuniversitäten, wir haben aber auch eine Vielzahl von Universitäten, deren Niveau weit unterhalb dessen ist, was wir uns hier überhaupt vorstellen können. Sprecher: Bereits jetzt geht jedes zweite Akademiker-Kind mit sehr gutem Abitur an eine der neuen Elite-Unis in Deutschland. Der Anteil der Arbeiterkinder an diesen Hochschulen ist dementsprechend gesunken. 39 O-Ton Hartmann Wir erleben eine Hierarchisierung in jeglicher Hinsicht: Finanziell, symbolisch wie auch sozial, und diese Hierarchisierung hat viel mit Macht und Herrschaft zu tun. Wenn du auf Dauer Karriere machen willst, dann ist das am günstigsten auf so einer Uni, die diesen Stempel Elite hat. Musik Bett Day to Day_Munro Sprecherin Die Universität ist - neben der katholischen Kirche - eine der ältesten Einrichtungen der Welt. Ihre Geschichte geht bis ins frühe Mittelalter zurück, wo aus Klosterschulen kleine Akademien für Adelskinder wurden. Die Idee für eine moderne Universität in Deutschland hatte der Politiker und Gelehrte Wilhelm von Humboldt - vor etwa 200 Jahren. Er gründete die Berliner Universität, die heute seinen Namen trägt und er setzte sich dafür ein, Forschung und Lehre als Einheit zu begreifen. Universitäten sollten unabhängig von staatlichen Interessen und Einflüssen arbeiten. Nur der Suche nach Wahrheit verpflichtet. Diese Tradition wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik wieder aufgenommen. Bett raus 04 Atmo Zug 40 O-Ton Bahn Köln Meine sehr verehrten Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Köln Hauptbahnhof. 41 O-Ton Lieb Ich bin Wolfgang Lieb, ich war bis 2000 Staatssekretär im Wissenschaftsministerium NRW. Sprecher Wolfgang Lieb hat als Student, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Staatssekretär und Publizist die letzten 50 Jahre der deutschen Hochschulgeschichte mitgestaltet. Der Sozialdemokrat hat erlebt, wie sich die Unis öffneten. Anfang der 60er Jahre haben gerade mal fünf Prozent eines Jahrgangs ein Studium angefangen. Heute ist es fast die Hälfte. Wolfgang Lieb hat die Studentenbewegung erlebt, die das Hochschulsystem demokratisiert hat. Und er war dabei, als Mitte der 70er Jahre die Gelder für die Hochschulen eingefroren wurden, der Anteil der Hochschulausgaben gemessen an der Wirtschaftsleistung innerhalb von zwei Jahrzehnten um rund ein Drittel sank. Die Zahl der Studierenden sich im gleichen Zeitraum noch einmal mehr als verdoppelte. Immer wieder hat sich die Hochschule verändert. 42 O-Ton Lieb Es gab aber nicht diesen fundamentalen Leitbildwechsel, den wir dann ab dem Jahr 2000 erlebt haben. Im gesamten gesellschaftlichen Leben hat eine Marktorientierung stattgefunden, und dieser Wandel hat natürlich auch die Hochschulen erreicht. Und von daher war es also kein Wunder, dass die Hochschulen selbst über den Markt um Studiengebühren, um Forschungsmittel gesteuert werden sollten und nicht mehr durch demokratisch legitimierte Instanzen wie ein demokratisch kontrolliertes Ministerium oder das Parlament. Sprecherin Nordrhein-Westfalen ist bei dieser Entwicklung am weitesten gegangen. 2006 verabschiedete der Landtag ein Gesetz der schwarz-gelben Regierung und ihrem Innovationsminister Andreas Pinkwart von der FDP. Das Hochschulfreiheitsgesetz regelt Organisation und Finanzierung der nordrheinwestfälischen Hochschulen neu. Sie sind jetzt nicht mehr dem Wissenschaftsministerium unterstellt sondern rechtlich eigenständige Körperschaften, die wie Unternehmen auf dem freien Markt agieren sollen. 43 O-Ton Lieb D. h.: Die unternehmerische Struktur mit autokratischer Hochschulleitung, mit Aufsichtsräten hat natürlich dazu geführt, dass die Selbstverwaltung der Hochschule zurückgedrängt worden ist. Teilweise sogar entmachtet worden ist. Sprecher Das also soll die schöne neue Freiheit des Hochschulfreiheitsgesetzes sein?. 44 O-Ton Lieb Ach wissen Sie, der Freiheitsbegriff ist einer der Begriffe, die in der Menschheitsgeschichte am häufigsten gebraucht und missbraucht worden sind. Sprecher Neben der negativen Freiheit, also der Freiheit von äußeren Zwängen gibt es nämlich auch die positive Freiheit. Die Freiheit, etwas zu tun. 45 O-Ton Lieb Und wenn man einmal danach fragt, von wem ist die Hochschule frei geworden, dann kann man sagen: sicherlich von der staatlichen und demokratischen Verantwortung, aber sie ist unfreier geworden, in dem Sinne, dass sie sich den anonymen und angeblich objektiven Zwängen des Wettbewerbs unterstellen musste. 05 Atmo U-Bahn Sprecher Dazu gehört, das die Universitäten heute um die Studenten konkurrieren. Noch vor wenigen Jahren war das kaum möglich. Denn da gab es die ZVS in Dortmund. Hier saßen die Mitarbeiter der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen. Sie entschieden, wer wo studieren durfte. Studieninteressierte, die heute nach Dortmund kommen, steigen nicht mehr an der ZVS aus, um ihre Bewerbungen loszuwerden. Sie fahren mit der U-Bahn ein paar Stationen weiter. 46 O-Ton U-Bahn Westfalenhallen: Westfalenhallen. 06 Atmo Tür schließt Sprecher Etwa 14.000 Abiturienten und Interessierte sind in die Dortmunder Westfalenhallen gekommen. An rund 200 Messeständen präsentieren sich in- und ausländische Hochschulen, berufsbildende Einrichtungen und große Unternehmen, werden Kulis, Süßigkeiten und Info-Broschüren verteilt. Judith Lövenich von der Einstieg GmbH. 47 O-Ton Lövenich Also ich glaub, vor 20 Jahren gab es weniger Abteilungen, die Hochschulmarketing gemacht haben und sich genau damit auseinandergesetzt haben. Es wird sicher daran liegen, dass es deutlich mehr auch private Hochschulen gibt, dass auch das ein bisschen vielfältiger geworden ist, die Bildungslandschaft in Deutschland. Sprecher Die privaten Hochschulen machen den staatlichen Konkurrenz. Sie versprechen ihren Absolventen hohe Einstiegsgehälter, pflegen gute Kontakte zu Unternehmen und bieten kleinere Kurse. 48 O-Ton Student FS Und das muss natürlich bezahlt werden. 6200 pro Semester im Vollzeitbereich - klar, das ist nicht günstig, aber man muss es als Investition sehen. Sprecher Für Studierende und deren Eltern spielen solche Überlegungen natürlich eine Rolle. Ihnen ist wichtig, 49 O-Ton Mutter Dass man in der Zukunft gute Chancen auf nen Arbeitsplatz hat. Dass man nicht irgendwas studiert, wo es hinterher keine Berufe oder keine Arbeitsplätze für gibt. 50 O-Ton Abiturientin Ich werde mir eine private wahrscheinlich nicht leisten können. Sonst An sich finde ich das gut, was die bieten, auch dass man nur mit so 30 Studenten in einer Vorlesung sitzt und nicht unbedingt mit 600 oder so. Das finde ich schon gut, aber ich werde wahrscheinlich an eine, äh nicht an eine private Schule gehen. 51 O-Ton Abiturientin Ich bin bereit überall hinzugehen, das ist mir eigentlich egal. Von mir aus auch in den Osten oder so. Aber. Hauptsache studieren. 52 O-Ton Scratch Sprecher Konkurrenz, Markenbewusstsein, inszenierte Wettbewerbe, Rankings... Diese Entwicklung im unterfinanzierten deutschen Hochschulsystem kommt nicht von ungefähr. 53 O-Ton Bahn Gütersloh: Nächste Station: Gütersloh Hauptbahnhof 07 Atmo weiter laufen lassen Sprecher Nach Schätzungen des Finanzdienstleisters Merrill Lynch hat der weltweite Bildungsmarkt ein Finanzvolumen von 2200 Milliarden US-Dollar jährlich. An diese Fleischtöpfe will auch Bertelsmann ran. Solange der deutsche Bildungssektor allein in staatlicher Verantwortung ist, ist er kein attraktives Geschäftsfeld. Also muss man Wege finden, den Bildungssektor aus der staatlichen Verantwortung zu lösen. 1994 gründete Bertelsmann-Patriarch Reinhard Mohn, gemeinsam mit der Hochschulrektorenkonferenz das CHE, das Centrum für Hochschulentwicklung. Der erste Leiter war der ehemalige Dortmunder Uni-Rektor, Detlef Müller-Böling. Er hat mit dem CHE die Veränderungen im deutschen Hochschulsystem maßgeblich vorangetrieben 54 O-Ton Müller-Böling Ich hab Anstöße dazu gegeben, in der Tat, weil ich erlebt hatte, dass wir in dem System insgesamt erstarrt waren. Und deshalb hab ich dieses Prinzip oder die Idee, Vision der entfesselten Hochschule entworfen, in der eben Denkblockaden überwunden wurden und in dem auch neue Steuerungsmechanismen eingeführt wurden. Sprecher Dazu gehört die Einführung von Hochschulräten, die in der Regel mehrheitlich mit externen Vertretern, zum Beispiel aus Unternehmen besetzt sind - darunter der eine oder andere Bertelsmann verbundene Manager. 55 O-Ton Müller-Böling Für mich war der entscheidende Punkt für die Einführung von Hochschulräten, dass wir einen Anwalt für die Interessen der Hochschule insgesamt benötigen. Sprecher Das CHE arbeitet nach eigenen Angaben noch heute nach den Richtlinien Müller-Bölings. Im Jahr 2000 hat er ein Buch geschrieben unter dem Titel "Die entfesselte Hochschule". Darin fordert er: Bett - Day to Day_Munro Sprecherin Erstens: Die autonome Hochschule. Sprecher: Das Rektorat soll frei über die Finanzen verfügen, der Hochschulrat soll die staatliche Kontrolle ersetzen, Studierende und Professoren sollen weniger mitentscheiden. Sprecherin Zweitens: Die wissenschaftliche Hochschule. Sprecher: Alle Hochschulen sollen sich ein einzigartiges Profil geben. Dadurch sollen sichtbare Qualitäts-Unterschiede entstehen, die gemessen werden können. Sprecherin Drittens: Die wettbewerbliche Hochschule. Sprecher: Unis sollen um Studierende konkurrieren. Ein Ranking soll die Unterschiede zwischen den Hochschulen sichtbar machen. Sprecherin: Viertens: Die profilierte Hochschule. Sprecher: Hochschulleitungen sollen unter Anleitung von Unternehmensberatern Ziele definieren und diese dann effizient verfolgen. Sprecherin: Fünftens: Die wirtschaftliche Hochschule. Sprecher: Die Bundesländer sollen Hochschulen nach Leistung finanzieren. Dazu sollen die Einnahmen aus Studiengebühren kommen. Sprecherin: Sechstens: Die internationale Hochschule. Sprecher: Studiengänge sollen in Module zerteilt werden, Abschlüsse international einheitlich sein. Sprecherin: Siebtens: Die virtuelle Hochschule. Sprecher: Lehrveranstaltungen, Verwaltung und Prüfungen sollen stärker ins Internet verlagert werden. Bett raus Sprecher Die meisten dieser Forderungen sind heute, 13 Jahre nach Erscheinen von Müller- Bölings Buch, umgesetzt - oder zumindest auf den Weg gebracht. 56 O-Ton Müller-Böling Dass vieles davon realisiert worden ist, hat sicherlich auch mit der Arbeit des CHE zu tun, das ich geleitet habe, aber keineswegs alleine, es handelte sich da auch um einen weltweiten und insbesondere auch um einen europäischen Trend, den wir Deutschen dann verspätet nachvollzogen haben. Und insofern ist das keineswegs mein Verdienst. Sprecher Die Kritiker des CHE sehen das anders. Der ehemalige Staatssekretär Wolfgang Lieb nennt ein Beispiel. 57 O-Ton Lieb Also der Einfluss etwa auf das nordrhein-westfälische so genannte Hochschulfreiheitsgesetz, der lässt sich sozusagen schwarz auf weiß belegen. Sprecher Ende 2005 hat das CHE zehn Anforderungen an ein Hochschulfreiheitsgesetz formuliert. Knapp einen Monat später hat auch der damalige Wissenschaftsminister Andreas Pinkwart, FDP seine Eckpunkte für ein solches Gesetz veröffentlicht. Die meisten Forderungen des CHE hat Pinkwart einfach übernommen. 58 O-Ton Lieb Der Einfluss des CHE ist natürlich dadurch gegeben, dass das CHE sich sehr klug vernetzt hat. Die Bertelsmann-Stiftung kooperiert mit sehr vielen anderen Stiftungen, und hat sich, wenn man so will, zu einem informellen Bundesbildungsministerium entwickelt. Sprecher Hinzu kommt, dass die Bertelsmann-Stiftung nicht nur Gesellschafter des CHE ist, ihr gehört auch die Bertelsmann AG und damit einflussreiche Medien. 59 O-Ton Münch Die Rolle der Bertelsmann-Stiftung darf man nicht unterschätzen. Sprecher Der Bamberger Soziologe Richard Münch. 60 O-Ton Münch Es ist so, dass die Stiftung stark beteiligt ist an der Definition der Situation und am Agenda-Setting. Und als Stiftung auf jeden Fall den Eindruck von politischer Neutralität vermittelt. Was die Bertelsmann-Stiftung verbreitet und dann auch im Centrum für Hochschulentwicklung konkretisiert, das entspricht schon in wesentlichen Zügen dem global ausgebreiteten neoliberalen Paradigma der Governance von bestimmten Bereichen der Politik. 03 Musik-Bett Steady Progress_Bradley Sprecher Die deutsche Politik hat einen Weg eingeschlagen, an dessen Ende eine Handvoll Elite- Unis steht. Aber auch jede Menge unterfinanzierte Massenhochschulen, die ständig effizienter werden müssen. An unabhängige Forschung und Lehre, wie Wilhelm von Humboldt sie gefordert hat, ist dann nicht mehr zu denken. Ist die weitere Ökonomisierung der Hochschulen überhaupt noch aufzuhalten? Die neuen Landesregierungen in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen haben angekündigt, den Prozess - zumindest in Teilen - zurückzudrehen. 61 O-Ton Lieb Die Abschaffung der Studiengebühren ist ein typisches Beispiel dafür, dass ein Kurswechsel an den Hochschulen nur stattfinden kann, wenn es einen gesellschaftlichen Kurswechsel gibt. 62 O-Ton Müller-Böling Ich sag immer, ich bin Anhänger der Wellen-Theorie. Insofern haben wir erstmal in relativ kurzer Zeit einen großen Freiraum für die Hochschulen erreicht, zur Zeit sind wir in einer Phase, wo er wieder eingegrenzt werden soll 63 O-Ton Lieb Also dieses Leitbild hat Schrammen bekommen, dass der Markt alles besser kann als die Vernunft von Menschen. 64 O-Ton Münch Das insgesamt aufzuhalten, da sehe ich also kaum Möglichkeiten, man kann es nur in Grenzen halten, dass es nicht weiter übertrieben wird. Sprecher vom Dienst: Humboldt und die Effizienz Über die Ökonomisierung der Hochschulen. Ein Feature von Johannes Zuber. Es sprachen: Ilka Teichmüller und Adam Nümm Ton: Alexander Brennecke Regie: Beate Ziegs Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 1