Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 15. November 2010, 19.30 Uhr Der Traum vom ewigen Leben Warum wir versuchen, den Tod zu verdrängen Eine Sendung von Ingrid Füller Regie Trommel (darauf:) Zitatorin Grund für Langlebigkeit entdeckt: Zitator Methusalem-Gen lässt Menschen weltweit uralt werden! Zitatorin Methusalemtiere gezüchtet: Zitator Fliegen, Würmer und Mäuse lebten nach Manipulation ihrer Erbanlagen bis zu sechsmal länger als ihre Artgenossen! Zitator Auf den Menschen übertragen, heißt das: Zitatorin 500 Jahre alt werden, ist drin! Regie Trommel wieder hoch und weg. Spr. v. Dienst Der Traum vom ewigen Leben - Warum wir versuchen, den Tod zu verdrängen Eine Sendung von Ingrid Füller Sprecherin Dank der Fortschritte in Medizin und Hygiene ist die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in den Industrieländern innerhalb von 200 Jahren um 40 Jahre gestiegen. Und nicht nur das: Erhebungen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass Altersleiden immer später ausbrechen. Die Zahl der guten, beschwerdefreien Jahre steigt. Aller Voraussicht nach werden Hundertjährige in ein bis zwei Generationen nicht mehr die Ausnahme sein, sondern die Regel. Schon heute ist die Forschung dem Geheimnis von Altern und Langlebigkeit dicht auf die Spur. Zitator Im Herbst 2009 wurden drei Wissenschaftler aus den Vereinigten Staaten für ihre Erkenntnisse über die langsamere Alterung von Körperzellen mit dem Medizin- Nobelpreis ausgezeichnet. Im Mittelpunkt ihrer Forschungen standen die "Telomere": Der wissenschaftliche Begriff für die Enden der Chromosomen, der Träger der Erbanlagen. Telomere habe eine wichtige Funktion, denn sie schützen die Chromosomen vor dem Abbau. Doch bei jeder Teilung einer gesunden Zelle werden die Telomere ein wenig kürzer. Die Folge: Ab einer gewissen Länge teilt sich die Zelle nicht mehr oder sie stirbt. Die Wissenschaftler aus den USA wurden ausgezeichnet, weil sie ein Enzym entdeckt haben, das die Verkürzung der Telomere unterbinden und damit der Alterung von Zellen entgegenwirken kann. Sprecherin Genforscher halten es für möglich, dass sich das menschliche Leben durch genetische Manipulationen unendlich verlängern lässt. Das bedeutet: Altern und Tod würden in immer weitere Ferne rücken. Der Traum vom ewigen Leben scheint zum Greifen nah ... O-Ton 1 (Schmid) Ich weiß, dass schon sehr viele Untersuchungen laufen, die letzten Endes den Tod abschaffen sollen. Da kann man nur sagen, viel Glück mit dem Unternehmen. (lacht) Sprecherin Wilhelm Schmid, Philosoph und Autor zahlreicher Bücher über Lebenskunst. O-Ton 2 (Schmid) Spätestens dann, wenn der Tod abgeschafft wird, werden die Menschen merken, was sie ihm verdankt haben. Nicht, dass ich selbst vollkommen einverstanden wäre mit dem Tod. Er ist die schwerste Herausforderung des Lebens. Aber er ist auch die Grenze, die dem Leben Sinn gibt. Leben ist deswegen so wertvoll, weil es eben eine zeitliche Grenze hat. Wenn Leben unbegrenzt verfügbar sein wird, dann werden wir möglicherweise das Leben sehr langweilig finden. Sprecherin Der Tod sei die entscheidende Motivation, das Leben bewusst zu gestalten, sagt Wilhelm Schmid. Denn das Wissen um die Vergänglichkeit sporne uns dazu an, dass wir das Leben in seiner ganzen Fülle auskosten. So gesehen überschattet der Tod nicht das Leben, sondern er ermöglicht, dass es überhaupt fühlbar wird. Auch der Kulturwissenschaftler Thomas Macho von der Berliner Humboldt-Universität, der sich in zahlreichen Publikationen mit dem Tod beschäftigt hat, hält viel von der Begrenztheit des Lebens - und wenig vom Versuch, es unendlich auszudehnen. O-Ton 3 (Macho) Der Tod ist ein genauso genialer Einfall der Evolutionsgeschichte gewesen wie die Sexualität, und niemand von uns will auf den Status der Amöbe zurückgehen, wo man weder Sexualität hat noch Tod. Man muss sich mal vorstellen, Adam und Eva vor dem Sündenfall waren eigentlich Amöben in ihrem Bewusstsein. Die hatten keine Sexualität, die hatten keine Fortpflanzung, die hatten keine Perspektive auf Nachkommen und die hatten tatsächlich auch keinen Tod. Aber ob das so ein besonderes Glücksmodell sein kann, das wage ich doch sehr zu bezweifeln. Sprecherin Dennoch: In der modernen Gesellschaft stehen Altern und Tod nicht hoch im Kurs. Beide zerstören die weit verbreitete Illusion, nach der jeder nicht nur seines Glückes, sondern auch seines Körpers Schmied ist. Bio- und Anti-Aging-Experten versichern: Auch wer nicht über das sogenannte Methusalem-Gen verfügt, kann uralt werden. Denn Altern wird nur zu etwa 30 Prozent durch die Gene bestimmt. Die restlichen 70 Prozent hängen von der Umwelt, insbesondere aber vom Lebensstil ab. Der körperliche und geistige Abbau lässt sich, so das Credo der Fachleute, mit diversen Maßnahmen lange hinauszögern, wenn nicht gar stoppen. Regie Musik, Trommel Zitator Sorgen Sie für ausreichend Bewegung! Zitatorin Achten Sie auf gesunde Ernährung! Zitator Verzichten Sie mindestens zweimal in der Woche auf das Abendessen! Zitatorin Hören Sie auf zu rauchen! Zitator Trinken Sie Alkohol nur in Maßen! Zitatorin Schlafen Sie mindestens sechs Stunden pro Nacht! Zitator Meiden Sie Ärger und Stress! Zitatorin Vergessen Sie nicht: Optimisten leben länger! Regie Musik wieder hoch und weg Sprecherin Körperliche und mentale Fitness wird zum sozialen Pflichtprogramm. Jedenfalls für all die, die auf Erfolg und Status nicht verzichten wollen. Schwache, kranke oder alte Menschen passen nicht in das Bild einer auf Jugendlichkeit, Leistung und Konkurrenz getrimmten Gesellschaft. Der Philosoph Wilhelm Schmid sieht die Ursache dafür in der Grundstruktur der modernen Zeit, so wie sie sich seit 200 Jahren entwickelt. O-Ton 4 (Schmid) In der modernen Zeit soll alles immer neu sein. Neu sind natürlich per se die Älteren nicht, sodass sich aufgrund dieses Neuheitsstrebens die Altersvorstellung immer weiter verlagert hat. Moderner Traum ist auch, Schmerz, Krankheit, Leid auszuschalten. Und irgendwann war natürlich zu erwarten, dass es auch dazu kommt, dass Altern selber als eine Krankheit dargestellt wird. Sprecherin Der Anti-Aging-Kult suggeriert: Attraktivität, Vitalität und Belastbarkeit sind bis ins hohe Alter möglich. Das heißt aber auch: Jeder ist verantwortlich für seine Gesundheit, seine Ausstrahlung und sein Lebensgefühl. Wer alt oder verbraucht aussieht, kann sich nicht länger auf ein unverschuldetes Schicksal berufen. Er läuft Gefahr, dass die Gesellschaft ihn zur Rechenschaft zieht, sagt Thomas Macho von der Humboldt-Universität in Berlin. O-Ton 5 (Macho) Diese Tendenz hat natürlich auch zur Folge, dass Krankwerden und Sterben latent moralisiert wird. Wenn du dennoch stirbst, obwohl wir doch alles für dich getan haben, dann bist du wohl selber dran schuld gewesen. Dann hast du wohl auch die Verantwortung zu tragen. Und das hat natürlich auch eine ganz düstere Seite. Sprecherin Der Kulturwissenschaftler nennt aber noch einen anderen, wichtigen Grund, der uns antreibt, das Altern zu verleugnen, so gut es geht. Denn alte Menschen erinnern an die Vergänglichkeit und an das Ende des Lebens, auch des eigenen. O-Ton 6 (Macho) Das würde ich so sehen, dass dieser Versuch, schön und jung zu bleiben bis ins hohe Alter, was damit zu tun hat, nicht erinnern zu dürfen an den Bevorstand des eigenen Todes. Wir dürfen nicht aussehen wie die Leichen bei Lebzeiten. Das ist zweifellos richtig. Und das ist sicher auch ein Hintergrund für den Schönheitskult, der in unserer Kultur getrieben wird. Sprecherin Kein Wunder, dass der Kampf gegen Altern und Tod pathologische Züge annehmen kann. Psychologen beobachten, wie schwer es vielen Menschen fällt, den fortschreitenden Verfall ihres Körpers als unvermeidliches Schicksal zu akzeptieren. Vom Tod - als Endpunkt des Alterns - ganz zu schweigen. O-Ton 7 (Richter) Das hängt, glaube ich, damit zusammen, dass wir so stark auf Selbstverwirklichung, Selbstwert, Selbstgefühl, Autonomie fixiert sind. Da hat sich unsere Gesellschaft auch verändert innerhalb von wenigen Jahrzehnten, auf jeden Fall Jahrhunderten, und der Altersprozess passt natürlich nicht. Sprecherin Rainer Richter, Psychoanalytiker und Hochschullehrer in Hamburg und Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer. O-Ton 8 (Richter) Das fängt an mit der Autonomie: Altern schränkt die Autonomie ein, die ganzen Möglichkeiten, selbst bestimmt zu leben, nehmen ab, und zwar nicht erst im letzten Dezennium, sondern relativ frühzeitig. Die körperlichen Einschränkungen fangen sehr früh an. Und das zu akzeptieren, widerspricht völlig dem Sinn, den wir selber, gesellschaftlich auch gut verankert, unserem Leben geben. Es kann so weit gehen, dass das krank macht, weil das Erleben des eigenen Alters so kränkend ist, dass Menschen dadurch krank werden. Das wäre dann die Erklärung für Depression. Depression ist ja aus psychotherapeutischer Sicht verbunden mit dem Erleben eines Verlustes, häufig eines Menschen, aber auch Verlust von einer eigenen Vorstellung, einer Idee, in Kombination mit einer Einschränkung oder Verletzung des Selbstwertgefühls. Regie Musikakzent Sprecherin Seit der Antike hadern Menschen mit ihrer Sterblichkeit. Und schon damals rieten ihnen Philosophen, gelassen mit dem Unvermeidbaren umzugehen. Der Tod geht uns nichts an, schrieb Epikur in einem Brief: Zitator Wenn wir da sind, ist der Tod nicht da, aber wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr. Er geht also weder die Lebenden noch die Gestorbenen an; für die einen ist er ja nicht vorhanden, die anderen aber sind für ihn nicht mehr vorhanden. Sprecherin Ganz ähnlich sah es der französische Philosoph Michel de Montaigne, der in einem seiner berühmten Essays aus dem Jahr 1580 schrieb: Zitator Warum sollten wir eine Sache zu verlieren fürchten, welche - verloren - nicht bedauert werden kann? O-Ton 9 (Macho) Die Grundidee, die ist zweifellos richtig, dass wir mit dem Totsein nicht in Berührung kommen. Man muss diese logische Grenze, diese Grenze, die man als Paradoxie beschreiben kann, akzeptieren, dass der eigene Tod nicht erreichbar ist. Sprecherin Thomas Macho. O-Ton 10 (Macho) Wir können uns den eigenen Tod nicht vorstellen, da geraten wir regelmäßig in eine sehr schlichte Paradoxie, dass wir nämlich gleichzeitig von unserem Bewusstsein erwarten, dass es als Autor, als Begleit-Ich, als Zeuge dableibt und auf der anderen Seite dieses Totsein des Zeugen repräsentieren soll. Man kann schlecht repräsentieren, dass man nicht mehr repräsentieren kann. Sprecherin Das Nicht-Vorstellbare löst Unbehagen, schlimmstenfalls Angst aus. Denn wir wissen nicht, was mit uns geschieht, wenn wir die Grenze vom Leben in den Tod überschritten haben. Und: Wir werden es niemals wissen. In der modernen Gesellschaft, in der fast alles machbar erscheint, fällt es Menschen besonders schwer, diese Ungewissheit zu ertragen. Sicher scheint nur eins: Der Tod nimmt uns das Leben. Doch ist das Leben überhaupt unser Besitz? Thomas Macho verneint die Frage. O-Ton 11 (Macho) Und zwar aus dem einfachen Grund, weil es nachher niemanden mehr gibt, der sagen kann, eben war ich noch am Leben, jetzt nicht mehr. Das geht nicht. Das Leben besitzt man eben nicht, sondern das Leben ist die Voraussetzung dafür, dass man überhaupt irgendetwas besitzen kann. Und wenn man nicht mehr am Leben ist, dann ist man eben tot. Und das kann man sich deshalb so schwer vorstellen, weil man immer in diesem Subtraktionsmodus denkt: Man denkt, da gibt's ein Ich, und dem nehme ich jetzt was weg, zum Schluss auch das Leben oder den Körper. Ich weiß, dass die Religionen dann vielfach sagen, aber da gibt's vielleicht die Seele, und die wiegt nichts. Das aber ist eine Ausflucht vor dieser Paradoxie, dass der Körper nicht einfach etwas ist, was wir besitzen, sondern etwas, was mit uns als Person zu tun hat. Regie Musikakzent Sprecherin Für die wachsende Zahl von Atheisten, die unsterbliche Seelen für einen Mythos halten, gibt es nach dem Tod nur eins: Das Nichts. Doch was soll der moderne, rationale Mensch von etwas halten, das sich seiner Vorstellung entzieht? Schon Sigmund Freud ging davon aus, dass jeder im Unbewussten von seiner Unsterblichkeit überzeugt sei - eben weil der Tod unvorstellbar ist. Der Psychoanalytiker Rainer Richter erläutert den schwierigen Umgang mit dem "Nichts" an einem Beispiel. O-Ton 12 (Richter) Ich kann mir vorstellen, wenn ich in einen Schrank gucke, und da ist nichts drin, dass ich sage, "da ist nichts drin". Aber ich kann mir nicht vorstellen, was es heißt, wenn jemand dann antwortet, nachdem er den Schrank geöffnet hat, "da ist das Nichts drin". Das ist übrigens ein Beispiel, das Freud selber bringt, um den Unterschied zu zeigen und auch die Dimension. Man spürt ja auch, wenn man sich diesen Satz sich vergegenwärtigt, da werden ganz andere Schichten in einem berührt, als wenn man sagen würde, da ist nichts drin. Sprecherin Das Unbehagen und die Furcht vor dem Tod führt Rainer Richter jedoch weniger auf das "Nichts" zurück, sondern mehr auf die Auflösung von Grenzen. O-Ton 13 (Richter) In dem Moment, wo ich Grenzen sehe, wahrnehme, höre, wie auch immer, würde ich nicht mehr sagen, da ist das Nichts. Das heißt der Begriff der Grenze ist wichtig, wenn ich mich mit dem Begriff des Nichts beschäftige. Und die Grenze wiederum ist ein zentrales Phänomen, wenn es um die eigene Identität geht. Ich kann mich ja nur in Abgrenzung zu anderen definieren. Das gilt auch für Gefühle. Ich kann Freude dadurch erleben, wahrnehmen, dass ich die Grenze zu anderen Affekten wahrnehmen kann. Und in dem Moment, wo keine Grenzen da sind, würden wir das mit dem Nichts bezeichnen. Das Nichtvorhandensein von Grenzen oder das sich Auflösen von Grenzen rührt an das Erleben von Identität, wie ich mich selbst erlebe, und das macht Angst. In der Todesangst ist diese Angst auch erlebbar: Dass sich alles auflöst. Das ist ja auch die Vorstellung, die viele Menschen haben, und die stimmt ja auch, was das Körperliche, das Biologische angeht, wir lösen uns dann auch auf. Und die Hilfskonstruktion, die wir dann in der Kultur geschaffen haben, ist, dass wir ne Seele haben, die dann, auf welchen Wegen auch immer, wegfliegt, die aber unsterblich ist. Sprecherin Gläubigen Menschen, gleich welcher Religion, bleibt die Aussicht auf ein Weiterleben nach dem Tod, im günstigsten Fall im Paradies, in dem sie für die Mühsal des Lebens belohnt werden. Doch der Glaube an das Jenseits mindert nicht immer die Angst vor dem Tod, sagt der Philosoph Wilhelm Schmid. O-Ton 14 (Schmid) Ich hab ein bisschen Erfahrung sammeln können im Verlauf einer zehnjährigen Nebentätigkeit in einem Krankenhaus, wo ich philosophischer Seelsorger war, und da erlebt man eben alles. Da erleben Sie angeblich gläubige Menschen, die dann aber doch ins Zweifeln geraten, gläubige Menschen, die mit völliger Versöhntheit und Zufriedenheit aus dem Leben scheiden und natürlich ungläubige Menschen, die zufrieden aus dem Leben scheiden und andere, die sich buchstäblich aufbäumen bis zur letzten Zehntelsekunde. Sprecherin Vielleicht ist in der säkularisierten Gesellschaft die Todesfurcht an die Stelle der Gottesfurcht getreten. Die Angst richtet sich nicht mehr auf den alten, bärtigen Mann, vor dem jeder Rechenschaft über sein Leben ablegen muss. Wenn aber der Tod nichts anderes ist, als das das Ende eines Menschen, dann endet damit auch seine Einzigartigkeit, seine Individualität, seine Ichstärke. Jene Eigenschaften also, auf die der moderne Mensch so stolz ist, die seinem Leben Sinn geben - und die ihn von Menschen früherer oder anderer Kulturen unterscheidet. Wilhelm Schmid: O-Ton 15 (Schmid) Das ist zweifellos etwas, was moderne Menschen auszeichnet: Anders als in vormodernen und nicht modernen Zeiten, ist das Ich viel, viel stärker ausgeprägt, sehr viel weniger eingebettet in die Gemeinschaft mit anderen. Es scheint so zu sein, dass die Gemeinschaft mit anderen die Todesfurcht deutlich mildert. Und um dieses Ich fürchten dann moderne Menschen ungeheuer. Sprecherin Auch der Psychoanalytiker Rainer Richter sieht einen Zusammenhang zwischen der starken Betonung der eigenen Autonomie und der Angst vor dem Tod. O-Ton 16 (Richter) Das ist ja sehr viel fragiler, als wenn ich mich in einem sehr gefestigten sozialen Gefüge bewege und dann aber auch meine Sicherheit darin finde, dass ich die Fürsorge, die Verlässlichkeit der anderen Beziehungen für mich als wichtig erlebe, aber weniger, dass ich mich selber individuell verwirkliche. Das schafft ja auch sehr viel mehr Konflikte im Alltag. Und diese Überbetonung der Autonomie, der Selbstfindung, der Selbstverwirklichung in unserer heutigen Gesellschaft, in den westlichen Gesellschaften überhaupt, führt ja auch zur Vereinsamung des Menschen, der damit überfordert ist, bis hin zur Depression dann. Sprecherin Der "überindividualisierte" Mensch zahlt einen hohen Preis: Den Verlust der Gemeinschaft, die Halt und Trost spendend sein kann. Doch die Sehnsucht nach Geborgenheit bleibt, zumindest nach einem wirklich nahe stehenden Menschen. Allerdings: Eine gute Paarbeziehung kann die Furcht vor dem Tod zwar mildern, sie gleichzeitig aber auch verstärken. Wilhelm Schmid erläutert den Ambivalenzkonflikt: O-Ton 17 (Schmid) Einer der wichtigsten Gründe dafür scheint mir zu sein, dass die Liebe ein Unendlichkeitsversprechen, ein Unsterblichkeitsversprechen in sich birgt. Wenn wir zu lieben beginnen, haben wir Zugang zu Energien, die uns vorher gar nicht bekannt waren. Das überwältigt ja viele Menschen auch, mindestens am Anfang, aber auch in einer lange währenden Liebe kann es immer wieder diese sehr intensiven Phasen geben, und das beflügelt in einer Weise, dass darüber Tod und auch Leid in den Hintergrund tritt. Das andere ist aber, was sich unweigerlich mit der Liebe einstellt, eine große Angst vor dem Tod, fast weniger vor dem eigenen, mehr noch vor dem des anderen. Was wird sein, wenn der andere mal nicht mehr da ist? Das ist das Entsetzen aller, die sich lieben. Leider ist dieser Widerspruch nicht aufzuheben. Regie Musikakzent Sprecherin In der modernen Gesellschaft erscheint der Tod als lebensfeindliches Prinzip - und nicht als Bestandteil des Lebens, zu dem der Tod gehört, wie die Nacht zum Tag oder das Ausatmen zum Einatmen. Dabei ist der Tod ein alltägliches Ereignis: Weltweit sterben jeden Tag Hunderttausende. Niemand hat einen Anspruch auf ein langes Leben. Es kann schon nach wenigen Tagen, Wochen oder Jahren wieder zu Ende sein. Doch der Tod wird, wenn überhaupt, erst im hohen Alter als zulässig akzeptiert. Aber auch dann findet er nicht im alltäglichen Leben statt. Die meisten Menschen sterben heute in Krankenhäusern, Altenheimen oder Hospizen, aber nicht mitten unter uns. Eine Tendenz, die sich bereits vor Jahrzehnten abzeichnete. Wilhelm Schmid erinnert sich: O-Ton 18 (Schmid) Die immer stärkere Verdrängung von Sterben und Tod, kenntlich auch daran, dass immer weniger häufig die Wagen im Verkehr zu sehen waren, die ja früher mal schön geschmückt waren, schwarze Wagen. Da konnte man sehen, dass da jemand transportiert wird. Ich glaube nicht, dass sehr viele Hörer sich erinnern können, dass sie so einen Wagen in den letzten 20, 30 Jahren noch gesehen haben. Das war ein äußeres Zeichen dieser Verdrängung. Sprecherin Wir können nicht zurück in frühere Zeiten, in denen Menschen stärker in Gemeinschaften lebten, die eigene Persönlichkeit nicht so wichtig nahmen und den Tod weniger aus dem Bewusstsein verdrängten, als wir es heute tun. Ob jedoch die Jagd nach dem "ewigen Leben" einen Ausweg bietet, ist zweifelhaft. Denn wie wird eine Gesellschaft aussehen, in der sich die Menschen mit 120, 150 oder noch mehr Jahren jugendlich fühlen und frei von den heute üblichen Alterskrankheiten sind? O-Ton 19 (Macho) Die Vorstellung von endlos lebenden Menschen ist ne Horrorvorstellung. Das wissen diese Mediziner ja auch ... Sprecherin Thomas Macho von der Humboldt-Universität in Berlin. O-Ton 20 (Macho) Man muss sehr aufpassen, dass man nicht auch auf diesem Weg eine Kastengesellschaft inszeniert, die dazu führt, dass Menschen, die durch den Zufall ihres Geburtsorts oder ihrer Ausbildung die Ressourcen haben, um sich Langlebigkeit zu verschaffen, in sehr ungerechte Verhältnisse gegenüber Menschen geraten, die diese Möglichkeiten eben nicht hatten. Von daher würde ich sagen, ich find das alles nicht so wahnsinnig wünschenswert. Sprecherin Auch Rainer Richter betrachtet das Streben, die Lebenszeit ins Unendliche auszudehnen, eher skeptisch. Für den einzelnen Menschen sei es sicher positiv, wenn er bei guter Gesundheit uralt werde, sagt der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer. Aber für die Gesellschaft? O-Ton 21 (Richter) Was das für die Gesellschaft bedeutet, kann man eigentlich nur erahnen. Da hab ich dann allerdings eher Befürchtungen. Das geht mehr in Richtung Alptraum, wenn ich mir vergegenwärtige, dass wir ja heute bereits mit den 25 Prozent über 60-Jährigen eigentlich als Gesellschaft nicht klarkommen. Wir haben ja für die über 60-Jährigen keine Rollen, Funktionen, Aufgaben entwickelt, die in irgendeiner Form Perspektiven bieten würden und vor allem, die für die Gesellschaft dann auch nützlich sein könnten. Es gibt einzelne Überlegungen und Modelle, aber wenn wir heute schon Mühe haben mit den über 60-Jährigen als Gesellschaft klarzukommen, das zu nutzen, kann ich mir schlecht vorstellen, dass das besser wird, wenn das jetzt 50 Prozent sind, und die dann auch noch 100 oder 120 Jahre alt sind. Sprecherin Was aber könnte die Alternative sein zum Wunsch nach Unsterblichkeit? Für den österreichischen Arzt und Psychologen Alfried Längle liegt die Antwort auf der Hand: Ein bewusstes, sinnvolles Leben. In einem Artikel über die Angst vor der Vergänglichkeit schreibt der Wiener Psychotherapeut: Zitator Der Tod erhält seinen Schrecken dadurch, dass man spürt, noch gar nicht wirklich gelebt zu haben. Dieser Tod käme zu früh, denn was bisher war, "das kann doch nicht das Leben gewesen sein!" Solange die tiefe Sehnsucht nach dem wahren, ganzen und sinnerfüllten Leben schmerzt, solange dieser Durst ungestillt ist, erhebt sich der Mensch, lehnt er sich auf gegen diese Art von geistigem Verdursten. Sterben heißt dann, zu früh gehen zu müssen. Das, was den Tod zum Feind und das Sterben so schwer macht, ist das versäumte Leben. Sprecherin Je unerfüllter das Leben, desto größer sei die Angst vor dem "Nichts", desto stärker der Wunsch, den Tod zu verdrängen, folgert Alfried Längle. Nur: Was ist erfülltes Leben? Der Kulturwissenschaftler Thoma Macho unterscheidet zwischen gefülltem und erfülltem Leben. O-Ton 22 (Macho) Der Begriff der Erfüllung wird oft auch mit dem Begriff der Akkumulation verwechselt. Erfüllen wird verwechselt mit füllen, mit vollmachen. Und dann kann man natürlich sagen, vielleicht ist ein einziger wirklicher Moment des Verstehens, des Glücks, des Einverstandenseins mit dem Leben, auch mit dem Ende des Lebens, ausreichend für die Erfüllung. Das erfüllte Leben, das sind die Momente der Liebe. Das sind die Momente der Sehnsucht, das sind die Momente des Loslassens, des Wahrnehmens von großartigen Landschaften oder auch der Freude am gelungenen Menschen. Oft sitze ich, wenn ich so ne Sprechstunde in der Universität hinter mir habe und sinniere manchen Persönlichkeiten nach, die mir dabei begegnet sind, weil ich das Gefühl habe, das sind in sich so runde, klare und in einem bestimmten Sinn schöne Menschen, dass man sich da wirklich interesselos freuen kann. Und das ist auch eine Form von Erfüllung. Regie Musikakzent Sprecherin Kontemplation statt Betriebsamkeit. Nachdenken über den Tod, statt ihn verdrängen. Der Philosoph Wilhelm Schmid praktiziert es selbst: O-Ton 23 (Schmid) Für einen Philosophen ist das nicht ungewöhnlich, das nahezu tägliche Denken an den Tod. Ich lege mich jeden Tag zwischendurch hin, und da kommen mir immer diese Bilder, die Gedanken, wie wird das mal sein? Es ist im Grunde unvorstellbar, und trotzdem mache ich mir dann Vorstellungen und stelle mir vor, dass wir ja aus einer Dimension der Möglichkeit gekommen sein müssen. Jeder Wirklichkeit geht eine Möglichkeit voraus. Und vermutlich folgt auch auf jede Wirklichkeit wiederum Möglichkeit. Sprecherin Das gelegentliche Denken an den Tod kann bewirken, dass er zumindest einen Teil seines Schreckens verliert. Hilfreich sei auch das Gespräch mit anderen Menschen, sagt der Psychoanalytiker Rainer Richter. O-Ton 24 (Richter) Das Gespräch mit dem Partner, mit guten Freunden, aber auch mit dem Arzt, dem Psychotherapeuten, um sich dem zu nähern, wie ich mir den eigenen Tod vorstellen kann, wohl wissend, dass das nie gehen wird. Aber gleichwohl kann ich mit jemandem darüber reden, was die anderen weitermachen werden, wie ich mir das vorstelle, wie die ohne mich leben. Ich kann mich diesem Unvorstellbaren nähern, indem ich mit anderen Menschen darüber rede, aber immer im Kopf dabei habend, vorstellen letztlich kann man sich den eigenen Tod nicht. Und das zu akzeptieren, ist auch wieder ein Reifungsschritt. Es gibt viele Menschen, die wollen und können das nicht akzeptieren und suchen dann, was völlig legitim und durchaus hilfreich ist, den Rückhalt in Konstruktionen, was denn anstelle des Todes treten könnte, was danach passiert, bis hin zu Religion, aber es muss nicht nur Religion sein. Sprecherin Die wichtigste Frage, die sich angesichts des Todes stellt, ist nicht, ob er sich hinauszögern oder auf irgendeine Art überlisten lässt, sondern ob das Leben vor dem letzten Blick zurück Bestand haben kann. War es geprägt vom Kampf um Geld, Macht oder Aufmerksamkeit? Überwogen Zufriedenheit, Liebe, die Verbundenheit mit Anderen? Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho wäre mit einigen wirklich guten und erfüllten Momenten in cirka 80 Jahren durchaus zufrieden: O-Ton 25 (Macho) Es müssen ja nicht 80 gute Jahre sein. Die werden wir alle nicht wirklich hinkriegen. Aber es kann schöne und gute Zeit gegeben haben, und es kann diese schöne und gute Zeit auch für kürzere Zeiträume gegeben haben. Man muss sich da auch ein bisschen entspannen und gelassener und ruhiger werden im Umgang mit diesen ganzen Rechnungen und Plackereien und Quälereien, was man alles noch erreichen könnte. Regie Musik (darauf) Spr. vom Dienst Der Traum vom ewigen Leben Warum wir versuchen, den Tod zu verdrängen Eine Sendung von Ingrid Füller Es sprachen: Viola Sauer, Thomas Holländer und Karla Schlender Ton: Ralf Perz Regie: Roswitha Graf Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 1