Zeitreisen 21. September 2011 Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten Auszüge aus dem gleichnamigen Buch von Neil MacGregor Teil 1 Redaktion: Winfried Sträter COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Lesung in 3 Teilen, gesprochen von 3 Sprecher(inne)n Erstes Kapitel (S. 13ff): Aus der Einleitung von Neil MacGregor Spr 1 Will man die Geschichte der ganzen Welt erzählen, also eine Geschichte, die nicht einen bestimmten Teil der Menschheit über Gebühr privilegiert, so schafft man das nicht allein durch schriftliche Quellen, denn nur ein Teil der Welt kannte Texte, während der Großteil der Welt die meiste Zeit über "schriftlos" war. Die Schrift ist eine der späteren Errungenschaften der Menschheit, und bis vor gar nicht allzu langer Zeit brachten selbst viele schreibkundige Gesellschaften ihre Nöte und Sehnsüchte nicht nur schriftlich, sondern auch in Gegenständen zum Ausdruck. Idealerweise sollte eine Geschichte Texte und Objekte vereinen. .. Das deutlichste Beispiel für diese Asymmetrie zwischen schriftlicher und schriftloser Geschichte ist vielleicht die erste Begegnung zwischen Captain Cooks Expedition und den australischen Aborigines in der Botany Bay. Auf englischer Seite verfügen wir über wissenschaftliche Berichte und den Tagebucheintrag des Kapitäns von diesem schicksalsträchtigen Tag. Auf australischer Seite hingegen zeugt von diesem Ereignis lediglich ein Borkenschild, den ein Mann auf der Flucht verloren hat, nachdem er zum ersten Mal in seinem Leben den Schuss eines Gewehrs vernommen hatte. Wollen wir rekonstruieren, was an diesem Tag wirklich geschehen ist, muss der Schild ebenso intensiv und ernsthaft befragt und interpretiert werden wie die schriftlichen Berichte. Neben dem Problem des gegenseitigen Missverstehens gibt es noch ein weiteres: die zufälligen oder bewussten Verzerrungen des Sieges. Wie wir alle wissen, sind es die Sieger, welche die Geschichte schreiben, vor allem dann, wenn nur die Sieger schreiben können. Die auf der Verliererseite, diejenigen, deren Gesellschaften erobert oder zerstört werden, haben oft nur ihre Gegenstände, um ihre Geschichten zu erzählen. Die Tamo in der Karibik, die australischen Aborigines, die afrikanische Bevölkerung des Königreichs Benin und die Inka .. können uns Heutigen von ihren vergangenen Errungenschaften am eindrucksvollsten mittels der Objekte berichten, die sie hergestellt haben: Eine Geschichte, die anhand von Dingen erzählt wird, gibt ihnen ihre Stimme zurück. Beachten wir den Kontakt zwischen schreibkundigen und analphabetischen Gesellschaften wie diesen, so liefern all unsere Berichte aus erster Hand zwangsläufig ein verzerrtes Bild, stellen nur die eine Hälfte eines Dialogs dar. Wollen wir auch die andere Seite dieses Austauschs ausfindig machen, müssen wir nicht nur die Texte, sondern auch die Objekte lesen. .. Denkt man mit Hilfe von Gegenständen über die Vergangenheit oder eine ferne Welt nach, so hat das immer etwas von einer poetischen Neuschöpfung. Wir erkennen die Grenzen dessen, was wir mit Sicherheit wissen können, und müssen deshalb nach einer anderen Art der Erkenntnis suchen, immer in dem Bewusstsein, dass die Objekte von Menschen hergestellt wurden, die im Grunde wie wir sind - also sollten wir in der Lage sein herauszufinden, warum die Menschen diese Gegenstände angefertigt haben und welchem Zweck sie dienten. Das ist mitunter vermutlich die beste Möglichkeit, um zu begreifen, worum es in der Welt großteils geht, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in unserer Zeit. Können wir andere Menschen jemals wirklich verstehen? Möglicherweise, aber nur über Kraftakte in Sachen poetischer Vorstellungskraft, gepaart mit streng erworbenem und geordnetem Wissen. Die frühe Menschheitsgeschichte - also insgesamt mehr als 95 Prozent unserer Geschichte - lässt sich denn auch nur in Stein erzählen, denn neben menschlichen und tierischen Überresten haben einzig steinerne Objekte überdauert. .. Dinge müssen .. nicht unbedingt unversehrt erhalten bleiben, um Unmengen an Informationen zu vermitteln. So fand 1948 ein aufmerksamer Strandsucher am Fuße einer Klippe bei Kilwa in Tansania Dutzende kleiner Keramikbruchstücke. Es handelte sich dabei im wahrsten Sinne des Wortes um Müll: um Scherben von Geschirr, die weggeworfen worden waren, weil sie nicht mehr zu gebrauchen waren. Doch als unser Strandsucher sie zusammentrug, wurde ihm allmählich bewusst, dass in diesen Keramikstücken die Geschichte Afrikas von vor tausend Jahren enthalten war. Betrachtet man ihre Vielfalt, so ergibt sich daraus sogar eine ganze Geschichte des Indischen Ozeans, denn bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass diese Scherben von völlig unterschiedlichen, weit voneinander entfernten Orten stammen. Eine grüne und eine blau-weiße Scherbe sind eindeutig aus Porzellan, das in China in großen Mengen für den Export produziert wurde. Andere Stücke tragen islamische Verzierungen und kommen aus Persien und der Golfregion. Wieder andere stammen von Töpferware ostafrikanischer Urvölker. Diese Keramikwaren - die alle, so glauben wir, von den gleichen Menschen benutzt und ungefähr zur gleichen Zeit auf den Müllhaufen geworfen wurden - belegen, was in Europa lange Zeit unbekannt war: dass die ostafrikanische Küstenregion zwischen 1000 und 1500 mit dem gesamten Gebiet des Indischen Ozeans in Kontakt stand. Die Scherben von Kilwa zeigen, dass der Indische Ozean in Wirklichkeit ein riesiger See ist, über den hinweg Kulturen seit Jahrtausenden einen Austausch pflegen, bei dem die Händler nicht nur Waren, sondern auch Ideen im Gepäck haben, und bei dem die Gemeinschaften an seinen Gestaden genauso eng miteinander verbunden sind wie am Mittelmeer. Wie überhaupt diese Geschichte in Objekten unter anderem deutlich macht, dass allein schon das Wort "Mittelmeer" - das Meer in der Mitte der Welt - falsche Assoziationen weckt. Es bildet keineswegs den Mittelpunkt der Erde, und seine maritime Kultur ist nur eine von vielen. Wir werden natürlich keine andere Bezeichnung dafür einführen, aber eigentlich müssten wir das tun. .. Wenn man an der Weltkugel dreht, zeigt sich .., wie unterschiedlich Geschichte aussieht, je nachdem, wer man ist und von wo aus man die Sache betrachtet. Alle Museen gründen auf der Hoffung - auf der Überzeugung -, dass das Studium der Dinge zu einem besseren Verständnis der Welt führen kann. Zu diesem Zweck wurde das Britische Museum ins Leben gerufen. Das Objekt, das die Bestrebungen nicht nur dieses Buches, sondern des Britischen Museums insgesamt am besten auf den Punkt bringt, also den Versuch, eine Welt zu imaginieren und zu begreifen, die wir nicht unmittelbar erfahren haben, sondern von der wir nur über die Berichte und Erfahrungen anderer wissen, ist Dürers Rhinocerus, ein Tier, das er zeichnete, aber nie zu Gesicht bekam. Als Dürer davon gehört hatte, dass der König von Portugal 1515 als Geschenk des Sultans von Gujarat ein indisches Nashorn erhalten hatte, informierte er sich anhand von schriftlichen Beschreibungen, die in Europa zirkulierten, so umfassend wie möglich darüber und versuchte sich dann vorzustellen, wie dieses außergewöhnliche Tier aussehen könnte. Genauso verfahren wir, wenn wir Belege sammeln und uns dann eine Vorstellung von einer längst vergangenen oder fernen Welt machen. Dürers Tier .. ist so eindrucksvoll, plastisch und echt, dass man fast befürchtet, es könnte gleich aus seinem Blatt herausspringen. Und es ist natürlich .. - falsch. Doch darum geht es letztlich nicht. Dürers Rhinocerus steht als Monument für unsere nie endende Neugier auf die Welt jenseits unserer unmittelbaren Wahrnehmung und für das Bedürfnis der Menschheit, diese Welt zu erkunden und sie verstehen zu wollen. Regie: Musik zwischen den Kapiteln, unter den Zwischentext legen Zwischentext Spr 3: Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. Das Objekt der folgenden Geschichte ist ein fast 2 Millionen Jahre altes Werkzeug aus der Frühgeschichte der Menschheit: Steinernes Schneidewerkzeug der Oldowan-Kultur. Zweites Kapitel (S. 39ff): Steinernes Schneidewerkzeug der Oldowan-Kultur (Tansania, 1,8-2 Mio Jahre alt) Spr 2 Dieses Schneide- und Hackwerkzeug (im Fachjargon auch Chopping Tool genannt) ist einer der frühesten Gegenstände, die Menschen jemals bewusst hergestellt haben, und wenn wir es in Händen halten, kommen wir unmittelbar in Berührung mit denjenigen, die es produziert haben. In unserer Weltgeschichte in Objekten ist dieses Stück Geröll aus Afrika- aus dem heutigen Tansania - der Ausgangspunkt, an dem alles beginnt. Wenn die Bedeutung eines Museums .. unter anderem darin besteht, dass es uns eine Zeitreise ermöglicht, so hat sich allein schon unser Wissen darum, wie groß der Zeitraum ist, den wir überhaupt durchmessen können, enorm erweitert, seit das Britische Museum 1759 erstmals seine Pforten öffnete. Damals wären die meisten Besucher vermutlich übereinstimmend der Ansicht gewesen, die Welt habe im Jahr 4004 V. Chr. begonnen, genauer gesagt bei Einbruch der Dunkelheit am Vorabend des 23. Oktober besagten Jahres, einem Sonntag. Dieses erstaunlich exakte Datum war 1650 vom Erzbischof von Armagh, James Ussher, errechnet worden, der im Lincoln's Inn ganz in der Nähe des Britischen Museums predigte. Er hatte akribisch die Bibel durchforstet, die Lebensspannen sämtlicher Nachfahren von Adam und Eva addiert, diese mit anderen Daten kombiniert und war so schließlich zu diesem Ergebnis gekommen. Doch in den vergangenen Jahrhunderten haben Archäologen, Geologen und Museumskuratoren die Chronologie der Menschheitsgeschichte stetig verlängert, und aus Usshers gut 6.000 Jahren sind inzwischen beinahe unvorstellbare zwei Millionen Jahre geworden. Wenn die Menschheit ihren Anfang also nicht 4004 v. Chr. im Garten Eden nahm, wann dann? Und wo? Lange Zeit gab es zahlreiche Vermutungen, aber keine schlüssigen Antworten und mit Sicherheit kein belastbares Datum. Das änderte sich erst 1931, als sich ein junger Archäologe namens Louis Leakey zu einer vom Britischen Museum finanzierten Expedition nach Afrika aufmachte. Leakeys Ziel war die Olduvai-Schlucht, ein tiefer Einschnitt in der flachen Savanne im Norden Tansanias, nicht weit von der Grenze zu Kenia entfernt. Sie ist Teil des Ostafrikanischen Grabenbruchs, eines riesigen Risses in der Erdkruste, der mehrere tausend Kilometer lang ist. In der Olduvai-Schlucht untersuchte Leakey freiliegende Gesteinsschichten, die als eine ganze Serie von Zeitkapseln fungieren. Als Leakey die von der Sonne, dem Wind und dem Regen in der Savanne geformten Felsen in Augenschein nahm, stieß er auf eine Schicht, an der die Felsen auch noch von etwas anderem bearbeitet worden waren - von Menschenhänden. Denn gleich daneben fanden sich Knochen, und damit war klar, dass diese Steine zu Werkzeugen geformt worden waren, mit denen man das Fleisch der in der Savanne getöteten Tiere abschnitt und sie ausnahm. Geologische Untersuchungen belegten anschließend ohne jeden Zweifel, dass die Schicht, in der man die Werkzeuge gefunden hatte, rund zwei Millionen Jahre alt war. Das war archäologischer Sprengstoff. Leakeys Ausgrabungen forderten die ältesten von Menschen gefertigten Gegenstände zutage, die damals weltweit bekannt waren, und sie zeigten, dass nicht nur das menschliche Leben, sondern auch die menschliche Kultur in Afrika ihren Anfang genommen hatte. Zu den von Leakey gefundenen Werkzeugen gehörte auch dieser Stein. Der berühmte Naturforscher und Filmemacher Sir David Attenborough lässt uns zumindest erahnen, welche Erregung Leakey verspürt haben muss: "Wenn ich diesen Stein in Händen halte, kann ich spüren, wie es war, draußen in der afrikanischen Savanne zu sein, wenn man Fleisch schneiden und beispielsweise einen Tierkadaver zerlegen musste, um an eine Mahlzeit zu kommen. Wenn man ihn in die Hand nimmt, ist die erste Reaktion: Mensch, ist der schwer, und wenn er schwer ist, verleiht das deinem Schlag natürlich einige Wucht. Zweitens fallt auf, wie wunderbar er in die Handfläche passt, und zwar so, dass eine scharfe Kante von meinem Zeigefinger zu meinem Handgelenk läuft. Was ich jetzt in der Hand halte, ist also ein scharfes Messer. Mehr noch: Der Stein besitzt eine Wölbung, so dass ich ihn an der Kante, die extra abgeschlagen und scharf ist, fest greifen kann ... Damit könnte ich auf wunderbar effektive Art Fleisch zerschneiden. .. " Wir haben es mit einem höchst vielseitigen Küchengerät zu tun. Zahlreiche Tiere, insbesondere Affen, benutzen Gegenstände; was uns Menschen jedoch von ihnen unterscheidet, ist die Tatsache, dass wir die Werkzeuge herstellen, bevor wir sie verwenden, und wenn wir sie einmal verwendet haben, behalten wir sie, um sie immer wieder zum Einsatz zu bringen. Mit diesem Stein aus der Olduvai-Schlucht nimmt sozusagen der Werkzeugkasten seinen Anfang. Die frühen Menschen, die derartige Chopping Tools benutzten, waren vermutlich nicht einmal selbst Jäger, sondern geniale Opportunisten: Sie warteten, bis Löwen, Leoparden oder andere wilde Tiere ihre Beute getötet hatten, und dann kamen sie mit ihren Schneidewerkzeugen, sicherten sich das Fleisch und das Mark und hatten damit das große Protein-Los gezogen. Knochenmarksfett klingt nicht gerade wahnsinnig appetitlich, aber es ist höchst nahrhaft - es sorgt nicht nur für Körperkraft, sondern auch für ein großes Gehirn. Gerade das Gehirn verbraucht ungeheuer viel Energie. Zwar macht es gerade einmal zwei Prozent unseres Körpergewichts aus, aber es verbraucht zwanzig Prozent unserer gesamten Energieaufnahme und muss ständig gefüttert werden. Unsere Vorfahren vor zwei Millionen Jahren sicherten sich also quasi ihre Zukunft, indem sie dem Gehirn die Nahrung gaben, die es zum Wachsen brauchte. Wenn stärkere, schnellere, wildere Raubtiere ihre Beute getötet und sich vor der Hitze in den Schatten zurückgezogen hatten, konnten die ersten Menschen nach Nahrung suchen. Indem sie Werkzeuge wie dieses benutzten, um an Knochenmark zu kommen, den nahrhaftesten Teil eines Kadavers, setzten sie einen uralten circulus virtuosus in Gang. Diese Nahrung für Körper und Geist bedeutete, dass die schlaueren Individuen mit den größeren Gehirnen überlebten und ihrerseits Kinder mit größerem Gehirn zur Welt brachten, die ihrerseits wieder in der Lage waren, noch komplexere Werkzeuge herzustellen. Sie und ich, wir sind nichts weiter als die jüngsten Produkte dieses fortwährenden Prozesses. Das menschliche Gehirn entwickelte sich über Millionen von Jahren weiter. Eine der wichtigsten Errungenschaften war, dass es asymmetrisch wurde, als es eine ganze Reihe verschiedener Funktionen bewältigte - Logik, Sprache, die koordinierte Bewegung, die für die Werkzeugherstellung vonnöten ist, die Vorstellungskraft und das kreative Denken. Die linke und die rechte Hälfte des menschlichen Gehirns haben sich auf unterschiedliche Fertigkeiten und Aufgaben spezialisiert- anders als das Gehirn des Affen, das nicht nur kleiner, sondern auch symmetrisch geblieben ist. Dieses Schneidewerkzeug steht für den historischen Moment, da wir deutlich schlauer wurden und nicht nur Dinge herstellen wollten, sondern uns vorstellten, wie man sie "besser" machen könnte. .. Objekte enthalten wichtige Botschaften über diejenigen, die sie hergestellt haben, und das Schneidewerkzeug symbolisiert den Beginn einer Beziehung zwischen den Menschen und den Dingen, die sie herstellen, einer Beziehung, die sowohl eine der Liebe als auch der Abhängigkeit ist. Von dem Zeitpunkt an, da unsere Vorfahren Werkzeuge wie diese Chopping Tools herstellten, waren die Menschen nicht mehr in der Lage, ohne diese von ihnen produzierten Dinge zu überleben. Man könnte also sagen: Dinge zu machen macht uns zu Menschen. Leakeys Entdeckungen in der warmen Erde des Grabenbruchs verschoben nicht nur den Ursprung des Menschen weiter zurück in die Vergangenheit; sie machten auch deutlich, dass wir alle von diesen afrikanischen Vorfahren abstammen, dass jeder einzelne von uns Teil einer riesigen afrikanischen Diaspora ist - wir alle haben Afrika in unserer DNA, und unsere ganze Kultur nahm dort ihren Anfang. Nimmt man die Nachrichten im Rundfunk oder im Fernsehen, so gibt es wenig Zweifel, dass die Welt in rivalisierende Stämme und konkurrierende Kulturen gespalten ist. Insofern ist es gut, ja von essenzieller Bedeutung, wenn wir daran erinnert werden, dass die Vorstellung von unserem gemeinsamen Menschsein nicht nur ein Traum der Aufklärung ist, sondern genetische und kulturelle Wirklichkeit. Regie: Musik zwischen den Kapiteln, unter den Zwischentext legen Zwischentext Spr 1: Neil MacGregor: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. Das Objekt der folgenden Geschichte wurde am Beginn jener Epoche geschaffen, die wir als die Neuzeit bezeichnen - zu der Zeit, als die Europäer die Welt entdeckten: Dürers Rhinocerus. Ein Holzschnitt aus dem Jahr 1515. Drittes Kapitel (S. 557ff): Dürers Rhinocerus (Holzschnitt, aus Nürnberg, 1515 n. Chr.) Spr 3 Das kleine Eiland St. Helena im Südatlantik hat vor allem als Freiluftgefängnis für Napoleon Bonaparte Berühmtheit erlangt, der 1815 nach der Schlacht von Waterloo hierher verbannt wurde. Aber auf St. Helena hatte auch ein anderes in Europa bestauntes Wesen einen kurzen Aufenthalt- ein Geschöpf, das viel weniger Schaden anrichtete als der französische Kaiser und das im Jahr 1515 in Europa als Wunderwesen betrachtet wurde - ein indisches Panzernashorn. Auch das Tier erreichte die Insel als Gefangener, und zwar auf einem portugiesischen Schiff, das auf seiner langen Reise von Indien nach Lissabon - einer Reise, die einen Triumph der Schifffahrt markierte - hier eine Zwischenstation einlegte. Europa stand an der Schwelle einer gewaltigen Expansion, die zur Erforschung, Kartographierung und Eroberung weiter Teile der Erde führen sollte und möglich gemacht wurde durch die Entwicklung neuer Techniken im Schiffsbau und bei der Segelherstellung. Es bestand ein großes Interesse daran, das neu erworbene und rasch anwachsende Wissen mit Hilfe einer anderen technischen Neuerung - des Buchdrucks - festzuhalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Alle diese Aspekte treffen in unserem Objekt, das zu den berühmtesten Kunstwerken der Renaissance gehört, zusammen. In einer Hinsicht zumindest hatte das indische Nashorn mehr Glück als Napoleon: Es wurde von Albrecht Dürer porträtiert. Jahrhunderte lang war zwischen dem Indischen Ozean und Europa reger Handel mit Gewürzen betrieben worden, aber gegen Ende des 15. Jahrhunderts blockierten die Osmanen, die mittlerweile den östlichen Mittelmeerraum beherrschten, die traditionellen Handelswege. Spanien und Portugal mussten sich nach neuen Wegen umsehen, um an die asiatischen Güter zu gelangen. Sie suchten auf dem Atlantik nach befahrbaren Routen - ein schwieriges Gebiet, wenn man unter Segeln lange Strecken zurücklegen will. Beim Versuch, westwärts segelnd einen Seeweg nach Indien zu finden, entdeckten die Spanier den amerikanischen Doppelkontinent; die Portugiesen schipperten in südlicher Richtung entlang der scheinbar endlosen Küste Afrikas, umsegelten das Kap der Guten Hoffnung und erreichten schließlich den Indischen Ozean, wo die Reichtümer Asiens auf sie warteten. Sie errichteten in Indien und Asien ein dünnes Netz von Haltestationen - Häfen und Handelsniederlassungen - und verschifften auf dieser Route Gewürze und andere exotische Handelswaren und eben auch unser Rhinozeros nach Europa. Dürers Rhinocerus ist ein Holzschnitt. Er zeigt ein wuchtiges Tier, über seinem Kopf die Jahreszahl 1515, das Wort RHINOCERVS, damit der Betrachter weiß, was er hier vor sich hat, sowie das typische Monogramm AD des Künstlers. Das Nashorn ist von der Seite zu sehen und hat den Kopf nach rechts gewandt. Dürer hat es geschickt in einen so engen Rahmen gestellt- der Schwanz teilweise vom linken Bildrand abgeschnitten, das Horn aggressiv gegen den rechten Rand gestemmt -, dass der Eindruck von geballter, angestauter Kraft entsteht. .. Aus der Geschichte, wie das Nashorn nach Europa kam, erfahren wir, dass die Portugiesen nicht nur Handel mit Indien trieben, sondern auch bestrebt waren, dort eine Reihe dauerhafter Niederlassungen zu gründen - es war der Beginn der europäischen Präsenz in Asien. Dass ihnen dies gelang, hatten sie vor allem Alfonso de Albuquerque zu verdanken, dem Mann, der das portugiesische Kolonialsystem begründet hat und Gouverneur von Portugiesisch-Indien war- und uns das Rhinozeros brachte. 1514 stattete Albuquerque dem Sultan von Gujarat einen Besuch ab, um mit ihm über die Nutzung einer Insel zu verhandeln, und unterstrich seine diplomatische Mission mit einer Fülle von Geschenken. Der Sultan revanchierte sich seinerseits mit Geschenken - zu denen ein lebendiges Rhinozeros gehörte. Offenbar wusste Albuquerque mit diesem lebenden Geschenk nichts Rechtes anzufangen, weshalb er das Tier mit der nächstbesten portugiesischen Flottille, die vorüber kam, nach Lissabon verfrachten ließ, wo es dem portugiesischen König als besonderes Geschenk übergeben werden sollte. .. Das Nashorn trat seine Reise von Indien Anfang Januar 1515 an. .. Nach einer 120tägigen Seereise, die nur in drei Häfen - in Mosambik, auf St. Helena und auf den Azoren - unterbrochen wurde, kam es schließlich am 20. Mai in Lissabon an. Die Menschen liefen in Scharen herbei, um es zu bestaunen. Das Nashorn landete in einem Europa, das besessen war von einer möglichen Zukunft fern seiner Küsten, aber auch von der Wiederentdeckung seiner fernen Vergangenheit innerhalb der eigenen Grenzen. In Italien wurde viel Aufhebens um die Ausgrabung von Bauwerken und Statuen aus dem alten Rom gemacht, archäologische Forschung, die das Leben der klassischen Antike auferstehen ließ. Die Ankunft des Panzernashorns - dieses exotischen Geschöpfes aus Asien -war für gebildete Europäer ebenfalls ein Stück wiederbelebte Antike. Der römische Schriftsteller Plinius hatte eines dieser Tiere beschrieben, die bei den Spielen in römischen Amphitheatern eine wichtige Rolle spielten, aber man hatte in Europa seit über tausend Jahren kein Nashorn mehr gesehen. Es war eine aufregende Wiederauferstehung der Antike - eine Art lebende zoologische Renaissance, behaftet mit dem zusätzlichen Reiz der exotischen Reichtümer Asiens. Kein Wunder also, dass Dürer sich so stark angesprochen fühlte. .. Der portugiesische König entschloss sich, das Nashorn als Geschenk an den Papst nach Rom zu schicken, weil er dessen Unterstützung für seine kolonialen Ansprüche in Ostasien benötigte. Aber das arme Geschöpf schaffte es nicht bis nach Italien. Das Schiff, mit dem es transportiert wurde, geriet vor La Spezia in einen schweren Sturm und ging mit Mann und Maus unter. Obwohl Nashörner ziemlich gute Schwimmer sind, ertrank dieser Vertreter seiner Spezies, weil er an Deck festgekettet war. Doch sein Ruf lebte weiter, und selbst als es tatsächlich noch am Leben gewesen war, hatten Beschreibungen und Zeichnungen des exotischen Geschöpfes sowie Gedichte über es in ganz Europa die Runde gemacht. Eine solche Zeichnung gelangte auch nach Nürnberg und in Dürers Hände; natürlich hatte Dürer noch nie ein Nashorn gesehen. Wir haben keine Ahnung, wie detailgenau die Zeichnung war, jedenfalls aber ist vieles an dem Druck, den Dürer nach dieser Vorlage gefertigt hat, der Fantasie des Künstlers entsprungen. Auf den ersten Blick sieht es in etwa so aus, wie man es von einem indischen Panzernashorn erwartet- dicke, stämmige Beine, ein gepanzerter Rücken, ein Schwanz mit gefiederter Spitze und natürlich das eine Horn auf der Nase. Aber irgendetwas stimmt nicht an dem Tier - besser gesagt stimmt vieles nicht, wenn man es mit einem echten Rhinozeros vergleicht. Die Beine sind geschuppt und enden in großen, abgespreizten Zehen. Die Haut weist Kniffe und Falten auf und steht steif von den Beinen ab - es ist eigentlich keine Haut, sondern ein Panzer. Im Nacken sitzt eigenartigerweise ein zweites, kleineres Horn - keiner weiß, was es da zu suchen hat- und das ganze ungewöhnlich stachelbärtige Wesen ist mit kleinen Schuppen und Wirbeln überzogen, die militärisch und dekorativ zugleich wirken. Das Bild ist weit entfernt von einem echten Rhinozeros, aber nachdem das lebende Exemplar ertrunken war, wurde Dürers Phantasieprodukt für Millionen von Europäern zur Wirklichkeit. Und er schaffte es, das gewaltige Interesse an dem Tier zu befriedigen, indem er mit Hilfe der neuen Technik des Holztafeldrucks massenhaft Abzüge von dem Bild fertigte. Dürers Heimatstadt Nürnberg war ein wichtiges Handelszentrum und Standort der ersten Druckereien und Verlage. Dürer selbst war 1515 der bedeutendste Graphiker seiner Zeit, eine ideale Voraussetzung für ihn, aus seiner Nashornzeichnung einen profitablen Druck zu machen. Bis zu seinem Tod wurden vier- bis fünftausend Kopien des Rhinocerus vertrieben, und seither ist es millionenfach in dieser oder jener Form verkauft worden. Das Bild prägte sich ein: In naturgeschichtlichen Werken hielt es sich auch dann noch unerschütterlich, als wirklichkeitsgetreuere Darstellungen zur Verfügung standen. Im 17. Jahrhundert war das Rhinocerus allgegenwärtig; vom Portal des Doms zu Pisa bis zur Wandmalerei in einer kolumbianischen Kirche reichte seine Verbreitung. Und heute findet es sich auf Kaffeebechern, T-Shirts und Kühlschrankmagneten wieder. Fünf Jahre nach der Entstehung des Rhinocerus erlebte Dürer eine weitere exotische Begegnung. 1520 sah er in Brüssel aztekische Mosaiken in Form von Masken und Tieren, die mindestens so fremdartig und faszinierend waren wie das Nashorn. "Herrliche Objekte aller Art und für die verschiedensten Zwecke", notierte er in seinem Tagebuch, "schöner in meinen Augen als Wunderwerke." Die neuen Welten, mit denen die Europäer konfrontiert wurden, sollten das Bild, das sie von sich selbst hatten, nachhaltig verändern. 1