COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Redaktion Literatur, 22.5.2007, 19.30 Uhr: ?Rezepte gegen das Vakuum der Bedeutungslosigkeit. Jonathan Franzen und der neue US-Realismus? Von Michael Reitz Musik: The Clash: ?The Guns of Brixton? Zitator: ?Als die neunziger Jahre kamen, litt ich unter der gleichen Depression wie der urbane Kern der Literatur. Mein zweiter Roman, ?Strong Motion?, war eine komplizierte Familiengeschichte aus dem Mittelwesten, die in einer Welt moralischen Aufruhrs spielte, und diesmal setzte ich nicht mehr wie in ?The Twenty-Seventh City? auf Briefbomben aus Ironie und Understatement, sondern warf mit rhetorischen Molotowcocktails um mich. Das Resultat war das gleiche: Wieder ein Schulzeugnis von den Kritikern, die an die Stelle meiner Lehrer getreten waren und mich mit den Einsern und Zweiern bedachten, die ich als Schüler erstrebt hatte, ohne mich an ihnen freuen zu können. Wieder beachtliche Honorare und wieder das Vakuum der Bedeutungslosigkeit.? - Jonathan Franzen: ?Why bother?? Musik; The Clash: ?The Guns of Brixton? O-Ton Franzen: The music that changed my life (?) was the stuff from the late 70ties. Above all the ?Talking Heads? (?) but before that even more so the more punky stuff and the more freaked out stuff. And along with them the ?Clash? and Elvis Costello, people like that, ?Gang of Four? (?) Good independent rock. Voice over: Die Musik, die mein Leben verändert hat, war die der späten siebziger Jahre. Allen voran die ?Talking heads? aber davor schon die mehr punkigen und abgedrehten Sachen. ?The Clash?, Elvis Costello, solche Leute, ?Gang of Four?. Guter Independent-Rock. Autor: Äußerlich wirkt der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen nicht wie ein Punk oder Freak. Eher hat man bei der Begegnung mit dem mittlerweile Siebenundvierzigjährigen den Eindruck eines Collegeboys, der gerade vom Football-Training kommt. Ein großer, kräftiger Mann mit lockigen Haaren, verwaschenen Jeans und Hornbrille, der sich für seine Antworten sehr viel Zeit nimmt und keineswegs rotzig oder lümmelhaft daher kommt. Jonathan Franzen ist einer der erfolgreichsten Autoren in den USA, allein von seinem Roman ?Die Korrekturen? wurden mehr als eine Million Exemplare in seinem Heimatland verkauft. Trotz seiner Bescheidenheit und Zurückhaltung sorgte Franzen 1996 mit einem Essay für einigen Aufruhr in der literarischen Szene der Vereinigten Staaten. Unter dem Titel ?Why bother?? veröffentlichte er in dem renommierten ?Harper?s Magazine? eine harsche Kritik an der zeitgenössischen US-Literatur. Musik, The Stranglers: ?Princess of the Streets? Autor: Die Schriftsteller, so Jonathan Franzen, ließen sich viel zu sehr von den Zeitumständen deprimieren als diese produktiv umzusetzen. Vor lauter Angst, nicht ernst genommen zu werden, liefen die Autoren Gefahr, sich an Theorien zu orientieren. Franzen postulierte, in guter pragmatischer Tradition der US-Literatur, eine neue Form des Realismus, die er ?tragisch? nannte. Die Romanschriftsteller, so Franzen, sollten sich von der allgemeinen Düsternis lieber motivieren und inspirieren lassen anstatt zu erstarren. Sie müssten nicht unbedingt etwas verändern, aber sie könnten etwas bewahren. So zum Beispiel eine präzise und ausdrucksstarke Sprache sowie die schriftstellerische Gewohnheit, ins Innere der Dinge zu blicken und nichts als selbstverständlich hinzunehmen. Denn dies würde ein Depressiver tun: sich mit seinem Schicksal abfinden. Der tragische Realist dagegen glaubt zumindest an eine Heilung, auch wenn er gegen Windmühlen anrennt. Musik: The Clash: ?Brand new Cadillac? Zitator: ?Ich hoffe, es wird klar? Autor: schrieb Franzen damals, Zitator: ?dass ich mit ?tragisch? alle Literatur meine, die mehr Fragen stellt, als sie beantwortet.? Autor: Damit stellte Jonathan Franzen alte Themen neu zur Diskussion: Soll Literatur unterhaltend oder belehrend sein? Wie kann sie die Zeit beschreiben, ohne zu einem bloßen Showelement zu werden? Und wie verhindern Schriftsteller, dass Literatur bedeutungslos wird, in den Wellen der Unterhaltungsindustrie untergeht? Denn diese Befürchtung hat Jonathan Franzen. O-Ton Franzen: I would describe it as a fear that the novel would cease to be a living form. That would become something like chamber music. The fear that it would become something like chamber music or poetry, that really has only an audience of fellow poets and fellow chamber musicians and a few very eccentric (?) people who are devotees. Voice over: Ich würde es als Sorge davor beschreiben, dass der Roman als lebendige Form ausstirbt. Dass er zu so etwas wird wie Kammermusik oder Poesie, die nur noch für Kammermusiker oder Dichter interessant ist, für ein kleines Publikum von Exzentrikern, von kritiklosen Verehrern. Autor: Im Unterschied zu Europa hat das professionelle Schreiben in den USA seit jeher die Aura des einträglichen Geschäfts. Und es hält sich die Meinung, dass dies mit einem besseren, am wirtschaftlichen Erfolg orientierten Selbst- und Verlagsmanagement der Autoren zu tun habe. In Europa, so die weit verbreitete Mutmaßung, werde Wert auf Diskurs und Abstraktion gelegt, während in der amerikanischen Literatur der Schwerpunkt auf einer gut erzählten Story liege. Das Denken, die philosophische Tiefe werden als Markenzeichen des europäischen Romans gesehen, während die Kompositionen der US-Literatur schnörkelloser, dialogorientierter und aus dem alltäglichen Leben gegriffen zu sein scheinen. Doch sind diese Unterscheidungen heute noch gültig? Jonathan Franzen, im Mittleren Westen der USA aufgewachsen, studierte in den achtziger Jahren in München und Berlin Germanistik und kennt beide Literaturmodelle. O-Ton Franzen: The Germans and the French are both very inclined to abstract thought, and you would find this probably just as much in an engineering school as in literature. My feeling is that the difference has more to do with the place that literature occupies in the culture, and in the intellectual life of a country. And that the production corresponds to those expectations rather then creating those expectations. Which is to say, there is no public role for the intellectual or the thinker in America, it?s an extreme statement and it?s not entirely true, but its as good as true. There is a role for an entertainer. Voice over: Die Deutschen und die Franzosen neigen zum abstrakten Denken, ein Denken, das man genauso gut in einem Studiengang für Ingenieure finden könnte wie in der Literatur. Mein Gefühl ist, dass die Unterschiede mehr mit dem Stellenwert der Literatur zu tun haben, den diese in der Kultur eines Landes, seinem intellektuellen Leben einnimmt. Und dass die literarischen Produkte eher Erwartungen bedienen als sie selber hervorzurufen. Es gibt für den Schriftsteller, den Denker in den USA keine öffentliche Rolle. Das ist eine extreme Aussage, sie ist nicht ganz richtig, kommt der Wahrheit aber sehr nahe. Für den Schriftsteller ist die Rolle des Entertainers reserviert. Autor: Ein Beispiel hierfür ist Jonathan Franzens erster Roman ?Die 27ste Stadt?. In ihm wird in fast schon satirischer Weise beschrieben, wie einfach es einer Gruppe von Gangstern fällt, eine amerikanische Großstadt ? St.Louis ? unter ihre Kontrolle zu bekommen. Allzu schnell sind die ehrbaren Bürger bereit, ihre Prinzipien über Bord zu werfen. Ihnen wird ausgerechnet von den Kriminellen versprochen, dass Recht und Ordnung aufrechterhalten, Arbeitsplätze geschaffen und die Wohlhabenden noch reicher werden ? wenn sie bereit sind, ihre Bürgerrechte einschränken zu lassen und der Demontage ihres Gemeinwesens zustimmen. Der knapp siebenhundertseitige Roman war als Gesellschafts- und Kulturkritik gedacht. Jonathan Franzen wollte mit ihm seinen Landsleuten vor Augen führen, dass die oft beschworenen Werte des ?american way of life? und der amerikanischen Demokratie auf wackligen Beinen stehen ? nicht zuletzt deshalb, weil den Intellektuellen kein Gehör geschenkt werde. Die Wirkungsgeschichte seines Buches sollte ihm recht geben. Zitator: ?Als ?Die 27ste Stadt? vorlag, das war 1988, wurde mir bewusst, wie naiv ich noch immer war. Das obsessive Interesse der Medien an meinem jugendlichen Alter überraschte mich. Ebenso das Geld. Hochgejubelt von optimistischen Verlegern, die meinten, eine im wesentlichen düstere, sperrige Romanhandlung mit Unterhaltungselementen werde sich irgendwie millionenfach verkaufen, erhielt ich genug, um mein nächstes Buch schreiben zu können. Die größte Überraschung aber (...) war, dass mein kulturkritischer Roman daran scheiterte, auf die Kultur einzuwirken. Ich hatte provozieren wollen; stattdessen bekam ich sechzig ins Leere gehende Rezensionen.? Jonathan Franzen: ?Why bother? Musik, The Stranglers: ?Walk on by? O-Ton Franzen: So if you can also provide philosophical content, general content, political content, psychological content while entertaining, you?ll make an additional few thousands people very happy. But the young writer in America knows from the beginning that he or she will never get any respect the way a French or a German or any continental writer automatically will have, once they have written a few books, there will be just automatic intellectual respect according them. Voice over: Wenn man philosophische, psychologische oder politische Inhalte liefert und damit noch in der Lage ist, zu unterhalten, kann es sein, dass man einige Tausend Leser zusätzlich glücklich macht. Aber die jungen amerikanischen Schriftsteller wissen, dass man ihnen niemals den Respekt zollen wird, wie dies bei französischen, deutschen oder überhaupt europäischen Autoren üblich ist. Von dem Moment an, wo europäische Autoren ein paar Bücher geschrieben haben, werden sie fast automatisch auf der intellektuellen Ebene respektiert. Autor: Inwieweit Jonathan Franzen hier einem Bild verhaftet ist, das heute so nicht mehr stimmt, mag dahingestellt sein. Der intellektuelle Respekt jedenfalls, für den er sich seine persönliche Version des europäischen Schriftstellers zum Vorbild genommen hatte, blieb zunächst aus. Er wurde als Schriftsteller wahrgenommen, der in erster Linie flüssig und unterhaltsam schreibt und nicht als Kulturschaffender, der sich in die politischen Diskussionen seines Landes einmischt. Jonathan Franzen wurde so mit einem Phänomen konfrontiert, dass vor ihm schon vielen Kollegen begegnet war: Der Autor wird anders verstanden und gesehen als er es gewollt hat. Desillusionierung und Enttäuschung waren die Folge. Heute, fast zwanzig Jahre später, sieht Jonathan Franzen die damalige Situation mit einem analytischen Blick. O-Ton Franzen: It is normally a very populist country you are simply not allowed to be an elitist. You may privately be one, but you cannot publicly proclaim or signal in any way your elitist intention if you would like to be read basically. You might find a small audience in the academy but broadly speaking you will not have, you will not connect with American readers if you lead with your elitism. No politician can be an elitist. Both parties accuse the other of being a party of elitists. Indeed we have the sad spectacle in literature in America now of the popular writers accusing the elitists of being elitist and the elitists are turning around and accusing the popular writers of ? in their own way ? being condescending elitists. Voice over: Die Vereinigten Staaten sind ein sehr populistisches Land in dem es schlichtweg verboten ist, elitär zu sein. Im privaten Bereich kann man das sein, aber man darf öffentlich nicht signalisieren oder gar verkünden, man sei elitär, wenn man gelesen werden will. Würde man das machen, würde man sich vom Elitären leiten lassen, hätte man von vornherein eine kleine Leserschaft im universitären Bereich, aber die Masse der amerikanischen Leser würde einem verwehrt bleiben. Kein Politiker darf elitär sein; gerade deshalb beschuldigen sich die beiden großen Parteien gegenseitig des elitären Denkens. Es ist ein Trauerspiel, aber auch in den USA werfen jetzt die angeblich populären Schriftsteller den angeblich seriösen Autoren vor, sie würden sich als Elite darstellen, während die wiederum ausgerechnet Unterhaltungsschriftsteller als herablassend und gönnerhaft bezeichnen. Autor: Jonathan Franzens ursprüngliches Sendungsbewusstsein, sein Wille, mit Literatur die Welt zu verändern, hatte seinen Ursprung in seiner deutschen Studienzeit. Denn hier wurde er mit einer Literatur konfrontiert, die in den Vereinigten Staaten nicht zum Mainstream gehört: mit dem philosophische Schreiben, jener Art von Literatur, die weltanschauliche Inhalte zu transportieren versucht und den Unterhaltungswert nicht in den Vordergrund stellt. Jonathan Franzens schriftstellerische Entwicklung ähnelt dabei der vieler amerikanischer Autoren. Erst durch die Auseinandersetzung mit der Literatur der Alten Welt bildete sich die Imaginationskraft heraus. Was für Fitzgerald, Hemingway und Henry Miller die russische und französische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts war, wurde für Jonathan Franzen die deutsche. O-Ton Franzen: I am a strange case, quite. My life has changed by german writers and by german literature in general. I cut my on Goethe and read all of the major works of Goethe and than thus prepared me to meet the moderns (?) The german literature, the germans, the modern germans. Well that was the thing, I started out as kid wanting just to write entertaining books and then I went away to college and was to some extend corrupted by the notion of literature as a serious art and the chief corrupters were the germans and above all Kafka and Rilke in his novel ?Malte Laurids Brigge?, Karl Kraus very much and against my will Thomas Mann in ?Zauberberg?, others, but those were the primary corrupters of me. And the thing was, I (?) probably misread them, I feel as if I read them in an American way. Voice over: Ich bin ein ziemlich seltsamer Fall. Mein Leben hat sich durch deutsche Literatur und deutsche Schriftsteller vollständig geändert. Ich habe mir die Zähne an Goethe ausgebissen, hab alle seine Hauptwerke gelesen. Das bereitete mich auf die Auseinandersetzung mit modernen Autoren vor, speziell mit der modernen deutschen Literatur. Es war ja so: Schon als Kind wollte ich leichte unterhaltende Literatur schreiben, und als ich aufs College ging, bekam ich plötzlich eine Ahnung davon, dass Literatur eine seriöse Kunst ist. In gewisser Weise wurde ich also verdorben, und die Hauptschuldigen waren deutsche Schriftsteller. Allen voran Kafka und Rilke mit seiner Erzählung ?Malte Laurids Brigge?. Aber auch sehr stark Karl Kraus und gegen meinen Willen Thomas Mann mit seinem ?Zauberberg?. Natürlich waren es auch noch andere, aber das waren die wichtigsten. Der Witz dabei war, dass ich Vieles vermutlich falsch verstanden habe, denn ich las diese Bücher mit dem Blick des Amerikaners. Autor: Auf amerikanische Weise die deutsche Literatur zu lesen bedeutete für Jonathan Franzen damals unter anderem, selbst in Franz Kafkas ?Prozess? optimistische Züge finden zu wollen. Doch vor allem reifte in dem jungen Jonathan Franzen, der seine schriftstellerische Karriere vorbereitete, eine Frage, die ihn heute noch beschäftigt. Und die auch den Ausgangspunkt für seinen programmatischen Essay in ?Harper?s Magazine? bildete: Wie transportiert der Autor seine Inhalte? Wie erreicht er den Leser, ohne auf der einen Seite lediglich kurzweilig-amüsant zu sein und auf der anderen zu hochgestochen-anspruchsvoll? In Franzen reifte die Erkenntnis, dass das eine das andere nicht ausschließen muss. O-Ton Franzen: I just wanted to be a silly entertainer and it was in Germany that I learned with it you could do more as a writer than simply entertain (?) I think all the good American writers understand that and just in the same sense, in the same way that the best german writers understand it: (?) you have to connect with the reader in some way, I think that is the easier lesson that everyone learns. Voice over: Ich wollte ein simpler, schlichter Entertainer sein, und in Deutschland merkte ich, Literatur kann mehr als nur unterhaltend sein. Ich glaube, dass alle guten amerikanischen Autoren das verstanden haben und zwar in derselben Art und Weise wie es die deutschen verstanden haben: Man muss zu dem Leser irgendwie in Beziehung treten. Ich glaube, das ist die erste und eine der einfacheren Lektionen, die jeder lernt. Autor: In Deutschland lernte Jonathan Franzen auch die berüchtigte Trennung zwischen ernster und unterhaltender Kultur kennen. Die in dieser Unterscheidung enthaltene Behauptung, nur mit unterhaltender Literatur ließe sich in Europa genügend Geld verdienen, konnte Franzen nie verstehen. Zumal er als Student mit einem eklatanten Gegenbeispiel für diese These konfrontiert wurde: Thomas Manns Roman ?Die Buddenbrooks?. Während seiner Studentenzeit in München sah Jonathan Franzen eine neue Edition des Romans im Schaufenster einer Buchhandlung: O-Ton Franzen: I remember when I was a student in Munich, Lehmkühl heißt vielleicht die Buchhandlung in München, the one I remember. I remember seeing in the store window a new edition of ?Buddenbrooks? (?) and it said something about: der meistgelesene Familienroman in the history of Germany and than something about mehr als eine Million Exemplare verkauft, ja, exactly in print and I do remember thinking, yes that?s a good model, that would be a good think to do. Autor: Knapp fünfzehn Jahre nach dieser Episode sollte der Roman ?Die Buddenbrooks? zum Vorbild für Jonathan Franzen groß angelegten Familienroman ?Die Korrekturen? werden ? vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht. Denn Jonathan Franzen hatte sich mit seinem Essay ?Why bother?? ? ?Wozu der Aufwand?? ? ein großes Stück weit frei geschrieben von seinen eigenen Forderungen nach intellektueller Bedeutsamkeit. Und für sich entschieden, dass es keine Schande ist, mit Literatur finanziell erfolgreich zu sein. Der Realismus, den er in diesem Roman für sich entwickelt hatte, ließ sich für ihn auf eine einfache Formel reduzieren: ?Die Dinge wiedergeben wie sie sind? ? so elend und tragisch sie auch sein mögen. Zitator: Meine Natur hatte nur auf mich gewartet, und jetzt hieß sie mich willkommen. Mit einem Mal wurde mir bewusst, wie sehr ich danach hungerte, eine imaginierte Welt zu errichten und zu besiedeln (...) Wie hatte ich glauben können, ich müsste mich heilen, um in die wirkliche Welt zu passen? Ich brauchte keine Heilung und die Welt auch nicht; das Einzige, was geheilt werden musste, war das Missverständnis über meinen Platz in ihr.? ? Jonathan Franzen: ?Why bother? Musik, The Stranglers: ?Princess of the Streets? O-Ton Franzen: The hardcover sold nearly a million in the US, it did. That?s related to the confusion in most American writers minds of whether they are trying make great art or trying to make a lot of money. The shocking thing is that?s it?s possible to do both. Mark Twain was the pre-eminent writer of the 19th century, and he did rather well. People like to read him (?) And it?s a shocking thing, it?s a disorienting thing for people who are accustomed to the European model. Voice over: Die gebundene Ausgabe von ?Die Korrekturen? wurde annähernd eine Million Mal verkauft. Dadurch kam dann erneut die Frage unter vielen amerikanischen Autoren auf, ob man eher große Kunst produzieren oder eine Menge Geld machen sollte. Es mag manche schockieren, dass beides möglich ist. Mark Twain ist ein großartiges Beispiel für einen Schriftsteller aus dem neunzehnten Jahrhundert, dem das gelungen ist: die Leute lesen ihn nach wie vor gerne. Das ist natürlich ärgerlich und verwirrend für Autoren, die sich an dem europäischen Modell des Schreibens orientieren. Autor: Doch stimmt dieses Modell überhaupt noch? Ist die europäische Literatur, sind die deutschen Schriftsteller weniger gewinnorientiert als ihre amerikanischen Kollegen? Was auffällt ist, dass die Produktionsbedingungen sich stark voneinander unterscheiden. In den USA werden im Allgemeinen wesentlich höhere Honorarvorauszahlungen geleistet als hierzulande. Zwei oder mehr Jahre an einem Roman zu arbeiten ist in Deutschland ein größeres Risiko als in den Vereinigten Staaten. Einer, der es wissen muss, ist der Berliner Schriftsteller Ingo Schulze. Er brauchte für seinen großen Roman über die deutsche Einheit ??Neue Leben? ? sieben Jahre und beschreibt die Situation des deutschen Autorendaseins: O-Ton Schulze: Bisher war ich immer in der glücklichen Lage, das durchhalten zu können und auch durchaus durch Stipendien und Preise abgefedert, sonst wär ich da glaube ich nicht so ohne weiteres durchgekommen (...) In den USA wiederum hat jeder halbwegs anerkannte Schreiber irgendwie ne Professur für creative writing, also, nun kann man überlegen, was ist nun besser, Lesungen oder unterrichten, das hat glaube ich beides was für sich (...) Aber generell muss ich sagen, ist das hier schon sehr gut. Und auch die Arbeitsbedingungen für Schriftsteller. Nun wird jemand sagen, der nie ein Stipendium bekommen hat, der hat gut reden, aber wenn man das mal vergleicht, was an Preisen, an Stipendien in Deutschland vorhanden ist, dann ist das schon enorm (..) da haben wir es schon vergleichsweise wirklich gut. Autor: Gleichwohl, so Ingo Schulze, scheint sich auch in der europäischen Literatur das Diktat der großen Zahl, der gut verkauften Auflagen durchzusetzen. Die Entertainerqualitäten der Autoren sind immer mehr gefordert, sie soll ihre Inhalte möglichst so darbringen, dass sie möglichst viele Leser erreichen. Das literarische Experimentieren droht dadurch zunehmend in den Hintergrund zu geraten. O-Ton Schulze: Das orientiert sich in Deutschland und ich glaube überhaupt so im europäischen Bereich schon sehr an der angelsächsischen Tradition (...) wir ziehen jetzt sozusagen nach und ich muss sagen, ich finde es nicht so angenehm bei jedem Buch was erscheint, wenn man darüber denkt, kommt das jetzt auf die Longlist, kommt es auf die Shortlist, hat es eventuell Chancen, das Buch der Saison zu werden. Das hat natürlich andererseits ein paar Effekte, dass es Leute in den Mittelpunkt katapultiert, Bücher in den Mittelpunkt katapultiert, die es durchaus auch verdienen. Aber andere, die es nicht weniger verdienen natürlich dann draußen bleiben. Also das ist eine hoch ambivalente Geschichte, da muss man auch mal abwarten, wie das in Zukunft weitergeht (....) Ich spür das auch an mir, ich muss dann sehen, dass ich (...) nicht zu sehr darauf schiele, etwas Gängiges zu machen. Autor: Ingo Schulze, der in diesem Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, beschreibt ähnlich wie Jonathan Franzen die Zwickmühle, in der ein Schriftsteller - sowohl in den USA als auch in Europa - steckt. Zum einen muss er, um vom Schreiben leben zu können, häufig Zugeständnisse machen. Zum anderen hat jeder Autor den natürlichen Impuls, nicht in die Bedeutungslosigkeit abzusinken, nicht belächelt sondern ernst genommen zu werden. Literatur, so Jonathan Franzen, bewegt sich gerade im Zeitalter der elektronischen Kommunikation auf sehr dünnem Eis. Illusionslos berichtet Franzen darüber, dass inzwischen die schlimmsten Befürchtungen, die er zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn hatte, eingetreten sind: O-Ton Franzen: We are already insignificant and at least in the US. That was amusing. I gave a couple of interviews, I can?t remember why to Europeans during the 2004 presidential campaign in the US. And there was often a question like: why don?t more artists and intellectuals speak up against the administration what are artists and intellectuals doing in America to help defeat Bush/Cheney. And to the American here it just sounds, its an absurd question, the notion that anyone would care, what Philip Roth had to say about the administration. Cameron Diaz or Ben Stiller, you know, the sort of young interesting but not particularly famous Hollywood actors get vastly more important and vastly more listen to than Toni Morrison or Don DeLillo. (?) And why would you make yourself ridiculous (?) when nobody is gonna listen to you anyway. So, we are already insignificant. Voice over: Wir sind längst bedeutungslos geworden in den USA. Ein amüsantes Beispiel dafür: während der US-Präsidentschaftswahlen im Jahre 2004 gab ich in Europa eine Reihe von Interviews. Und ich wurde oft gefragt, warum nicht mehr Intellektuelle und Künstler etwas gegen Bush und Cheney unternehmen. Für mich als Amerikaner war das eine absurde Frage; die Annahme, es würde überhaupt jemanden in den USA interessieren, was beispielsweise Philip Roth zur US-Politik sagt. Das interessiert keinen. Was mehr interessiert, sind die Statements von Leuten wie Ben Stiller oder Cameron Diaz, junge Hollywood-Schauspieler, denen in politischen Fragen wesentlich mehr Gehör geschenkt wird als Toni Morrison oder Don DeLillo. Und warum sollte man sich selbst lächerlich machen, wenn einem sowieso keiner zuhört. Wir sind längst bedeutungslos. Musik, Talking Heads: ?Television Man? Autor: Was bleibt angesichts dieser niederschmetternden Diagnose? Für Jonathan Franzen ist klar: der Schriftsteller muss akzeptieren, dass er politisch und kulturell nicht viel zu melden hat. Eine Ansicht, mit der sich in den USA eine Reihe von jungen Autoren zumindest anfreunden konnte. David Foster Wallace, David Means, Stuart O?Nan oder Denis Johnson. Und nicht zuletzt Jeffrey Eugenides, Autor des Romans ?Middlesex?, dessen Stil sich ausdrücklich an Jonathan Franzens Vorgaben orientiert. Der tragische Realismus, wie ihn Jonathan Franzen propagiert, stellt trotz dieser Misere politische und soziale Fragen. Zum Beispiel die nach der Verwahrlosung der amerikanischen Vorstädte, der Umweltzerstörung in den USA und deren militärischem Engagement in der Dritten Welt. Ohne den Anspruch erheben zu wollen, sie beantworten zu können. Dabei stehen das Erzählen im Vordergrund sowie das Finden der adäquaten Form für eine Geschichte. Jonathan Franzen geht es darüber hinaus um den Dialog mit den zeitgenössischen deutschen Schriftstellern. Und auch um den Export der Form amerikanischen Schreibens, die wie kaum eine andere als charakteristisch für die Literatur der USA gesehen wird: die Short Story. O-Ton Franzen: And it seems to me it is such an artful form that would be ideally suited to the german conception of literary art. I am still trying to spark a fire here in Germany: Discover the short story. I know, Böll wrote a lot of short stories and very good ones, I know its not a completely foreign form. And yet I don?t see a lot of story collections in store and I think that much of the best American writing and that which would seem most familiar to german sensibility doesn?t even come over here, because it is in the form of short stories. So what comes over is the more commercial novel and what gets left behind untranslated in many cases is the non-commercial short story (?) Our most literary and artful production is in a genre that (?) flies beneath the radar here in Germany. Voice over: Ich habe den Eindruck, dass Short Stories eine Kunstform sind, die wunderbar zur deutschen Art des Schreibens passen könnte. Ich versuche immer noch, hier in Deutschland eine Lanze dafür zu brechen: entdeckt die Form der Short Stories für euch. Ich weiß, Heinrich Böll hat eine Menge Stories geschrieben, ganz fremd ist diese Richtung also nicht. Und trotzdem habe ich kaum Kurzgeschichtensammlungen in den Buchhandlungen hier gesehen. Aber ich glaube, dass Vieles von der wirklich guten Literatur, die in Amerika geschrieben wird, der deutschen Sensibilität und Innerlichkeit entsprechen dürfte. Nur findet gerade das in Deutschland wenig Resonanz. Was ankommt, sind die kommerziell erfolgreichen Romane, was dabei verloren geht, sind die kaum übersetzten, nicht kommerziellen Short Stories. Das heißt, unsere besten literarischen und künstlerisch hoch entwickelten Produktionen werden vom deutschen Radar nicht erfasst. Autor: Jonathan Franzen legt Wert auf die Feststellung, dass dies sein persönlicher Eindruck ist, den er auf mehreren Vortrags- und Lesereisen durch Deutschland gewonnen hat. Bei Ingo Schulze dürfte er mit der Forderung nach mehr Short Stories offene Türen einrennen. Denn dessen jüngste Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel ?Handy? ist in bester US-amerikanischer Tradition geschrieben. Trotzdem sind Ingo Schulzes Antennen nicht auf die Megaseller jenseits des Ozeans ausgerichtet. O-Ton Schulze: Das, was man hier so als die amerikanischen Erzähler, die einschlagen, nimmt, ist bei aller Hochachtung, und ich habe auch gar keine Lust immer polemisch zu werden, aber das interessiert mich eigentlich nicht sonderlich, sondern das ist 19. Jahrhundert relativ ungebrochen (...) Und, ja, da wird was erzählt, das wird sehr gut erzählt, aber irgendwo (...) denke ich oft, na ja, vielleicht leistet das sogar ein Film besser (...) Das sind natürlich großartige Erzähler aber die, die mich aufregen, sind das nicht. Autor: Die Konzepte erfolgreicher US-Literatur können für Ingo Schulze kein Maßstab für die deutsche und europäische Literatur sein. Denn der Autor ist nicht allwissend, er kann den Lesern nur Angebote machen, wie das, was ist, auch zu sehen sein könnte. Schulzes Verdacht gegenüber weiten Teilen der amerikanischen Literatur: sie versuche, die Wirklichkeit eins zu eins abzubilden. Zuende gedacht steckt daran die Gefahr, dem Leser keinen Interpretationsspielraum mehr zu lassen. Fiktion muss aber, so Ingo Schulze, bleiben, was sie ist: reine Erfindung. O-Ton Schulze: Für mich ist dann auch immer wichtig zu sagen, ich erzähl euch was, und ich will natürlich auch den Leser (...) überzeugen, und zugleich möchte ich aber auch die Freiheit immer mit liefern: ich erzähl euch was, aber es kann auch ganz anders sein. Das ist mir immer sehr wichtig (...) dass ich einen Stein aus der Illusion rausschlage, dass man merkt, ach so, das ist ja nicht die Wirklichkeit, das ist ein Bild. Autor: Um Illusionen geht es auch in Jonathan Franzens Roman, ?Die Korrekturen?, der im Jahr 2001 in den USA und ein Jahr später in Deutschland erschien. Er entstand als unmittelbare Folge des Essays in ?Harper?s Magazine?, der darin enthaltenen Auseinandersetzung des Autors mit sich und seinen Ansprüchen als Künstler. Jonathan Franzen versuchte darin sein persönliches Scheitern ? vor allem die Scheidung von seiner Frau ? zu verarbeiten, indem er die scheiternden Selbstentwürfe einer amerikanischen Familie aus dem Mittleren Westen darstellte. Er setzte so seinen Entwurf einer realistischen Literatur um: beschreiben, was ist. Auch das, was nicht so offensichtlich ist und gerne verschwiegen wird. Und das war seiner Meinung nach das Misslingen. Musik, Talking Heads: ?Road to Nowhere? O-Ton Franzen: I think all writers write about failure, the Greek tragedies are essentially stories of great failures (?) I think the concept has a particular richness in America which is so success-obsessed (?), because you come to America in order to make it, but of course not everyone can. It?s a culture of failure basicly, precisely to the extend that it is the culture of the American dream, it?s the culture of fail dreams too. So there is that additional American flavour to what I think is an ancient theme (?) I could speculate on my own psychopathology but that might not be necessary. Voice over: Ich denke, dass alle Autoren über das Scheitern schreiben, angefangen mit den griechischen Tragödien, geradezu Musterbeispiele des Schreibens über das Misslingen. Darüber zu schreiben, birgt in den USA einen enormen Reiz, denn unser Land ist erfolgsversessen. Man kommt ja in die Vereinigten Staaten, um sein Ding zu machen. Aber natürlich kann das nicht jedem gelingen. Wir haben eine Kultur, die auf dem Scheitern basiert; selbst bis zu dem Punkt, wo der amerikanische Traum eigentlich auch die Geschichte eines fehlgeschlagenen Traums ist. Nach meiner Auffassung bekommt das alte Thema des Scheiterns eine zusätzliche amerikanische Dimension. Ich könnte jetzt auch meine eigene Psychopathologie als Beispiel bringen, aber ich glaube, das ist nicht nötig. Autor: Wenn Jonathan Franzen auch seine damaligen programmatischen Äußerungen heute mit einer kritischen Distanz sieht, so ist er sich doch im Wesentlichen treu geblieben. Ein Schriftsteller sollte den Literaturbetrieb, das große Geld dank hoher Auflagen nicht allzu sehr verachten; aber gleichzeitig auch nicht zu sehr danach schielen. Dies erfuhr vor allem die populäre US-Talkmasterin Oprah Winfrey, die Jonathan Franzen nach dem Erscheinen des Romans ?Die Korrekturen? in ihre literarische Show einlud. Franzen lehnte die Einladung damals mit der Begründung ab, eine derartige Literaturbetrachtung, wie sie Oprah Winfrey betreibe, sei obszön. Lizenzangaben: 1.) Seite 1 im MS: Jonathan Franzen: ?Anleitung zum Einsamsein?; Seite 77, 12 Zeilen; Rowohlt-Verlag, Hamburg, 2002 2.) Seite 6/7 im MS: ?Anleitung zum Alleinsein?; Seite 69/70, 13 Zeilen; Rowohlt-Verlag, Hamburg, 2007 3.) Seite 13 im MS: ?Anleitung zum Einsamsein?; Seite 114, 9 Zeilen; Rowohlt-Verlag Hamburg, 2002) 4.) Jonathan Franzen: ?Die 27ste Stadt?; Rowohlt-Verlag Hamburg, 2003 5