COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe: LITERATUR Titel der Sendung: Allein mit dem inneren Feind. Junge französische Schriftsteller erinnern an den Algerienkrieg AutorIn: Sigrid Brinkmann Redakteurin: Barbara Wahlster Sendetermin: 29.5.2012 Regie: Clarisse Cossais "Allein mit dem inneren Feind" Junge französische Schriftsteller erinnern an den Algerienkrieg Von Sigrid Brinkmann Deutschlandradio Kultur: Literatur am 29.05.2012 Red: Barbara Wahlster Take 1 (Mauvignier): J'ai demandé une fois à ma mère. Je n'aurais ... Darauf 1. Sprecher: Ein einziges Mal habe ich meiner Mutter eine Frage gestellt. Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, meinen Vater zu fragen, was damals passiert ist. Sie sagte mir nur, dass man ihn besser nicht darauf anspräche. Mein Vater kam traumatisiert aus Algerien zurück: Er hatte gesehen, wie Soldaten eine schwangere Frau traten. Mein Buch ist entstanden, weil ich leere Bilder mit einer Geschichte füllen musste. Die Leere war für mich unerträglich. ... insupportable pour moi qu'elles soient vides. Autorin 1: Laurent Mauvignier, Autor des Romans "Die Wunde". Er versucht zu verstehen, warum heimgekehrte Soldaten, die nicht freiwillig in Algerien gedient hatten, noch Jahrzehnte später so beharrlich wie hilflos über das Erlebte schweigen. Take 2 (Ferney): Ah oui, on m'a soupconné d'être fille d'Algérie francaise darauf Sprecherin: Aber ja, man hat mich verdächtigt, für ein französisches Algerien und eine Anhängerin der rechtsextremen Geheimarmee OAS zu sein - was natürlich überhaupt nicht stimmt. Das Erscheinen meines Buches hat mich gelehrt zu sehen, in was für einer Welt wir leben: Ein großer Teil der Intelligentsia hält an erstarrten Konzepten fest und denkt nur in schwarz-weiß- Kategorien. (...) Es war nicht meine Absicht, den General de Gaulle vom Sockel zu kippen, aber man hat mir das tatsächlich vorgeworfen. ... ce qu'on m'a tout de suite reproché. Autorin 2: Alice Ferney begibt sich in den inneren Zirkel der Macht. Sie erzählt in "Passé sous silence" von einem geschichtlich bezeugten Attentatsversuch auf den französischen Staatspräsidenten und der abgelehnten Begnadigung des Komplotteurs. Am 11. März 1963, sechs Monate nach dem Anschlag (und ein Jahr nach dem Ende des Algerienkrieges) wurde der an die koloniale Mission glaubende Offizier erschossen. Es war die letzte Hinrichtung eines politisch Verurteilten in Frankreich. Jérôme Ferrari unterrichtete von 2003 bis 2007 Philosophie an einem Gymnasium in Algier. Danach schrieb er einen mehrfach preisgekrönten Roman, in dem er drei Tage der Schlacht um Algier 1957 schildert. Take 3 (Ferrari): Je n'avais aucune affinité ... Darauf 2. Sprecher: Ich hatte keine genaue Vorstellung von dem Land und keine emotionale Bindung. Ich kam einfach an und kann heute sagen, dass die Jahre dort mein Leben völlig verändert haben. 1994 war das französische Gymnasium nach einer Anschlagsserie und der Entführung eines Airbus geschlossen worden. Meine Schüler waren viele Jahre nicht zur Schule gegangen. Ich habe sie über Kindheitserinnerungen schreiben lassen, also über das Jahrzehnt des blutigen Terrors. Etwas davon klingt in meinem Roman an. Ein leises Echo, das vom Algerienkrieg bis in die neunziger Jahre hineinschallt. ... et les années quatre-vingt-dix. Atmo Schiffshupen, Wellenschlag 1. Sprecher: Da steht er nun auf dem Quai de la Joliette (in Marseille). Die Nummer seines Regiments war mit Kreide auf seinen Helm geschrieben worden. Er hofft auf Schlaf, muss aber die Müdigkeit und den Trubel ringsum, diese Hektik in seiner und allen anderen Einheiten, die heute Abend (nach Algier) verschifft werden und denen nur ein paar Schaulustige belanglose Abschiedsgrüße zurufen, wie man den Fischen und Vögeln im Hafen Brotkrumen zuwirft, noch eine ganze Weile ertragen. (...) Erzählen könnte er von den Möwen, von den Schleppern, um die sie kreisen wie Fliegen im Sommer um Pferde und Kühe; aber kein Wort von dieser Beklemmung (...) als unter seinen Füßen ein Beben ist, ein Rütteln, und dann ein Stoß, ein Laut, der (...) immer länger anhält und heftiger wird, bis man feuchte Hände bekommt und ausnahmsweise den entgeisterten Blick eines Kameraden auffängt, der, wie man selbst, wie jeder von ihnen, weiß, dass von diesem Moment an das ganze Leben von diesem Sirenenton, der verkündet, dass es losgeht, durchlöchert sein wird. (aus: Laurent Mauvignier, Die Wunde, Aus dem Französischen von Annette Lallemand, dtv premium, München 2011) Autorin 3: Zwei Millionen französische Wehrdienstpflichtige und Berufssoldaten wurden zwischen 1954 und 1962 zur "Aufrechterhaltung der Ordnung" - so lautete der offizielle französische Auftrag - nach Algerien verschifft. Die meisten Soldaten waren achtzehn, neunzehn Jahre alt; Bauernsöhne, die in der Mehrzahl nie zuvor das Meer gesehen hatten und die in Algier und Oran zum ersten Mal eine Großstadt durchstreiften. Sie ahnten nicht, dass sie in einen "namenlosen Krieg" geraten sollten. Bis zu eineinhalb Millionen algerische Zivilisten kamen in acht Jahren um. Die Nationale Befreiungsfront Algeriens verlor etwa 300.000 Menschen aus ihren Reihen, die französische Armee zählte über 17.000 Tote. Ein "algerisches Trauma" gibt es sowohl auf der algerischen wie auf der französischen Seite. In mehr als 3000 Sachbüchern und vielen Filmen wurden seit der Unabhängigkeit 1962 Aspekte des Krieges dokumentiert, doch nur wenige Romanschriftsteller haben sich an den Konflikt gewagt. Die atemlosen Wortkaskaden eines Pierre Guyotat, der den Krieg selbst als Soldat erlebt hatte, wurden in den sechziger Jahren verboten. Fast fünfzig Jahre später erhielten die Romane von Laurent Mauvignier, Alice Ferney und Jérôme Ferrari Nominierungen für bedeutende Literaturpreise. Ohne voneinander zu wissen, haben diese Autoren zur gleichen Zeit begonnen, vom Verlust des Ehrgefühls und der Empathie zu erzählen wie auch vom Zwang zur Loyalität, die während des Krieges in Verrat umschlug. Für alle drei war die 2002 ausgestrahlte Dokumentarfilmserie "L'Ennemi intime" - Der innere Feind - von Patrick Rotman eine wichtige Quelle. Jérôme Ferrari: Take 4 (Ferrari): La question centrale ... Darauf 2. Sprecher: Zwei Zeugenberichte aus Rotmans Film haben mich unmittelbar getroffen: der von Oberst Allaire - er hat den legendären Chef des Untergrundkrieges Larbi Ben M'hidi festgenommen -, und der von Jean-Yves Templon. Die Wände eines Raumes, in dem gefoltert wurde, waren mit pornographischen Bildern beklebt. Templon sprach von der Faszination, die beides auf ihn ausübte, und von der "krankhaften Lust, einen Körper zu benutzen". Er erkannte, dass Pornographie und Folter gleichermaßen obszön sind. Und dieser Gedanke, diese Verbindung, war für meinen Umgang mit dem Thema entscheidend. ... dont j'ai traité le sujet ... Autorin 4: Jérôme Ferrari zeichnet in seinem Roman "Und meine Seele ließ ich zurück" den moralischen Niedergang eines Mannes nach, der nicht mehr weiß, wo und wann er seine Ehre und seine Menschlichkeit verloren hat. Um die Figur des Capitaine Dégorce nicht als Inbild des Bösen erscheinen zu lassen, erfand Ferrari einen Gegenspieler: den für Zweifel unzugänglichen Leutnant Andreani. Take 5 (Ferrari): J'ai fait en sorte que toutes les perspectives ... Darauf 2. Sprecher: Mir kam es vor allem darauf an, dass jede Perspektive einen Funken Wahrheit in sich birgt. Was der Leser an der Figur meines Capitaine Dégorce für bewundernswürdig oder bemitleidenswert hält, kann ein anderer völlig verwerfen und sich dabei auf sein gutes Gewissen berufen. Ich wollte vor allem, dass keine Sichtweise der anderen klar überlegen ist. ... puissent s'imposer très nettement par rapport à l'autre. Autorin 5: Ferraris Leutnant Andreani hatte in Algier Verdächtige stets mit "Hass, Grausamkeit und Freude" gefoltert. Bei der Beschreibung der Gefangennahme und der Todesumstände des bis heute als Volksheld und Märtyrer verehrten Larbi Ben M'hidi folgt der Autor den überlieferten Tatsachen. Im Roman trägt Ben M'hidi den Namen Tahar. In einem langen, rückblickenden Monolog überzieht Andreani seinen ehemaligen Vorgesetzen Dégorce mit verächtlichem Spott. 2. Sprecher: Noch heute frage ich mich, aufgrund welch irriger Meinung Sie sich davon haben überzeugen können, dass Ihre Handlungen besser gewesen wären als meine. Auch Sie haben Informationen gesucht und erhalten, und es existiert immer nur eine Methode, an diese zu gelangen, mon Capitaine, Sie wissen es sehr genau, eine einzige, und Sie haben diese angewandt, genau wie ich, und die qualvolle Makellosigkeit dieser Methode konnte in keinem einzigen Fall durch Ihre Skrupel kompensiert werden, nicht durch Ihre lächerliche Art, elegant zu sein, Ihre Bigotterie oder Ihre Gewissensbisse (...) Tahar war ein harter Mann, der Ihre Neigung zur Sentimentalität nicht teilte (...) und ganz im Gegensatz zu Ihnen wusste er sehr wohl, dass er zu sterben hatte. (aus: Jérôme Ferrari: "Und meine Seele ließ ich zurück". Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secesssion Verlag für Literatur, Berlin 2011) Autorin 6: Jérôme Ferraris Roman spielt während der Schlacht von Algier im Frühjahr 1957. Sein Capitaine Dégorce unterscheidet zwischen würdigen und niedrigen Feinden. Dégorce bewundert den stolzen Untergrundkämpfer Tahar, der von der Notwendigkeit und dem Erfolg terroristischer Aktionen überzeugt ist. Angesichts Tahars Unerschrockenheit zerfallen Dégorces Gewissheiten. Kühl beschreibt Ferrari, wie Gedanken "versanden" und Fragen keinen Adressaten mehr finden. Dégorce will einen fairen Prozess für Tahar, doch ein General befiehlt die Tötung des prominenten Gefangenen. Jérôme Ferrari führt eindrucksvoll vor, wie im Algerienkrieg Franzosen zu Feinden von Franzosen wurden. Als die französische Geheimarmee OAS - die Organisation Armée secrète - 1960 dann begann, immer gezielter tödliche Anschläge auf Franzosen und Algerier auszuüben, war der Feind längst unsichtbar geworden. Take 6 (Ferrari): Le lecteur algérien identifie tout de suite ce personnage Darauf 2. Sprecher: Der algerische Leser verbindet mit Tahar sofort Larbi Ben M'hidi. Ich habe nur die Zeitachse ein wenig verrückt und das ganze Romangeschehen auf drei Tage verdichtet. Ich wollte ja keinen Schlüsselroman schreiben. Ich beschreibe die Fotografie, die man bei seiner Gefangennahme von ihm gemacht hat. Ben M'hidi lächelt. Dieses rätselhafte Lächeln hat für mich als Romancier große Bedeutung. Der Offizier, der ihn festgenommen hat, fühlt sich sichtlich unwohl neben dem lächelnden Häftling. Ihm behagt seine Rolle nicht wirklich. Er ist in der Position des vorläufigen Siegers, und doch hat man fast den Eindruck, er beneide den besiegten Gefangenen. ... envie le prisonnier vaincu. Autorin 7: Jérôme Ferraris Protagonist Dégorce hatte zehn Monate Haft in einem Konzentrationslager überstanden und später in Indochina gekämpft. Hatte er in Buchenwald gelitten, um zu verstehen, wie man in Algerien bei Verhören den Widerstand von Verdächtigen brechen konnte? Das, wie Ferrari spitz anmerkt, "von der Geschichte diplomierte Opfer" versteht sich selbst nicht mehr. Zu demissionieren, würde sich der Capitaine aber nie erlauben. Deshalb beruhigt er sich mit dem Gedanken, dass der Mensch nun einmal von Grund auf verdorben und die "Fratze" sein wahres Gesicht sei. Ferrari macht es dem Leser unmöglich, diesen Charakter zu verabscheuen. Er bietet uns an, zu begreifen, dass die französischen Soldaten, Offiziere und Generäle für eine verlorene Sache kämpften und jeder aus Algerien Abgezogene seither in einer Hölle lebt. Musikakzent: Take 7 (O-TON de Gaulle 0'22 sec): Je suis un homme seul ... Blenden mit Take 8 (Ferney): Quand je me suis intéressée à de Gaulle ... Darauf Sprecherin: Als ich anfing, mich mit de Gaulles Memoiren zu beschäftigen und ich seine Reden hörte, konnte ich nicht verhehlen, dass sie mich beeindruckten. ...que c'était éblouissant. Autorin 8: Alice Ferney breitet in ihrem bislang nicht übersetzten Roman "Passé sous silence" die Argumente aus, die ein Oberstleutnant der französischen Luftwaffe bemühte, um einen Anschlag auf das französische Staatsoberhaupt zu rechtfertigen. Das fehlgeschlagene Attentat wurde am 22. August 1962 in einem Vorort von Paris verübt. Obwohl der Versuch verbürgt ist, nennt sie den Drahtzieher des Komplotts und den Präsidenten nicht beim Namen. Sie sei, so Ferney, schließlich keine Historikerin und nur daran interessiert gewesen, zwei antagonistische Haltungen zu verinnerlichen. Dem Verschwörer nähert sie sich in der zweiten Person singular, denn diese intime Form erlaubt Seelenschau. Auf den Präsidenten blickt Ferney aus einer auktorialen Perspektive. Durch die Verträge von Evian am 18. März 1962 wurde das, was offiziell nicht Krieg genannt werden durfte, beendet und ein Datum für die Souveränität Algeriens festgesetzt. Der Oberstleutnant Bastien-Thiry trat daraufhin der französischen Untergrundarmee OAS bei. Er war überzeugt, dass der Verzicht auf das algerische Département ein Verrat an Millionen Algeriern sei, die keine Loslösung vom französischen Kernland wollten; er fand es nicht hinnehmbar, dass Siedler in Frankreich Asyl suchen mussten; er fand es schändlich, die mit der französischen Kolonialmacht kollaborierenden Algerier - Harkis genannt - zu entwaffnen und der rächenden Willkür der Nationalen Befreiungsfront auszuliefern. Den Géneral de Gaulle beschreibt Alice Ferney als nachtragenden, mit seinem Nachruhm beschäftigten Melancholiker, der Algerien ab 1960 nur noch als lästigen Ballast betrachtete. Take 9 (Ferney): Pour pouvoir écrire ce livre il fallait tout justement ... Darauf Sprecherin: Um dieses Buch schreiben zu können, musste ich abseits stehen, ideologische Vorbehalte abstreifen, nichts von vornherein ablehnen. Jedes Mal, wenn ich über eine Persönlichkeit schreibe, bin ich versucht, sie zu entschuldigen, und auf jeden Fall verzeihe ich ihr, zumal ich mich wirklich bemühe, ihr Denken und Vorgehen zu verstehen. (...) Was mich wirklich verblüffte, war zu entdecken, wie sehr der General und der Attentäter Bastien - Thiry sich ähneln. Das betrifft auch ihre familiäre Herkunft und ihre Bildung, Man hat es mir nicht verziehen, dass ich sie als Romanfiguren auf dieselbe Stufe stellte. De Gaulle besaß eine hohe politische Intelligenz, Bastien-Thiry war Idealist. Mich hat diese Zwillingshaftigkeit völlig hingerissen. ... ca m'a passionnée. Autorin 9: Alice Ferneys Roman hat ein gespaltenes Echo gefunden. Literaturkritiker warfen ihr vor, sie habe sich allzu sehr in den Verschwörer eingefühlt. Junge Leute interessieren sich nicht für ihr Buch. Die Älteren hingegen bedanken sich in Briefen dafür, dass sie den Blick auf den schändlichen Verrat an den Harkis lenkt. Insgesamt waren es mehr als 200 000, doch nur etwa sechzigtausend von ihnen gelang 1962 die Flucht nach Frankreich. Die meisten wurden in Lagerbaracken aus dem Zweiten Weltkrieg untergebracht, und dort blieben sie jahrzehntelang. 2001 gestand der französische Staat erstmals eine historische Schuld gegenüber den Gehilfen der französischen Armee in Algerien ein. Man schätzt, dass zwischen zwanzig- und fünfzigtausend Harkis nach der Unabhängigkeit umgebracht wurden. Alice Ferney hatte während ihrer Arbeit am Roman und auch nach der Veröffentlichung keinen Kontakt zur Familie von Bastien-Thiry gesucht. Diese kam auf sie zu. Alice Ferney: Take 10 (Ferney): Petit à petit s'est forgé en moi la conviction que ... Darauf Sprecherin: In mir hatte sich nach und nach die Überzeugung gefestigt, dass Bastien-Thiry de Gaulle nicht töten wollte. Während des Prozesses erhielt der Staatsanwalt den Brief eines Psychoanalytikers. Dieser deutete den missglückten Anschlag als Freudsche Fehlleistung. Mir leuchtete das ein. Als ich dann nach dem Erscheinen meines Buches Bastien-Thirys Halbbruder traf und ihn dazu befragte, sagte der nur: Nein, nein, eine Fehlleistung war das auf keinen Fall. Er wollte ihn wirklich töten! ... Il voulait vraiment le tuer. Autorin 10: Im Februar 2012 erschien in Frankreich ein Buch in Briefform. Es ist an Zohra Drif adressiert. Drif hatte im September 1956 eine Bombe in einer Milchbar in Algier deponiert. Bei der Explosion starb auch die Großmutter der Briefschreiberin. Sie selbst, damals fünf Jahre alt, verlor ein Bein. Zohra Drif wurde nach der Unabhängigkeit Algeriens von Géneral de Gaulle begnadigt und aus der Haft in Frankreich entlassen. Für den Attentäter Bastien-Thiry gab es keine Gnade. Man sollte, schreibt Alice Ferney abschließend, den Staatschef, der eine Begnadigung ablehnt, dazu verpflichten, der Hinrichtung beizuwohnen. Und sie hält noch eine Begebenheit parat: Am Tag nach Bastien-Thirys Hinrichtung erreichte de Gaulle ein Brief, in dem der Vater des Erschossenen um Gnade ersuchte. Lapidar hält Alice Ferney fest: Sprecherin: "Niemand erfuhr, welche Wirkung dieser zu spät angekommene traurige Brief und die Unmöglichkeit, ihn zu beantworten, auf den Adressaten hatte. Wo legte er dieses tragische Dokument und die beschämende Erinnerung ab?" Musikakzent: Autorin 11: Militärische Funktionseliten sind in Laurent Mauvigniers Roman "Die Wunde" nur Randfiguren. Er schaut auf die kasernierten Rekruten, die ihren Freundinnen Briefe schreiben, Karten spielen und am Wochenende mit dem Jeep in der Wüste Gazellen jagen. Dass sie die Leichname von erschlagenen Algeriern in Schluchten verschwinden ließen, dass sie zusahen, wie Frauen der Bauch aufgeschlitzt und Männern die Arme ausgerenkt wurden, erzählen sie allenfalls sich selbst, stumm, aber in immer wiederkehrenden gleichen Bildern. Take 11 (Mauvignier): La France qui est parti en Algérie faire la guerre est une France rurale ... Darauf 1. Sprecher: Es ist das ländliche Frankreich, das in Algerien Krieg geführt hat. Eingezogen wurden Leute, die niemals zuvor von zuhause weggekommen sind. Diese jungen Bauernsöhne mussten algerische Bauern davon abhalten, ihr Land zu beackern. Sie mussten die Bevölkerung an andere Orte schaffen. Es hat sie schockiert. Sie fühlten sich solidarisch. ... Ils se sentaient solidaires. Autorin 12: Bernard, 63 Jahre alt, Trinker, ist die zentrale Figur in Laurent Mauvigniers Roman. Frau und Kinder hat er vor vielen Jahren verlassen. Er haust in einer Baracke am Rand seines Heimatdorfes, irgendwo in Frankreich. Bernard war einer von zwei Millionen jungen Franzosen, die nach der Landung in Algerien eine Plakette um den Hals gehängt bekamen und zu Handlungen gezwungen wurden, die sie unweigerlich an das Verhalten der deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg erinnern mussten. Viele empfanden Schuld für ihr Tun, doch weil niemand von ihren Skrupeln hören wollte und erst recht nichts von den Gräueln, welche Aufständische und Franzosen verübt hatten, wählten sie das Schweigen. Im Wirtshaus spielten die Alten wie eh und je Karten und sorgten sich um die Ernte. Take 12 (Mauvignier): L'une des particularités de cette guerre ... Darauf 1. Sprecher: Das Besondere dieses Krieges ist es, dass er psychologisch im Nicht-Gesagten fortwirkte. Erst 1999 wurde offiziell gestattet, die militärischen Aktionen in Algerien auch tatsächlich Krieg zu nennen. Man konnte vorher über das, was dort passierte, nicht sprechen oder schreiben, ohne die Unmöglichkeit zu thematisieren, die Dinge beim Namen zu nennen. Gleichzeitig waren die Leute nicht fähig, auf Dauer alles für sich allein zu behalten. Das Trauma, das der Algerienkrieg geschaffen hat, muss für mich in der Sprache sichtbar werden. Es geht um eine doppelte Verletzung. ... effectivement il y a une double blessure avec ca. Autorin 13: Geradezu kalt beschreibt Laurent Mauvignier das Ereignis, das die Wunde seines Protagonisten aufbrechen lässt. Als ein in Algerien geborener Gast bei einer Geburtstagsfeier seiner Schwester den Raum betritt, nimmt das Drama seinen Lauf. Bernard beschneidet dem Mann das Recht, "hier" zu sein. Er beschimpft ihn als "bougnoule" - als Drecksaraber. Nachdem die Geburtstagsgesellschaft Bernard aus dem Saal gedrängt hat, bricht dieser in das Haus des Algeriers ein und tötet dessen Hund. Auf einer zweiten Erzählebene lässt Mauvignier Bernards Cousin die gemeinsame familiäre Herkunft erinnern, die Zeit als Soldaten in Algerien, den Abzug der Armee und der Siedler. 1. Sprecher: ... ich sah einige lachen und mit weit ausholenden Gesten zum Abschied winken, rauchend, den Clown spielend, um die Angst vor dem Morgen zu vertreiben, wie eine Schülerfarce, und auch, was man auch - zugeben, sagen muss, die Miene wieder anderer, derer, von denen man lieber nicht spricht, wie dieser Oberstleutnant, der in Tränen ausbrach, weil er ihnen nicht antworten, nicht sagen konnte, dass man sie im Stich ließ (...) wir alle erinnern uns an die Harkis, die wir auf Befehl von den abfahrenden Lastern herunterholen mussten, und auch an die Kolbenhiebe, damit sie gar nicht erst einstiegen (...) ich sah auch, wie man sie zu Hunderten zwang, Benzin zu schlucken, und wie man Feuer entzündete und wie die Körper verbrannten, einfach so - Idir ist tot, und ich habe nichts anderes getan als das alles mit anzusehen und mich zu fragen, was ich da sah und ob ich Männer sah und hörte, die man verraten hatte, und die algerische Fahne und die Bravorufe und die Tobsüchtigen von der OAS, die durch die Straßen zogen, um alle Europäer, die fliehen wollten, niederzuprügeln (...) und wir warteten nur, dass es endlich aufhören möge, dass wir fortgehen, Algerien verlassen und sagen konnten, es ist vorbei - (aus: Laurent Mauvignier, Die Wunde, Aus dem Französischen von Annette Lallemand, dtv premium, München 2011) Autorin 14: Mauvignier findet zu einer tastenden Sprache, die manchmal ins Stocken gerät und Worte wie kleine Blasen in die Luft aufsteigen lässt; manchmal aber auch hetzt ein Gedanke den Erzähler derart, dass atemlos Worte gereiht und zu langen Satz- und Bildketten gefügt werden. Für den Autor zieht ein Bedürfnis alle anderen Handlungen nach sich: Take 13 (Mauvignier): ... cett question du besoin d'un aveu ... Darauf 1. Sprecher: Es geht um das Bedürfnis, ein Geständnis abzulegen, um die Frage der Schuld und darum, anzuerkennen, dass jeder Gewalt in sich trägt. Mir geht es weniger um die geschichtliche Wahrheit als um die Frage nach den menschlichen Grenzen. Ich mag nicht von Gut und Böse sprechen. Ich möchte immer von einem konkreten Anlass aus Fragen stellen. Wie kommt es, dass man in einem Augenblick legal handelt und im nächsten Moment kippt alles ins Gegenteil um? ... dans un autre on bascule. Autorin 15: "Schade, alles umsonst, aber gut, dass es vorbei ist". Diese nach dem Krieg häufig gesprochenen Worte, waren der eher achselzuckende Ausdruck einer Haltung, die den Zurückgekehrten nahelegte, zu vergessen, dass sie überhaupt fort waren. Wenn man nicht hörte, was sie gesehen und getan hatten, konnte man sich der Illusion hingeben, die letztlich errungene Unabhängigkeit Algeriens versöhne die beiden Völker. Laurent Mauvignier, Alice Ferney und Jérôme Ferrari haben Wunden offen gelegt, die Menschen wie eine "geheime Stelle" in sich versteckt halten. Sie haben vom Kampf mit dem inneren Feind erzählt, vom resignierten oder auch offensiven Schweigen, in das sich Individuen wie ein großer Teil der Bevölkerung eingeschlossen haben. Fünfzig Jahre nachdem Algerien ein souveräner Staat wurde, begegnen den drei Schriftstellern bei öffentlichen Lesungen in Frankreich immer wieder ehemalige militärische Befehlshaber wie auch Männer, die unfreiwillig Dienst taten. Die meisten von ihnen kreisen in Gedanken um Details des Kriegsverlaufes oder um ein einziges Bild, das sich ihrem Gedächtnis eingebrannt hat. Auf die Frage, wie viel Seele und wie viel Würde sie im Krieg verloren haben, vermag kaum einer zu antworten.