Deutschlandradio Kultur Länderreport COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Das Jahr in Berlin - 1989/90 in der geteilt-vereinten Stadt - Autor Hartmut Jennerjahn Red. Claus Stephan Rehfeld Sdg. 28.09.2010 - 13.07 Uhr Länge 19.29 Minuten Regie Klaus-Michael Klingsporn Spr. Hartmut Jennerjahn Moderation Oft und schnell ist die Rede von einer Zäsur, die doch keine ist. Die Geschichte ist mit Zäsuren sparsamer als es die Politiker und die Medien sind. Und Zäsuren ist es eigen, dass sie etwas dauern können. Und doch gibt es Momente die sie beschreiben. In der jüngeren deutschen Geschichte waren es die Wende und die Vereinigung. Zwei deutsche November, zwei geographische Hauptakteure. Heute: Berlin. Die geteilte Stadt wurde aus ihrem Alltag der Teilung an der Grenze der Systeme gerissen, erlebte das politisch turbulenteste Jahr ihrer Geschichte. Politiker kamen und gingen, Verhandlungen wurden eröffnet und beendet, hinter den Kulissen wurden Fäden gezogen, das Volk war im Dauerwachzustand, ebenso die Medien. Das Jahr in Berlin. Hartmut Jennerjahn erinnert sich und uns an das Geschehen im deutschen Jahr 1989/90. -folgt Script Beitrag Script Sendung T 01 Trenner (Geräusch) REGIE Geräusch kurz frei & unter Sprecher legen SPR Die Nacht REGIE Geräusch unter E 01 weg E 01 Hauswald (1) - '6'' "Aber irgendwie jetzt zu wissen, die Welt steht offen, das war natürlich das schönste Gefühl im Leben überhaupt." Geräusch REGIE Geräusch kurz frei & unter Autor langsam weg Autor Nach einem langen Abend in der RIAS-Redaktion machen wir uns auf den Weg zur Invalidenstraße. Dort blockiert ein unentwirrbares Knäuel von Trabis, Wartburgs und Ladas im Grenzübergang die schmale Durchfahrt. Walter Momper, Regierender Bürgermeister, lässt sich vom Westberliner Zoll ein Megaphon geben, versucht gegen halb zwei in der Nacht mit freundlichem Zureden das Chaos zu ordnen. Zurufe aus den Autos: "Ihr lauft in die falsche Richtung" - fröhliches Gelächter, ausgelassene Stimmung. "Auf diesen Augenblick haben wir solange gewartet, jetzt kommt es auf ein paar Minuten oder Stunden auch nicht mehr an." Weiter, zum Brandenburger Tor. Lange nach Mitternacht finden sich dort auch einige Bekannte ein - sogar aus Hannover der Freund aus gemeinsamen West-Berliner Studienzeiten. Zufällig an diesem Tag in der Stadt, in einem Hotel am Alex einquartiert, wundert er sich, dass dort so gar nichts von dem großen Aufbruch zu bemerken ist. Also läuft er zum symbolträchtigen Tor, hinter dem die Mauer steht, hier mit besonders breiter Krone, von den ersten West- Berlinern schon kurz vor Mitternacht besetzt. Auch Gerhard Rein, langjähriger Hörfunk-Korrespondent des Süddeutschen Rundfunks in Berlin, strebt dorthin. Er nimmt den Weg von West nach Ost über die Heinrich-Heine-Straße: E 02 Rein (1) - '39'' "Im Brandenburger Tor spielten sich merkwürdige Dinge ab und es gab ja die Möglichkeit, immer näher durch das Brandenburger Tor fast bis an die Mauer zu gehen. Da waren Grenzsoldaten. Und ich traf im Brandenburger Tor Freunde - Freunde aus der DDR, aus Ost-Berlin, auch ein, zwei Korrespondenten, erinnere ich, waren dabei. Und die Freunde aus Ost-Berlin hatten Rotkäppchen-Sekt mitgebracht und Pappbecher. Und wir tranken aus diesen Pappbechern und wir heulten ein bisschen rum." Das Brandenburger Tor. An der Wilhelm-, damals Otto- Grotewohl-Straße - versperrte ein kleines Mäuerchen den Zugang zum Pariser Platz, mehr als einhundert Meter vom Langhans-Bau entfernt. Ost-Berliner und Touristen schauten aus der Ferne gern zur Quadriga und durch das Tor hindurch in den Westen, zur goldenen Viktoria auf der Siegessäule im Tiergarten. Das Tor ist in dieser Nacht nur für wenige Stunden erreichbar. Dann drängen Grenzposten die kleinen Gruppen ab. Gerhard Rein lässt sein Auto in Ost-Berlin stehen. E 03 Rein (2) - '38'' "Ich bin also an die Grenze dann zu Fuß zurückgegangen und habe Leute interviewt, die später von ihrem Westbesuch zurückkamen nach Hause. Und die sagten: na ja, das war doch ganz nett. Wir wollten 'mal gucken, ob auf der anderen Straßenseite die Hausnummern einfach weitergehen, und wir kommen morgen wieder. Das war eindeutig. Sie wollten, glaube ich, bewusst wieder nach Hause, aber sie wollten am nächsten Tag wiederkommen. Ich hab' da einige Leute interviewt, und die waren natürlich auch überwältigt von dem freundlichen Empfang, den sie erlebt haben." Harald Hauswald ist Fotograf. Seine Schwarz-Weiß- Aufnahmen in Ost-Berlin und in der Provinz zeigen ungeschönten, herben Alltag. An den 9. November 1989 erinnert er sich gut. E 04 Hauswald (2) - '44'' "Ich war abends in der Dunkelkammer und die war eingebaut im Arbeitsraum, da lief der Fernseher, und ich hörte den berühmten Spruch, dass es ab jetzt möglich ist. Meine Freundin schlief schon, ich hab' sie geweckt. Dann sind wir zur Chausseestraße gefahr'n, sind aus der Straßenbahn ausgestiegen, und war so 300/400 Meter bis zum Grenzübergang, da standen so 30 Leute davor, und plötzlich war'n die alle verschwunden, bloß noch een kleener dicker Grenzer stand in Uniform davor, und wir kamen bei ihm an, mir zitterten so'n biss'l die Knie, bisschen mulmig war's ja doch und ich habe ihn gefragt, wie - kann man jetzt ganz normal mit Personalausweis nach Kreuzberg 'n Bier trinken. Und er im tiefsten Sächsisch: Selbstverständlisch" Mit dem nächsten Schub kommt auch Hauswald durch. E 05 Hauswald (3) - '17'' "Der erste, der vor mir stand, als ich in West-Berlin auftauchte, war 'n Freund von mir, der 13 Jahre vorher ausgereist war. Da sind wir uns um'n Hals gefallen, haben geheult wie die Schlosshunde, und er wollte nach Ost-Berlin, seinen Bruder besuchen, der war zur selben Zeit Heinrich- Heine-Straße, der wollte nach West-Berlin, seinen Bruder besuchen." Auch für alteingesessene West-Berliner ist der Abend aufregend. Günther Weissenborn aus dem mauerfernen Wilmersdorf, Lehrer für Mathematik und Sport an der Neuköllner Sonnen-Grundschule: E 06 Weissenborn - '30'' "Ich bin kurz vor sieben Uhr im DDR-Fernsehen hängen geblieben und kam in diese Pressekonferenz von dem Schabowski und hab' auch diesen Satz mitgehört. Dann bin ich auf einen Elternabend gegangen und da war eigentlich der Elternabend völlig nebensächlich. Ich hab' mich an dem Abend eigentlich wahnsinnig gefreut, aber ich hab' dem Frieden nicht getraut. Das Misstrauen war wahnsinnig groß und eigentlich war so das Gefühl, es kann gar nicht schnell genug gehen." Harald Hauswald feiert die Nacht durch mit Ost- und West- Berliner Freunden in einer Szenekneipe in der Kreuzberger Wrangelstraße: E 07 Hauswald (4) - '8'' "Innerhalb von 'ner halben Stunde war der ganze Prenzlberg da oder der halbe und es gab Freibier bis früh um sieben. Und ich hab's gerade noch geschafft, meine Tochter abzuhalten, in die Schule zu gehen." Harald Hauswald über seine Empfindungen in jener Nacht: E 08 Hauswald (5) - ca. '15'' "Da haben wir nur den Augenblick genossen. Im Prinzip war mir klar, dass ich erwachsen werden muss mit der neuen Freiheit, denn vorher - das war ja irgendwie alles Kinderkram und dass es ne riesengroße Befreiung war, Mauer weg." T 01 Trenner (Geräusch) REGIE Geräusch kurz frei & unter Sprecher legen SPR Die Stadt REGIE Geräusch kurz frei & hart weg E 09 Insulaner - '23'' "Der Insulaner hofft unbeirrt, dass seine Insel wieder'n schönes Festland wird - ach, wär' das schön" Autor Ende des Inseldaseins. Aus Ost-Berlin, aus dem Umland, aus allen Winkeln der DDR kommen sie. West-Berlin ist mehr denn je, was es immer war: Schaufenster des Westens. Spontane Besuche bei Verwandten, bei Freunden und flüchtigen Bekannten. Alte Kontakte leben wieder auf, neue entstehen. Lange Schlangen vor Bankfilialen, in denen Ostdeutsche sich ihr Begrüßungsgeld abholen. Überfüllte Kaufhäuser. Stockender Autoverkehr. Überlastete öffentliche Verkehrsmittel. Niemand murrt und meckert, wie es sonst Berliner Art ist, auf beiden Seiten. Freude verbindet. Noch durchschneidet die Mauer die Stadt, aber sie ist nun durchlässig, ihr gänzlicher Fall absehbar. West-Berlins Isolierung ist vorbei. Walter Momper, der Regierende Bürgermeister der West- Halbstadt: E 10 Momper - '27'' "Na ja, das war, was wir immer wollten. Die Stimmung in West-Berlin - auch nach'm 9. November war die ganz ungeheuer positiv. Und wenn man es daran misst, was den West-Berlinern alles zugemutet worden ist nicht nur an Veränderungen, das natürlich auch, an Konkurrenz in der Stadt, an der Wohnungsknappheit von 1990, vor allen Dingen -91-92-93, dann die Konkurrenz um Arbeitsplätze, das ist ja schon ziemlich harte Herausforderung gewesen, muss man einfach sagen." Beide Stadthälften sind voneinander abgekehrt. Unterbrochene Straßen, keine Bus- oder Straßenbahn- Verbindungen. U- und S-Bahn fahren in gedrosseltem Tempo zwischen dem Süden und dem Norden West-Berlins durch gruselig abgedunkelte, von Grenzsoldaten bewachte Geisterbahnhöfe. Einziger Halt im Osten: Bahnhof Friedrichstraße. Rasche Abhilfe ist nötig, Improvisation gefragt: E 11 Momper - '31'' "Ach, es war eine wunderbare Zeit. Und es war ganz viel möglich, ohne dass man irgend jemanden fragen musste. Das heißt, die Leute mussten rüberkommen können, wieder zurück, sie mussten Verkehrsmittel dafür vorfinden, die sozusagen schnell auch in Westdeutschland organisiert werden mussten. Sie mussten ihr Begrüßungsgeld ausgezahlt bekommen. Quasi explosionsartig entwickelte sich diese Zusammenarbeit und man merkte an dieser rasanten Entwicklung in allen Bereichen, ... wie schwer es doch der geteilten Stadt fiel, geteilt zu sein." Die Diskrepanz im Stadtbild ist unübersehbar. Der Insulaner hatte sich eingerichtet, finanziell nachhaltig gestützt aus dem Bundeshaushalt. Wohlhabend ist West-Berlin nicht, aber attraktiv. Westlichen Besuchern, die abseits der Touristenpfade in Ost-Berliner Wohnquartieren aus der Gründerzeit unterwegs sind, verschlägt es schon 'mal die Sprache. Graue, verwitterte Fassaden, bröckelnder Putz. Häuserwände und Brandmauern vielfach mit Einschusslöchern aus dem Krieg. Günter Weissenborn aus dem gutbürgerlichen Wilmersdorf: E 12 Weissenborn - '39'' "Die Stadt war für mich völlig fremd, ich kannte nur wenige Stellen, und wir haben dann eigentlich systematisch ab dem 9. November die Stadt erkundet. Also, man war zum Teil erschüttert über das, was dort noch nicht wieder renoviert war. Man war bedrückt zum Teil über diesen grauen Schleier, der irgendwo über der Stadt hing, allein schon man hat's ja auch gerochen überall und das ist bis heute noch so in der Nase drin. Aber, sagen wir, man fand auch trotzdem viele Parallelen, auch bei den Bausünden, dass viele Sachen abgerissen wurden. Das war ja nicht bloß im Osten, das war ja auch im Westen." Harald Hauswald, der Fotograf des DDR-Alltags: E 13 Hauswald - '22 "Gerade Prenzlauer Berg war ja ziemlich 'runtergekommen. Es gab'n Haufen Kriegslücken und Ruinen und, also, der Zustand war schon ziemlich arg" Beiderseits der innerstädtischen Grenze viele öde Flächen, von Unkraut überwuchert. Leere, Sand, Brache. Aus seinem Amtszimmer im Gebäude des Preußischen Landtags sieht Walter Momper, heute Präsident des Abgeordnetenhauses, auf eine völlig veränderte Szenerie: E 14 Momper - '19'' "Na ja, früher war das eben alles Wüste oder Grenze. Oder das Gelände, auf dem dieses Gebäude, der Preußische Landtag lag, war ja überhaupt nicht zugänglich. Der Potsdamer Platz war auch 'ne Wüste und heute ist das alles bebaut. Und man sieht ja nicht mehr so, wo die Grenze war, man weiß das immer noch und hat's auch manchmal im Kopf, aber es spielt auch keine Rolle mehr." T 01 Trenner (Geräusch) REGIE Geräusch kurz frei & unter Sprecher legen SPR Das Tempo REGIE Geräusch kurz frei & hart weg E 15 Wolfgang Neuss - '10'' "Nich wahr, ick sage, die Vereinigung kommt, sag' ick, eines Tages steht'se vor der Tür, bist vielleicht gar nich zu Hause, sag ick." Autor Der Kabarettist Wolfgang Neuss Mitte der sechziger Jahre: "Bei Onkel und Tante in Treptow". Das hatte die Politik nicht auf der Rechnung: eine friedliche Revolution im Kerzenschein. Und urplötzlich die Öffnung der Mauer. Waren wir, in Ost und West, gedanklich überhaupt darauf vorbereitet, dass die DDR in kürzester Zeit an ihr Ende gelangen könnte? Lothar de Maizière: E 16 de Maizière - '28'' "Nein, natürlich nicht. Ich meine: wir im Osten haben einen Systemwechsel oder Systembruch überhaupt nicht für möglich gehalten. Da steckte immer noch '53 Berlin, '56 Ungarn, '68 Prag und so weiter in unseren Knochen. Deswegen haben wir immer gedacht, der Weg muss über Reformen gehen. Deswegen haben wir auch dann 1985 den Michail Sergejewitsch Gorbatschow fast wie einen Messias begrüßt, weil der Reformen versprach." Die Wiedervereinigung ist ganz schnell kein Tabu mehr: E 17 de Maiziere - '19'' "Am 9. November noch war die Stimmung noch so: endlich ist die Mauer offen und jetzt müssen wir sehen, wie wir diess Land reformieren. Aber schon nach relativ kurzer Zeit wurden ja aus dem Ruf: ,Wir sind das Volk' dann das ,Wir sind ein Volk' und ,Deutschland, einig Vaterland', die DDR-Bürger haben sich den Text ihrer Hymne zurückerobert." Die SED und ihre Medien können nicht folgen. Sündenböcke müssen her. Die bis zuletzt hofierten Spitzenfunktionäre sind an allem schuld, werden von eben noch treuen Gefolgsleuten verdammt. Privilegien, Korruption, Machtmissbrauch, Abschottung vom Volk, Willkür, gewaltsame Übergriffe der Polizei, das Stasi-Unwesen - alles wird nun ausgebreitet. Die alte Rhetorik und der gewohnte Agitationsstil sind nicht so leicht abzulegen. Gelassene Naturen wie Harald Hauswald, der Fotograf vom Prenzlauer Berg, sorgen sich nicht um den Gang der Dinge: E 18 Hauswald - '14'' "Ich wusste, dass da irgendwie so'n Selbstlauf kommt und ich hab mich da eigentlich auch gar nicht drum gekümmert. Ich hab erstmal die neue Freiheit genossen, und war also 1990 unglaublich viel unterwegs." Für eine grundlegende Erneuerung, wie sie manchen Oppositionsgruppen und Intellektuellen vorschwebt, gibt es keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Die erste freie Wahl am 18. März 1990 bringt klare Verhältnisse. Die Bürgerrechtler, die mit Mut, Phantasie und persönlichen Risiken die Macht herausgefordert hatten, erreichen ein mageres Ergebnis. Die "Allianz für Deutschland" mit der CDU als weitaus stärkster Kraft gewinnt haushoch, stellt mit Lothar de Maizière den Ministerpräsidenten. In seiner Regierungserklärung einen Monat später behandelt er das Thema Einheit noch sehr behutsam. Die Politik kann der Dynamik, die mit der Maueröffnung ausgelöst wurde, kaum folgen. War das Volk weitsichtiger, klüger als die Politik? E 19 de Maizière - '20'' "Ich weiß es nicht so genau. Aber eins ist richtig, dass die Menschen auf der Straße bei den Demonstrationen die deutsche Einheit bereits fühlten und mit Händen greifen wollten, als die Politiker noch zögerten. Nun mussten die Menschen auf der Straße nicht Rücksicht nehmen auf vier Siegermächte und hatten auch nicht immer im Hinterkopf, dass noch 400 000 Sowjetsoldaten bei uns rumstehen und ähnliches mehr." T 01 Trenner (Geräusch) REGIE Geräusch kurz frei & unter Sprecher legen SPR Das Geld REGIE Geräusch kurz frei & hart weg E 20 Hauswald (D-Mark) - '5'' "Zu DDR-Zeiten hat's Geld nischt - war nischt wert, und jetzt musste man für sein Geld wirklich richtig arbeiten. Das ist der Unterschied." Autor Harald Hauswald, der in jener Nacht als Fotograf unterwegs ist. Es kann gar nicht schnell genug gehen, das neue Geld, richtiges Geld, in die Hand zu bekommen. Auf dem Alexanderplatz warten geschätzt 10 000 Menschen am Abend des 30. Juni auf die Austeilung der D-Mark ab Mitternacht. Jubelnd oder mit strahlendem Gesicht halten manche die frischen Scheine hoch. Vorbei die Zeiten, in denen sie - wenn sich überhaupt die Gelegenheit bot - unter der Hand für vier oder fünf DDR-Mark eine D-Mark eintauschten. Nun endlich eine Währung, mit der man überall in der Welt etwas anfangen kann. Lothar de Maizière, erster und zugleich letzter frei gewählter Ministerpräsident der DDR; E 22 de Maizière - '24'' "Schon im Januar/ Februar gab es Demonstrationen mit dem Slogan ,Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr'. Wir haben auch den Massenexodus nicht aufhalten können. Es gingen damals pro Tag 2- 3000 Menschen und erst als klar war, es kommt die Währungsunion und zu welchen Bedingungen sie kommt, hörte dieser Exodus auf, dann waren's noch etwa 2000 pro Woche, aber nicht mehr 2- bis 3000 pro Tag." Die Umstellung auf die D-Mark und der Übergang zur Marktwirtschaft haben einschneidende Konsequenzen. Das Warenangebot wird ausgetauscht, der Handel mit Gebrauchtwagen blüht. Vieles wird ausrangiert, manches wild entsorgt. Wie schwierig es noch werden würde, ist noch nicht so klar erkennbar. Arbeitslos zu werden, ist nicht länger jenseits aller Vorstellung. Erste Proteste gegen Entlassungen. Dennoch sagt Walter Momper, seinerzeit Regierender Bürgermeister, überwiegt die Zuversicht: E 23 Momper - '24'' "Bis zum 3. Oktober war die Stimmung schon noch gut, weil die Folgen der Wirtschafts- und Währungsunion noch nicht so sichtbar wurden. Viele Betriebe gingen pleite, weil wer wollte schon noch'n Trabi kaufen oder auch viele Ostwaren, die wollten alle Westwaren haben und damit war, wenn du keine Abnehmer hast in der Wirtschaft und Industrie, dann nützt dir die ganze Produktion nichts mehr... Das ist dann eigentlich erst in den Monaten so bis Jahresende deutlich geworden." Die Kosten der Einheit werden unterschätzt. Blühende Landschaften versprochen. Illusionen genährt. E 24 de Maiziere - '42'': "Ich glaube im nachhinein immer wieder, es wäre gut gewesen, wenn der Bundeskanzler eine große Blut-, Schweiß- und Tränen-Rede gehalten hätte und gesagt hätte, jetzt müssen wir noch mal 'ne große nationale Anstrengung wagen. Und ich weiß, dass wir damals auch schon sagten, wir müssten noch einmal über einen neuen Lastenausgleich nachdenken. Er war der Meinung, dass dies die Wahlchancen verschlechtern würde, wovon ich nicht ausging; denn die Union schwebte damals auf einem Dauerhoch. Aber wir haben dann nach der Wahl erleben müssen, wie wir den Solidaritätszuschlag eingeführt haben und das war ein unglaublicher Imageverlust der Politik oder Vertrauensverlust der Politik. Das Volk ist viel klüger als die Politiker manchmal denken." T 01 Trenner (Geräusch) REGIE Geräusch kurz frei & unter Sprecher legen SPR Der Abschluß REGIE Geräusch kurz frei & unter E 26 weg E 25 Gysi - '18'' "Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 (Beifall) beschlossen." Autor Gregor Gysi, Vorsitzender der SED-Nachfolgerin PDS. Es ist kurz vor drei Uhr in der Nacht zum 23. August. Das abrupte Ende verwirrender Debatten um den Beitrittstermin. Die frei gewählte Volkskammer ist ein ungewöhnliches Parlament. Mit Abgeordneten, die sich in parlamentarische Arbeit und Abläufe erst hineinfinden müssen. Manchmal geht es ein wenig chaotisch zu. Doch die Parlamentarier und die Regierung bewältigen unter schwierigsten Bedingungen ein enormes Pensum: E 25 de Maizière - '30'' "Wir haben Dinge auf den Weg gebracht, für die sonst ganze Legislaturperioden benötigt werden. Schwierig war, dass eben die DDR letztendlich pleite war und wir eine ganze Menge von Aufgaben in die Zukunft vertagen mussten, wenn eben der gesamtdeutsche Bundestag die Mittel dafür bereitstellt." Zum Ende: Feiern in Berlin am 2. und 3. Oktober, mit Staatsakten, würdevollen Reden. Mit wehenden Fahnen. Und mit einem entspannten Fest. Hunderttausende versammeln sich am Reichstag und am Brandenburger Tor. Günter Weissenborn, der West-Berliner Lehrer: E 26 Weissenborn - '36'' "Wir hatten damals Leute aus Ost-Berlin kennen gelernt, also Kollegen, weil wir 'ne Partnerschule in der direkten Nähe von unserer Schule in Neukölln hatten, also damals in Treptow. Und wir sind mit zwei Kollegen direkt ans Brandenburger Tor gegangen. Ich hatte damals meine beiden Kinder mit. Wir waren dort bis zu dem Feuerwerk. Und das, was mir so in Erinnerung geblieben ist: es war schon ein unwahrscheinlich bewegender Moment. Es waren zu viele Menschen auf zu engem Raum. Aber es war trotzdem schön." Von der Maueröffnung bis zur Einheit in knapp elf Monaten. Eine Zeit der Emotionen, des Elans, des Aufbruchs, auch überzogener Erwartungen. Heitere Harmonie und fröhliche Begeisterung. E 27 de Maizière - ,'25'' "Damals lagen wir uns alle in den Armen und zwei Jahre später lagen wir uns in den Haaren. Die Freude über das, was möglich geworden war mit dem Fall der Mauer, war riesig und die Menschen dachten alle an Wunder. Also, alles was man an Fröhlichkeit haben konnte, war in diesem Jahr vereint. Und ich hab' damals gesagt, wir müssen also aufpassen, dass wir nicht abheben, so kann es im Grunde genommen nicht mehr weitergehen und ist es ja denn auch nicht. Die Mühen der Ebene kamen erst. Dann kam die Zeit der Motzki und der Trotzki." T 01 Trenner (Geräusch) REGIE Geräusch kurz frei & unter langsam weg -ENDE Sendung- 13