DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Feature Ortserkundungen Sudety- Reise in ein verwundetes Land Von Cornelia Rühle Produktion: DLF 2014 Regie: Anna Panknin Sprecherin: Isis Krüger Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sendung: Freitag, 22. August 2014, 20.10 - 21.00 Uhr KORRIGIERTE SENDEFASSUNG Musik: Robert Schumann: Impromptus op.5, Track 1 Bass und Thema O- Ton Ondrej Matejka: "Wir haben sehr viel Kulturgut verloren, materiell, aber auch immateriell. Wir haben viele Ortschaften verloren. Man kann in die Orte gehen, man sieht einfach nichts mehr, man findet nur Hausüberreste, Fundamente und so weiter. Die Häuser hat man verloren, und an die 400 Ortschaften hat man verloren, weil man einfach nicht mehr genug Leute hatte, um das nach zu siedeln. Das ist das Greifbare, aber dieses Greifbare weist auf das Ungreifbare oder das schwer Greifbare hin, und das sind eben immaterielle kulturelle Werte. Das sind zum Beispiel, einfach gesagt, Traditionen, die Gewohnheiten, die Lebensart, die man in der Region hatte." O- Ton Veronika Klímová: "Ich sehe das ganze Land als ein Waisenkind hier, das ist ein Land, wo die ganzen Urbewohner weg sind, und wo bis auf wenige Ausnahmen Leute, die wirklich keinen Bezug zu der Gegend gehabt haben, hingekommen sind. Es bildet sich allerdings jetzt mit den neuen Generationen schon ein Heimatgefühl, aber es wird dauern. Es fehlt die Tradition, es fehlen die Vorfahren, die hier aufgewachsen sind." O- Ton Ondrej Matejka: "Das ist alles nicht so ganz einfach, das erst mal wahrzunehmen, dass das verloren gegangen ist. Und zweitens dann, wenn man das wahrgenommen hat, dann ist es fast unmöglich, das irgendwie wieder herzustellen. Das kann man nicht mit einem EU-Projekt machen." Musik hochziehen Ansage: Sudety- Reise in ein verwundetes Land Ein Feature von Cornelia Rühle Atmo: Blättern in altem Rezeptbuch Sprecherin (leise lesend, Erinnerungsebene) : Marillenknödel, Zwetschgenknödel, Knödel mit Gurkensoße, Knödel mit Dillsoße, Semmelknödel groß und Semmelknödel klein, Quarkknödel, Serviettenknödel, Powidldatschgerln, Buchteln mit Weinchateau... ausblenden unter Text Sprecherin: "Daheim hat es jeden Tag andere "Kneedl" gegeben", sagt Großmutter mit einem verschmitzten Lächeln, in der Rechten den "Kaadener Heimatbrief", die Linke schützend über dem gemütlichen Bauch. Die Liebe zur böhmischen Küche hat sich in ihr rundes, fast faltenfreies Gesicht geschrieben. Jeden Tag kocht sie sich hingebungsvoll in das Aroma ihrer verlorenen Heimat zurück. Musik: alte Spieluhr/Symphonion Sprecherin: Jahrzehntelang habe ich dieses sogenannte Sudetenland für eine Fata Morgana gehalten. Eine verzweifelte, fast aggressive Sehnsucht befiel die Familie, wenn sie die alten Geschichten wie Zauberformeln heraufbeschwor: von der kleinen Stadt Kaaden am Rande des Erzgebirges, dem eigenen stolzen Hotel am Marktplatz, den blühenden Gärten und fruchtbaren Hopfenfeldern, dem Kaolinwerk, der "Schlemm", das unter Großvaters Leitung die weiße Tonerde der Gegend für die Meißner Porzellanmanufaktur verarbeitete. Die wenigen Erinnerungsstücke - ein Silberlöffel, eine zerschlissene Tischdecke, ein zerbrochenes Symphonion - waren die gehüteten Reliquien dieser Zeit. Musik weg O- Ton Gudrun Wildner: "Ich bin am 29. Mai 1932 in Kaaden, und dann sag' ich natürlich immer "an der Eger", geboren. Das ist wichtig für uns, ich weiß auch nicht warum." Sprecherin: Gudrun Wildner, so lebhaft wie herzlich, das graue Haar zu einem Knoten gesteckt, Grübchen in den Wangen und blitzend weiße Zähne, wenn sie ihr Mädchenlachen lacht. Eine alte Freundin der Familie. In Kaaden hat auch sie die schönste Zeit ihrer Kindheit verbracht. O- Ton Gudrun Wildner: "Das war ein lebendiges Städtchen, und es war gut gemischt, es war eigentlich von allem was da. Es war ein bisschen Industrie da, es gab die Brauerei, es gab die "Schlemm", dann gab's diese Handwerksbetriebe, viele Handschuhmacher, viele Leute auch, die in Heimarbeit dann genäht haben, "gelascht", also, die immer mit der Hand genäht haben, die Handschuhe, das nannte man laschen. Und dann gab's die Schulen, es war ein Gymnasium da, dann war eben die Winterschule, die Landwirtschaftsschule, das Mädchenseminar, und die hatten ja Schüler vom ganzen Umkreis eigentlich, von weiter her auch. In der Umgebung waren sehr gute Böden, und da gab's also Großbauern, waren ja auch diese Hopfenbauern dann dort in der Nähe. Und dann gab's natürlich auch viel Adelsbesitz, und die haben dann meistens ihre Söhne nach Kaaden auf die Schule geschickt." Musik: Dvorak, Bagatellen, Allegretto scherzando Sprecherin: Eine wehmütig erinnerte Welt, in die sich immer auch der Schmerz über die gewaltsame Vertreibung, das nie verheilte Trauma des erlebten Leids und des großen Verlustes drängte. Streit und Tränen waren die Folge. Was war diese "Heimat"? Eine sentimentale Erfindung, die bei der kleinsten Berührung in tausend Stücke zersprang? Erst jetzt, da ein Großteil der Familie lange schon tot ist, wage ich gemeinsam mit Gudrun Wildner eine erste Erkundung. Über Eger und Karlsbad fahren wir am Erzgebirge entlang Richtung Osten. Je weiter wir uns von der deutschen Grenze entfernen, desto spürbarer wird die tiefe Verwundung dieses Landstrichs: brachliegende Felder, verwahrloste Häuser und Höfe, verfallene Kirchen und Dörfer. Kaum ein Mensch weit und breit. Tristesse und eine träge Melancholie liegen über der ganzen Region. Und doch birgt sie eine magische Anziehungskraft. O- Ton Ondrej Matejka: "Es gibt viele Kunstwerke, literarische oder auch filmische und andere, die durch das Sudetenland inspiriert werden. Und die diese gewisse Gebrochenheit und Gestörtheit auch ansprechen, und die versuchen auch, darin etwas Schönes zu finden." Sprecherin: Ondrej Matejka von "Antikomplex", einer Vereinigung junger Sozialwissenschaftler und Historiker in Prag, die 1998 gegründet wurde und die gemeinsame Geschichte von Deutschen und Tschechen aufarbeiten will. O- Ton Ondrej Matejka: "Wenn ich Sudetenland sage, bedeutet das ja nicht Henlein. Für mich bedeutet das ein Gebiet, das durch den Bevölkerungsaustausch betroffen ist, und das trägt spezifische Probleme mit sich. Anstatt den Deutschen kamen dann neue Siedler. Das hat sich auch im Tschechischen so eingeprägt, wenn man von Sudety und Sudetsky spricht, weiß man, da spricht man über diese gewisse Störung in der Landschaft oder auch gewisse Poetik und Schönheit, die man da auch hat, das ist alles in dem Begriff beinhaltet." Sprecherin: Drei Millionen Deutsche mussten ihre seit 800 Jahren angestammte Heimat nach dem Krieg verlassen. Ihr Besitz blieb dort, aber die Region verarmte. O- Ton Ondrej Matejka: "Es kamen viele aus dem Binnenland, das waren einfach Leute, die ärmer waren oder nicht wirklich erfolgreich waren. Aber es kamen auch viele Idealisten, um das Grenzgebiet wieder aufzubauen, viele junge Lehrer zum Beispiel, aber die hielten sich da nicht lange auf sehr oft, weil das sehr schwierig war, dort zu leben. Es war weit weg, es war halt schlecht versorgt, es war auch ein Gebiet, wo es wirklich wild zuging. Der Ursprung ist fast wie Wilder Westen. Dazu kamen sie sogenannten Re-Emigranten, das waren tschechische Bevölkerungsgruppen, die irgendwo im Osten waren, und sie kamen an, nachdem die seit 100, 150 Jahren irgendwo im Ausland gelebt haben, aber das waren auch Gruppen mit eigenständiger Identität. Dann kamen natürlich viele Slowaken dazu und dann später auch Roma aus der Slowakei, einige Ungarn - das war wirklich eine sehr, sehr bunte Mischung. Dazu natürlich, das darf man auch nicht vergessen, 250.000 Deutsche, die da geblieben sind, anfangs in einer untergeordneten Rolle, die dann ab Ende der 50er, in den 60ern vor allem, gehen konnten, unter bestimmten Bedingungen, und viele haben das Land dann auch verlassen." Sprecherin: Bis heute, sagt Matejka, haben viele Menschen keinen Bezug zu ihrer Region. Vereine, Bürgerinitiativen, Heimatmuseen- all' das gibt es hier kaum. O- Ton Ondrej Matejka: "Nach der kommunistischen Machtübernahme kam es dazu, dass man das Privateigentum, das für viele die Motivation war, dorthin zu kommen, um irgendeinen eigenen Betrieb zu haben und Landwirtschaft zu haben, das ist dann verloren gegangen, weil das verstaatlicht wurde. Das war auf einmal eine totalitäre Gesellschaft, und da funktionieren die Dinge anders. Und ohne diese persönliche freie Initiative hat das Sudetenland wirklich keine Chance gehabt." Musik: Hans Krasa: String Quartet Sprecherin: Die Region um Kaaden, tschechisch Kadan, ist ein Symbol dieser Entwurzelung. Viele Dörfer wurden dem Braunkohletagebau geopfert, Kolonnen von Plattenbauten an ihrer Stelle errichtet. Die mächtigen Kühltürme und Schornsteine der Kraftwerke Prunérov und Tušimice überragen qualm- und wolkenspeiend das weite Land. Daneben, auf einer Anhöhe, von der Eger umschlungen: die einst königliche Stadt Kaaden mit ihrer mittelalterlichen Burg, der Stadtmauer und den barocken Zwiebeltürmen der Dekanalkirche. Atmo: Schritte am Marktplatz, Menschen, Vögel, Brunnen Sprecherin: Der weite, rechteckige Marktplatz mit seiner Dreifaltigkeitssäule und dem gotischen, bis in die Spitze weiß gestrichenen Rathausturm ist umsäumt von kleinen, barocken Bürgerhäusern. Fast alle Gebäude sind restauriert, auf einem steil abfallenden Dach turnen halsbrecherisch zwei Dachdecker. Schutt donnert durch lange Rohre nach unten. O-Ton Gudrun Wildner: "Das war der Treffpunkt, der Mittelpunkt genau, und da sind wir natürlich jetzt beim berühmten Bummel, nachdem also an einer Seite fast durchgehend Arkaden sind, also Laubengänge - auf dieser Seite sind Laubengänge, das ist erst nach `45 freigelegt worden, das haben die Tschechen bei der Restaurierung gemacht - war also das mit den Laubengängen sehr ideal, weil man bei jedem Wetter marschieren konnte. Und man ging also am Abend, das heißt zwischen 5 und 6 Uhr, also eigentlich vor dem Abendessen auf den Bummel. Und dann haben sich die Herren zusammen gefunden und sich unterhalten, wahrscheinlich auch politisiert, und die Damen natürlich auch. Und die Kinder liefen halt entweder an der Hand mit oder davor oder dahinter, und der ging also auf und ab, vielleicht so zwei, drei Mal, und dann ging man wieder nach Hause." Sprecherin: Heute gibt es hier kaum Geschäfte. Vor einer Art Büdchen- Café stehen ein paar Tische mit Plastikstühlen, die die Besitzer am Nachmittag schleunigst wieder einholen. Als müssten sie fliehen vor der Leere des Orts. O- Ton Gudrun Wildner: "Was auf jeden Fall auch schon da war, das war dieses schreckliche Pflaster hier, aber er war viel belebter. Es gab ein Wollgeschäft, da drüben gab's ein Zuckerlgeschäft, was für Kinder natürlich besonders interessant ist, da war ein Fotograf, dort war ein Pelzgeschäft, auf der drübigen Seite, ja, da war dann das Museum, dann im Eck die eine Apotheke, die andere Apotheke, dann die große "Austria", dann war ein Kaufhaus daneben, ich weiß mit Lakritz, was gab's dann hier noch, einen Friseur, der besagte Bijouteriehändler, also alles, was eben so über den Normalbedarf hinausging, das gab's hier." Musik: Jaromir Weinberger; Böhmische Lieder Sprecherin: Hinter dem mit einem barocken Steingeländer eingefassten Brunnen: die "Austria", das größte Haus am Platz, drei Stockwerke hoch, Familienlegende eine ganze Kindheit lang. 1908 hat mein Urgroßvater Josef Gangl das Hotel gekauft. Ein Stück alter k.u.k. Herrlichkeit. Und Schauplatz tragischer Ereignisse: am 4. März 1919, nach dem Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und der Proklamation der Tschechoslowakei, demonstrieren die Deutschböhmen für ihre Unabhängigkeit. Schützen des tschechischen Militärs beziehen auch im ersten Stock des Hotels ihre Posten. Die Situation eskaliert, 26 Menschen werden getötet, viele zum Teil schwer verwundet- eine Tragödie, die die Nationalsozialisten später propagandistisch ausschlachten werden. Großmutter ist damals 17 und sieht alles mit an. Vier Tage zuvor mußte die "Austria", die die Erinnerung an das alte Habsburgerreich so demonstrativ im Schriftzug führte, umbenannt werden: Sie hieß jetzt "Großgasthof Gangl". Musik: Weinberger Sprecherin: Text alte Postkarte Besuchtestes Reisen- und Touristenheim, 42 freundlich, sauber eingerichtete Fremdenzimmer, bekannt gute Küche und Keller, regelmäßiger Autobusverkehr zu allen Zügen der Station Kaaden- Brunnersdorf. Telefon. Mietauto. Josef Gangl, Besitzer. ...heißt es auf einer alten Postkarte. Musik: Weinberger Sprecherin : Erinnerungsebene Josef Gangl lässt es sich gerne gut gehen. An den Wochenenden, wenn der Markttag vorbei ist und die Bauern aus der Umgebung wieder abgereist sind, versammelt er die Honoratioren der Stadt, führt seinen großen Weinkeller vor, den er unter dem Platz hat anlegen lassen, kredenzt das mit eigenem Hopfen gebraute Bier und tischt auf: "Appetitbrot Austria" heißt seine Spezialität. Ein Turm von Delikatessen. Feingeschnittener Fleischsalat, Lachsröllchen, ungarische Salami, gefüllte Eier mit Kaviar. Sie zechen bis spät in die Nacht. Er lädt alle ein. Spendabel ist er, der Gangl - bis zum Ruin. Musik und Atmo weg Sprecherin: Heute ist das Hotel eines der wenigen Häuser auf dem historischen Marktplatz, die dem Verfall preisgegeben sind. Die ockerfarbene Fassade zerblättert, die Fenster verrotten, die Marienfigur im Giebel ist längst zerschlagen. "Hotel Svoboda" steht noch über dem Eingang aus der Zeit nach 1945. Unter den Laubengängen und in den früheren Speisesälen verkaufen Vietnamesen Billigware aus Fernost: Kleidung, Schuhe, Spielzeug. Eine Welt aus schrillem, scharf riechendem Kunststoff. Atmo: Klingel, Gang in Austria Atmo Bürgerstübl: "Das war das Bürgerstübl..." "Das war das Bürgerstübl?" O-Ton Gudrun Wildner/Autorin: "Also diese Wand ist eingezogen" "Dobri den." "Aber hier war das Restaurant?" "Da war das Restaurant, ich glaub schon, und zwar nach beiden Seiten." Sprecherin: Eine kleine Vietnamesin kommt auf uns zu, sie will nicht, dass wir den Zerfall hinter ihren Geschäftsräumen sehen. O-Ton Vietnamesin: "Nur gucken, Sefin sagen nee, wann sagen verkaufen, oder veillei will kaufen oder sreiben, nur sreiben ..." Sprecherin: Wir drücken uns durch die Kleidermassen und schleichen heimlich durch eine Umkleidekabine in das quadratisch angelegte Treppenhaus, dem herrschaftlichen Aufgang zur Zimmerparade. Atmo: Türknarren Der kunstvolle Terrazzoboden ist mit braunem Lack zugekleistert, das Dach eingebrochen, die Parkettböden sind aufgerissen, der frühere Tanzsaal: verrammelt. O- Ton Gudrun Wildner/Autorin: "Das ist ein Jammer..." "Ja, und das war der Ballsaal..." Musik: Weinberger; Böhmische Tänze Sprecherin (Erinnerungsebene): Der Ballsaal, der Stolz des Hauses: ganz Kaaden feiert hier Fasching. Großmutter als junges Mädchen allen voran. Sie tanzt für ihr Leben gern. Hat viele Verehrer. Einer zwickt sie, wenn sie an ihm vorbeirauscht, jedes Mal in den Po. Was für ein frecher Kerl. Auch noch verkleidet. Wer kann das wohl sein? Er lässt nicht locker, er hat sich verliebt. Sie wird ihn bald heiraten. O-Ton Veronika Klímová: "Also, ich hab' "Austria" noch erlebt, wo sie ein Hotel war mit einer wunderschönen Tanzstube in den 70er, Ende der 70er Jahren. Da sind wir immer als junge Mädels zum Nachmittagstänzchen in die "Austria". In dem Tanzsaal hatte man schon Eingriffe gehabt, aus der Zeit des Sozialistischen Realismus, und das Haus war schon von der Fassade her ziemlich verkommen, aber von der Architektur konnte man schon noch den alten Ruhm spüren." Sprecherin: Das Hotel ist unglücklich privatisiert worden, sagt Veronika Klímová. Nach der Wende kamen erst Kasachen, dann stand es über zehn Jahre leer. Sie ist gelernte Dolmetscherin und führt eine kleine Pension am "Heiligentor", in einer Gasse direkt am Marktplatz. 1991 hat sie das heruntergekommene Gebäude gekauft und saniert: O-Ton Veronika Klímová: "Das war ein Warenhaus Weber, das war sehr rührend, diese Zeit, wir haben nach der Hausübernahme sogar noch alte Büropapiere gefunden am Dachboden, auch Listen von den beschlagnahmten Waren und Inventar, auch Dokumente über den Nationalverwalter, der nach der Vertreibung kam in das Haus. Also man konnte sich richtig vorstellen, was die Leute durchgemacht haben müssen, wo sie alles liegen lassen mussten und ins Transport gekommen sind." Sprecherin: Veronika Klímová fühlt Verantwortung für das Erbe, das diese Region in sich trägt. Die Frage, ob die Vertreibung der Deutschen Recht oder Unrecht war, sagt sie, spalte die tschechische Gesellschaft noch immer: O-Ton Veronika Klímová: "Das ist immer wieder ein Thema und immer gerade in den heiklen innenpolitischen Phasen gibt es immer wieder einen, der das Thema ausnützt und zu seinen Gunsten umdreht. Und wir müssen dauernd damit kämpfen, dass man falsche Bilder von der Vertreibung verbreitet, dass man eine Gegenpropaganda schürt, nicht nur gegen die Deutschen, sondern auch gegen Europa. Obwohl das politisch schon aufgeklärt wurde, ist es immer noch nicht so breit aufgearbeitet, dass man da nicht ein Manko hätte." Atmo: Gang ins Stadtarchiv: Türöffnen, Piepen, Begrüßung O- Ton Gudrun Wildner, Michaela Balášová: "Kommen Sie bitte herein." "Oh, das ist ja toll, das ist aber sehr schön gemacht wieder, sehr schön..." Sprecherin: Im Stadtarchiv wollen wir Dokumente über die Vertreibung und unsere Familien suchen. Archivarin Michaela Balášová führt uns in den Lesesaal: das frisch restaurierte Refektorium eines Klosters aus dem 13. Jahrhundert. O-Ton Gudrun Wildner und Michaela Balášová: "Sehr schön, bin ich richtig glücklich, wenn ich des seh'..." "Sie kommen aus Kaaden?" "Ich bin in Kaaden geboren, ja, und dann hier in die Schule gekommen, und im Juni `45 sofort ausgewiesen, also war noch 2 Klassen im Gymnasium, und dann bin ich ausgewiesen worden." "Wenn Sie möchten, ich habe etwas über Sie gefunden, aber zuerst wir müssen Papiere füllen..." Atmo leise weiter Sprecherin: Michaela Balášová hat Geschichte und Archäologie studiert, 42 Jahre ist sie alt. Sie zeigt uns sogenannte Ausreisekarten, auf denen wir tatsächlich die Namen unserer Familien finden: O-Ton Gudrun Wildner: "Das ist jetzt mein Vater. Das war der allererste Transport, und da war meine Mutter und ich, also müsste es auch noch eine Karte von meiner Mutter und mir geben, also Wildneróva und Juliana..." Sprecherin: Michaela Balášová legt uns die "Verzeichnisse der Deutschen zum Abtransport" vor. Sie dokumentieren nicht nur die organisierten Zwangsumsiedlungen bis Ende 1946, sondern auch die sogenannte Wilde Vertreibung, die schon im Juni 1945 begann: 11 Transporte in zweieinhalb Monaten, 669 Namen mit Geburtsort und Parteizugehörigkeit stehen auf den Kaadener Listen. O- Ton Michaela Balášová, Gudrun Wildner: "Diese Transporten, Sie wissen das, waren nicht ordentlich, und so auch die Verzeichnisse..." "...sind nicht vollständig...also da müsste mein Vater dabei sein, Wildner Hugo, da ist er schon... " Da steht, wann er in die Partei eingetreten ist." "'38 ... es gab eine Sudetendeutsche Partei, SDP, da waren sie Mitglieder und sind dann automatisch in die NSDAP übergegangen, also, die haben alle '38 da stehen..." Musik: Pavel Haas; String Quartet No.3 Op.15 (1938) Sprecherin: 1938, am 30. September, hatte Hitler im "Münchner Abkommen" die Abtretung der vorwiegend von Deutschen besiedelten Grenzgebiete der Tschechoslowakei erzwungen. Fünf Tage später marschierten die Nationalsozialisten auch in Kaaden ein. O- Ton Gudrun Wildner : "Wir sind von der Schule aus natürlich dahin gegangen. Da kann ich jetzt nicht für alle sprechen, es hat bestimmt eine Menge Leute gegeben, die das natürlich mit Bedenken oder auch mit Ablehnung erlebt haben, das ist klar, aber im Großen und Ganzen war die Stimmung wie eine Erlösung. Man hat die wirklich mit viel Freude begrüßt, ist mit gesprungen mit den Soldaten, die waren in der Volksschule einquartiert, da hatte man anscheinend frei, das weiß ich gar nicht, es muss so gewesen sein." Sprecherin: Kurz zuvor mussten die tschechoslowakischen Militär- und Polizeiverbände das Gebiet räumen. Viele tschechische Beamte, Angestellte der Verwaltung und Lehrer, die mit der Gründung der Ersten Republik hier eingesetzt worden waren, verloren ihre Posten. Von den knapp 700 Tschechen, die zu Beginn der 30er Jahre in Kaaden lebten, kehrten viele ins Landesinnere zurück oder flohen vor den zunehmenden Repressionen. O-Ton Gudrun Wildner: "Unmittelbar vorm Einmarsch der Deutschen Wehrmacht ist also eine Familie in der Schillerstraße, die uns gegenüber gewohnt hat, das war ein tschechischer Beamter, mit dem man keinen Kontakt hatte, man hat sich halt gekannt vom Sehen und gegrüßt und so, und da kam also dann ein Lastauto, und da sind die Möbel und alles verladen worden, und sie sind ins Tschechische zurück. Kontakt mit den Tschechen hat man nicht gesucht, man war ja irgendwie deutschnational eingestellt, nicht." Sprecherin: Zu dieser Zeit hatte sich die Sudetendeutsche Partei, der die große Mehrheit der Bürger angehörte, bereits offen zur NS- Ideologie bekannt. In der so genannten Kristallnacht brannte auch in Kaaden die Synagoge fast vollständig nieder. Fast alle jüdischen Bewohner waren da bereits geflüchtet. O- Ton Gudrun Wildner: "Es gab einen Getreidehändler, dann gab es einen, der Dr. Tischer, wie hat das Geschäft geheißen, am Eck zum Rathaus, und da war der Besitzer, der war mit einer Jüdin verheiratet, und die hatten eine Tochter, und die war ein oder zwei Jahre älter als wir, die Tischer Putzi, und die konnten erst mal bleiben. Und dann ist er von jemandem verraten worden, er hätte in Anführungszeichen Feindsender gehört, und da ist er dann in ein Arbeitslager von der Organisation Todt gekommen. Das war diese Baumannschaft, und die haben halt Straßenbau und Kanalbau und solche Sachen durchgeführt, also, das war der Dr. Tischer und die Frau und die Tochter, die waren irgendwo dann weg, das weiß ich nicht wo." Sprecherin: Seit September 1939 gab es so genannte Arbeitslager auch in Kaaden. Eins davon auf dem Gelände der Kaolinfabrik. Dort mussten Kriegsgefangene Zwangsarbeit leisten. Die Firma stellte Schamotte- und Silikatsteine sowie Kaolin für die Papier-, keramische und pharmazeutische Industrie her und war bereits 1938 als "kriegswichtig" erklärt worden. Michaela Balášová zeigt die alten Pläne des Geländes: O- Ton Michaela Balášová: "Hier ist Kaserne, diese Kaserne wurde in 1938, ´39 gebaut für die Wehrmacht, und ich glaube, dass diese Gefangenenlager musste irgendwo hier sein..." Sprecherin: "Von März 1940 bis Mai 1945 durchliefen etwa 40 Franzosen und 400 Gefangene aus der Sowjetunion das Lager. 33 dieser Zwangsarbeiter kamen dabei zu Tode und wurden auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt", schreibt die Gedenkstätte Flossenbürg auf meine Anfrage und zitiert eine tschechische Studie. Hans Schmucker, mein Großvater, hat die Kaolinfabrik bis Kriegsende als technischer Direktor geleitet. O- Ton Gudrun Wildner: "Schmucker, Maria, Gretl, Dorothea, Liesl, Renate, Hans, geboren in Rothau, NSDAP 1940, also das war jetzt bei dem zweiten Transport, da haben sie ihn bei der Familie mit angegeben..." Musik: Benjamin Britten, Temporal Variations; Chorale Sprecherin ( Erinnerungsebene): "Am 13. Juni 1945 wurde unser gesamter Besitz und unsere Wohnung von den Tschechen beschlagnahmt", sagt Großmutter. "Es war ein heißer Sommertag. Sie kamen ins Haus, köpften die Weinflaschen im Keller, räumten die Schränke aus, warfen alles auf den Wohnzimmertisch und sagten, wir kämen nach Sibirien. Also hab ich die drei Mädchen in die Wintermäntel gepackt, das Baby in einen Korbwagen, Reis unter die Matratze, Windeln dazu. Geld, Urkunden und Konten - alles nahmen sie uns sofort ab. Dann trieb man uns ins neun Kilometer entfernte Internierungslager. Unser Vater wurde mit anderen Kaadener Männern in den untersten Kerker einer Kaserne geworfen und dort zehn Tage lang ohne Nahrung den übelsten Misshandlungen von Seiten der tschechischen Soldaten ausgesetzt. Nachts lagen sie dicht gedrängt auf den bloßen Steinen. Als er zu uns ins Internierungslager gebracht wurde, war er bereits todkrank." O- Ton Gudrun Wildner: "Das ist ja ein riesen Transport gewesen. Ich wusste nicht, dass es so genau dokumentiert war. Das hätte ich nie für möglich gehalten, dass die das so ordentlich machen." Sprecherin: Tatsächlich war diese Phase der Zwangsumsiedlung von offizieller Seite legitimiert. Präsident Beneš stand unter Druck: die Potsdamer Konferenz, die die Aussiedlung schließlich akzeptierte, sollte erst im August enden, und die tschechische Regierung wollte die "Großmächte vor vollendete Tatsachen stellen" .1 Für die "Säuberung" sorgte die Ostarmee des tschechoslowakischen Generals Ludvig Svoboda, die sogenannten Revolutionsgarden, versetzt mit vielen Partisanen. Gudrun Wildner saß gerade im Tschechisch-Unterricht, als sie abgeholt und zu einer Sammelstelle gebracht wurde. O-Ton Gudrun Wildner: "Und da hab' ich halt dann erfahren, dass also zu meiner Mutter zwei Männer kamen und ihr eröffnet haben, sie muss also die Wohnung binnen zehn Minuten verlassen und darf also nur wichtige Anziehsachen für sich und das Kind mitnehmen. Und dann hat sie also versucht, Papiere, die für den Luftschutzkeller schon bereit lagen, einzupacken, das hat man ihr sofort weggenommen, ich hab' zum Beispiel keinen Geburtsschein gehabt, Schmuck durfte sie auch keinen nehmen, den Ehering hat sie, glaube ich, schnell im Haarknoten versteckt, und dann hat man uns auf den Weg geschickt mit unseren Köfferchen, in Richtung Brunnersdorf, und zwar in die ehemalige Zuckerfabrik. Und da lagen wir also dann am Boden, eine hochschwangere Frau dabei, ohne irgendwas zu essen, ohne was zu trinken, und dann hat's geheißen: ins Arbeitslager. Und wie wir dann vor der Zuckerfabrik standen, ich hab mir irgendwie so eingebildet, jetzt drehen wir bald wieder rechts, dann sind wir bald wieder in Kaaden, dann ging's aber nach links, von Kaaden weg, und da hab ich zum ersten Mal geheult. Das hab' ich irgendwie als endgültig empfunden (weint). Ja, und dann sind wir marschiert, die Koffer waren auf einem Pferdewagen aufgepackt, und rechts und links Soldaten, also, dass man ja nicht irgendwie ausbüxen konnte. Und dann ging's halt steil bergan, ins Erzgebirge hinauf, und wir sind an dem Nachmittag bis Sonneberg gekommen, das ist also nah an der Grenze schon, und da hat man uns in einem Gasthaussaal untergebracht, und da haben wir übernachtet. Und am nächsten Tag sind wir weiter gezogen, und zwar bis in die Gemeinde Steinbach, Ortsteil Schmalzgrube hieß das. Das waren also hundert Leute, Frauen und Kinder, es waren ein paar junge Männer, die kriegsversehrt waren, ein paar Alte, die Hochschwangere, und sind wir dann geblieben. In der Nacht kamen Russen, haben junge Mädchen gesucht, es ist eigentlich nichts passiert in dieser Hinsicht, zu essen gab's nichts, und dann sind wir halt betteln gegangen über die Dörfer." Atmo: Gang aus Stadtarchiv O- Ton Gudrun Wildner: "Ich bin richtig aufgeregt und brauch' jetzt eigentlich ein bisschen Zeit, um das alles ein bisschen absinken zu lassen, was ich alles entdeckt habe und wie viele Erinnerungen da auf einmal wieder hochkommen." Atmo: Türenschließen, Marktplatz O- Ton Gudrun Wildner: "Das sind alle so Schicksale, die man kannte. Ich hatte damals gegen Kriegsende eine Mandelentzündung und da kam am Abend der Hausarzt Dr. Grabner, der sich entschuldigt hat, dass er zu spät kommt, weil er gerade im Schwimmschulgebäude war, die Besetzerin des Cafés von der Schwimmschule hatte sich aufgehängt. Und dann hat er ein Stück Strick aus der Tasche gezogen und hat gesagt, das hab ich mir abgeschnitten, das soll Glück bringen. Und dann kam der 8. und 9. Mai und dann wurde sein Haus überfallen und zu der Zeit lag seine Frau mit Typhuserkrankung im Bett und wurde dann vergewaltigt. Und auf das hin hat also der Dr. Grabner seine Frau, seine beiden Kinder, so mit 12 und 10 Jahren, und sich selbst umgebracht. Es gab mehrere Fälle natürlich, der Prof. Kittel und seine Frau, deren Sohn gefallen war, und dann eben der Zusammenbruch und die Existenzängste, das hat viele verzweifeln lassen." Sprecherin: Als wir wieder auf dem Marktplatz stehen, drängt plötzlich ein längst vergraben geglaubtes Erlebnis ans Licht - ein Ereignis, das Gudrun Wildners Leben geprägt hat wie kein zweites. 12 Jahre war sie da alt: O- Ton Gudrun Wildner: "Die Kaadener Pestsäule ist halt für mich und viele andere auch die Erinnerung an die Geschehnisse am 26. Mai, weil eben hier diese öffentliche Erschießung stattgefunden hat. Und wie wir ja gehört haben, sollte hier ein Exempel statuiert werden, wie man eben mit Leuten verfährt, die die staatlichen Anweisungen nicht befolgen. Man hat am 26. Mai die Bevölkerung aus den Häusern geholt und also mit Militär in die Stadt getrieben, das heißt, der Marktplatz war also vollgestopft mit Kaadenern, und um die Pestsäule hat man etwas Platz freigelassen. Und dann hat man eine Gasse freigelassen von der Kaserne herauf und durch die wurden dann also diese deutschen Männer gebracht, ich hab gedacht, es wären 10 gewesen, aber es waren sieben. Und dann kam also eine Lautsprecheransage irgendwo aus der Richtung vom Rathaus auf Deutsch. Tja, und dann fielen Schüsse. Man hat natürlich den Atmen angehalten, man hat versucht, zu Boden zu schauen, hatte Pech, wenn irgendein tschechischer Wachsoldat in der Nähe stand, weil die einem die Köpfe wieder hoch gehoben haben, damit man ja hinschaut. Wie man also von den Näherstehenden erfahren hat, haben sie angefangen von unten hochzuschießen, zum Körper rauf, so dass sie nicht gleich tot waren. Und einer muss gerufen haben: "Schieß doch in den Kopf!"... Entschuldigung... Und die andere Geschichte war eben, dass man von einem der Männer die Frau, die hochschwanger war, mit den Kindern direkt vorne aufgestellt hatte, und die musste unmittelbar zusehen. Sicher waren das jetzt alles Angehörige der SS, allein die Zugehörigkeit zur SS hat gereicht, um das zu machen. Und daran denkt man natürlich, wenn man hier vorbeikommt. Das ist klar, das lässt sich nicht mehr ausmerzen. Wenn man jung ist, kommt viel Neues dazu und deckt das zu, aber irgendwie kommt es dann doch immer wieder hoch. Und man hat ja auch nicht drüber sprechen können, du siehst, man heult ja dann doch wieder." Musik: Benjamin Britten, Temporal Variations; Chorale O- Ton Marta Drozdová: "Da kamen diese Rotgardisten, das waren Kerle, die kamen von Innerböhmen, das waren furchtbare Leute, und die haben wollen säubern, alles säubern von den Deutschen, alles säubern. Und da haben sie 12 Leute erschossen in Pohlig, ganz unschuldige Leute." Sprecherin: Marta Drozdová, 1927 geboren, gewelltes weißes Haar, strahlend blaue Augen, Gehhilfen unter dem Arm. Das Ende des Krieges erlebte sie in dem kleinen Dorf Willomitz, neun Kilometer südlich von Kaaden. O- Ton Marta Drozdová: "Wenn die Russen dann kamen, sie kamen so gegen Abend, wir dachten, es kommen die Amerikaner, ja, das war gar nicht wahr. Und wir waren am Dorfplatz gestanden und gewartet, gewartet, alle Mädel, alle Frauen und alle Männer, die noch dort waren, und auf einmal kamen die Russen, furchtbar. Und Uhren wollten sie gleich und Fahrrad. Und ich war mit der Margit, das war meine Freundin, dort gestanden, und stellen Sie sich vor, in der Nacht, die Margit, 12 Russen haben sie vergewaltigt. Die Margit, die war ja todkrank. Zum Glück haben die in Willomitz noch einen deutschen Arzt gehabt, der hat ihr das Leben gerettet dann." Sprecherin: Hilfe erhielten Marta Drozdová und ihre Freundinnen von einem deutschen Pfarrer, der als Gegner der Nationalsozialisten während des Krieges nach Breslau strafversetzt worden war: O- Ton Marta Drozdová: "Ganz unschuldig war er, er kam von Schlesien als Flüchtling, kam er da als Pfarrer an, ein Anti- Nazi. Jeden Tag abends ist er zu uns auf den Hof gegangen, haben wir London gehört, wissen Sie, mit dem Pfarrer immer. Und der hat uns gerettet, hat er gesagt: " Die haben die ganze Nacht die Frauen vergewaltigt hier, kommt's auf den Turm hier!" Auf dem Kirchturm ist ein Zimmer gewesen, tagsüber haben wir Luft geholt, weil Tauben waren eingenistet im Turm, aber wir waren glücklich, dass es uns nichts geschehen, ja." Sprecherin: Marta Drozdovà hatte noch im März 1945 am deutschen Gymnasium in Kaaden Abitur gemacht. Ihre Mutter war Tschechin, der Vater Deutscher - sie durften bleiben. O- Ton Marta Drozdová: "Und da sind langsam diese "Goldgräber" gekommen, die keine Ahnung von einer Kuh oder einer Ziege hatten. Und die haben sich die schönsten Häuser ausgesucht, und wenn sie sich ausgesucht haben, sind sie aufs Bürgermeisteramt gegangen und in ein paar Stunden mussten die Deutschen hinaus. Die kamen dann alle ins Lager nach Kaaden, sie haben verflucht die Tschechen, und der Fluch ist jetzt langsam Wahrheit geworden. O- Ton Marta Drozdová: Wir haben uns verabschiedet, wir haben doch die Leute gekannt alle. Für mich war es so fruchtbar, ich bin da schwer krank geworden, ich hab' dann eine Schilddrüsenkrankheit gehabt, ich hab' diese Basedow- Krankheit bekommen, die Augen waren so raus, so hab' ich gezittert, das hat mich so alles mitgenommen. Ins warme Bett sind sie hineingekrochen, diese Gauner, die wussten gar nicht, wie man ein Vieh füttert, das Vieh hat immer gebrüllt vor Hunger, ja. Wenn sie dann alles ausgeraubt haben, sind sie mit den Lastautos zurück in die Tschechei." Sprecherin: 40 Jahre lang hat sie in der Finanzabteilung eines Baukombinats in Karlsbad gearbeitet, studieren durfte sie wegen ihres deutschen Abschlusses nicht. O- Ton Marta Drozdová: "Jetzt in dieser Zeit, sag' ich oft, es ist der Fluch der deutschen Leute, die unschuldig raus mussten. Der Fluch ist jetzt langsam über unser Volk gekommen. Was ist bei uns jetzt los, jetzt kommt wieder die alte Zeit, die wir 40 Jahre mitgemacht haben, die Kommunisten, ich sag', ich glaub' an die Gottesmühlen. Aber leider sind es schon die Unschuldigen wieder, sind schon wieder die Enkelkinder, vielleicht sind sie jetzt gar nicht deutschfeindlich mehr, die Enkelkinder, ja, alle, das ist jetzt eine ganz andere Zeit, ja." Atmo: Türklingeln, tschechisch Sprecherin: Veronika Klímová, Martas Tochter, bringt Nüsse vom eigenen Bauernhof, den sie vor ein paar Jahren gekauft hat und zusammen mit Tochter Jana bewirtschaftet: O- Ton Veronika Klímová: "Es war eine wunderschöne alte Mühle, die völlig ruiniert war, die die ganzen 50 Jahre nach dem Kriegsende nur auseinander genommen wurde von verschiedenen Leuten, und wo auch ein deutscher Müller zuletzt gemahlen hat im Jahre `45, und seit dem deutschen Müller hat keiner die Mühle gepflegt. Und das war auch ein bisschen ein Zwang, das wieder in Ordnung zu bringen, wir sind noch nicht am Ende und wissen auch nicht, ob es uns ganz gelingt. Es ist auch so ein bisschen Wunden heilen, aber es sind Einzelgeschichten, vieles ist nicht mehr zu heilen und zu retten, es ist so." Atmo: Bauernhof mit Schwalben Sprecherin: Bei der kleinen Ortschaft Vroutek, früher Rudig, 23 Kilometer von Kaaden entfernt, liegt ihre Mühle: Ende des 16. Jahrhunderts aus Sandstein erbaut, zwei Stockwerke hoch, umringt von einer mit einem langen Ziegeldach bedeckten Scheune, einem eingefallenen Stall, einem großen Gemüsegarten und weiten Feldern. Dutzende von Schwalben nisten an der mit Efeu bewachsenen Hauswand. Atmo: Schwalben, Jana ruft Schafe O- Ton Jana Klímová: "Die sind alle in dem Gestell unten und kommen nicht, weil es zu heiß ist. So, dann kommen Sie rein..." Sprecherin: Eine Schafherde drängt sich an diesem heißen Hochsommertag um einen Wassertrog. 70 Tiere, die wirtschaftliche Basis des Hofes...." O- Ton Jana Klímová: "Dann sind acht Kühe mittlerweile dabei und dann ein bisschen Kleinzeug hier, Hühner und Gänse und ein paar Katzen." Atmo: tschechisch, Schritte, Hühner, Vögel O- Ton Jana Klímová: "Wir haben 25 Hektar eigenes Land und noch 15 dazu gepachtet- lacht- also 40. Das sind alles Wiesen, ein bisschen Feld, da wird nur Korn für die Tiere angebaut, und die Wiesen werden dann gemäht, beweidet, und ein bisschen Heu verkaufen wir, was wir nicht brauchen. Die Wiesen, da hat sich keiner drum gekümmert, das war alles nur mit Brennnessel und Hagebutten bewachsen, und das haben erst die Tiere wieder ein bisschen sauber gemacht. Wir sind zertifizierte Eco-Farm, bio-Farm." - lacht - Sprecherin: Jana Klímová, Mitte dreißig, braune, zurückgebundene Haare, ein offenes, herzliches Gesicht. Sie ist in Kaaden aufgewachsen, hat Betriebswirtschaft studiert und in Österreich Deutsch gelernt. Das eigentliche Opfer der Vertreibung, sagt sie, war das Land selbst. O- Ton Jana Klímová: "Vor allem die Dörfer haben wahnsinnig darunter gelitten. Das kann man auch an der Geschichte von der Mühle hier gut verfolgen, weil dann stand das ein paar Jahre leer, das alleine hat schon gereicht, dass das ein bisschen heruntergekommen war, und dann kamen viele Menschen aus Osten, von der Slowakei oder von den Städten, die dann hier billig die Häuser wieder gekauft haben. Aber da es hier eine relativ reiche Gegend war, standen riesige Bauernhöfe da, wo aber kein Land dazu verkauft wurde, weil das automatisch an die LPG fiel, und so standen nach ein paar Jahren eigentlich nur Ruinen hier. Man sieht das immer noch heute, wenn man durch die Dörfer hier fährt, dass das Leben irgendwie unterbrochen war, und es ist jetzt sehr schwierig wieder anzuknüpfen. In Deutschland machen es die Familien über Jahrzehnte, jede Generation baut was auf, aber hier war fast alles zerstört." Sprecherin: Nur zwei Höfe gibt es in der Umgebung, die auf ähnliche Weise arbeiten wie sie. Das Land ist fest in der Hand der industriellen Landwirtschaft, kleinbäuerliche Strukturen gibt es nicht mehr. O- Ton Jana Klímová: "Wir kämpfen sehr hart, muss ich jetzt sagen, es ist wirklich eine Anspannung auch hier, es sieht jetzt alles romantisch aus und idyllisch, aber es ist es nicht, und wir sind jetzt auch ernsthaft am Überlegen, ob wir es nicht aufgeben." Musik: Paul Hindemith; Sonata für Oboe und Piano Sprecherin: Was wohl aus den vielen Hopfengärten meines Großonkels geworden ist? Er war Professor für Landwirtschaft an der Mittelschule in Kaaden, unterrichtete Pflanzenbau, Viehwirtschaft, Rechnungswesen- alles, was zu einem bäuerlichen Betrieb dazu gehörte. Ein kauziger Typ, hinkend wegen einer Schusswunde aus dem Ersten Weltkrieg und immer wild mit seinem Stock gestikulierend. Hatte er nicht damals auf dem Marktplatz hörbar für alle geschimpft: "Der Hitler, der Hundling, der nackerte Kerl"? Ihm gehörte die Buslinie. Niemand wagte, ihm zu widersprechen. Atmo: Schritte vor Kirche in Wohlau O- Ton Klára Kovaríková: "Wir stehen jetzt vor einer Kirche, die heißt Peter und Paulus Kirche, hier in Wohlau. Wir sind in einer Gemeinde, wo viele Deutsche gelebt haben, die ursprünglich auch diese Kirche gebaut haben, und die nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben worden sind. Die Kirche, wie Sie sehen, ist ganz zerfallen, in einem sehr traurigen Zustand, und wir haben 2007 einen Verein gegründet, der sich als Aufgabe gestellt, der Kirche zu helfen zu überleben." Sprecherin: Klára Kovaríková, Anfang dreißig, Deutschlehrerin, Journalistin und Vorsitzende des "Vereins der Freunde der Sankt Peter und Paulus Kirche" in Wohlau, tschechisch Volyne, am Südhang des böhmischen Erzgebirges. O- Ton Klára Kovaríková: "Ich kannte diese Kirche seit Ende der 90er Jahre, wir haben hier als Kinder gespielt. Und dann wurde man älter, und ich dachte mir, muss das jetzt unbedingt zerfallen, muss das so aussehen, wie das aussieht, vielleicht könnte man für die Kirche was tun. Ein paar tausende sind das schon, die ich reingesteckt habe, es bewegt sich nach vorne, es kommen immer mehr Leute, es hat Sinn, einfach etwas zu machen." Atmo: Aufschließen der Tür.... O- Ton Klára Kovaríková: "Ah, die Tür ist jetzt ganz neu, gehen wir einfach rein..." Atmo: Türknarren, tschechisch ...... O- Ton Klára Kovaríková: "Die ersten schriftlichen Erwähnungen sind von der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Aber es wurden hier kunsthistorische Untersuchungen durchgeführt und die haben herausgegeben, dass die Kirche wahrscheinlich älter ist, wahrscheinlich Ende des 13. oder erste Hälfte des 14. Jahrhunderts. Als erstes wurde das Dach der Sakristei nicht komplett renoviert, aber es wurde damit angefangen. Letztes Jahr haben wir es geschafft, Fenster und Türen machen zu lassen, und was wir jetzt gerade sehen können, ist die Renovierung des Daches und des Dachstuhles. Ich hoffe, wir halten noch ein paar Jahre durch. Wir haben jetzt sechs Jahre schon etwas bewegt, wir bewegen bestimmt weiter, aber wenn das weiter zehn oder zwanzig Jahre dauert, müssen wir hoffen." Musik: Robert Schumann: Impromptus op.5, Track 1 Bass und Thema Sprecherin: Es sind vor allem die Initiativen der jungen tschechischen Generation, die die zerrissenen Lebensfäden dieses Landstrichs wieder zusammen führen, die eine tief empfundene Versöhnungsarbeit leisten und der Gegend einen neuen Impuls geben wollen. O- Ton Ondrej Matejka: "In Tschechien typischerweise hält man sich eher für Opfer, was ja auch verständlich ist, wir sind ja fast ausgerottet worden von den Deutschen, also das war halt der Plan, und den haben wir Gott sei Dank überstanden. Andererseits, ja wir haben auch einiges am Hut, was auch nicht schön war, natürlich, die Zwangsaussiedlung der Deutschen nach dem Krieg war durch den Krieg bedingt, aber gäbe es den Krieg nicht, gäbe es auch keine Zwangsaussiedlung. Andererseits, vielleicht hätte man das anders machen können. Es gibt einfach viele Ansätze, wo man kritisch über die eigene Geschichte nachdenken sollte. Es öffnet uns für die Zukunft, wenn wir imstande sind, unsere eigene Vergangenheit aufzuarbeiten." O- Ton Gudrun Wildner: "Die Tschechen, mit denen wir gesprochen haben, das waren alles intelligente Leute, das hat mir imponiert, weil sie haben ja eigentlich die Dinge beim Namen genannt, mehr jetzt eigentlich für ihr Volk als für unsers. Sie haben uns eigentlich keine Ratschläge gegeben, wie wir uns verhalten sollen, sie haben eigentlich ihre eigene Position recht kritisch gesehen, also die Position in ihrer Gesellschaft, das ist doch eine Möglichkeit, das zu überwinden." O- Ton Ondrej Matejka: "Man kann schon klar sagen, dass die Sudetendeutschen als Gruppe ganz, ganz gering so etwas wie Geschichtsaufarbeitung gemacht haben. Die Beteiligung an der NS- Zeit bei den Sudetendeutschen ist mehr oder weniger unreflektiert. Andererseits, heute kann man das noch erwarten? Bei einer Gruppe, die im Gegensatz zu den Tschechen keine natürliche ist, das heißt, es ist eine konstante Gruppe, die natürlich ein bisschen Zuwachs hat durch die Jugendlichen, aber ganz gering. Und ich kann mir das soziologisch und auch menschlich kaum vorstellen, dass man sich wandelt. Man sieht sich als Opfer bei den Sudetendeutschen und weniger als Beteiligte, immer noch, leider, sehr viel." O- Ton Veronika Klímová: "Ich bin fest überzeugt, wenn der Europagedanke wirklich zu einem erfolgreichen Ende kommen würde, dass man mit der Zeit die Grenzen in den Köpfen auch brechen würde, aber ob es uns gelingt, das müssen wir uns alle wünschen und dafür beten." Musik: Symphonion Sprecherin (Erinnerungsebene): "In die Austria kam mal ein französischer Koch", sagt Großmutter glucksend, "den hat mein Vater gleich wieder hinausgeworfen. Nicht eine Soße hat er zustande gebracht. Zu "Kneedln" gehören doch Soßen!" Nichts amüsiert sie so sehr wie kulinarische Katastrophen. "Wieso hast du es dem armen denn nicht gezeigt?", frage ich erstaunt. "Weil eine gute Köchin ihre Geheimnisse niemals verrät!", antwortet sie triumphierend. Und schweigt. Absage: Sudety- Reise in ein verwundetes Land. Sie hörten ein Feature von Cornelia Rühle Es sprach: Isis Krüger Ton und Technik: Gunter Rose und Anne Bartel Regie: Anna Panknin Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2014 1Zitiert nach Peter Glotz: Die Vertreibung, S. 192 --------------- ------------------------------------------------------------ --------------- ------------------------------------------------------------ 2