COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. MOD LR 02.02.11 - 13.07 Uhr Script Ablaufplan M 01 ErkMu REGIE Musik kurz frei & unter Moderator legen MOD Die Besuche der alten Dame. Eine Ur-Dresdnerin und ihre vielen Kinder. Am Mikrofon begrüßt Sie Claus Stephan Rehfeld. REGIE Musik kurz frei & unter Moderator weg MOD Es gibt viel zu erzählen. Eine Binsenweisheit. Journalisten leben davon, Schnattertüten ebenfalls. Bei Journalisten werden wir neugierig, bei Plappermäulern ergreifen wir die Flucht. Aber bei ihnen bleiben wir sitzen und lauschen - bei jenen Menschen, die nicht nur viel zu erzählen haben, sondern die es auch können: erzählen. Wir haben uns nun mit einer verabredet, die manchmal gar wildfremde Menschen einfach so anspricht, weil: Es gibt viel ja zu erzählen. Erst recht, wenn man 95 Jahre alt ist. Alexa Hennings hatte von dieser Dame gehört, ward neugierig geworden, traf sich mit ihr und schickte uns dann einen Bericht, in dem sie nun auch viel zu erzählen hatte. Über Frau Zuckerriedel und wie das früher mal so war - in Dresden und im Leben. Und wie das heute so ist. LR Die Besuche der alten Dame / Hennings - 18'50" Atmo Straße, laut AUT Dresden Blasewitz, Blaues Wunder. Wer hier über die Straße will, erlebt sein Blaues Wunder. E 01 (Atmo Straße, Zuckerriedel) Ach so, jetzt fragt sich, wie wir hier je über die Straße kommen!... Atmo weiter AUT Ungerührt rollt ein Auto nach dem anderen an einer alten Dame vorbei, die mit ihrem Gehstock am Straßenrand steht. So höflich sind die Sachsen nun auch wieder nicht: Die Ampel ist fünfzig Meter weiter. Irgendwann klappt es doch und die Dame ist an ihrem Ziel: Café Toscana, ein Gründerzeitbau am Fuße der Brücke. E 02 (Zuckerriedel, reingehen ins Café) Nu wolln wir mal sehen, ob Platz ist!...reingehen... AUT Die Dame im hellen Blouson und dunkelblauer Hose strebt durch den dunklen, vollbesetzten Raum zum hellen Wintergarten. Hier hat sie ihren geliebten Elbblick. E 03 (Kellnerin, Z.) ...nu, hier wird frei, da könnse Platz nehmen! Oh, wir haben uns aber lange nicht gesehen- lachen... AUT Renata Zuckerriedel wird in wenigen Tagen 94 Jahre alt. Sie hat keine Kinder, und deshalb fehlt auch die Enkel- und Urenkelschar. Besuch bekommt sie selten. Deshalb hat sich Frau Zuckerriedel darauf verlegt, selbst Besuche zu machen. Im Café Toscana auf ein Stück Dresdner Eierschecke, im Kultur - und Buchhaus Loschwitz gegenüber auf der anderen Elbseite, wo sie Stammgast bei Lesungen ist, kleinen Konzerten und Theater. E 04 (Zuckerriedel) Ich muß sagen, ich finde im Alter fast eher Berührungspunkte mit anderen Menschen als früher. Ich war nämlich ganz schüchtern und ganz still und hab mich verkrochen. Aber im Alter - ich geh irgendwo und sitze, in Pillnitz zum Beispiel, ins Café, dann setzen sich Leute dazu und man kommt in Unterhaltung. Das habe ich jetzt mal in kleinen Kreis erzählt, bei anderen Freundinnen, und die sagen: Da gehst du alleine dort los? Ich sage: Ja! Es ist nicht so, daß ich das suche, sondern es ergibt sich. Und dann habe ich abends wieder das Glücksgefühl: Du hast wieder etwas erlebt und es war was Schönes. Ich wundere mich über mich selber, weil ich mich besinne, wie schüchtern und zurückhaltend ich war. Und daß ich mir in der Jugend vieles sogar selber verdorben hab. Atmo Café 0.50 AUT Verderben läßt man mit 94 nichts mehr, irgendwelche Diät-Gebote sind der schlanken, rüstigen Dame mit dem weißen Haar und der silbernen Brille fremd und so findet sie sich, sinnend ob der richtigen Wahl, vor der legendären Toscana- Tortentheke wieder. Acht Meter Süßes, schließlich ist man in Dresden, die barocke Üppigkeit steht hier zum Verzehr. E 05 (Kellnerin) Nu, das ist die Nugattorte, die Schokocremetorte, das ist die Toscana- Torte, die ist aus Baumkuchencreme, so mit alkoholgetränkten Kirschen. Also, so bissel ´ne Spezialität, sehr beliebt...zählt weiter Torten auf... Verblenden mit Musik CD, Walzer Schostakowitsch AUT Dresden Blasewitz ist ein Villenviertel an der Elbe. Herrschaftliche Häuser, die Grundstücke wie kleine Parks, in manchem Garten steht noch ein echter Permoser. Renata Zuckerriedel war 17, als sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder hierherzog, in eine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Schubertstraße. Atmo Musik verblenden mit Atmo Vögel, Glocken, Straße 0.45 AUT Noch heute wohnt sie in dieser Straße, nur auf der anderen Straßenseite. Es sind nur ein paar Schritte bis zu ihrem alten Haus. Ab und an bleibt sie kurz stehen. In den letzten Wochen fällt ihr das Laufen etwas schwer. Mit 94 hat sie keinen Hausarzt. Sie hat keine Ahnung, ob ihre Blutwerte in Ordnung sind. Daß sie nicht mehr die Berge hoch kommt in der Sächsischen Schweiz, wie sie es früher immer gern tat, das merkt sie auch ohne Arzt. Frau Zuckerriedel redet nicht über Krankheiten, das ist so ein Prinzip von ihr. E 06 (Zuckerriedel auf Straße) Weil ich mir sage: 94 werd´ ich jetzt. Und wenn ich wirklich ´ne Krankheit kriege, dann muß man die in Kauf nehmen! Aber ich bin bis jetzt ganz unbelastet. Denn meine Freundinnen, die immer irgendwie was haben, die reden ja auch immer bloß von Krankheiten. Oder der Geist läßt nach. Ach ja. Das ist das Haus, mein Stolz, dort haben wir gewohnt, von 33 bis 45 - nein, 46. Aber ich hab´ eben den Angriff hier überstanden. AUT Die alte Dame biegt in die Toreinfahrt ein. Dort wird sie schon vom Hausbesitzer erwartet. Der steht in Schlips und Anzug, mit einem Blumentopf in der Hand, auf dem Hof. Eine kleine Ansprache hat er auch vorbereitet. E 07 (Vehmann, Zuckerriedel) Guten Tag! - Frau Zuckerriedel, wenn Sie kommen, dann wird das Haus neu geboren! - lachen - Guten Tag - Jede Minute, die Sie hier sind, ist für mich kostbare Zeit, die ich genieße. Ich nehm´ Sie gern mit hoch, aber Sie sind die Führerin, Frau Zuckerriedel! - Ich bin die Führerin? Das hab´ ich auch noch nicht erlebt! Ich sag´ grad, hier habe ich 13 Jahre gelebt, es war eine schöne Zeit, hier bei seinen Großeltern. Atmo Treppensteigen 0.24 ...Frau Zuckerriedel, kann ich behilflich sein? - Danke, ich halt mich an... AUT Dr. Lutz Vehmann, Ingenieur im Ruhestand, eilt mit seinem Blumentopf die Treppe hinauf. Im dritten Stock klingelt er an der Wohnungstür. Unbedingt will er zeigen, warum er der alten Dame von gegenüber so unendlich dankbar ist. Atmo Treppenhaus, Klingel, Vehmann 1.14 ...wenn wir Glück haben, können wir jetzt reingehen. - Hallo - AUT Eine junge Japanerin öffnet. E 08 ... A little moment in this room rightsight and seeing the bomb trough the... deck - äh, die Bombe durch die Decke, können Sie das mal übersetzen? - Zuckerriedel: Yes. This was my home. From 1933 till 1946 I lived in this house. - Ah. - There come a bomb. Thiswhere was our kitchen...redet weiter... AUT Beherzt versucht die 94jährige der jungen Japanerin, die nun in dieser Wohnung lebt, den Fortgang der Geschichte zu erklären. Und auch wenn wieder das englische Wort für "Dach" fehlt - am Ende ist klar: Eine Stabbrandbombe fiel neben die Bettkiste, es fing schon an zu schmoren, die 29jährige Renata nahm die Brikettzange und warf die 50 Zentimeter lange Bombe aus dem Fenster in den Hof. Geschehen am 13. Februar 1945. Der Tag, an dem Dresden unterging. E 09 (Zuckerriedel) Das war der erste und zweite Angriff. Zwischendurch sind wir raufgegangen, um zu sehen, was war. Das wär sonst in Flammen aufgegangen hier. - Vehmann: So, dann zeige ich Ihnen mal die Einschlagstelle. Sie können gern mal eine Etage mit hoch kommen, da ist die Einschlagstelle von der Stabbrandbombe... Treppensteigen... AUT Eine weitere Frau hat sich spontan der kleinen Führung angeschlossen. Die knarrende Holztreppe führt zum Dachboden, den Lutz Vehmann zum Büro ausgebaut hat. Nicht ohne zu vergessen - vermutlich ist dies ein ziemlich einmaliger Vorgang in Dresden - zwei kleine Teile vom Dach, wo einst Bomben einschlugen, mit Glas einzufassen. Darunter ist der abgebrannte Balken zu sehen, daneben ein Nachbau der Bombe und - wie könnte es bei einem Techniker anders sein - ein Plakat, das die Wirkungsweise der Bombe schildert. Manchmal führt der Ingenieur auch Schülergruppen hier hoch. E 10 (Vehmann, andere auf Boden) Wir haben das hier dokumentiert. Und das ist die originale Durchschlagstelle, die hier oben zu sehen ist. Und die Frau Zuckerriedel war mit meinem Großvater im Haus. Das waren die beiden, die cirka 12-15 Stabbrandbomben im gesamten Gebäude entfernt haben. - Zuckerriedel: Das haben wir das gegriffen und zum Fenster raus. - Besucherin: Sehr mutig! - Zuckerriedel: Da war ich jung. - Vehmann - Deshalb ist es so: Wenn die Frau Zuckerriedel ins Haus kommt, dann ist das Haus für mich immer neu geboren. Weil wir ihr das, daß es noch steht, mit zu verdanken haben! AUT Das Wohnhaus war dann auch das einzige, was vom Besitz der alteingesessenen Dresdner Familie blieb: das dreistöckige Friseur- und Drogeriegeschäft des Großvaters im Zentrum Dresdens, 300 Meter von der Frauenkirche entfernt, verbrannte, wie alles in dieser Gegend. Auch Renata Zuckeriedels Arbeitsstelle lag im Zentrum Dresdens an der Prager Straße: Die Dresdner Bank. E 11 (Zuckerriedel) Und ich fühle mich neugeboren, daß ich überhaupt beim Angriff weiter gelebt habe, daß ich nicht umgekommen bin. Denn ich hätte eigentlich Luftschutzwache gehabt in der Stadt, bei der Bank, meinem Betrieb, bei dem ich gearbeitet habe. Wo ich einige Male in den Kriegsjahren übernachtet habe, um angeblich dort zu löschen. Aber das war ja sinnlos. Und wenn ich dort gewesen wäre: Die anderen sind alle umgekommen. Es ist keiner lebend rausgekommen. Das war wirklich ein Glück, ich war an dem Tag nicht eingeteilt zum Dienst. Ich war noch nicht dran. Es waren schreckliche Schicksale. Das hätte einem alles, alles - AUT Hier fehlen der redegewandten Dresdnerin mal kurzzeitig die Worte. Die Japanerin schaut erstaunt zwischen der Bombe und er alten Frau hin und her, die andere Frau ist sehr gerührt und möchte sich bedanken. E 12 (Frau) Sehr schön. Schön, daß ich Frau Zuckerriedel kennenlernen konnte. Ich bin hier manchmal zu Gast, gerade heute ist so ein Tag. Und deshalb finde ich das ganz kostbar. Danke. Musik CD Walzer E 13 (Zuckerriedel) Das ist das Wichtige, daß die Zeitzeugen heute sprechen, die es erlebt haben. Denn es wird so viel erzählt. Das Schlimmste war der Film über den Untergang Dresdens vom ZDF. Wo also Sachen gezeigt wurden, die unmöglich waren. Aber deshalb sage ich, jetzt muß der noch erzählen, der es selbst erlebt hat. Von Mund zu Mund weiter gegeben, entstellt sich vieles. AUT Wie vieles sich entstellt hat oder entstellt wird, erlebt Renata Zuckerriedel in jedem Jahr, wenn in Dresden an jedem 13. Februar Massen von Rechten aufmarschieren, um die Bombardierung Dresdens für ihre Propaganda zu nutzen. Vielleicht ist sie deshalb immer noch so eifrig dabei, trotz ihrer 94 Jahre in die Schulen zu gehen. Möglichwerweise ist es ja wie eine Impfung, die lebenslang wirkt: Wenn man sich als Kind mal mit einem Menschen unterhalten hat, der den Krieg miterlebt hat. E 14 (Zuckerriedel) Ich habe Erlebnisse mit Kindern, die nach dem Krieg gefragt haben. Ein zehnjähriger Junge hat gefragt, ob auch jemand aus meiner Familie im Krieg geblieben ist. Und da habe ich erzählt von meinem Bruder, von dem haben wir überhaupt keine Nachricht bekommen, ist nicht in Gefangenschaft irgendwo aufgetaucht, er ist irgendwo umgekommen, aber wir wissen nicht wo. Das muß Eindruck gemacht haben. Denn als ich eine Woche später in die andere Klasse kam, kamen danach zwei Mädels zu mir. Und da sagt die eine: Meine Freundin hat mir erzählt, daß Ihr Bruder nicht wieder gekommen ist. Das ist aber traurig. Und ich sagte mir: Die Kinder haben hinterher darüber gesprochen und das empfunden. Weil ich oft auch angesprochen werde: Tust du dir das an? Gehst du in die Schule? Die hören doch gar nicht zu! Die wollen doch gar nicht! Ich sag: Das stimmt nicht. AUT Die alte Dame aus Blasewitz trifft auch Neuntkläßler zum "Generationendialog", den die Bürgerstiftung Dresden organisiert. Dort kann man Frau Zuckerriedel fragen, was man die eigenen Großeltern oder Urgroßeltern vielleicht nie fragen würde, weil man sich nicht traut. Die Themen liegen zwischen Liebe und Tod. Die 94jährige mußte schon erzählen, wie man eigentlich verhütet hat, als sie jung war. Da ist sie ein bißchen rot geworden. Atmo Kramen in Fototüte 0.09 AUT Renata Zuckerriedel kramt ein Foto hervor: Sie und der Bundespräsident nebst Gattin. Im Schloß Bellevue bekam sie vor zwei Jahren das "Verdienstkreuz am Bande". E 15 (Zuckerriedel) Ich hab ja immer das Gefühl, die haben mich vorgeschoben als Älteste! Und da sag ich mir immer: Es gibt so viele, wo sich keiner findet, der ´n Vorschlag macht. Die eigentlich das verdienen würden. Atmo Kinderklinik, Fahrstuhl 0.14 ... Stimme aus Lautsprecher Fahrstuhl: Viertes Obergeschoß, Kinderklinik und Kinderchirurgie...Wagen rollen... AUT Universitätsklinikum in Dresden. Einmal in der Woche hat Renata Zuckerreidel hier Dienst. Sie besucht Kinder. Mit Büchern. Der Wagen ist schwer bepackt. Atmo Wagen rollen hoch AUT Gemeinsam mit einer Vereinsfreundin schiebt sie den Bücherwagen durch die Flure der Kinderklinik. Seit 18 Jahren schon bringen acht Dresdner Frauen kranken Kindern Bücher ans Bett. Renata Zuckerriedel ist von Anfang an dabei. E 16 (Krankenzimmer, Frau Zuckerriedel bei einem Kind am Bett) Aschenputtel, kennst du das schon? Oder der Löwe Leopold? - Nein. - Oder der Prinz Eisenherz? -Nein. - Auch nicht. Da müssen wir noch weitersuchen für dich. Das hier? Mit dem Vogel? Guck mal, alles von den Vögeln, wie sie innen aussehen. -Ich nehm das! -Du nimmst das? Das ist ja schön... AUT Manchmal kriegt Renata Zuckerriedel selbst die größten Lesemuffel dazu, den Fernseher überm Bett mal auszuschalten. Sie tröstet und liest vor, wenn ein Kind keinen Besuch hat. Erlebt auch Kinder am Ende ihres kurzen Lebens. Fragt sich in solchen Momenten: Warum darf ich so lange leben? Schon unter letzte Sätze Musik CD, Walzer AUT Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazizeit, DDR, vereintes Deutschland. Die Zerstörung ihrer Stadt und den Wiederaufbau. Frau Zuckerriedel ist dabei gewesen. Manchmal wandert sie an der Elbe von Blasewitz bis in die Stadt. Staunt, wenn sich wieder eine neue Hotelfassade - im alten Stil - am Neumarkt an der Frauenkirche erhebt. Wundert sich über Rikschas und Pferdekutschen. Verblenden mit O-Ton E 17 (Zuckerriedel vor Frauenkirche, Pferdegetrappel) Eigentlich wirkt´s nachgemacht. Irgendwie unecht. Ich mein´, ich bewundere alles, was wieder hergestellt ist und schön. Aber irgendwie ist man fremd. Es ist nicht die Stadt, die man gekannt hat. Die ist untergegangen, die ist weg. Es soll so wirken, wie es früher war. Es läßt sich nicht wiederholen, ein Mensch, der tot ist, kann nicht wieder aufgeweckt werden. Atmo Neumarkt, Glocken 1.00 E 18 (Zuckerriedel) Für alte Dresdner ist es fremd, daß es so farbig ist. Aber das ist genauso in der Kirche so fremd, ich hab´ die nie so farbig erlebt, das war alles düster und grau. Mir ist die Frauenkirche in Wunder an Handwerkskunst und was alles hergestellt worden ist. Aber sonst ist sie mir fremd. Weil sie für mich nicht den kirchlichen Charakter hat oder die Stille. Durch die vielen Besucher, das ist nicht ein Kirchenraum. Es sind auch so viele große Konzerte und für mich ist es eben wie ein Konzerthaus. Es fehlt die kirchliche Stimmung. Atmo Platz 0.50 AUT Bänke gibt es nicht vor der Frauenkirche, und so läßt sich Renata Zuckerriedel auf dem Sockel einer Metallskulptur nieder. Dort ist es schön warm zu sitzen. Sie zeigt Richtung Altmarkt, der jetzt auch neu bebaut wurde. Die Häuser verstellen nun den Blick auf die Prager Straße. Ganz am Anfang, dort, wo heute ein großes Kaufhaus steht, war früher das jüdische Bankhaus Arnold. Dort lernte sie Bankkauffrau, als es noch Bankkaufmann hieß. Sie erlebte, wie sozial es zuging bei Dr. Kurt Arnold: mit Betriebskantine, Zuschüssen zum Mittagessen und Skiurlaub im Allgäu - den hätte sich ein Lehrling sonst nie leisten können. Und sie erlebte, wie das Bankhaus Arnold "arisiert" wurde. E 19 (Zuckerriedel) Heute wundere ich mich, daß wir nicht damit gerechnet haben. Daß wir überrascht waren, daß wir am 2. Dezember 1935 im Kassenraum alle versammelt wurden die Angestellten, und dort auf einmal fremde Herren standen, die von der Dresdner Bank aus Berlin gekommen waren. Und der alte Chef uns klar machte, daß wir nun auf deren Kommando zu hören hätten. Alle jüdischen Mitarbeiter wurde ja entlassen an dem Tag. Und - wie soll ich mal sagen - es hat mich auch bewahrt in irgend eine nationalsozialistische Organisation einzusteigen. Weil ich überzeugt war, daß uns da irgendwas vorgemacht wurde, was nicht war. Ich hatte andere Erfahrungen gemacht. Und das hat mich auch durch mein ganzes Leben geführt. AUT Renata Zuckerriedel heiratete erst nach dem Krieg, da war sie schon Mitte dreißig. Für sie und ihren um viele Jahre älteren Mann war es zu spät für eigene Kinder. Und so ist es heute ein bißchen, als ob die alte Dame mit ihrem umtriebigen Leben, mit ihren vielen Besuchen ein wenig von dem Leben nachholt, daß sie verpaßt hat. E 20 (Zuckerriedel) Ja, das ist es unbedingt, daß man das auch noch erlebt , was eigentlich gefehlt hat. Aber das ist ja die Tragik meiner Generation, daß eben der Krieg den größten Teil der Freunde, der männlichen Jugendkameraden - sie sind im Krieg geblieben. Das hat natürlich auch seinen eigenen Lebensweg verändert, anders, als man gedacht hat. Musik CD, Walzer E 21 (Zuckerriedel) Aber ich hatte mich eigentlich auch abgefunden damit, durch die Kriegsereignisse, daß man sich sagt: Das Leben wird anders, als du dir es vorgestellt hast. Ich glaube, das kann nicht jeder, daß er sich abfindet mit den Verhältnissen, die das Leben bietet. Wenn man diese Gabe hat, zum Glück, dann kommt man leichter durchs Leben und findet auch nicht so viel Hemmnisse oder Schwierigkeiten. Es wird genommen, wie es ist. Musik auf Ende -ENDE Beitrag Hennings- MOD Die Besuche der alten Dame. Eine Ur-Dresdnerin und ihre vielen Kinder. Alexa Hennings ließ uns mithören. Morgen dann im Länderreport ab 13.07 Uhr gilt der Titel: Wie sich die Dinge doch gleichen. Die Rote Flora in Hamburg und das Tacheles in Berlin. Am Mikrofon verabschiedet sich von Ihnen Claus Stephan Rehfeld. -ENDE Ablaufplan-