COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 05. August 2013, 19.30 Uhr Dem Wähler auf der Spur Wie Wahlforschung die Politik beeinflusst Von Heiner Kiesel Call Center Atmo OT 1 Tino Neuhaus: Mein Name ist Tino Neuhaus, ich leite dieses Telefonstudio schon seit zehn Jahren. Ja wir sind hier im Hinterhof, hier sind wir in der Datenproduktion. Hier entstehen die Zahlen, die da später grafisch schön aufbereitet werden und mediale Präsenz erlangen. Hier ist der Schweiß der Produktion, der diese Daten erzeugt. OT 2 Tino Neuhaus: Und heute erheben wir den Deutschlandtrend, das monatliche Instrument der ARD. Hier sind wir mitten in einem Studio. Sie hören es an der Geräuschkulisse. Sprecher vom Dienst: Dem Wähler auf der Spur Wie Wahlforschung die Politik beeinflusst Ein Feature von Heiner Kiesel OT 3 Melanie Sutsch: Schönen guten Abend, mein Name ist Melanie Sutsch. Ich rufe an im Auftrag des Forschungsinstituts Infratest Dimap. Sie kennen uns vielleicht schon aus der Wahlforschung für die ARD Autor: Es ist früher Abend. Datensammeln bei Infratest dimap in Berlin. 65 Plätze in vier Räumen. Besetzt meist mit Studenten. Mit Headsets, das Mikrophon vor dem Mund. Die Hände eilig auf der Tastatur. Der Bildschirm erscheint Seite auf Seite.Drei Stunden. Fünf Dutzend Fragen im Zehn-Minuten-Takt. 1000 Anrufe. OT 3 Melanie Sutsch: Kürzlich haben wir schon mal bei Ihnen angerufen und einen Termin für heute vereinbart. Es geht um unsere Umfrage zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen. OT 4 Richard Hilmer: Unser Problem besteht darin, dass wir eine Sicherheit in den Zahlen suggerieren, die dort gar nicht drin ist, weil es sich dort immer um Repräsentativumfragen handelt, die per se immer eine Schwankungsbreite beinhalten. Es ist nur schwierig, diese Schwankungsbreite auch zu kommunizieren, zumal sich diese Schwankungsbreite nur auf die Wahlabsicht bezieht und diese Absichten können sich auch kurzfristig ändern. Autor: Richard Hilmer: Er ist Geschäftsführer von Infratest dimap, einem der sechs großen Umfrageinstitute in Deutschland. OT 5 Richard Hilmer: Bei einer Befragung von 1000 Personen, das ist also die klassische Größe von repräsentativen Umfragen, beträgt die Schwankungsbreite bei großen Parteien plus minus drei Prozent, bei den kleinen Parteien so plus minus 1,5 Prozent. Das heißt, wenn ich eben ein Ergebnis für die CDU von 40 Prozent habe, dann können das auch 37 Prozent sein oder 43 Prozent. Autor: Hilmer betreibt seit gut 30 Jahren Wahlforschung. Sein Metier hat sich dabei verändert: Die technischen Möglichkeiten der Datenerfassung und -verarbeitung, die rasant gestiegene Häufigkeit der Befragungen. Die Wähler, die befragt werden, haben nun sechs Parteien mit bundesweiter Bedeutung zur Auswahl und sind mit den Jahren erheblich unberechenbarer geworden. Hilmer forscht in einer Zeit großer Unsicherheit, in der die Erkenntnisse seiner Zunft selbst zu wichtigen Orientierungsmarken geworden sind. Jede Woche aufs Neue sorgen die Zahlen für Aufsehen, für Ernüchterung oder Erregung. OT 6 Parteitagsfragmente: (Merkel) Klar wir müssen um jede Stimme kämpfen und unser Koalitionspartner muss noch zulegen, damit wir es gemeinsam schaffen. (Steinbrück) Ich weiß liebe Genossinnen und Genossen über die inzwischen im Zweitagesrhythmus erscheinenden Meinungsumfragen, aber ich kenne auch Wahlergebnisse... (Brüderle) In manchen Umfragen liegt Schwarzgelb vor Rotgrün, in anderen schon vor Rotrotgrün. Andere werden nervös. (Steinbrück) Und da sind die Umfragekönige von Schwarz-Gelb im Abwind und wir sind im Aufwind. OT 7 Richard Hilmer: Für die Politiker ist es schon schwieriger geworden, denn in den Anfangsjahren der Bundesrepublik waren sie die alleinigen Auftraggeber von politischen Umfragen und damit hatten sie natürlich auf den Zugriff. Die Daten konnten sie veröffentlichen oder nicht veröffentlichen. Die Situation hat sich inzwischen völlig gewandelt, denn unsere Auftraggeber sind natürlich Medien. Infratest dimap arbeitet überhaupt nicht mehr für die Parteien. Das hat für die Parteien natürlich den Nachteil, dass sie die Kontrolle verloren haben. Sie haben indirekt den Vorteil, sie müssen diese Zahlen über die politische Stimmung nicht mehr in Auftrag geben. Die bekommen sie Woche für Woche frei Haus geliefert. Sie können sich dann auf andere Dinge konzentrieren. OT 8 Melanie Sutsch: (Atmo) Dann kommen wir zu unserer berühmten Sonntagsfrage. Welche Partei würden Sie denn wählen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre? ...gut, die CDU. Und welche Partei haben sie bei der letzten Bundestagswahl gewählt? ...auch die CDU. Wie zufrieden sind sie denn mit der Arbeit der Bundesregierung sind sie da zufrieden, weniger zufrieden... OT 9 Wolfgang Thierse: Auf diese Stimmungen muss man ja auch eingehen. Das dringt ja bis in die Mitglieder der eigenen Partei hinein. Haben wir eine Siegeschance? Da kämpft es sich besser als wenn einem seit Jahren bescheinigt wird, man sei auf der Verliererseite. Sprecherin: Wolfgang Thierse, SPD, Bundestagsvizepräsident und 23 Jahre Abgeordneter im deutschen Parlament. OT 10 Wolfgang Thierse: Die Reihenfolge der Meinungsumfragen ist für die SPD etwas Unangenehmes. Es beginnt immer mit Forsa und bei Forsa kommt die SPD seit Jahren deutlich schlechter weg, als etwa bei DeutschlandTrend, den Umfragen von ARD und ZDF, oder etwa Allensbach. Bei Forsa ist die SPD immer so bei 23/24 Prozent, während sie bei den anderen zwischen 27 und 29 Prozent ist. Ein stabiler Unterschied! , der doch erklärungsbedürftig ist, aber keiner erklärt es. Sprecherin: Wolfgang Thierse müht sich da nicht allein. Meinungsforschung hat ihre Tücken. Schon die Auswahl der Stichprobe: Läuft man Gefahr Effekte der Familienkommunikation mitzunehmen, also dass eher Frauen den Hörer abnehmen, die wiederum mehr nach links tendieren? Wie sieht es mit der wachsenden Zahl der Nur-Handy-Nutzer aus - eher jungen Menschen? Wie erreicht man sie? Seit kurzem fragt Infratest dimap 30 Prozent der Stichprobe über Mobilnummern ab - ein rechnerisch ermittelter Wert. Wann immer es einen störenden Einfluss gibt, haben die Demoskopen ihre ganz eigenen Formeln, um gegenzusteuern. Korrekturfaktoren, sagen sie. Methodische Unterschiede wirken sich auf die Ergebnisse von Allensbach, Infratest, Forsa und Co aus. Aber die Institute verweisen gerne darauf, dass sie sich im Großen und Ganzen auf derselben Linie bewegen und nahe an den Wahlergebnissen. Autor: Es gibt Ausrutscher. Die Bundestagswahl 2005 zum Beispiel. Die Prognose für die Union lag bei 40 - 43 Prozent. Am Wahltag waren es nur 35,2 Prozent der Stimmen. OT 11 Wolfgang Thierse: Dann tritt diese miese Stimmung auch ein, weil man immerfort liest, der SPD geht es ganz dreckig! Auch viele Bürger lesen ja, was die Meinungsumfragen hergeben. Sie lesen das und sehen das im Fernsehen und das beeinflusst ja auch ihre Stimmung. Dieser Schneeballeffekt, der da erzeugt wird durch Meinungsumfragen, der könnte doch nur verhindert werden, wenn die Wissenschaft bei sich bleibt und nur in größeren Abständen profunde Berichte vorlegt, die nicht geeignet sind Stimmung zu erzeugen. Autor: Es gibt diese Art der Berichte: Die wissenschaftliche Wahlforschung in Deutschland hat sich in den vergangenen 50 Jahren zu einer international geachteten Disziplin entwickelt. In Fachkreisen anerkannt, in ihren Methoden akribisch, geduldig und differenziert. Die Erkenntnisse schaffen es oft nicht über die Fachzirkel hinaus. Für die aktuelle Berichterstattung kommen sie zu spät, sind zu kryptisch abgefasst. Oder vielleicht passen sie einfach nicht in die gewohnte Erzählung von den Wählern und den Politikern. OT 12 Bernhard Weßels Trennen!/: Im Grundsatz ist das immer noch die zentrale Frage: Wer wählt wen warum? Natürlich! Und jetzt wird dem hinzugefügt: Unter welchen Bedingungen passiert das eigentlich? Autor: Der Wahlforscher Bernhard Weßels vom Wissenschaftszentrum Berlin. Er ist einer der Leiter der German Longitudinal Election Study (GLES), einer aufwändigen Langfriststudie, die sich über die Bundestagswahlen von 2009 bis 2017 und die Zeiten dazwischen erstreckt. OT 13 Bernhard Weßels(Forts.) : ...Es gibt ja einige Thesen in der Wahlforschung - Mythen, wie das mal von einem Buch betitelt worden ist. Das kann man dann untersuchen, wenn man ein große Forschungsdesigns hat, die im Zeitvergleich, nicht nur während der Zwischenzeit, sondern auch während des Wahlkampfs untersuchen können, wie sich Meinungsbildungsprozesse und Informationsverarbeitungsprozess auf Seiten der Bürger entwickeln. Autor: Wie wirkt sich die mediale Inszenierung von Politik und Politikern darauf aus? Den Boulevardmedien, aber auch den seriösen TV-Formaten und Zeitungen wird eine Tendenz zugesprochen, die Berichterstattung zu personalisieren. Bekommt der Wähler die wichtigen Inhalte überhaupt noch mit, oder geht es zunehmend um Haartönungen und dekolletierte Abendgarderobe? OT 14 TV-Clip Live aus Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Herausforderer Frank- Walter Steinmeier... Autor: 2009, das Kanzlerduell. Ein Medienevent mit 14 Millionen Zuschauern. Torsten Faas von der Universität Mannheim und sein Kollege Jürgen Maier von der Universität Konstanz erforschten es im Rahmen des Studienprojekts. Sie wollten wissen, ob solche TV-Duelle nur die unterhaltsame Show sind, als die sie häufig kommentiert werden, oder doch politisch aufklärende Formate. OT 15 TV-Clip Erklären Sie doch mal, warum Angela Merkel nach der Wahl nicht mehr Bundeskanzlerin sein soll? [Steinmeier] - weil es eine bessere Alternative gibt, nämlich mich (ähm)! Sprecherin: Vor dem Duell werden die Erwartungen ausgewählter Test-Zuschauer abgefragt. Besonders diejenigen, die sich sonst kaum um Politik kümmern, hoffen auf eine aufschlussreiche Diskussion. Material liefern die Spitzenpolitiker: Am Ende zählen Faas und Maier 485 inhaltliche Aussagen. Aber den Moderatoren ist es zu wenig Spektakel. OT 16 TV-Clip Aber Frau Merkel, das klingt mehr nach Duett als nach Duell. Sie sollen, eigentlich war die Frage, Herrn Steinmeier sagen, warum er der schlechtere Bundeskanzler wäre. [Merkel] Ich beantworte die Fragen so, wie ich mir das vorgenommen habe und ich glaube, die Definition was ein Duett und was ein Duell ist, überlassen wir mal den Zuschauerinnen und Zuschauern draußen. Sprecherin: Direkt nach der Sendung sind die Zuschauer zwar geringfügig enttäuscht, aber inzwischen viel besser darin, die Kandidaten bestimmten Positionen bei Sachthemen zuzuordnen. Doch dann... OT 17 TV-Clip: Guten Abend meine Damen und Herren, schön, dass Sie alle bei uns sind. Sprecherin: ...diskutieren im Anschluss bei Anne Will, Klaus Wowereit, Theaterregisseur Claus Peymann und Günther Jauch über das Duell. Ihr Urteil ist vernichtend. Autor: Claus Peymann will "ganz kleine Augen" bekommen haben und Wowereit unkt, wenn man's spannender haben wolle, darf man nicht vier Moderatoren engagieren. Sprecherin: Und schon nach der Talk-Show ist die Enttäuschung der Zuschauer erheblich stärker. Weniger gehen jetzt noch davon aus, dass Ihnen das Kanzlerduell bei der Wahlentscheidung geholfen, oder inhaltliche Klarheit gebracht hat. Faas und Maier bilanzieren: Zitator: Die Zuschauer haben objektiv einen Nutzen aus der Debatte gezogen - sie haben etwas gelernt. Die Zuschauer hatten hohe Erwartungen an das Duell - und diese wurden im Großen und Ganzen erfüllt. Ganz anders lag der Fall bei den Medien, die die Fernsehdebatte in Bausch und Bogen verurteilten - und auf diese Art und Weise die Eindrücke der Bürger verändert haben. Autor: Das bedeutet nicht, dass die Medienberichterstattung direkt auf die Wählermeinung über die Politiker durchschlägt. Aber es zeigt, dass bei der Meinungsbildung viel Interaktion im Spiel ist. Der Gesamteindruck zählt, das gilt auch in Hinblick auf die Personalisierung in der Berichterstattung. OT 18 Bernhard Weßels: Die Wahlen werden von Personen ausgefochten - insofern sind die Personen natürlich die wichtigen Subjekte auf die die Bürger da sehen, denn einen andere Äußerung von Parteien gibt es nicht, als die von Personen. Aber die Bürger wissen, dass sie Parteien wählen, das heißt sie haben zwei Maßstäbe - sie schauen sich die Politiker an und das, was sie im Aggregat als Partei wahrnehmen und auf das Wahlverhalten hat die Beurteilung der Partei nach wie vor einen - erheblich - größeren Einfluss als die Person. Also wenn man die These vertreten würde, Kanzlerkandidaten gewinnen Wahlen, so ist das nur bei ganz bestimmten Wahlen richtig. OT 19 Willy Brandt: Tragen Sie bitte, wenn es soweit ist, meinen Appell hinaus zu allen Wählern und vor allem den Wählerinnen: Die SPD stark machen, weil das gut für Deutschland ist. Sprecherin: Es muss zusammen passen, Partei und Personal, die Erwartungen und der Erfolg. Die Wähler sind ziemlich anspruchsvoll geworden. Sie haben die Wahl und gehen damit so frei um wie nie zuvor in der Bundesrepublik. Der Anteil der Wählerschaft, der eine Partei deswegen wählt, weil er aus einem bestimmten sozialen Milieu kommt - also etwa katholische Angestellte bei der Union, oder gewerkschaftlich organisierte Arbeiter bei der SPD - das waren zu Willy Brandts Zeit 40 Prozent. Heute sind es gerade noch 10 Prozent. Stammwähler, das war gestern. Die Wähler sind offen - innerhalb ideologischer Grenzen. Ein Grünen, Linken oder SPD Wähler läuft ganz selten zur Union oder FDP über - und umkehrt. Will er das Lager wirklich wechseln, braucht er erst mal Bedenkzeit und legt eine Wahlpause ein. OT 20 Bernhard Weßels: Wenn Sie sich aber ansehen, wie sich die Meinungsentwicklung, oder die Präferenzentwicklung inklusive dessen, was im Wahlkampf noch als Wechsel dazukommt, entwickelt, dann ist die Stabilität der Wahlpräferenzen runter auf 40 Prozent, das heißt 60 Prozent wechseln mit ihren Präferenzen zwischen zwei Wahlen. Autor: 15 Prozent entscheiden sich erst in den letzten Tagen vor der Wahl. Davor graut den Politiker: Der Wähler flatterhaft, unberechenbar, labil - vielleicht weiß er gar nicht was er tut und folgt nur den geschmeidigsten Parolen. Aber Wahlforscher Weßels sieht in seinen Daten eher das Gegenteil. Musik Ende OT 21 Bernhard Weßels: Die Befunde, die wir haben, sprechen stark dafür, dass der Anteil der sozusagen vernünftigen Wähler, die sich ankucken, welches politische Angebot da existiert, welche Leistung ist erbracht worden, welche Leistung wird versprochen und womit kann man da eigentlich rechnen, was sie tatsächlich realisieren können, dass dieser Anteil stark zugenommen hat. Da gibt es mehrere Hinweise darauf. Das läuft zum einen unter dem Stichwort Performanz-wählen/leistungsorientiertes Wählen und zum anderen unter strategisches Wählen und in beiden Bereichen finden wir Hinweise darauf, dass diese Anteile stark zugenommen haben. Es ist nicht nur eine willkürliche Fluktuation der Wähler, die da eingetreten ist, sondern die hat ganz gute Gründe. OT 22 Christian Renatus: Natürlich ist jede Woche für eine Partei interessant, wenn ein Forschungsinstitut die Sonntagsfrage stellt und ich kann ihnen auch aus ganz praktischem Leben sagen: Es gibt keinen Verantwortungsträger in der Politik, der sich dafür nicht interessiert, weil das schon auch ein Seismograph ist, dafür, wie kommt unsere Politik an. Autor: Christian Renatus leitet als Geschäftsführer der Universum GmbH, die Wahlkampagnen der FDP. Die Parteien interessieren die Beweggründe der Wähler ganz besonders. Die Hoffnung: Wer weiß warum der Wähler sich für etwas entscheidet, kann an diesen Stellschrauben drehen. Renatus stützt sich neben den öffentlich zirkulierenden Umfragen und Forschungsergebnissen auf parteieigene Studien. OT 23 Christian Renatus: Wir wissen von unseren Wählern, dass sie die Freiheit der Persönlichkeit in den Mittelpunkt ihres Denkens stellen, aber auch ihrer Wahlentscheidung. Und wir wissen, dass unsere Wähler sehr stark wirtschaftlich ausgerichtet sind. Autor: Der Kampagnenleiter kennt ihre Haushaltgrößen, Beschäftigungsarten und Einkommen. Alle Bundestags-Parteien machen detaillierte Erhebungen. Sie wissen, was ihre jeweiligen Wähler wollen und was die eher verschreckt. Nach jeder Maßnahme, sei es ein neues Parteiprogramm, oder eine Kandidatenkür, erfahren die Parteien per Umfrage, wie sie angekommen ist. Ein Rückkanal, der Politik und Bürger enger zusammenbringt, meint Christian Renatus. OT 24 Christian Renatus: Und natürlich werten wir das auch aus und versuchen gegenzusteuern wenn es einen negativen Trend gibt oder zu verstärken wenn der Trend positiv ist. . Das ist eine ganz wichtige Frage und die will auch keine Partei missen. Sooft über Umfragen geschimpft, wird - das ist ganz wichtig. OT 25 Wolfgang Thierse: Wenn man Politik nur darauf gründet, wie die derzeitige Stimmungslage ist, dann organisiert man Stagnation. Reformen gibt es niemals, wenn man nur auf die Stimmungslage und Wünsche in der Bevölkerung schaut. Denn Reformen heißen Veränderung, Veränderungen sind mit Unsicherheiten verbunden, mit Schmerzen verbunden und dafür wird es nie eine große Zustimmmung geben. Davon muss man Bürger erst überzeugen. Sprecherin: Der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse macht keinen Hehl aus seiner Skepsis. Unter den Politikern, fürchtet er, wachse der Anteil der Pragmatiker, die glatt und berechnend alles vermeiden, was ihre Werte drücken könnte. Er selbst verlässt sich nicht auf Umfragen, wenn es um das Volk geht. OT 26 Wolfgang Thierse: Als einzelner Abgeordneter habe ich ja schließlich Kontakt zu den Menschen. Ich lebe inmitten meines Wahlkreises, ich habe zufällige Begegnungen, wo Menschen mir was sagen. Ich rede mit Schülern ich rede mit Lehrern, mache Sprechstunden - weil das ja Bürger kommen mit ihren Anliegen, ihren Sorgen, möglicherweise mit ihren Beschimpfungen. OT 27 Nikolaus Blome: Wahlprognosen haben ja schon immer danebengelegen - das ist sicherlich nicht entscheidend schlimmer geworden... Sprecherin: Nikolaus Blome, stellvertretender Chefredakteur der Bild-Zeitung. Er ist als Leiter des Parlamentsbüros nahe dran an den Bundespolitikern. OT 28 Nikolaus Blome: ...Aber womit sich die Institute, die sich damit befassen, zunehmend Schwierigkeiten bekommen ist das launische, das Unberechenbare, das volatile bei den Wählern, bei der Meinungsbildung. Insofern glaube ich, dass sich Politiker, denen das möglich ist, sich inzwischen wieder mehr auf den persönlichen Kontakt verlassen - der natürlich eine völlig willkürliche Auswahl ist. Wer weiß schon, wen sie treffen, beim nächsten Kirmesvolksfest im Wahlkreis. Und trotzdem verlassen sich die Politiker wieder weit mehr auf ihren Bauch, als auf die Zahlen. Sprecherin: Blome ist überzeugt davon, dass sich die maßgeblichen Politiker in Deutschland nicht von Umfragen von ihrem Weg abbringen lassen. Er nennt, die Hartz-IV- Reformen, den Afghanistaneinsatz und die Euro-Einführung - große Projekte, die auch gegen die Stimmung in der Bevölkerung entschieden worden sind. OT 29 Nikolaus Blome: Ich glaube aber wohl, dass sich, wenn sich durch Wählerforschung, oder Gesellschaftsforschung ergibt, dass eine wachsenden Mehrheit vor zehn oder 15 Jahren über ein gesellschaftspolitisches Thema wie zum Beispiel die Homoehe gedacht hat, als sie das heute tut, alle Parteien gut daran tun, ihre eigene Programmatik nochmal zu überprüfen, ob die noch zeitgemäß ist, ob sie noch mit dem breiten gesellschaftlichen Unterstrom, korrespondiert. OT 30 Angela Merkel (Regierungserklärung): So sehr ich mich im Herbst letzten Jahres, im Rahmen unseres umfassenden Energiekonzepts auch für die Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke eingesetzt habe, so unmissverständlich stelle ich heute vor diesem Haus fest, Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert. OT 31 Nikolaus Blome: Da war für die Bundeskanzlerin oder die Regierungsparteien klar, dass gegen die Wucht der Bilder in einem Industriestaat man in Deutschland eine sowieso kritisch eingestellte Öffentlichkeit endgültig verloren hat für die Atomkraft. Können Sie sagen, gut war die Kanzlerin feige, ist sie eingeknickt vor Volkes Meinung? Da können Sie aber genauso gut den Mond anbellen. Wenn es eine so breite Mehrheit gegen etwas gibt, dann kann das keine Regierung auf Dauer durchhalten. Und vielleicht ist es auch ganz gut, wenn sich das Volk dann durchsetzt. Autor: Durch die Arbeit der Meinungsforscher setzt sich das Volk nicht mehr nur am Wahltag durch. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in den acht Jahren ihrer Regierung wie kaum ein anderer Partei- und Regierungschef vorher gezeigt, dass sie bereit ist, auf die Stimmung im Land einzugehen. Ob bei bedrängten Ministern oder Grundüberzeugungen ihrer Partei CDU. OT 32 Clips Angela Merkel: Sehr schweren Herzens nur habe ich den Rücktritt angenommen, weil mit Annette Schavan eine der anerkanntesten und profiliertesten Forschungs- und Bildungspolitikerinnen unseres Landes die Bundesregierung verlässt. (Kameraklicken) Karl-Theodor zu Guttenberg: Grüß Gott meine Damen und Herren, ich habe in einem sehr freundschaftlichen Gespräch die Bundeskanzlerin davon informiert, dass ich mich von meinen politischen Ämtern zurückziehen werde. Thomas de Maizière vor dem Bundestag: Eine Wehrpflichtarmee lässt sich erstens sicherheitspolitisch nicht mehr begründen, sie ist zweitens militärisch nicht mehr erforderlich. Autor: Je nach Sicht erscheinen Politiker als Getriebene von Umfragen, oder eben als vernünftige Pragmatiker, die versuchen, möglichst gut umzusetzen, was die die Wähler wollen. Bürger reagieren schneller als früher. Das bringt eine gewisse Hektik in das politische Leben. OT 33 Bernhard Weßels: Man weiß nicht so ganz genau wo ist die Henne und wo ist das Ei? Wer treibt jetzt die Bewegung an? [...] OT 34 Voxpop (F1): Na ich denke es ist eine Herausforderung, denn die Erwartung darauf zu reagieren. Also wenn ich damit in den Medien ständig konfrontiert werde und ständig aufgefordert werde, darauf zu reagieren, bin ich natürlich unter einem gewissen Zugzwang. (M1) Aber da ist Kanzlerin Merkel ein Sonderfall, weil die ist eigentlich eher SPD, weil die alle Themen von der SPD nimmt, aber es kann eben. Aber es ist bei Kanzlerin Merkel gut zu sehen, dass es eine funktionierende Demokratie ist: Wir wollen was als Bevölkerung. Wir bringen das hoch, durch Meinungsumfragen, durch Demonstrationen und sie setzt das um, egal ob das ihre Richtung ist oder nicht und das kann man auch als funktionierende Demokratie sehen. (F1) Na, da muss jetzt nicht wöchentlich dem Barometer hinterhergerannt werden. (M2) Ja so kommt das oft bei mir an, dass es um Marketingstrategien geht, um sich zu verkaufen. (M3) Für die Politiker ist es ein wichtiges Instrument, solche Umfragen, aber ich denke, dass ein Gespräch mit den Politikern viel mehr Bedeutung haben könnte. Sprecherin: Die Bürger merken, wie ihre Erforschung auf die Politik wirkt. Doch auch sie selbst werden dadurch beeinflusst. Keiner entscheidet schließlich für sich allein. Beständig werden Ansichten und Argumente im sozialen Kontakt geprüft und abgeglichen. So entsteht Meinung. Und natürlich versucht jeder abzuschätzen, welches Gewicht die eigene Stimme am entscheidenden Wahltag hat. Lohnt es sich, eine neue Protestpartei zu wählen, die es vielleicht gar nicht ins Parlament schafft? Nikolaus Blome, dessen Bild-Zeitung gerne Umfragen verwendet, um die Berichterstattung zu unterfüttern, fragt sich, ob das im engeren Umfeld von Wahlen sinnvoll ist. Sollte es nicht eher um die Sache selbst gehen, die Parteiprogramme, oder die Glaubwürdigkeit der Kandidaten? OT 35 Nikolaus Blome: Das Institut liefert ja den Hinweis mit, dass es eine Schwankungsbreite gibt, das ist eine Ungenauigkeit des Instruments, um die jeder wissen kann, der sich dafür interessiert. Und trotzdem suggerieren Zahlen hinterm Komma und noch einer weiteren Zahl hinterm Komma, eine Genauigkeit, die einen realen politischen Einfluss haben könnte. Ob man den auch noch in der letzten Woche vor der Wahl in das große Gemengelage einstreuen muss, von Einflüssen, die dann auf die Leute wirken, das weiß ich eben nicht genau. Sprecherin: Er persönlich findet, dass man, in der Zeit kurz vor der Wahl auf Umfragen verzichten könnte. Gesetzt den Fall, die anderen machen auch mit. Bei den öffentlich-rechtlichen Sendern galt das bisher. In diesem Jahr wird das ZDF drei Tage vor der Wahl ein "Politbarometer" liefern. Wolfgang Thierse fordert Zurückhaltung. OT 36 Wolfgang Thierse: Ich wäre dafür, mindestens vier Wochen vor der Wahl keine Meinungsumfragen zu veröffentlichen und auch keinerlei Meinungsumfragen mehr zuzulassen, damit genau das nicht passiert, dass die Meinungsinstitute die Stimmung erzeugen, von der sie behaupten, sie würden sie nur widerspiegeln. Nein: Die Institute machen Politik bis kurz vor der Wahl, auch wenn sie es immer bestreiten. Autor: Es kommt tatsächlich immer wieder vor, dass in den Medien Umfragezahlen aus dem Grenzbereich des Seriösen zitiert werden. So wie unlängst, als das Handelsblatt der konservativen Randpartei Alternative für Deutschland irgendwie 19 Prozent zutraute. Durchaus möglich ist der Fall, dass einer Partei, die reell knapp über die Fünf-Prozent-Hürde kommen würde, aufgrund der statistischen Schwankung nur vier Prozent prognostiziert werden und sich die Wähler entsprechend verhalten. Der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer von der Freien Universität Berlin, wägt ab. OT 37 Oskar Niedermayer: Wenn man sagt, man möchte ganz kurz vor der Wahl die Wähler nicht mehr über Umfrageergebnisse beeinflussen, andererseits enthält man ihnen auch Informationen vor. Und wenn die Wähler das nicht wissen und nicht mitbekommen, dann entscheiden sie sich möglicherweise in einer Weise, die sie nachher bereuen werden. OT 38 Pressestatements Niedersachsenwahl: (Gabriel) Nach zehn Jahren wir in Niedersachsen wieder ein SPD-Ministerpräsident das Land regieren. (Rösler) Es ist ein großer Tag für die FDP in Niedersachsen, aber auch ein großer Tag für die FDP in ganz Deutschland. (McAllister) und deshalb ist es so bitter, auf den letzten Millimetern dieses Rennen dann doch noch zu verlieren. OT 39 Oskar Niedermayer: Zwei Wochen vor der Wahl sahen die Umfragen die FDP nicht im Landtag, nämlich mit vier Prozent oder so. Und kurz vor der Wahl waren sie bei sieben, acht Prozent. Die Umfragen wurden nicht veröffentlicht. Und deswegen gingen die Wähler in die Wahl mit einer falschen Information, nämlich, dass die FDP höchstwahrscheinlich nicht schafft in den Landtag zu kommen und deshalb haben, sich sehr viele, eigentlich CDU-nahe Wähler, entschlossen diesmal aus strategischen Gründen FDP zu wählen. Viele hätten das nicht gemacht, wenn Sie gewusst hätten, die FDP ist sowieso schon im Landtag. Sprecherin: Am Ende bildet Rotgrün die Landesregierung in Niedersachsen mit einer Stimme Mehrheit. Autor: Je mehr die Wähler wissen, desto besser, meint Niedermayer. Das mit den statistischen Schwankungen, sollten sie verstehen können. Nach allem, was die Wahlforschung zutage gefördert hat, tendieren die Wähler schließlich dazu, ganz verantwortungsvoll mit den Informationen umgehen. OT 40 Oskar Niedermayer: Wenn man von einem mündigen Wähler ausgeht, dann sollte dieser mündige Wähler eben alle Informationen haben, die man ihm prinzipiell zur Verfügung stellen kann, um dann aufgrund dieser Information schließlich auch eine Wahlentscheidung treffen zu können. Sprecher vom Dienst: Dem Wähler auf der Spur Wie Wahlforschung die Politik beeinflusst OT 41 Melanie Sutsch: Dürften wir Sie noch einmal anrufen, falls wir noch Fragen zu anderen oder ähnlichen Themen haben? Geht in Ordnung. Dann bedanke ich mich noch recht schön und wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. OT 42 Wolfgang Thierse: Autor: Würden Sie auch so darüber sprechen, wenn die SPD immer fünf Prozent besser dastünde? Sprecher vom Dienst: Ein Feature von Heiner Kiesel OT 42 Wolfgang Thierse: Natürlich geht es einem besser, wenn die eigene Partei bei 40 Prozent liegt und die gegnerischen Parteien bei 25 Prozent. Das ist dann eine gute Stimmung. Sprecher vom Dienst: Es sprachen: Marina Behnke und der Autor. Ton: Thomas Monnerjahn Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 3