DeutschlandRadio Berlin Zeitfragen - Das Politische Feature Redaktion: Constanze Lehmann 2. Mai 2011 Auf Sand gebaut ? Die Schattenseiten des Aufschwungs Von Ruth Jung O-Ton 1 Christoph Butterwegge Dass nämlich die einen, bildlich gesprochen, wie in einem Paternoster nach oben fahren, wohingegen die anderen gleichzeitig nach unten fahren, das bestätigt sich. Die Gesellschaft fällt zunehmend auseinander. Ich bin der festen Überzeugung, dass auch in diesem Aufschwung das Problem darin besteht, dass nicht gleichmäßig alle Gesellschaftsmitglieder wie in einem Aufzug nach oben fahren, sondern eben dieser Paternostereffekt wirkt. Sprecherin: Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler und Armutsforscher Ansage: Auf Sand gebaut ? Die Schattenseiten des Aufschwungs Ein Feature von Ruth Jung Atmo - Markt unter Sprecherin: Wochenmarkt auf dem Friedberger Platz im Norden der Finanzmetropole Frankfurt am Main. Ein beliebter Treffpunkt. Überhaupt ist das Nordend zu einem begehrten Stadtteil geworden. Früher waren die Mieten hier erschwinglich, das Viertel sozial gemischt. Damit ist es vorbei. Atmo hochziehen Auf dem Markt gibt es ein großes Bioangebot, das viele junge Mütter anzieht. Ausgestattet mit den neuesten Hightech-Kinderwagen schlendern sie über den Platz. Am Weinprobierstand und in den umliegenden angesagten Cafés genießen lässig-schicke Menschen die Frühlingssonne. O-Ton 2 Rosemarie Fischer Es ist ein vornehmer Stadtteil geworden. Überall an den Seitenstraßen gibt es Residenzen, sie heißen auch so Sprecherin: Rosemarie Fischer ist 80 Jahre alt und wohnt seit 22 Jahren im Nordend Weiter O-Ton Rosemarie Fischer Gegenüber von meiner Tochter ist eine Riesenresidenz entstanden in der Eckenheimer Landstraße mit eingebautem Kindergarten für Merz-Angehörige von der Firma Merz, Eigentumswohnungen. Es ist in der Keplerstraße ne Kepler- Residenz mit Eigentumswohnungen und sie sind alle bezogen. Sprecherin: Seit einem Jahr ist Rosemarie Fischer Witwe und bewohnt nun die Dreizimmer- Altbauwohnung mit ihrem behinderten Sohn und dem ältesten Enkel, der noch in der Ausbildung ist. O-Ton 3 Rosemarie Fischer Das ist mein großes Glück, dass das Frankfurter Bad da ist, sonst könnte ich die Wohnung nicht bezahlen, weil sie weit über 1000 Euro kostet und er Staffelmiete macht unser Hauswirt. Also, das hat sich stark verändert. Ich möchte gern hierbleiben. Dieser Stadtteil ist für unseren behinderten Sohn elementar wichtig, weil er hier an einer belebten Straße wohnt. Er ist ein visueller Mensch, er muss viel gucken, er kann weder lesen, noch schreiben, noch rechnen. Also, er ist auch auf meine Fürsorge angewiesen und ich brauche gute Infrastruktur, ich brauche Lebendigkeit. Sprecherin: Ein Frankfurter Bad beschränkt sich auf Waschbecken und Badewanne in einer Zimmernische. Trotz dieser Einschränkung ist die Kaltmiete mit 980 Euro für rund 90 Quadratmeter sehr hoch. Damit steht das Nordend für eine Entwicklung, wie sie auch in anderen finanzstarken Großstädten zu beobachten ist: Geringverdiener und Rentner werden von einer zahlungskräftigen Schicht verdrängt. O-Ton 4 Rosemarie Fischer Ich hab jetzt heute mit 80 Jahren 594 Euro Rente, obwohl ich nicht nur drei Kinder, einen Behinderten und drei Enkelkinder voll erzogen hab. Und nun hab ich eben wieder mit achtzig Jahren drei Generationen noch zu versorgen und von Witwentum kann keine Rede sein. Ich hab einen vollen Haushalt zu führen und muss noch zusätzlich Geld verdienen. Sprecherin: Zur eigenen Rente kommt eine bescheidene Witwenrente, die nicht ausreicht, um die Miete und ständig steigende Energie- und Lebenshaltungskosten zu bestreiten. Damit sie über die Runden kommt, strickt Rosemarie Fischer Mützen und Schals, die sie neben Büchern und Kleinkram aus Haushaltsauflösungen auf dem Flohmarkt verkauft. O-Ton 5 Rosemarie Fischer Es geht hier immer um ein paar Mark bei mir, deswegen auch der Flohmarkt, es geht immer um ein paar Mark, damit ich einigermaßen das Niveau haben kann Sprecherin: Einigermaßen das Niveau halten zu können, für die 80-Jährige heißt das vor allem, die Wohnung behalten zu können. Auch in ihrem Wohnhaus hat sich die soziale Zusammensetzung verändert: O-Ton 6 Rosemarie Fischer Wir haben ein ganz altes Auto, wir haben ein Flohmarktauto und kaum sind hier oben zwei Doppelverdiener eingezogen, stehen hinten wunderschöne neue Autos, manchmal zwei, und dann machen wir Riesendecken in unser Auto über unsere Ware, damit nicht eventuell der Zorn über so ein altes und vielleicht noch chaotisches Flohmarktauto auffällt und ich bin außerordentlich hilfsbereit und liebenswürdig und mein Sohn auch. Ich verhalt mich auch außerordentlich sensibel, um nicht aufzufallen durch irgendwelche Armutssachen, ja, also das Auto ist ein Kriterium, ich muss es vorm Haus haben, damit ich's laden kann und entladen kann. Die Klamotten sind nicht so wichtig, da kommen wir auch nicht mit den anderen mit, aber das fällt nicht so auf, aber die Autos, die sind nicht alt, alle nicht Atmo - Paternoster (steht im V-Speicher Geräuscharchiv DLR Berlin für Produktion Zeitfragen, Frau Lehmann) Sprecherin: Im November 2010 verkündete die Bundesregierung die Wachstumsrate für das zu Ende gehende Jahr: mit 3,6 Prozent lag sie deutlich über dem erwarteten Ergebnis. Wirtschaftsminister Rainer Brüderle, FDP, sah das Ende der Finanzkrise gekommen. O-Ton 7 Wirtschaftsminister Rainer Brüderle, FDP, Stichwort Aufschwung XXL Dieser Aufschwung ist noch kein Wirtschaftswunder, aber es ist ein Aufschwung XL in Richtung XXL. Sprecherin: ... so der Minister. Mit seiner hemdsärmeligen Wortschöpfung von einem "Aufschwung" in Kleidergröße extra large können viele Menschen nichts anfangen. Ihre Lebenswirklichkeit sieht anders aus, sagt Christoph Butterwegge O-Ton 8 Butterwegge In der Zeit, in der Wirtschaftsminister Brüderle von einem Aufschwung XXL gesprochen hat, also im letzten Jahr, sind die Einkommen aus Vermögen und Unternehmertätigkeit um 13,2 Prozent gestiegen und die Einkommen aus Arbeitnehmertätigkeit um 2,6 Prozent. Das heißt fünf Mal höher sind die Einkommen derjenigen gestiegen, die über Kapitaleigentum verfügen, die Aktien besitzen oder die sogar selber als Unternehmer tätig sind. Sprecherin: Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Köln. Sein Buch Armut in einem reichen Land ist ein Standardwerk, in dem er beschreibt, wie weit sich die Schere zwischen Arm und Reich mittlerweile geöffnet hat O-Ton 9 Butterwegge Und das zeigt deutlich, dass wir einen gespaltenen Aufschwung haben, diejenigen, die eben Kapitaleigentum besitzen, gehören zu den Gewinnern und die vielen Millionen Menschen, die eher auf der Schattenseite stehen, die entweder keine Arbeit haben oder eine sehr schlecht bezahlte, die gehören zu den Verlierern. Man kann heute nicht mehr davon ausgehen, dass es Randgruppen sind, wie das früher der Fall war. Nämlich dass es hauptsächlich Obdachlose traf, vielleicht noch ein paar Alte, meist Rentnerinnen, sondern die Armut hat sich in die Mitte der Gesellschaft vorgeschoben. Atmo - Paternoster O-Ton 10 Heiner Flassbeck Man guckt nur auf ein paar Zahlen, was dahintersteht, ist ja eine ganz andere Frage. Wir haben ja auch eine dramatische Verarmung in erheblichen Teilen unserer Gesellschaft. Sprecherin: Heiner Flassbeck, Ökonom bei den Vereinten Nationen in Genf und Professor für Wirtschaftswissenschaft in Hamburg Weiter O-Ton Flassbeck Man muss sich ja da nur ein bisschen spezieller umschauen, dann sieht man, dass es jedenfalls eine relative Verarmung gibt. Viele Leute sagen ja, Armut zählt immer nur absolut, was in meinen Augen ein unglaublicher Zynismus ist, denn in einem reichen Land zählt Armut natürlich relativ. Es geht immer darum, wie ich dastehe im Vergleich zu denen da oben und nicht darum, ob ich verhungere oder nicht. Das ist eine unglaublich zynische Diskussion, die da teilweise geführt wird. Musikakzent - Toncollage O-Ton 11 Heiner Flassbeck In allen Casinos wird wieder gespielt. Es spielen die gleichen Leute, die Banken spielen wieder und unsere Investmentbanker sind die großen Könige, bis die nächste Blase platzt. Ich sag immer, wir brauchen die zweite Krise, nach der ersten hat es offensichtlich niemand verstanden, was passiert ist. Sprecherin: Heiner Flassbeck plädiert für ein radikales wirtschaftspolitisches Umdenken. Die wahren Kosten der Finanzkrise würden verschwiegen, ihre Ursachen nicht analysiert, meint der frühere Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. In seinem Buch Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts entwirft er das Modell einer vernünftig gestalteten, nachhaltigen sozialen Marktwirtschaft. Gegenwärtig nämlich profitierten nur wenige vom Aufschwung. O-Ton 12 Flassbeck Zunächst profitiert vor allem die Exportindustrie. In Deutschland profitiert immer die Exportindustrie und die Exportindustrie ist in ihrer Lobbyarbeit unglaublich erfolgreich, die drängen auch sogar ihre Binnenmarktkollegen zur Seite und sorgen dafür, dass es nur exportgetriebenes Wachstum gibt, woran sie sich natürlich dumm und dümmlich verdienen im Moment. Die Gewinne sind ja schon wieder exorbitant gestiegen dieser Firmen. Aber wenn man sich anschaut zum Beispiel im deutschen Mittelstand sind auch viele Firmen verschwunden, die für den Binnenmarkt produzieren sollten, die darunter leiden, dass nichts mehr konsumiert wird. Sprecherin: Die Zahl der Firmenpleiten ist besonders im deutschen Mittelstand gestiegen. Laut einer Insolvenz-Studie des Unternehmensberaters Roland Berger vom März 2011 kommt der Aufschwung für den deutschen Mittelstand zu spät. Auch die Zahl der Verbraucherinsolvenzen ist auf einem Rekordhoch: 6,2 Millionen Deutsche gelten als überschuldet. O-Ton 13 Rosemarie Fischer Der Konsum ist bei uns so, dass wir sogar aufm Markt bei unserem Ökobauern, der scheidet die Ware aus, die nicht mehr einwandfrei ist, aber nur vom Äußeren her und da kriege ich immer in einem Kasten gesagt, da hinten kannst du hingehen, da gibt's heute Fenchel, da gibt's heute Porree, was weiß ich, Blumenkohl und was da ist und das nehm' ich. Ich gucke unglaublich darauf, preiswert einzukaufen, wir laufen auch ziemlich weit rum, um Gutes und Preiswertes zu kriegen. Wir essen auch alle Mahlzeiten zuhause, das gibt's überhaupt gar nicht, dass wir außerhalb essen, nie. Es gibt gar keinen Alkohol bei uns, keiner raucht. Sprecherin: Das Geldvermögen der reichsten Deutschen hat sich seit Mitte 2010 stark vermehrt: Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Zitatsprecher: "An den Vermögenden ist die Finanzkrise in überraschend kurzer Zeit ohne bleibende Schäden vorübergegangen" Sprecherin: ... so der Leiter der Studie, die negativen Folgen der weltweiten Finanzkrise seien bewältigt - jedenfalls für die Reichen. Für die Vermögenden sind die Prognosen hervorragend, bestätigt Christoph Butterwegge O-Ton 14 Chistoph Butterwegge Es wird in diesem Jahr eine Explosion der Dividendenausschüttung geben. Alle großen Konzerne, die im Dax vertreten sind zahlen eine höhere Dividende aus als in den letzten Jahren und das bedeutet dann, das ungefähr 26 Milliarden Euro alleine an solchen Zahlungen an natürlich ohnehin sehr einkommensstarke Gesellschaftsmitglieder fallen, wohingegen auf der anderen Seite bei den Hartz IV- Beziehern, bei denjenigen, die zum Beispiel als Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter eher im Geringverdienerbereich sind, sehr wenig hinzukommt. Sprecherin: Ein Wirtschaftswachstum, das hauptsächlich auf den Export setzt, eine mit 1,7 Prozent deutlich höhere Preissteigerung als 2010, explodierende Leiharbeit und prekäre Beschäftigungen, kritische Ökonomen halten diesen Aufschwung für auf Sand gebaut. Atmo - Paternoster O-Ton 15 Ralf, Leiharbeiter Ich komme aus dem Südbadener Raum, also aus dem reichsten Bundesland, wenn ich richtig informiert bin. Also es war nicht schwer, nen Job zu finden. Also Jobs gibt's dort tatsächlich, allerdings fast nur noch als Zeitarbeiter oder Leiharbeiter. Sprecherin: Ralf ist Mitte Vierzig und Leiharbeiter bei einem Elektronikversand im Badischen, wo er Geräte auf ihre Funktion testet, bevor sie in den Versand gehen. An seinem Arbeitsplatz war ein Gespräch nicht möglich. Weiter O-Ton Ralf Wenn man Annoncen guckt oder auch im Arbeitsamt die Aushänge sieht, gerade wenn es um ungelernte Tätigkeiten geht, ungelernte Tätigkeiten fast komplett, mit einer Ausnahme, die ich in einem Jahr Gucken gefunden hab, war alles nur Zeitarbeit. Also auch Firmen, die sonst normal einstellen, suchen nur noch über Zeitarbeit. Und das ist jetzt nicht etwa, dass konjunkturelle Schwankungen damit ausgeglichen oder Spitzenlasten abgedeckt werden, nein, ich arbeite selber jetzt ein Jahr in der gleichen Firma, meine Kollegen mindestens ein Jahr bis zwei und länger, dann wird man, wenn man Glück hat, übernommen für ein Jahr befristet mit einem halben Jahr Probezeit wieder, auch wenn man zwei Jahre die gleiche Tätigkeit gemacht hat, dann noch mal ein Jahr befristet, und dann gibt's eine Festanstellung, wenn man schön brav und artig war. Denn das droht natürlich immer, man ist immer hire and fire, leicht raus werfbar. Sprecherin: Mit dem Aufschwung kam das "Jobwunder", heißt es. Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit verzeichnet im Frühjahr 2011 mit rund 3,2 Millionen Arbeitslosen den niedrigsten Stand seit zwanzig Jahren. Wie diese Zahlen zustande kommen, welche Beschäftigungsverhältnisse sich dahinter verbergen, darüber informiert die Statistik nicht. O-Ton 16 Heiner Flassbeck Also den Arbeitsmarktstatistiken in Deutschland kann man nicht mehr glauben. Das heißt ja nicht, dass wir nun grandiose Beschäftigungsentwicklung gehabt hätten. Im Gegenteil, was wir sehen, ist, dass wir eine massive Zunahme von Teilzeitbeschäftigung haben, von schlecht beschäftigten und schlecht bezahlten Arbeitsplätzen, und das ist keineswegs das, was wir brauchen. O-Ton 17 Stefan Körzell Vieles, was an Vermittlungsgeschäft läuft bei der Bundesagentur für Arbeit ist ausschließlich Vermittlung hinein in Leiharbeit. Sprecherin: Stefan Körzell, Vorsitzender des DGB Hessen-Thüringen. O-Ton 18 Ralf Fünfunddreißig Stundenwoche, das ist das, was man bezahlt bekommt als Zeitarbeiter, nicht das, was man arbeitet Ja, es ist nicht befriedigend, immer mehr zu arbeiten ohne direkt Lohn zu kriegen. Das ist das Plusstundenkonto, so heißt das bei Zeitarbeitsfirmen, man arbeitet also egal wie viel im Monat, kriegt aber nur 35 Stundenwoche ausbezahlt, der Rest geht auf ein Plusstundenkonto. Sprecherin: Eine gängige Praxis bei Zeitarbeitsfirmen. Vertraglich vereinbart ist eine 35- Stundenwoche, Ralf arbeitet in der Regel jedoch 40 bis 45 Stunden, auch samstags. Ausgezahlt wird das angesammelte Guthaben normalerweise dann, wenn der Vertrag mit der Zeitarbeitsfirma aufgelöst wird. O-Ton 19 Ralf Für mich als Arbeiter heißt das eben, ich bekomme nichts für meine Zeitleistung, die ich erbringe, ich arbeite samstags, kriege ich erstmal nichts. Man kriegt es, irgendwann, aber es ist unbefriedigend, dass man nicht relativ zeitnah was dafür bekommt, das wäre psychologisch wertvoller, find' ich ne ungeschickte Sache, nur um ein bisschen Profit aus Zinsen zu schlagen, denn um etwas anderes kann es sich nicht handeln, meiner Meinung nach. 980 Euro netto verdien' ich. Dazu muss man sagen, da sind enthalten sechs Euro am Tag sogenannter Verpflegungsmehraufwand, das ist aber nicht verpflichtend, diese sechs Euro kann mir jeder Zeit entzogen werden, das ist auch sozusagen wieder ein Machtinstrument, wenn ich nicht brav und artig bin, steht nicht im Vertrag, das machen die, aber es ist nicht rechtlich bindend. Sprecherin: Ralf wohnt mit seiner Freundin zusammen, teilt sich Miete und Lebenshaltungskosten. Viele Leiharbeiter sind zusätzlich auf Hartz IV angewiesen. Trotz konjunktureller Belebung hat sich die Zahl der Leiharbeitskräfte, die staatliche Hilfsleistungen beanspruchen, rasant erhöht, während das Geschäft der Verleihbranche so gut läuft wie nie zuvor. Marktführer Randstad verzeichnete 2010 ein Umsatzplus im zweistelligen Bereich. In keinem anderen Industrieland gab es einen so hohen Reallohnverlust wie in Deutschland, sagen Ökonomen: zwischen 2004 und 2008 sanken die Reallöhne um durchschnittlich minus 0,8 Prozent pro Jahr, während die Lebenshaltungskosten weiter gestiegen sind. Zitator: "Armut trotz Arbeit ist hier an der Tagesordnung, selbst wenn sich Hartz IV eventuell durch einen Zweitjob am Abend oder durch eine Erwerbstätigkeit anderer Familienangehöriger verhindern lässt". Sprecherin: ... heißt es in einer Untersuchung zur Leiharbeit, die der Deutsche Gewerkschaftsbund im Februar 2011 vorstellte. Über Hartz IV subventioniere der Staat die Verleihbranche wie keine andere und für das dort übliche Lohndumping werden die Steuerzahler zur Kasse gebeten. Ein drängendes Problem, das auch die Gewerkschaften lange ignorierten. O-Ton 20 Stefan Körzell, DGB Leiharbeit war früher auch eine sogenannte Schmuddelecke, aber wir haben es geschafft, das Thema doch in der Gesellschaft ein Stück weit zu verankern, ein Problembewusstsein dafür zu schaffen, auch deutlich zu machen, dass die Kolleginnen und Kollegen, die dort arbeiten, nicht nur prekär arbeiten, sondern auch zu sehr schlechten Verdiensten. Sprecherin: ... sagt Stefan Körzell vom DGB Hessen-Thüringen O-Ton 21 Stefan Körzell Festzustellen ist zunächst, dass die Leiharbeit explodiert. Wir haben Zahlen, die liegen vor denen der Krise, in der Krise ist ja sofort abgebaut worden und jetzt explodiert die Leiharbeit, weil Regelbeschäftigung und Festbeschäftigung, die auch abgebaut worden ist in der Krise, wird nicht ersetzt mit festen Jobs, sondern sie wird ersetzt jetzt durch Leiharbeit. Dort hat ein Austausch stattgefunden und es ist richtig: wir haben fast eine Million Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeiter und jeder Achte ist darauf angewiesen, dass ihn der Staat stützt bei seinem Verdienst, weil der Verdienst in der Firma selbst nicht ausreichend ist, um sein Leben selbst zu fristen O-Ton 22 Ralf Fast alle, die ich kenne sind in der sogenannten Entgeltgruppe Eins, das bedeutet momentan 7,60 Euro, ab 1. Mai 7,80 Euro, in Westdeutschland, im Osten weniger. Wir sind alle als Hilfsarbeiter eingestellt, egal, was wir machen. Ich selber habe jetzt keine abgeschlossene Berufsausbildung, ich hab viel gemacht, ich kann ne Menge, aber mir fehlt die Ausbildung. Aber meine Kollegen, das ist Elektriker, Dachdecker haben wir, nen Maler, Lackierer, Bauzeichner. Der beste Fall ist ein Medizingerätetechniker, der hat sich beworben und bekam drei Ablehnungen mit der Begründung, er wär' zu teuer mit seiner Ausbildung. Das heißt die Firmen, die Medizingerätetechniker suchen, denen ist das zu teuer, die nehmen irgendwen und lernen den kurz an, billig, und die Ausgebildeten bekommen nen Hilfsarbeiterjob als Zeitarbeiter und kriegen noch weniger. Zitator: "In der Verleihbranche wird sehr schlecht bezahlt. Trotz wirtschaftlicher Erholung steigt das ohnehin sehr hohe Verarmungsrisiko der Leiharbeitskräfte weiter an. Mehr als jeder achte Leiharbeitnehmer beziehungsweise -arbeitnehmerin ist auf staatliche Unterstützung angewiesen, weil der Lohn zum Leben nicht ausreicht." Sprecherin: ... resümiert Arbeitsmarktexperte Dr. Wilhelm Adamy, Autor der DGB-Untersuchung. O-Ton 23 Ralf Es werden einem Rechte nicht freiwillig gegeben. Man muss um alles, um die letzten paar Cent, auch noch kämpfen. Atmo - Paternoster Sprecherin: "Hessens Wirtschaft lässt die Krise hinter sich" titelte im März 2011 eine große Tageszeitung. Mit 3,6 Prozent sei das Bruttoinlandsprodukt stärker gewachsen als in den anderen Bundesländern, Hessen also "besser durch die Wirtschafts- und Finanzkrise gekommen als Deutschland insgesamt". Dem hält Stefan Körzell entgegen: O-Ton 24 Körzell Für Hessen kann man sagen 21,3 Prozent der hessischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten im Niedriglohn. Hessen ist der Spitzenreiter bei den westdeutschen Bundesländern. Das heißt, wir kriegen hier langsam amerikanische Verhältnisse, wo man vor Jahren noch mit dem Finger darauf gezeigt hat, guck mal, was da in Amerika passiert. Hessen ist auf dem schlechten Weg, Amerika einzuholen. Sprecherin: Die Ausweitung des Niedriglohnsektors, Leiharbeit, prekäre Beschäftigung, Flexibilisierung, das sind die Folgen der von der rot-grünen Koalition auf den Weg gebrachten Agenda 2010. Musikakzent - Toncollage Sprecherin: Rosemarie Fischer ist auch im hohen Alter eine tatkräftige und vielseitig aktive Frau. Vor einigen Jahren absolvierte sie an der Universität ihr Diplom in Pädagogik. Nun engagiert sich die 80-Jährige ehrenamtlich als Beraterin beim Drogennotruf für Angehörige von Abhängigen. Von den Sorgen der Frauen und Mütter kann sie ein Lied singen O-Ton 25 Rosemarie Fischer Also mir fällt, da ich eben beraterisch tätig bin mit Menschen, die abhängige Kinder, Mütter oder Väter oder Eltern oder wie auch immer Partner haben, hab ich keinen, der am Aufschwung partizipiert. Also meine Mütter sind entweder verwitwet, ganz arm und gehen noch putzen oder machen noch irgendwelche anderen Nebentätigkeiten, alle anderen sind für ihre Enkel da, alle anderen sind für ihre Kinder da und am Aufschwung haben die aus dem Mütterkreis nicht, die die ich betreue, haben davon nicht partizipiert, nein, obwohl sie teilweise ausgebildet sind, als Krankenschwestern, als Bürofachfrauen oder irgend etwas, nein, das erlebe ich da nicht. Zitatsprecher: "Jede dritte Frau mit Vollzeitstelle bekommt Niedriglohn" Sprecherin: ... das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke hervor: demnach arbeiten rund 2,5 Millionen Frauen im Niedriglohnsektor. Zählt man Teilzeitkräfte und Mini-Jobber dazu, sind sogar zwei Drittel der Geringverdiener weiblich. Working-poor, arm trotz Arbeit, auf alleinerziehende Frauen trifft das in besonderem Maße zu. Ausgeschlossen und abgehängt fühlten sich viele, sagt Gerda Holz, Sozialarbeiterin und Politikwissenschaftlerin am Institut für Sozialpädagogik in Frankfurt. O-Ton 26 Gerda Holz Insbesondere alleinerziehende Frauen gehören einerseits zu den arbeitenden Armen. Ich beschreibe das mal so, also das heißt Erwerbstätige, die entweder eben in Teilzeit beschäftigt sind und im Niedriglohnbereich arbeiten oder working-poor- Familien oder working-poor-Mütter, das heißt Vollzeit beschäftigt zu sein und auch unterhalb der Armutsgrenze ein Einkommen zu erreichen. Sprecherin: Gerda Holz ist Leiterin der einzigen deutschen Langzeitstudie zu Armut von Kindern und Jugendlichen. Weiter O-Ton 26 Gerda Holz Und hier sind es insbesondere Frauen. Das hat zum einen den Grund, also die Zeit, also bei Vollzeit, die Zeitvereinbarungen Familie und Beruf, und insofern gar nicht vollständig dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen können, und das zweite ist, das was wir immer wieder hören und auch lesen, Frauen verdienen weniger. Sie arbeiten weitaus mehr im Niedriglohnbereich oder kriegen weniger Gehalt bei gleicher Tätigkeit, und das kombiniert sich dann, warum insbesondere Alleinerziehende zu der größten Gruppe mit der Armutsbetroffenen zählen. Sprecherin: Geringverdiener haben keinen finanziellen Spielraum, um steigende Lebensmittelpreise und Energiekosten zu verkraften. Bei ihnen kommt der Aufschwung nicht an. Wenn alleinerziehende Frauen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, zusätzlich staatliche Unterstützung beantragen müssen, geraten sie noch mehr unter Druck. Ein Teufelskreis, so Gerda Holz O-Ton 27 Gerda Holz Dieses Vorurteil, wer Hartz IV bezieht, der kann mit seinem Geld nicht umgehen, muss kontrolliert werden, also die vertrinken es ja, die verrauchen es ja. Anstatt zu sagen, nein, ein großer Teil gibt es zugunsten der Kinder aus. Und das ist ein Merkmal insbesondere bei Alleinerziehenden, eine Mutter mit ihren Kindern, die arbeitet zehn Stunden und muss sich in der Öffentlichkeit anhören, weil ich Hartz IV bekomme, von Nachbarn, vom Umfeld, ja, die brauchen nicht mehr, die vertrinken ja alles, die verrauchen ja alles. Was ist das für ein Bild. Ich strenge mich an und meine Umwelt sagt, ja Hartz IV, die ich dann bin, weil ich Aufstockerin bin vielleicht, ich bin nicht in der Lage meine Kinder zu erziehen und ich tue dies oder jenes nicht. Das nennt man soziale Ausgrenzung und Vorurteile, die von außen gesetzt werden. Wie soll ich als Betroffene gegen dieses Bild angehen. O-Ton 28 Hessisches Sozialforum, Haus am Dom, Februar 2011 Bundesverfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt Und nun ein Zitat: Die freiheitlich demokratische Grundordnung entnimmt dem Gedanken der Würde und Freiheit des Menschen die Aufgabe, auch im Verhältnis der Bürger untereinander für Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu sorgen. Dazu gehört, dass eine Ausnutzung des einen durch den anderen verhindert wird, sie sieht es als ihre Aufgabe an, wirkliche Ausbeutung, nämlich Ausnutzung der Arbeitskraft zu unwürdigen Bedingungen und unzureichendem Lohn zu unterbinden. Ende des Zitats. Sprecherin: Hessisches Sozialforum im Februar 2011. Es spricht Christine Hohmann-Dennhardt, Richterin am Bundesverfassungsgericht. Thema ihres Vortrags: Ein Leben in Würde für alle. Das Zitat stammt aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1956 und ist noch immer gültig. O-Ton 29 hoch Die Festsetzung gesetzlicher Mindestlöhne wäre hier ein probates Mittel, angemerkt sei, dass das auch ökonomischer Vernunft und haushaltspolitischer Weitsicht folgte. Denn was nutzen die besten Produkte, wenn sie keinen hinreichenden Absatz mehr finden, weil in den Geldbeuteln der Menschen immer größere Dürre herrscht. Atmo frei: Klatschen unter Sprecherin: Etwa 300 Zuhörer sind im Saal. Ihre Kommentare und Fragen zeugen von großem Unmut gegen die herrschende Politik. Das Gerede vom Aufschwung, heißt es, lenke ab von der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen. In den workshops des Sozialforums geht es später vor allem um die Themen prekäre Arbeit und Existenzsicherung: Wie kann es sein, dass jemand der Vollzeit arbeitet kaum mehr im Portemonnaie hat als jemand der staatliche Sozialleistungen bezieht? In den meisten EU-Mitgliedsländern gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn, in Deutschland nicht. Einkommensarmut und Aufschwung, das passe nicht zusammen, sagt Gerda Holz, die Verantwortlichen dürften nicht länger wegschauen O-Ton 30 Gerda Holz Die Frage von Einkommensarmut, also wie ist die Integration in den Erwerbsmarkt, die muss ganz klar angegangen werden, das ist Bundes-, Landesangelegenheit der Gewerkschaften und insbesondere der Wirtschaftsunternehmen, da genauer zu schauen mal und die Frage von Mindestlöhnen auch unter der Frage von Zukunftsansätzen in unserer Gesellschaft weiterzudenken Musikakzent - Toncollage Gedichtrezitator (Vorschlag): Von Erich Fried Eine Expedition aus den Vereinigten Staaten fand am Bergrand des Ararat in versteinertem Schlamm Skelette von Menschen die in der Sündflut ertrunken waren Am Hals trugen sie Amulette mit Keilschriftzeichen -auf allen die gleichen- die sagten: "Nach uns die Sündflut!" Die Archäologen erstatteten Bericht nach Washington worauf ihr Forschungsergebnis als bedenklich für die politische Moral und deshalb geheimzuhalten eingestuft wurde Absage Literatur: Christoph Butterwegge: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird; 2. aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main 2011 Barbara Ehrenreich: Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft, Verlag Antje Kunstmann Berlin 2001 Heiner Flassbeck: Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts; Westend Verlag Frankfurt am Main 2010 DGB arbeitsmarktaktuell Berlin, Februar 2011 www.dgb.de Gerda Holz: Armut im frühen Grundschulalter; Frankfurt am Main 2003 www.bpd.de/publikationen 1