COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Reihe: Zeitfragen/Literatur Titel der Sendung : Unendliche Leinwand statt Buchseite - Die digitale Zukunft des Comics Autor/in: Ralf Hutter Redakteurin: Dorothea Westphal Sendetermin: 20.05.2016 Regie: Beatrix Ackers Produktion: O-Töne, Musik Musik (durchgehend bis O-Ton 5) (Die ersten 4 O-Töne etwas überhängen lassen und ausblenden, damit sie als bloße Zitate bz.w Teaser kenntlich werden) O-Ton 1 Flix Ich hab immer so überlegt: Wie mache ich mich von Verlagen unabhängig, und wie erreiche ich direkt das Publikum? Und dann tat sich das eben auf, die ersten Webseiten. Ich hatte einen Freund, der hat mir eine gebaut. Sprecher Was bringt die allgegenwärtige Digitalisierung dem Comic-Genre? Da wäre zum einen das Internet. Einige Leute können dort mit ihrer zeichnerischen Arbeit passable Einnahmen erzielen - ohne auf einen Verlag angewiesen zu sein. Künstlerisch ist das Internet ebenfalls eine neue Welt. Wer fürs Netz zeichnet, braucht sich nicht mehr an die Struktur von Buchseiten zu halten. O-Ton 2 Mertikat Der Begriff der Seite ist, wenn man im digitalen Bereich ist, ein überholter Begriff, weil die Seite einen begrenzten Raum für eine Anzahl Panel definiert. Im digitalen Comic gibt es das nicht. Sprecher Der andere Aspekt der Digitalisierung hat nicht unbedingt etwas mit dem Internet zu tun. Es ist der Aspekt des elektronischen Comics. Zum einen bieten Verlage digitale Versionen von Comic-Heften auf Internetplattformen zum Verkauf an - wie elektronische Bücher. O-Ton 3 Maddog-Werbung Lies ihn unterwegs per Smartphone, lies ihn auf der Couch mit Tablet weiter, oder schau ihn dir auf Desktop oder Smart TV an. Dein Lesestand bleibt gespeichert. Sprecher Zum anderen gibt es mittlerweile elektronische Comics, die mit Interaktivität und Multimedialität auftrumpfen, was ganz neue Vermittlungsmöglichkeiten bringt. O-Ton 4 Grotenhoff Die Gratwanderung zwischen: Will ich nen Animationsfilm erzählen, oder 'n interaktives Comic, ist auch ne große. Sprecher Der interaktive E-Comic geht in Richtung Computerspiel, und auch er bietet mit seiner Unabhängigkeit vom Format der Buchseite künstlerisches Neuland. Doch während seine Herstellung extrem teuer ist, sind die Produktionskosten bei Comic-Strips, die jemand zum Spaß im Internet veröffentlicht, extrem gering. Unter anderem deshalb ist es unklar, was die allgegenwärtige Digitalisierung dem Comic-Genre bringt. Wie können E- Comics ihre hohen Kosten einspielen? Wie lässt sich mit Internetcomics überhaupt Geld verdienen? Wie weit wird das künstlerische Potenzial des Comics ohne Seitenstruktur ausgeschöpft? Das sind Fragen, an deren Antworten gearbeitet wird. Zumindest in Deutschland sind da spannende Prozesse im Gang. Musik kurz hoch. Sprecher 2 Interaktive Comic-Apps für Tablet und Handy O-Ton 5 Grotenhoff Da sieht man gleich, das ist das Startpanel. Ich hab wirklich 'n 3-D-Panel, was ich bewegen kann, und das geht schon sehr auch in die Bewegtbildanimation. (Ton in den Hintergrund) Sprecher Michael Grotenhoff hält einen Tablet-Computer in der Hand, den er in mehrere Richtungen dreht. O-Ton 5 weiter Das soll natürlich ne sinnliche Wahrnehmung geben, dass man da so'n bisschen filmisch einsteigt. Wenn ich das jetzt hier weiter rüber bewege, sehe ich nen Interaktionspunkt. Den kann ich dann anwählen und lade dann auf das nächste. (Ton unter Text ausblenden) Sprecher (Evtl geloopte Atmo darunter) Grotenhoff hat bei der Berliner Produktionsfirma Filmtank die Arbeit an The Butterfly Attack geleitet, einem elektronischen Comic oder E-Comic. Der E- Comic ist die digitale Weiterentwicklung der Bildergeschichte. The Butterfly Attack besteht aus drei Folgen, die als App auf ein Tablet oder ein Handy heruntergeladen werden können. Im Lauf der Geschichte sind viele klassische Panels zu sehen, wie die Bilder in einem gedruckten Comic heißen. Die Geräuschkulisse ist an sie gekoppelt. Oft überlagern sich Panels, wobei die älteren im Hintergrund schemenhaft sichtbar bleiben. Solche Dinge, ebenso wie interaktive Elemente, stellen Neuerungen für das Genre Comic dar. Sie verändern es in Richtung anderer Medien. O-Ton 6 Grotenhoff Die Gratwanderung zwischen: Will ich nen Animationsfilm erzählen, oder 'n interaktives Comic, ist auch ne große. Deswegen haben wir uns auch bewusst dafür entschieden, dass keine Stimmen erscheinen, sondern dass man nur mit Musik und Atmos arbeitet, dass jetzt nicht irgendwelche Figuren reden. Das ist schon ein Comic noch im klassischen Sinne, wo ich Dinge lese und die Lesegeschwindigkeit selber bestimmen kann und wirklich aber eben interaktive Zusatzelemente bekomme, die ich nutzen kann. Und diese interaktiven Zusatzelemente gehen häufig in die Dokumentationsebene. Sprecher (Evtl geloopte Atmo darunter) In The Butterfly Attack geht es um Hacker, gute wie böse, und um das Eindringen in Steuerungen von wichtiger öffentlicher Infrastruktur. Manche der interaktiven Stellen dieses Abenteuercomics, auf die man beim Lesen drücken kann, führen zum Internetangebot des ganzen Projektes, das Netwars heißt und Informationen zu realen Hintergründen bietet. Dieser Comic zwingt geradezu zum Mitmachen, es ist ein ganz neues Lese- Erlebnis. Deshalb wäre es verfehlt, den E-Comic als Pendant zum E-Book zu bezeichnen. Die Digitalisierung hat für Bildergeschichten ein ganz anderes Potential als für das gedruckte Wort. Bewegtbild und andere Effekte lassen die Grenzen zu Computerspiel und Zeichentrick bröckeln. Michael Grotenhoff ist es aber wichtig, Eindeutigkeit herzustellen und niemanden zu überfordern. O-Ton 7 Grotenhoff Dass klar sein muss: Was ist es? Wenn ich nen Comic erzähle, dann will ich immer noch nen Comic erzählen. Dann muss die Geschichte gut sein, dann muss sie spannend sein. Wir haben mit vielen Gamification- Elementen gespielt und haben dann gemerkt, man muss zum Beispiel wahnsinnig aufpassen, dass die Gamer nicht sagen: Äh, das ist ja jetzt irgendwie ein Game für Arme und die Comic-Leute sagen: Das ist nicht Comic genug. Deswegen haben wir gesagt: Wir erzählen hier einen Comic und bleiben auf der Comic-Zielgruppe. - Musikalischer Trenner - Sprecher Die Zeichnungen für The Butterfly Attack sind von Felix Mertikat, einem etablierten Comic-Zeichner. Die große Schwierigkeit beim Konzipieren eines E-Comics ist das grundsätzliche Layout, erzählt er. Das Seitenlayout, das Comics traditionell eine Form gibt, ist ja nicht mehr gegeben. O-Ton 8 Mertikat In nem digitalen Comic brauche ich keine Seite, weil ich ja alle Panels unsichtbar hintereinander, übereinander, nebeneinander stapeln kann. Der Begriff der Seite ist also ein, wenn man im digitalen Bereich ist, ein überholter Begriff, weil die Seite einen begrenzten Raum für eine Anzahl Panels definiert. Im digitalen Comic gibt es das nicht. Sprecher Nicht nur der Aufwand bei der Gestaltung ist größer als beim gedruckten Comic, sondern auch der organisatorische Aufwand. Nötig sind mehr Personal und viel mehr Geld. O-Ton 9 Mertikat Alleine der Programmierer wird - wenn man davon ausgeht, dass das Konzept alles steht, und man weiß, was er machen muss - wird er alleine dann schon zwei bis drei Monate nur an der Programmierung und der Umsetzung sitzen. Und jetzt rechne die Konzept- und die Vorbereitungsphase dazu. Wie ein normaler Comic auch sitzt du ein bis zwei Jahre dran, um ihn zu zeichnen und zu entwickeln, und dann kommt noch dazu die technische Entwicklung. Sprecher Und dann gibt es da noch das Problem der Vermarktung. O-Ton 10 Mertikat Du hast keine Einzelhändler. Beim digitalen Comic hast du den Vorteil, dass du von Macher zu End-User den direkten Kontakt hast. Der Nachteil ist: Du hast keine zwischengeschalteten Leute, die an dir mitverdienen und deshalb für dein Produkt Werbung machen. Der einzige Mitbeteiligte ist Apple oder Samsung oder Google, die aber wiederum kein Interesse an deinem Produkt an sich haben. Die kriegen ihre 30 Prozent Abgabe, haben aber kein Interesse daran, das zu verkaufen, weil sie verdienen an der bestverkauften App, und die Leute machen dafür selber Werbung. Sprecher Kein Wunder, dass es kaum interaktive Comics auf dem Markt gibt. Als The Butterfly Attack 2014 erschien, gab es Mertikat zufolge weltweit nur ein halbes Dutzend andere solcher Comics als App. Der Preis lag zuerst bei drei, später bei zwei Euro pro Folge. Teurer sollte es laut Branchenfachleuten nicht werden, berichtet Produzent Michael Grotenhoff. The Butterfly Attack habe zwar großen Erfolg gehabt und sei auf Deutsch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch und Chinesisch erhältlich. Doch finanzierbar war diese Comic-App nur als Teil eines Projekts, in dem auch ein Dokumentarfilm, ein Hörbuch und eine elektronische Buchserie zum selben Thema produziert wurden. Welches Marktpotenzial haben also interaktive Comics fürs tragbare Lesegerät? O-Ton 11 Grotenhoff Bezahlmodelle sind immer noch schwierig. Das haben wir auch gewusst. Also dass ich gleich nen Gewinn daraus bekomme, wenn ich das verkaufe - das ist utopisch. Da gibt's bislang ganz, ganz, ganz wenige Beispiele, die mal durch die Decke gehen und das App-Geschäft ist sowieso ein sehr schwieriges. Sprecher Einen Durchbruch für kostenpflichtige interaktive Comics erwartet Grotenhoff nur für den Fall, dass ein ausländischer Comicverlagsriese wie Marvel so etwas mit einer bekannten Superheldenfigur rausbringt und seine ganze Werbemaschine dafür anwirft. Die Produktionsfirma Filmtank macht aber trotz der eher schlechten Marktaussichten mit interaktiven Comics weiter - und zwar mit Projekten, die sich nicht am Markt orientieren. Eine gemeinnützige Tochterfirma entwickelt stiftungsfinanziert medienpädagogische Internet- Comics für Kinder und Jugendliche. O-Ton 12 Grotenhoff Deswegen ist es so'n wunderbares Medium, weil du zeitgemäß Geschichten erzählen kannst und vor allen Dingen auch Leute an Themen heranführen kannst, für die vielleicht über ne Fernsehdokumentation - oh Gott, geh mir weg mit Fernsehdokumentationen, also viel zu langweilig, zu linear, dass man da über fiktionale Mittel, aber auch mit Elementen von Dokumentationen, da Leute reinbekommen kann. - Musikalischer Trenner - Sprecher 2 Digitalisierte Comic-Hefte Sprecher Neue Zielgruppen wollen auch die drei größten deutschen Comic-Verlage mit ihren digitalen Comics erreichen. Jeweils über 400 Hefte haben Carlsen, Egmont Ehapa und Panini digital im Angebot. Es handelt sich dabei sozusagen um die Sparversion, was die Digitalisierung von Comics angeht. Die sieht so aus, dass Verlage Comic-Seiten, die sie eigentlich drucken, auch als Datei verkaufen. Sie nutzen dafür die gängigen Internetplattformen für digitale Lese-inhalte. In diesem Segment sind Apple und Amazon schon Platzhirsche. Aus Deutschland gibt es da das Portal Maddog. O-Ton 13 Maddog Werbefilm (bleibt dann mehrmals im Hintergrund) Maddog Comics bietet dir unendlichen Comic-Genuss. Sprecher Hier können Verlage ihre Comic-Seiten im digitalen Format zum Kauf anbieten, eventuell ergänzt um kleine Spezialeffekte. O-Ton 13 weiter (dann in den Hintergrund) Ein einmal gekaufter Comic gehört für immer dir. Lies ihn per Smartphone, lies ihn auf der Couch mit Tablet weiter, oder schau ihn dir auf Desktop oder Smart TV an. Dein Lesestand bleibt gespeichert. Sprecher Praktisch an diesem Medium ist: Comics können auf dem Lesegerät gelöscht werden, bleiben aber online gespeichert und können so wiederverwendet werden. O-Ton 13 weiter (dann in den Hintergrund, bis "wiederzuveröffentlichen") Entdecke die animierte Einzelbildansicht, die jedes Panel maximal groß auch auf die kleinsten Bildschirme bringt. Sprecher Digitale Effekte spielen keine große Rolle bei dieser Art der Comic- Veröffentlichung, teilen die drei genannten Verlage auf Anfrage mit. Allgemeine Vorteile des digitalen Veröffentlichens sind: Farbigkeit ist hier, anders als beim gedruckten Heft, keine Frage des Preises; Übersetzungen und andere Textmodifikationen sind leicht umsetzbar, und vergriffene Klassiker sind leicht wiederzuveröffentlichen. Dennoch - es handelt sich im Wesentlichen nur um einen weiteren Vertriebsweg, nicht um eine neue Art von Comics. - Musikalischer Trenner - Sprecher 2 Internetcomics - Das selbstbestimmte Experimentierfeld Sprecher Dass sich in Richtung interaktive Comics nur wenig tut, hat auch Bodo Birk festgestellt. Er arbeitet im Kulturamt der fränkischen Stadt Erlangen und ist Leiter des dortigen Internationalen Comic-Salons, des zweijährlich stattfindenden größten Comic-Festivals im deutschsprachigen Raum. O-Ton 14 Birk Wir haben in den letzten Jahren versucht, immer wieder, ausreichend spannende Projekte zu finden, um die dann auch zu präsentieren und zu diskutieren auf dem Salon. Aus Sicht des Salons haben sich eher im Bereich Webcomics, also Nutzung der besonderen Möglichkeiten des Internets, spannende Sachen ergeben, als im Bereich der E-Comics. Sprecher Bodo Birk will die Entwicklungen im digitalen Bereich bei seinem Festival fördern. Internetcomics wurden dort schon präsentiert und auch als Medium der täglichen Berichterstattung vom Festival selbst genutzt. 2014 überließ Birk dem erst ein Jahr zuvor geschaffenen Netzwerk Comic Solidarity einen relativ großen Messestand. Comic Solidarity verbindet Menschen, die ihre zeichnerischen Werke vor allem im Internet veröffentlichen. Es will dieser Szene auf Messen und anderen Veranstaltungen ein Forum bieten und das Kursieren von Ratschlägen erleichtern. Für den Erlanger Comic-Salon 2016 hat das Netzwerk der Internetcomic-Schaffenden eine Vergrößerung seiner Präsentationsfläche erreicht. Bodo Birk lobt die Möglichkeit der Erstveröffentlichung im Internet, die ohne Verlag auskommt und mitunter ein großer Erfolg sein kann. O-Ton 15 Birk Ich denk, eines der bekanntesten Beispiele ist schon einige Jahre alt: Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens von Ulli Lust ist ja zunächst als Comicblog veröffentlicht worden von ihr, auf ihrer eigenen Website. Sprecher Ulli Lust wurde mit dieser autobiografischen Schilderung eines Jugendabenteuers berühmt. Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt. 2010 erhielt es in Erlangen den Publikumspreis. Festivalleiter Bodo Birk denkt aber beim Thema Internetcomic nicht nur an den Aspekt der Verlagsunabhängigkeit. Ihm ist auch die formale Innovation wichtig, die das Internet als Experimentierfeld ermöglicht. Wie bei dem Projekt Das Hochhaus der Zeichnerin Katharina Greve: O-Ton 16 Birk Das Hochhaus-Projekt ist ein Hochhaus, was jede Woche um ein Stockwerk wächst und in jedem Stockwerk wird ein kurzer Strip erzählt, eine kurze Geschichte aus dem Alltag der Menschen, die in diesem Stockwerk leben. Und es soll am Ende 102 Stockwerke hoch werden. Sprecher 2 Eine Internetseite als unendliche Leinwand Sprecher 100 Stockwerke auf einer Seite, lesbar durch Scrollen - in diesem Projekt wird ein Begriff mit Leben gefüllt, der seit langem durch die Comic-Szene geistert: unendliche Leinwand, auf Englisch infinite canvas. Scott McCloud, der vielleicht prominenteste Comic-Theoretiker, machte ihn schon 2000 in seinem Buch Comics neu erfinden berühmt. Im Digitalen, so der Zeichner Felix Mertikat, verschwindet das Konzept der Buchseite. Doch das Potential der unendlichen Leinwand wird wenig genutzt. Viel stärker hat sich im Internet der Comicstrip durchgesetzt, wie er in Zeitungen seit jeher erscheint. O-Ton 17 Lieske Der Grund, warum sich Infinite Canvas so lange Zeit gelassen hat, bis es jetzt langsam populärer wird, ist, dass es sich unheimlich schlecht mit den gängigen Refinanzierungsmethoden im Internet kombinieren lässt. Denn da ist normalerweise die Jagd nach Page-Turns, da will man verschiedene Seiten haben, weil jeder Seitenwechsel ist ein Page-Turn. Auf jeder Seite wird wieder das Werbebanner neu geladen und dadurch werden dann die Klickzahlen erzielt. Und viele Comics, gerade im englischsprachigen Bereich, finanzieren sich halt zum großen Teil über Werbe-Einnahmen. Sprecher Auf einem Podium des Comic-Salons Erlangen 2014 erklärte der Zeichner Daniel Lieske eine Schwierigkeit beim Konzept unendliche Leinwand. Eine Ausnahmeerscheinung ist sein Comic Wormworld Saga. Er ging Weihnachten 2010 online, und er ist wie Das Hochhaus ein Scroll-Comic. O-Ton 17 a Die Entscheidung, gar nicht erst mit Werbung irgendwie anzufangen, hat mich da frei gemacht, dieses Format zu verwenden. Ich verfolge weiterhin die internationale Szene, und was ich so merke ist so'n kleiner Wind of Change - die Leute haben Lust darauf, sich von diesem Werbediktat irgendwie frei zu machen, die Seiten freier zu gestalten und so. Das is ne relativ spannende Zeit gerade. Sprecher Lieske konnte es sich leisten, auf die Jagd nach Klicks zu verzichten, weil seine Fantasy-Welt umgehend sehr viele Menschen in vielen Ländern in ihren Bann zog. Das Hobby-Projekt wurde unglaublich erfolgreich. Auf den Zeichner prasselten Spenden ein, Freiwillige übersetzten die Geschichte in 24 Sprachen. Lieske kündigte bald seine Stelle als Computerspielgrafiker und widmete sich Vollzeit der Wormworld Saga, gestützt auf Spenden aus der Fangemeinde und den Verkauf der üblichen Fan-Artikel. Er will das nun langfristig so machen und lässt sich jedes Kapitel vorfinanzieren. Trotzdem sei es nicht leicht, auf diese Weise eine vierköpfige Familie zu ernähren: O-Ton 18 Lieske Ein bisschen leide ich ehrlich gesagt unter dem Stigma, dass alle glauben, der Lieske hat das ultimative Businessmodell für Webcomics entwickelt. Sprecher Die Wormworld Saga ist weiterhin kostenlos online. Daniel Lieske setzt mittlerweile wie so viele andere auch auf Kleinstspenden. Die Webcomic- Szene nutzt beispielsweise das Portal Patreon.com. Wer dort Geld an Zeichner spendet, kriegt Zusatzmaterial, bei Daniel Lieske sind es wöchentliche Einblicke in seinen Zeichenprozess und in Hintergründe. Sprecher 2 Potential und Risiken von Internet-Comicstrips Sprecher In Deutschland kamen Internetcomics erst später auf. Einer der ersten deutschsprachigen Zeichner, die Comics online stellten, war einer der heute berühmtesten: Flix, bekannt unter anderem mit seinen Zeitungsstrips und sehr freien Adaptionen von Goethes Faust oder dem Don Quijote. 2002 fing Flix an, sporadisch Tagebuchcomics online zu stellen. Nach einer mehrjährigen Pause machte er 2006 weiter, dann täglich - und nach eigener Aussage erfolgreich. O-Ton 19 Flix Ich hab immer so überlegt: Wie mache ich mich von Verlagen unabhängig, und wie erreiche ich direkt das Publikum? Und dann tat sich das eben auf, die ersten Webseiten. Ich hatte nen Freund, der hat mir eine gebaut, die ich dann wirklich noch sehr rudimentär täglich von Hand zu Fuß per Html aktualisieren musste. Aber das ging. Und über diese Kontinuität hat sich dann einfach ne Leserschaft gefunden. Sprecher Jeden Abend habe er sich hingesetzt und versucht, vor dem Einschlafen in vier Bildern zusammenzufassen, was ihm an dem Tag passiert war, erzählt Flix. Der selbst auferlegte Zwang zu einem bestimmten Format sei eine gute Schule gewesen. Und er habe so seine Bekanntheit vergrößert. Internet-Bekanntschaft in Geld umzusetzen sieht er aber als schwierig an, zumindest was ein existenzsicherndes Einkommen angeht. Schon 2002 bekam er mit, wie sein US-amerikanisches Vorbild James Kochalka, der lange Jahre einen relativ bekannten Tagebuchcomic online stellte, Geld zu verdienen versuchte. O-Ton 20 Flix Es gab einen Spezialbereich auf seiner Webseite, wofür man nen Code brauchte, den hat man gegen ne monatliche Abo-Gebühr bekommen - von ner Handvoll Dollar, das war gar nicht viel. Ich weiß nicht, wie gut er davon gelebt hat. Ich glaube, nicht so gut, sonst hätte er es irgendwann nicht einfach eingestellt, also relativ sang- und klanglos. Es gibt die Möglichkeit, im Netz mit Comics Geld zu verdienen, aber es ist ein noch härterer Job, als für ne Zeitung zu arbeiten, weil man im Grunde nicht mehr frei arbeiten kann. Sobald du ein Abo-System dahinter hast, wollen die Leute mitreden, wollen die Leute mitbestimmen, und du bist nicht mehr frei, sondern du musst auf einmal Kram produzieren, der vielen gefällt. Sprecher Die Masse der Menschen wolle leichte Unterhaltung, sagt Flix aus Erfahrung. Und wirklich viel Geld sei damit ohnehin nicht zu verdienen, auch in den USA nicht. Der Berliner Zeichner kommt auf Daniel Lieske zu sprechen, der mit seiner Wormworld Saga einen Knochenjob habe, weil er sich um so viele Dinge selbst kümmern müsse. Das sei generell bei Internetcomics in Eigenregie so. O-Ton 21 Flix Für die Zeichner ist dadurch eigentlich noch was dazugekommen: Auf einmal sind die nicht mehr nur Zeichner und müssen sich Geschichten ausdenken und die zu Papier bringen, sondern sie müssen die auch noch digital aufbereiten, sie müssen das ganze Contentmanagement dahinter machen - die sind im Grunde noch Verleger dazu geworden. Viel der eigenen Zeit geht dadurch drauf, dass man auf einmal Kontakt zu Lesern aufbaut, dass man Kommentare beantwortet, überhaupt die ganze Seite pflegen muss - also für die Menge an Arbeit, die dazu gekommen ist, gibt's keinen finanziellen Ausgleich. Sprecher Flix zeichnet zwar relativ wenig exklusiv für seinen eigenen Internetauftritt, stellt dort aber seine Zeitungsarbeiten ein. Das schaffe Leserbindung, was wiederum gut für den Buchverkauf sei. Auch in dieser Hinsicht funktionieren Comicstrips im Internet also gut. Was im Internet nicht gut funktioniert, seien lange Geschichten. O-Ton 22 Flix Ich merke selber: Bei längeren Sachen, Sachen, die mehr als eine Seite haben, werden die Leser weniger. Du verlangst von denen Konzentration, die das Internet denen abtrainiert hat. Die haben ne Aufmerksamkeit von nem Goldfisch. Sprecher Was ist mit Comics zum Runterladen, die wie elektronische Bücher auf einem tragbaren Lesegerät mit mehr Ruhe gelesen werden können? Auch da hat Flix eigene Erfahrungen. O-Ton 23 Flix Es gibt von einigen meiner Comics digitale Versionen, die man sich auf die E-Reader runterladen kann. Die Zahlen sind ernüchternd, die Zahlen sind im zweistelligen Bereich. Faust ist so 'ne Comic-Adaptation, die ich gemacht habe. Das ist einer der am besten verkauften deutschen Comics der letzten Jahre. Wir haben insgesamt fast 50 000 Stück davon verkauft. Als E-Version, also als digitale Version, sind es, glaub ich, knapp 30. Sprecher Vielleicht auch weil Comics für solche Lesegeräte schwierig umzusetzen sind. Comics, die auf Papier der Architektur einer Heftseite folgen, sind schlecht ins Digitale übertragbar, da sie dort einfach anders aussehen. Da kann schnell etwas von der Dynamik verloren gehen. Das ist einer der Gründe, warum Bodo Birk vom Comic-Salon Erlangen glaubt, dass in diesem Bereich nicht so sehr der Abschied vom Papier droht, wie vielleicht im Journalismus. Die Erlöse der digitalen Comics sind bisher auch nur sehr klein, wie die drei erwähnten Verlage auf Anfrage mitteilen. - Musikalischer Trenner - Sprecher 2 Das Internet als Schaufenster und Spielwiese Sprecher Einen Durchbruch bedeutet die Digitalisierung aber auch in der Comic-Welt, und zwar in demokratischer Hinsicht. Das Internet ist nicht nur Schaufenster für Leute, die Geld verdienen wollen, sondern eine Spielwiese für alle, die zeichnen wollen. Besonders sichtbar und besonders alt ist dieses Phänomen im Bereich Manga. Dieses aus Japan stammende Comic-Genre hat auch in Deutschland sehr viele Fans. Die meisten digitalen Comics der drei erwähnten großen Verlage sind Mangas. Ein Szene-Experte ist Michel Decomain. Er macht Öffentlichkeitsarbeit für den Verlag Kazé und textet auch Mangas. O-Ton 24 Decomain Dazu muss man bedenken: Die Mangaszene ist ja sehr, sehr jung, und die Leute, die da Manga publizieren, sind oft noch in der Schule oder machen das während des Studiums, und die meisten machen's wirklich für sich selbst. Um so quasi nen Output zu haben, so'n sich Ausprobieren, Sachen zu publizieren, von anderen sehen zu können, dann vielleicht auch selbst ein Heft zu drucken, sich auf ne Convention zu setzen und das verkaufen, und um wirklich Geld geht's da bei den wenigsten. Aber die meisten machen es eben als Hobby schon, und als Teil dieser Manga-Kultur. Sprecher Seit 2015 gibt es zur Würdigung dieser Manga-Kultur sogar einen mit 1000 Euro dotierten Preis für im Eigenverlag erschienene Mangas. Online ist die Szene vor allem in einschlägigen Portalen beheimatet: O-Ton 25 Decomain Eigene Webseiten gibt's sehr, sehr selten. Ein paar gibt's wohl, aber man greift hauptsächlich auf bestehende Strukturen in sozialen Netzwerken zurück. Wie Animexx, wie Facebook, Deviantart und - was gibt's da noch alles? - Mycomics. Sprecher Die jungen Leute setzen sich halt lieber ins gemachte Nest. Dort müssen sie kein Impressum veröffentlichen und sich nicht mit rechtlichen Fragen beschäftigen. Auf dem Portal Animexx haben schon Tausende Menschen Mangas veröffentlicht. Dieses Phänomen ist bedeutend, weil sich die Manga-Fans in ihrer Zusammensetzung von den Fans anderer Comic- Genres unterscheiden: O-Ton 26 Decomain Wir haben relativ viele Akteurinnen und Akteure mit Migrationshintergrund, die vielleicht da ein Zuhause finden, wo sie in der normalen Alltagsgesellschaft, also meistens dann eben in Schulsituationen, weniger nen Platz finden, grade auch was sexuelle Vielfalt und People of Color angeht. Es gibt immer viel homoerotische Inhalte und auch gleichgeschlechtliche Beziehungen im Manga, und so'n ganz anderen Gesellschaftsentwurf eigentlich, hauptsächlich weiblich geprägt, eine Kulturform, die eben von Frauen für Frauen dominiert ist, wo Männer weniger ne Rolle spielen, was es in anderen Comic-Bereichen so gar nicht gibt. Sprecher Auch Marvin Clifford nutzt das Internet vor allem als Spielwiese und will damit nicht direkt Geld verdienen. Der Berliner Zeichner, der sich mit Flix ein Büro teilt, hat mit seinem wöchentlichen tagebuchartigen Online-Strip Schisslaweng 2014 den Publikumspreis des Erlanger Comic-Salons gewonnen. Das zeigt, dass das Comic-Publikum nicht nur Superhelden oder die im Feuilleton so beliebten grafischen Romane auf dem Schirm hat. Clifford hatte erst 2012 mit seinem wöchentlichen Online-Comic begonnen. O-Ton 27 Clifford Die Vorgeschichte ist eigentlich die, dass ich mich zwingen wollte, Geschichten zu erzählen. Und das ist ja nun mal das, was Comic, das Medium, ja nun mitbringen muss. Man muss irgendwelche Geschichten erzählen. Sprecher Sein Geld verdient Marvin Clifford hauptsächlich als Illustrator. Schisslaweng veröffentlichte er auch als Buch, um bei Veranstaltungen etwas zum Verteilen zu haben. Das funktionierte so gut, dass das Buch nun nicht mehr im Selbstverlag erscheint, sondern beim großen Verlag Panini. Dennoch: Der wöchentliche Comic bleibt für Marvin Clifford vor allem ein künstlerisches Ventil, wie er sagt, und ein Weg, bekannter zu werden. Er sieht das Internet vor allem als riesiges Schaufenster für grafische Gestaltung aller Art an. O-Ton 28 Clifford Ich seh eigentlich 'n riesengroßen Spielplatz von unterschiedlichen Experimenten, wo man sich halt was aussuchen kann, wo man sagen kann: Das, find ich, ist 'n Super-Gedanke, auch erzählerisch, den man halt benutzen kann, den man betreten kann, den halt diese Plattform auch bietet. Ganz unabhängig davon, ob das jetzt nun wirklich Geld für den Künstler abwirft. Sondern es geht mir eigentlich darum, wie die Leute eben mit gezeichnetem Bild, überhaupt mit Bildern, Geschichten erzählen. Sprecher Die Vielfalt der bildhaften Kommunikation im Internet interessiert auch Lukas Wilde, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaft der Universität Tübingen. O-Ton 29 Wilde Oft ist es eben ein großer Unterschied, ob etwas als Kommunikationsmedium oder als Medium der Kultur, der Kunst, der Literatur verhandelt wird. Das ist spannend, wie sich das beim Comic gerade ein bisschen verschieben könnte. Sprecher Lukas Wilde promoviert zur Verwendung von Manga-Figuren in der japanischen Alltagskommunikation, also beispielsweise auf Hinweisschildern. Er hat Kunst und Kommunikation als verschiedene kulturelle Sphären im Blick. Aus diesen Sphären kommen verschiedene Fragen. O-Ton 30 Wilde Wenn ich nach Kommunikation frag - Wie reden denn die Leute? Oh, jetzt plötzlich auch mit Bildern und mit Sprechblasen - stell ich ganz andere Fragen, als wenn ich schaue, ob das jetzt ne kulturelle Form ist, die irgendwie Wert geschätzt werden muss, die sogar auf einer Ebene mit dem Buch stehen kann und sowas. Musik, gleich in den Hintergrund Sprecher Das Internet bringt dem Comic eine Art Demokratisierung, einen Freiraum für Anfänger und Marktlückenfinder, für Minderheitenthemen und Experimente. Und der Comic kann dort weniger als ein Kunstwerk, und mehr als primär ein Kommunikationsmedium angesehen werden. Der Comic-Theoretiker Scott McCloud schrieb schon 1993 in seinem ersten Buch Comics richtig lesen: Sprecher 2 "Comics sind ein lebendiges Medium, denn sie bieten eine der letzten Möglichkeiten unmittelbarer Verständigung in einer Welt, die von gleichgeschalteter Unterhaltung durch Konzerne und Medienmonopole beherrscht wird." O-Ton 31 Flix Die große Stärke von nem Comic ist, dass der Leser den eigenen Rhythmus macht. Der muss sich selber über die Seite den Weg finden, wie er da drüberliest. Das ist das Spannende dran, er kann seinen eigenen Weg gehen.