COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Vom Brennpunkt-Stadtteil zum Szeneviertel - Der Reuterkiez in Berlin-Neukölln Eine Sendung von Friederike Wyrwich 26. Mai 2012, 15:05 Uhr Ton: Inge Görgner Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 Kennmelodie Autorin: Der Hermannplatz in Berlin: Mit dem berühmten Kaufhaus Karstadt und dessen U-Bahnanschluss im Keller einst der modernste Verkehrsknotenpunkt Berlins. Damals wie heute: Das "Eingangstor nach Neukölln". Doch wer den lauten Platz hinter sich lässt und in die stille Weserstraße einbiegt, kommt in eine andere Welt. Über den Reuterplatz ist es nicht weit bis zum grünen Ufer des Landwehrkanals. Hier, im Norden von Berlin-Neukölln, machte die Rütli-Schule im Frühjahr 2006 bundesweit Schlagzeilen. In einem Offenen Brief prangerte die Rektorin die Zustände an der Hauptschule an, die fast nur noch von jugendlichen Migranten besucht wurde. Doch inzwischen ist aus der Rütli-Schule ein Modellprojekt geworden - und der umliegende Kiez hat sich gewandelt. Szenekneipen und Cafés eröffnen allerorten, neue Hauseigentümer streiten mit Alteingesessenen über die Erhöhung der Mieten. Und ein "Gartenkulturpfad" verbindet das Szeneviertel mit der Wiege des Bezirks: dem alten Rixdorf. Sprecher vom Dienst: Vom Brennpunkt-Stadtteil zum Szeneviertel - Der Reuterkiez in Berlin-Neukölln. Eine Deutschlandrundfahrt von Friederike Wyrwich. 1. Atmo Weichselplatz: Vogelzwitschern, Autos fahren vorüber, Jogger Autorin: Wo die Bezirke Kreuzberg und Neukölln aufeinander treffen, grenzt der Weichselplatz an das grüne Ufer des Landwehrkanals. Jogger ziehen im Schatten der Bäume ihre Bahnen, ein riesiger Kinderspielplatz empfängt jetzt am Vormittag die ersten Besucher. Gleich nebenan hat soeben das Café Rudimarie geöffnet - mit rot-weißen Sitzpolstern auf der Fensterbank und Gartentischen im angrenzenden Park - perfekt für junge Eltern, die beim Milchcafé ihre spielenden Kinder im Blick haben wollen. Magnus Ericsson wohnt in unmittelbarer Nähe des Campus Rütli und kennt die Gegend seit Jahren. Er kommt aus Schweden, hat eine achtjährige Tochter und gibt Schwedisch-Unterricht an verschiedenen Volkshochschulen Berlins. 1. O-Ton Magnus Ericsson: Es ist fast zehn Jahre her, da bin ich mit meiner damaligen Freundin aus dem Prenzlauer Berg hierher gezogen, weil wir den Prenzlauer Berg so öde fanden. Wir wollten zusammen ziehen und es war schon damals so schnöselig geworden, so dass wir da nicht noch weiter wohnen wollten, dann wollten wir eigentlich nach Kreuzberg ziehen, und das war wiederum damals schon zu teuer und da haben wir - was dann später "Kreuzkölln" entdeckt, dass man da ganz in der Nähe von Kreuzberg ist und trotzdem niedrige Mieten bezahlen kann. Autorin: Magnus Ericsson steht für das, was der Stadtsoziologe Hartmut Häussermann als "Nord- Neukölln verwestlicht sich" bezeichnet. Die Gegend zwischen Landwehrkanal und südlichem Berliner S- Bahnring sei kein Ghetto mehr für Hartz IV- Empfänger, sondern das "Portal Berlins", ein Durchgangsviertel für Neuankömmlinge, so Häussermann. In den letzten Jahren seien überdurchschnittlich viele Ausländer nach Nord- Neukölln gezogen, jedoch nicht - wie der Berliner Tagesspiegel schreibt - "die üblichen Verdächtigen, also Araber, Türken und Kurden, sondern Europäer aus den alten Ländern der EU". Magnus Ericsson erinnert sich an seine erste Zeit in Neukölln: 2. O-Ton Magnus Ericsson: Es war'ne ziemlich düstere Gegend, muss ich sagen. Da war kaum was, also es waren Wohnhäuser, wovon relativ viele gar nicht bewohnt waren, oder viel - aber man sah Leerstände. Es gab kaum Läden, und die Läden, die es gab, waren oft so Trödler oder Ramschläden oder ähnliches. Es gab auch kaum was zum Ausgehen: Es gab so die klassischen Eckkneipen, ein paar, und es gab deutsch-türkische Vereine, aber das, was es jetzt mittlerweile gibt: Also, sag ich mal: mehr "in" - oder mehr "modernere" - Kneipen oder Bars oder Clubs - so was gab es eigentlich nur ein einziges, und das war das "Kinski" in der Friedelstraße. Da waren wir dann recht oft in der Zeit. Es ist halt so wie viele Kneipen mittlerweile aussehen: So alte Sofas, alte Sitzgarnitur, irgendwie vom Trödler geholt, relativ lieblos, möchte ich sagen, irgendwie hingeschmissen ohne großes Überlegen, ob das passt oder nicht und dann: bunte Mischung von Menschen, also sehr sehr gemischt, also einfach alle, die in der Gegend gewohnt haben, die in den Kneipentypen, die ich gerade beschrieben habe, nicht sich wohl gefühlt haben. Also so genannte Kreativler. Künstler, irgendwelche Leute, die mit Klamotten zu tun hatten, aber es war halt damals noch ganz wenige, solche Menschen. Autorin: Magnus Ericsson kam als Geschichtsstudent nach Berlin - der Gedanke an eigene Kinder stand beim Umzug nach Neukölln noch nicht im Vordergrund. Die Frage, welche Perspektiven seine Tochter in Neukölln haben würde, wurde dann aber unvermeidbar. 3. O-Ton Magnus Ericsson: Da haben wir uns schon ziemlich einen Kopf darüber zerbrochen, zumal in der Kita seit Wanda schon drei war oder spätestens seit sie vier war, großes Thema war: Wo kriegt man nun das Kind unter? Manche, ich würde sagen die Hälfte der Eltern, sind gar weggezogen aus der Gegend, nach Westdeutschland oder nach Westberlin - also weiter nach Zehlendorf oder ähnliche Stadtbezirke. Wir haben von vornherein gedacht, dass wir nicht wegziehen wollen, weil wir uns so wohl fühlen im Kiez, aber uns war auch relativ bald klar, dass wir da schon gucken müssen, wo Wanda dann bleibt. Autorin: Die örtliche Grundschule, erzählt Magnus Ericsson, habe keinen guten Eindruck bei ihm hinterlassen. 4. O-Ton Magnus Ericsson: Da waren wir dann auch mal gewesen am Schulhof, um uns das anzuschauen: Das erste was passiert ist, dass zwei oder drei Kinder auf einem dritten oder vierten Kind einprügeln und die Schulaufsicht sieht das und kehrt um und geht in eine andere Richtung. Und da war mir klar, dass das nicht Wandas Schule sein soll. Autorin: Aber auch die Frage, wie hoch der Ausländeranteil an der Schule sein würde, spielte eine Rolle. 5. O-Ton Magnus Ericsson: Ich bin ja selbst Ausländer, insofern ist es natürlich vielleicht ein bisschen komisch, wie ich darüber denke, aber ich ... mir ging es darum ... also das ist immer ein großes Thema bei vielen Leuten gewesen, man guckt - man sage ich - viele gucken halt, wenn die nach Schulen suchen, da steht dann: "Ausländeranteil" - was ich eigentlich komisch finde, dass es so offiziell immer steht - aber jedenfalls ist es so. Und wir haben auch danach geguckt und da hat sich herausgestellt, dass es bei Wandas Schule, oder wo sie normalerweise eingeschult worden wäre, war der Ausländeranteil dann 85 oder 95 oder 98 oder so was. Wobei man sagen muss, Wanda wär ja auch unter diesen 95 Prozent gewesen. Nichtsdestotrotz hat das dann schon'ne Rolle gespielt für uns. Weil wir einfach überlegt haben, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass viele Kinder gar nicht Deutsch richtig beherrschen, wenn die in die Schule kommen. Und wir wollten einfach nicht, dass Wanda völlig unterfordert wird in der Schule. Autorin: Die Tochter wurde deshalb in eine Montessori-Schule im Nachbarbezirk Kreuzberg eingeschult - während die Eltern in Nord-Neukölln wohnen blieben, und die allmählichen Veränderungen im Kiez beobachteten. 6. O-Ton Magnus Ericsson: Das was sich ganz massiv verändert hat, sind zwei Sachen. Erstens dass der Spielplatz sehr aufwändig renoviert wurde. Als ich den Spielplatz zum ersten Mal gesehen habe, das mag so sechs, sieben Jahre her sein, da war das der ranzigste Spielplatz weit und breit. Und jetzt ist es einer der schönsten, wenn nicht der allerschönste von allen in der Gegend. Das zweite ist, dass es jetzt hier direkt in der Straße gibt es mehrere Läden, die ganz eindeutig solche Gentrification-Läden sind. Latte Macciato-Cafés, irgendwelche Yoga - oder "Fühl dich wohl"-Läden... Ich hab' nichts dagegen an sich, aber es ist auffallend, das sind die Art von Läden, die nur eine gewisse Schicht von Menschen überhaupt interessiert. Autorin: Eine Folge dieser - an sich - positiven Veränderungen ist, dass die Mieten teurer werden und arme Leute den Kiez verlassen müssen. Zwei Seiten einer Medaille, um die sich die Gentrifizierungsdebatte in Nord-Neukölln dreht. Wobei nicht auszumachen ist, wer eigentlich noch zu den mittellosen Alteingesessenen gehört und inwiefern die etwas weniger armen Pioniere - Studenten, Künstler, Kreative - schon zu denjenigen zählen, die eigentlich verdrängen. 7. O-Ton Magnus Ericsson: Die Frage lässt sich nicht so schnell beantworten, finde ich. Ich meine, da muss man ein bisschen genauer gucken, was sind das für Menschen, die hierher kommen, was sind das für Menschen, die unter Umständen verdrängt werden. Also ich bin jetzt nicht so sozialromantisch drauf, dass ich denke, alles muss so bleiben, wie es immer war. Andererseits finde ich es schade, wenn Leute aus einer Gegend, wo sie lange gewohnt haben, aus finanziellen Gründen verdrängt werden. Aber sicherlich gibt es viele interessante Menschen, die hierher gekommen sind, die früher woanders gewohnt haben. Ich hoffe persönlich, dass es aus dem Kiez kein neues Prenzlauer Berg wird. Weil dann müsste ich wieder umziehen. Das finde ich soo langweilig, diese Menschen, die alle glauben, dass die total individuell sind und alle genau nach dem gleichen Muster gestrickt sind. Also da würde ich mich so unwohl fühlen, da würde ich wieder umziehen, denke ich. Wenn es so kommt - aber es muss ja nicht sein! Muss ja nicht alles in Berlin wie Prenzlauer Berg werden. 1. Musik: Titel: Schwarz zu blau Interpret: Peter Fox Komponist: Vincent von Schlippenbach Pierre Baigorry Label: Ariola, LC-Nr. 00116 8. O-Ton Hilde Holtmanns: Es gab wohl abends im Fernsehen schon'n kurzen Bericht darüber, ich hatte am nächsten Tag nicht zur ersten Stunde Unterricht, ich kam, glaube ich, zur zweiten Stunde, kam also die Weserstraße herunter, mir kam ein Schüler entgegen und sagte: Frau Holtmanns, ich trau mich nicht mehr rein! Autorin: Frau Holtmanns, Lehrerin an der Rütli-Schule. 9. O-Ton Hilde Holtmanns: Ich konnte noch nicht in die Rütlistraße sehen und hab' gedacht: Was ist denn da jetzt los? Wieso traut der sich nicht in die Schule? - "Nehmen Sie mich mit!" - Und da sah ich erst, was hier auf der Straße los war: Hab' ich gedacht: Ist das jetzt die Golden Globe-Verleihung? Es war wirklich so'n Gefühl. Es standen tatsächlich - Leitern waren aufgebaut - es standen Fernsehkameras vor der Schule, es stürzte jeder sofort auf einen zu. Ich wusste überhaupt nicht, um was es ging, ich hab' also den Schüler an meine Seite genommen, wir haben dann so gemerkt im Reingehen in die Schule: Wir wurden dann von hinten fotografiert, und dann haben wir gemacht, dass wir möglichst schnell in die Schule kamen. Und dort habe ich erst erfahren, was eigentlich der Auslöser war, warum plötzlich so viele Medienvertreter hier vor der Schule standen. Autorin: Sie wird den Tag nie vergessen, als der Brief ihres Kollegiums an die Öffentlichkeit gelangte. Die Lehrerin für Arbeitslehre und Mathematik arbeitet seit 1984 an der Rütli-Schule. Nebenbei baute sie ein Team aus jugendlichen Streitschlichtern auf - lange bevor die Situation entstand, die schließlich zu dem Brandbrief führte. 10. O-Ton Hilde Holtmanns: Zu dem Brief kam es aus folgendem Grund: Auf der einen Seite hatten wir hier bei uns an der Schule'ne extrem schlechte personelle Situation. Wir hatten seit Beginn des Schuljahres keine Schulleitung, keine Konrektorin, wir hatten'nen relativ großen Krankenstand, das heißt, die Schule ist von'ner Kollegin, die kommissarisch eingesetzt worden ist, geleitet worden, wir haben im Wechsel, die Kollegen haben sich abgewechselt, sind morgens früher gekommen, haben Vertretungspläne gemacht, dann fehlte sogar schon mal die Sekretärin, dann haben wir das auch noch versucht, irgendwie zu übernehmen - also es war vom Personalstand her'ne extrem schwierige Situation. Die Schülerschaft hat sich nicht von heute auf morgen verschlechtert, sondern bei dieser schwierigen Personalsituation - wenn dann jetzt ein Konflikt entstand, der immer und in jeder Schule in Berlin entstehen kann - dann waren eigentlich keine Kapazitäten mehr da, sich darum zu kümmern. Und ich denke, dass das so sukzessive dazu geführt hat, dass wir Situationen hatten, wie wir sie in dem Brief beschrieben haben. Zitat Offener Brief: Der Gesamtanteil der Jugendlichen n.d.H. (nicht deutscher Herkunft) beträgt 83,2 %. In unserer Schule gibt es keine/n Mitarbeiter/in aus anderen Kulturkreisen. Wir müssen feststellen, dass die Stimmung in einigen Klassen zurzeit geprägt ist von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber. Notwendiges Unterrichtsmaterial wird nur von wenigen Schüler/innen mitgebracht. Die Gewaltbereitschaft gegen Sachen wächst: Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht, Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Flurwänden gerissen. Wir sind ratlos. Autorin: Das Gebäude - eine ehemalige Reformschule aus den 1920er Jahren - teilte sich die Hauptschule damals mit der benachbarten Heinrich-Heine- Realschule. Eine Trennung, die mit der Gründung des Modellprojekts Campus Rütli im Jahr 2007 wieder aufgehoben wurde. Heute gibt es hier eine Gemeinschaftsschule mit gymnasialer Oberstufe, neue Fachräume für den naturwissenschaftlichen Unterricht, Stipendien und Mentoren für besonders begabte Schüler. 2. Atmo Schulpause O-Ton Hilde Holtmanns: Dieser Bereich war alles Rütli-Bereich ... Das ist unsere Caféteria (Tür geht auf, Stimmengewirr nimmt zu), früher war das ein Umkleideraum für'ne Gymnastikhalle. Autorin: In der Caféteria, zu der auch eine neue Mensa mit Kletterwand und Bühne gehört, können die Schüler am Vormittag Salate und belegte Brötchen kaufen. 3. Atmo Schulhof Mädchen ruft: Frau Holtmanns! Bitte! Autorin: Zum Schulkonzept gehört seit 2007 auch eine "Anerkennungs- und Willkommenskultur". Die kulturelle Herkunft der Schülerinnen und Schüler soll gewürdigt werden; wer bei den Schulnoten nicht unbedingt zu den Besten gehört, soll auf anderen Gebieten brillieren können - beispielsweise beim Erlernen eines Musikinstruments oder beim Wettbewerb "Rütli sucht den Superstar". Auch die nahegelegene Schubert-Grundschule wird demnächst auf dem Schulhof des Campus Rütli angesiedelt - damit einheitliche Bildungsbiografien von der Grundschule bis zum Abitur an einer Stelle möglich werden. 4. Atmo Schulhof: Pausenlärm Autorin: Hilde Holtmanns weist auf die Baustelle der neuen Quartiershalle, die hinter dem Schulhof durch die Bäume sichtbar wird. Eine Mehrzweckhalle für die Schule und den Kiez, mit der die Schule nicht nur endlich eine große Aula bekommt, sondern in der neben Vereinssport auch außerschulische Kulturveranstaltungen stattfinden sollen. 11. O-Ton Hilde Holtmanns: Weil das, glaube ich, der entscheidende Weg ist, um die Eltern mit einzubeziehen. Alles, was mit Bildung, Erziehung zu tun hat, alle Institutionen, die daran beteiligt sind, dass die an einer Stelle versammelt sind, so dass die Eltern auch die Möglichkeit haben, dort alle Ansprechpartner zu finden. Das ist wahnsinnig wichtig. Wir müssen die Eltern in die Schule reinholen, zu uns holen, um die Kommunikation herzustellen. Autorin: Auch jetzt schon habe sich an der Schule in dieser Hinsicht viel getan, erzählt die Lehrerin. 12. O-Ton Holtmanns: Erstmal, dass wir hier Menschen haben an unserer Schule, die Türkisch sprechen, die Arabisch sprechen, die die Kommunikation herstellen. Wir haben ja nach wie vor Eltern, die mit uns eben nicht so kommunizieren können, wie wir uns das wünschen. Und das ist einfach interkulturelle Moderation, das ist einfach'ne tolle Geschichte, da wird'n regelmäßiges Elternfrühstück angeboten. Und wenn man das paar Mal erlebt hat: Die Stimmung die dort ist! Da sitzen die Mütter in erster Linie, bringen manchmal ihre kleinen Kinder mit, und die sind so interessiert! Wenn sie dann hören, um was es geht: Die nehmen, die saugen das also wirklich auf, was man ihnen erzählen kann. Da werden auch wechselweise immer andere Vertreter eingeladen - demnächst kommt der Schulpsychologe, die Deutsche Bahn ist'n Kooperationspartner mit der Schule - die kommen auch und erzählen aus ihrer Sicht. Das heißt: Es ist nicht immer der klassische Elternsprechtag, es geht nicht um das Verhalten des einzelnen Kindes, sondern es geht um Information, es geht um Austausch, es geht um kennenlernen - das sind so Phänomene. Und wenn dann jetzt jemand da ist, der die Sprache vermitteln kann, ist das enorm wichtig. Autorin: Inzwischen träten Leute aus dem Kiez an die Schule heran, um mit den Schülern etwas zu unternehmen, erzählt Hilde Holtmanns. Ein Apotheker etwa, der gezielt eine Auszubildende von der Rütli-Schule sucht oder junge Modedesigner, die mit den Schülern T- Shirts entwerfen und diese später in einem Foto- Shooting präsentieren. Auch der Ruf der Schule, die seit diesem Jahr eine Abiturstufe besitzt, hat sich verändert: Für das nächste Schuljahr haben sich erstmals wieder mehr Schüler angemeldet, als aufgenommen werden können. 13. O-Ton Hilde Holtmanns: Wir wissen, dass wir Teil sind eines Versuchs im Grunde genommen, dass hier etwas versucht wird,'ne Idee umzusetzen von dem Campus Rütli - das gibt einfach auch sehr viel Zukunftsperspektive. Da denke ich nicht in jeder Minute dran, aber man hat es irgendwo im Hinterkopf. Man weiß, es sind viele beteiligt, es ist Unterstützung da, die ganz toll ist, Leute, die das auch machen aus Interesse an der Sache man weiß, ich sag's mal jetzt ganz banal: Man ist nicht mehr so alleine. Das war so'n ganz starkes Gefühl, was ich eigentlich in der extremen Phase der Anspannung hatte, bevor wir den Brief geschrieben hatten, man hatte wirklich teilweise das Gefühl, man steht - mit dem Kollegium - alleine da. 2. Musik: Titel: Krieger des Lichts Interpret: Silbermond Komponist: Stefanie Kloß / Thomas Stolle / Andreas Nowak Label: Columbia, LC-Nr. 00162 5. Atmo Reuterplatz Vögel, etwas Autoverkehr Autorin: Am Reuterplatz im Herzen des neuen Neukölln steigen die Mieten momentan am höchsten. Neue Kneipen und Galerien liegen nur wenige Schritte von einander entfernt, und abends hört man häufiger Englisch und Spanisch als Deutsch. Die Kulturmanagerin Claudia Simon hat hier vor wenigen Jahren ihren Laden "Arm und Sexy" eröffnet, in dem sie neben der täglichen Büroarbeit auch "Vintage Interior Design" verkauft. 14. O-Ton Claudia Simon: Im Grunde ist es ein Trödelladen, aber er ist eben nicht so durcheinander und zerwühlt, wie Trödelläden meistens sind, sondern es ist aufgeräumt und die Sachen sind sortiert und es steht hier auch nicht irgendwas - die Sachen suche ich alle selbst und einzeln und genau aus. Zu vielen Sachen hab' ich'ne Geschichte: wer der Designer ist, die Firma, woher die kommen, ob aus Ostdeutschland, aus Westdeutschland. Ja, und so arrangiere ich das meistens in Möbeln, die eben auch so'n bisschen alt sind und insgesamt ergibt sich so eigentlich'ne sehr wohnliche Atmosphäre. Autorin: Neben dem Vintage-Laden betreibt Claudia Simon auch die Webseite "Kunstreuter" - ursprünglich ein Logo, das im Rahmen eines sozialen Stadtprojektes sämtliche Orte im Kiez miteinander vernetzte, die in irgendeiner Form etwas mit Kunst und Kultur zu tun hatten. Inzwischen hat sich daraus ein Verein gegründet, der wie Claudia Simon es ausdrückt: "langsam in die Gänge kommt und mit den Hufen scharrt". 15. O-Ton Claudia Simon: Das nächste große Projekt sind die "48 Stunden Neukölln", die sind vom 15. bis 17. Juni, das ist ein dezentrales Kulturfestival, an dem sich auch wirklich jeder in ganz Nord-Neukölln beteiligen kann - egal ob er Profi ist oder Laie oder was ganz anderes. Da reicht dann das Spektrum eben von durchaus sehr professionellen Ausstellungen, von Künstlern, die auch schon'n Namen haben über alles mögliche andere bis hin zu Herrn Schmidt, wo dann im Programm steht: 12 Uhr, Sonntag, 15 Minuten Trompeten, Balkon Reuterstraße soundsoviel. 6. Atmo Verlassen des Ladens Ladenglocke/ Straßengeräusche/ Schlüssel wird umgedreht Autorin: Als Kulturmanagerin kennt Claudia Simon die umliegenden Galerien aus dem effeff. Eine der ältesten ist die Galerie R31 gleich gegenüber. Die Künstler der Galerie kamen schon vor zehn Jahren an den Reuterplatz, als noch Gang-Zeiten herrschten, erzählt Claudia Simon. Jetzt prägen junge Leute mit Wollmützen, Kopfhörern und Bierflaschen in der Hand das Straßenbild. 16. O-Ton Claudia Simon: Die jüngeren Leute, die hierher ziehen, die kommen eigentlich aus den meisten europäischen Ländern, westeuropäischen hauptsächlich. England, Frankreich, sehr viele Italiener und sehr, sehr viele Spanier. Die haben ja noch mal den doppelten Druck, dass egal, was sie für'ne Ausbildung haben, überhaupt keine Möglichkeit haben, in Spanien zu arbeiten. Für die ist es natürlich wunderbar, da sind sehr viele hier. Dann gibt es'ne Menge Amerikaner, und von allem anderen, glaube ich, auch noch. 7. Atmo Straßenüberquerung/Laden: Absatzklappern über Asphalt, Tür quietscht, geht auf/ Hallo, Hallo! Autorin: In der Galerie R31 steht gerade die Besprechung der nächsten Ausstellung mit dem Hauseigentümer an. Denise Sheila Puri, eine von zwei künstlerischen Leitern der Galerie, erklärt das Konzept: 17. O-Ton Denise Sheila Puri: Der Großvater unseres Hauseigentümers hatte hier eine Molkerei, der hat Milch verkauft. Und Käse und Kalbfleisch. Und hinten auf'm Hof waren die Kuhställe, und wir machen eben jetzt'ne Ausstellung, wo wir eben die alten Bilder (...), die unserem Hauseigentümer auch gehören, mit ausstellen. Dass man mal so'n bisschen einen Eindruck bekommt, wie's hier mal vor knapp hundert Jahren war. 18. O-Ton Joachim Markmann: Mein Opa war der zweitletzte Bauer. Die Firma Mendler, die heute noch in Rudow ist, die waren die letzten, die waren in Kreuzberg, (...) und mein Opa, der ist, als Vorletzter hat der hier aufjehört. Und der ist immer bis zu den Rieselfeldern jeden Morgen mit seinem Pferdefuhrwerk gefahren - dit muss man sich mal vorstellen, dit is' also Schönefeld, heute isset jetze: Da wo jetzt der Flughafen ist! - Da ist der also jeden Morgen hingefahren und hat sein Futter geholt, also für die Kühe. Und hier oben sind ja noch die Lagerräume, also wenn man uff den Hof geht, dann sehen Sie oben diese Luke noch, und da wurde dann im Grunde genommen eingelagert: Also Heu, Stroh und allet wat die Kühe eben brauchten. Autorin: Hauseigentümer Joachim Markmann führt den Hof seines Hauses nicht ohne Stolz vor. Er sei einer der ersten gewesen, der in Nord-Neukölln an Künstler vermietet habe, erzählt er. 19. O-Ton Joachim Markmann: Bis vor fünf Jahren sind eigentlich die Familien, die hier waren, weggezogen, wenn die Kinder in die Schule gingen, und dit hat sich jetzt eigentlich gelegt. Also dit kommt jetzt zur Ruhe, und dit ist sehr wichtig an und für sich für Nord-Neukölln. Ick hatte in den letzten zwanzig Jahren war in den 25 Wohnungen war eine Familie mit Kind und inzwischen haben wir sechs Kinder - kleine Kinder, also die sind alle geboren hier. Also dit zeigt schon och'n Wohlfühlcharakter. (Lacht.) Hab'jetzt hinten och'n Buddelkasten hinjestellt, der och sehr gut angenommen wird, weil da soviel Sonne da rein scheint, auch wenn jemand Geburtstag hat: dass die Leute sich denn hier hinsetzen können, denn können'se abends denn och zusammensitzen, und dit ist eigentlich'ne sehr harmonische Sache hier, die im Haus abläuft. (Lacht.) Autorin: Auch Denise Sheila Puri hat zur Verschönerung des Hofes beigetragen: Mit einem Wandgemälde, das eine tibetische Hochgebirgslandschaft zeigt. 8. Atmo Kunstshop: Kundengespräch Autorin: In der Produzentengalerie arbeiten insgesamt neun Künstlerinnen und Künstler, die sich auch den dazugehörigen Kunstshop teilen, erzählt die Galeristin. Neben Radierungen, selbstgemachten Ohrringen, gehäkelten Herzen und Portemonnaies werden dort auch handgemachtes Porzellan, Bilder und Buchbindearbeiten verkauft. Zu günstigen Preisen, wie sie betont. 20. O-Ton Denise Sheila Puri: Unsere Hauptkundschaft besteht tatsächlich aus Neuköllnern, die hier wohnen und wissen, dass es in dem hinteren Raum diesen Kunstshop gibt. Weil, wenn man von draußen an der Galerie vorbei geht, sieht man gar nicht, dass es diesen Kunstshop gibt. Dis heißt, dis ist schon so ein "kleines Geheimnis", was wirtschaftlich gesehen natürlich nicht gerade smart ist, aber es hat sich einfach aufgrund unserer Geschichte ergeben. Und, dann kommen natürlich bei den Events, die ja viermal im Jahr bei uns hier im Reuterkiez statt finden, sehr viele Besucher. Das sind Touristen, das sind Leute aus ganz Berlin und Brandenburg, und die kommen auch wieder. Autorin: Denise Sheila Puri ist 1966 geboren und wuchs in Berlin und den USA auf. Die Kostüm- und Bühnenbildnerin lebt seit 20 Jahren in Neukölln und möchte hier nicht mehr weg. 21. O-Ton Denise Sheila Puri: Also ich finde, dass eine der Sachen, die man in Neukölln sehr stark merkt, ist: Berlin ist eine Weltstadt, und Europa ist eben Europa, die Grenzen sind offen, und ich find' dis ganz toll. Ich bedaure, dass ich jetzt nicht zwanzig bin und dis ganz ganz selbstverständlich finde, dass man in einem anderen europäischen Land leben und arbeiten kann, oder so wie dis heut auch üblich ist, dass die jungen Leute für'n Jahr ins Ausland gingen. Und ich find' dis großartig. Weil ich denke, dass eigentlich die Zukunft von uns allen genau darin liegt, dass man Menschen aus anderen Kulturen kennen lernt, das heißt A: sie einerseits besucht, aber B: sie natürlich auch in seiner eigenen Stadt kennen lernt und mit ihnen gemeinsam lebt. Weil nur so kann man sich auch weiter entwickeln. 3. Musik: Titel: Traveling Interpret: Ras Sheehama Komponist: Ras Sheehama Label: Warner International Music, LC-Nr. 14666 9. Atmo Friseurladen: Ladenglocke schellt/Hallo! Hereinspaziert!/ Waschen, schneiden, föhnen?/Ja./Und darf's'n Käffchen sein? Autorin: Im Friseurladen von Kerstin Nicklis in der Weserstraße 52 trifft sich die ganz unterschiedliche Kundschaft des Neuköllner Reuterkiezes. Ältere Damen, die seit Jahrzehnten in der Gegend wohnen, sitzen neben neuzugezogenen Studenten aus Westdeutschland. Kerstin Nicklis hat den Laden im Jahr 2008 von ihrer Alt-Chefin übernommen. Damals hieß er noch "Salon Rita". 22. O-Ton Kerstin Nicklis: Ich bin eigentlich - man kann sagen - zwei Jahrzehnte hier schon tätig im Kiez und dadurch kennt man ja auch sozusagen hier die Leute und man trifft sich auch wieder auf'm Weg und selbst wenn man jetzt den Ort des Geschäfts gewechselt hat, kommen natürlich die Kunden dann auch mit und dadurch ist dit schon eher dann familiär, weil man sich über so viele Jahre kennt hier. Autorin: Kerstin Nicklis kommt aus Ostberlin. Die 50-Jährige hat schon immer in der nahen Wildenbruchstraße gewohnt - die ähnlich wie die Sonnenallee - mit einem Teil im Westen und mit dem anderen im Osten lag. Nach dem Fall der Mauer wollte die alleinerziehende Mutter in Wohnortnähe arbeiten - dadurch habe sich der "Salon Rita" in Neukölln ergeben. Die Weserstraße, erzählt sie, sei anfangs eine ganz normale Straße gewesen. 23. O-Ton Kerstin Nicklis: Ist ja'ne ziemlich große Straße oder lange Straße, vom Hermannplatz bis zum Hertzbergplatz und war ja auch anfangs ganz normal. Aber dann kamen ja auch Zeiten, wo eben viele hier auch weggezogen sind und ja dann muss man sagen, da wurde dit eigentlich so'n bisschen düster hier. Und die Leute hatten von ihrem Kiez und Umgebung dann auch selber gar nicht mehr so positive Ansichten. Und, sag'ich mal, die, die dis ausgehalten haben, die sind umso mehr jetzt erfreut über die Wende praktisch, die es jetzt hier seit ein paar Jahren gibt. Oder zu verzeichnen ist hier auf der Weserstraße. Dass sich nämlich dis Straßenbild verjüngt hat. Autorin: Das bekommt Kerstin Nicklis auch an ihrer Kundschaft zu spüren. Seit 2008 heißt ihr Laden nicht mehr "Salon Rita" sondern "Weserwelle" - was einige der neuen Jungen zu Spontanbesuchen verleitete. 24. O-Ton Kerstin Nicklis: Ja, "Weserwelle": Eigentlich für mich war das relativ einfach: Weil man sich ja in der Weserstraße befindet und in Bezug auf Friseurarbeit - was macht man? Man macht unter anderem ja auch Dauerwellen und da bot sich förmlich die Weserwelle an, weil hier ist ja auch die Elbestraße und die Fuldastraße'n Stück weiter und dis hört sich allet eben so an wie Art Flussviertel, und hat so dann eben'n maritimen Charakter. Die Kommentare der Leute, ja (lacht) das war witzig: Anfangs die standen hier, haben reinjeschaut und - lachend - und haben mitunter "Westerwelle" gelesen oder der eine sagte: "Ja, Guten Tag! Ich glaube, Sie haben das T vergessen!" Ich sage: Wieso? "Na, schau'n Se doch mal!" Also - Westerwelle war mir natürlich überhaupt nicht in den Gedanken, aber dis war damals gerade die Zeit, wo "Herr Westerwelle" sehr im Gespräch war. Und da haben die jungen Leute natürlich gedacht, man nimmt da irgendwie gleich drauf Bezug. Autorin: Auch Einrichtungstipps habe sie bekommen, erzählt Kerstin Nicklis. 25. O-Ton Kerstin Nicklis: Also anfangs hat man sich ja auch Gedanken gemacht: Ja, was wirste hier nun alles verändern oder einiges verändern oder in Richtung Modernisieren? Und denn sind die jungen Kunden reingekommen - also fremde Kunden, die den Laden dis erste Mal betreten haben, und denn kamen so Meinungen wie: "Sagen Se mal, sind die Hauben echt?" Ja, hab' ich gesagt. Und die haben jestaunt, dass die tatsache auch noch funktionieren, und da meinte sie auch: Also wenn man reinkommt, der Laden hätte so einen Charme, und die Meinung hörte ich denn auch von anderen, dass man hier nix, eigentlich nix verändern sollte, und: Das würde hier so zeitgemäß jetzt in die Weserstraße passen. Autorin: Eine, die den Kiez schon sehr, sehr lange kennt, ist Gertrud Lehmann, 91 Jahre alt, und ebenfalls regelmäßige Kundin bei Kerstin Nicklis in der "Weserwelle". Seit Oktober 1950 - mehr als 60 Jahre - wohnt sie in der Gegend und kann sich noch gut an ihre erste Zeit erinnern. 26. O-Ton Gertrud Lehmann: Eigentlich war hier drüben die Werra-Straße - das waren Beamtenhäuser. Die haben nur Beamte reingenommen. Auch der erste Bürgermeister, der wohnte hier. Also, dis war schon'ne gute Gegend. Und auch am Wildenbruchplatz, die Straße da runter, waren alles so Leute, die so'n bisschen sich leisten konnten - die Mieten zu bezahlen. Unser Zahnarzt war da. Der hatte erst im ersten Haus gleich'n möbliertes Zimmer und hat in dem möblierten Zimmer mit seinen Zahnarztgeräten Kunden behandelt, bis die Häuser da wieder aufgebaut wurden und er denn'ne Praxis dort machen konnte, nich? Ja. Also dis war schon: Ich hab' immer gesagt: Dis ist hier der "Westen von Neukölln"! 10. Atmo Friseursalon: Wasser wird angelassen Und wieder'ne Pflegespülung, wa? (hm) Autorin: In Kerstin Nicklis' Laden trifft sich eine illustre Gesellschaft. Schauspieler sitzen dort neben Rentnerinnen, junge Theaterfrauen neben Kleingärtnern. In der zusammengewürfelten Gemeinschaft tausche man sich aus, erzählt Kerstin Nicklis. Wobei es oftmals die Älteren seien, die die Jüngeren ansprächen. 27. O-Ton Kerstin Nicklis: Sie mischen sich denn praktisch ein und geben ihre Meinung ab, weil se gesehen haben, wie derjenige vorher reinkam und wie er dann raus geht. (Lacht.) Und wenn's auch manchmal bisschen flippigere Sachen sind oder, wollen wir mal sagen: So wie sie sich die Frisur jetzt nicht ausgesucht hätten - kommt da trotzdem Freude auf und die sagen denn: Na, dit sieht ja wirklich viel besser aus als vorher, oder sagen dann auch ihre Meinung: Na, Sie haben aber Mut! (Lacht.) Und denn erklärt natürlich der Jüngere denn: Ja, aber das trägt man heute! Also so ist das eigentlich ein gegenseitiges Nehmen und Geben sozusagen. 4. Musik: Titel: Verklungenes Berlin Interpret: Max Hansen Komponist: Willi Kollo /Hugo Hirsch Label: Edition Berliner Musenkinder, LC-Nr. 12000 Autorin: Den Gartenkulturpfad gibt es seit Mai 2007. Entlang des Landwehrkanals passiert er den schmiedeeisernen Elsensteg, auf dem im Frühling und Sommer Pärchen den Sonnenuntergang genießen. Dann biegt er schließlich in die nüchterne Thiemannstraße ein: Vorbei an einer Kletterhalle und der Kleingartenkolonie "Kühler Grund", geradewegs ins historische Rixdorf, der Wiege des Bezirks Neukölln. 11. Atmo Bläserchor: Kirchenlied Autorin: In der Rixdorfer Kirchgasse spielt am frühen Ostersonntag der Bläserchor der Herrnhuter Brüdergemeine Berlin. Danach geht es wie schon seit mehr als hundert Jahren quer durch den alten Dorfkern zum Gottesacker der Gemeinde. 28. O-Ton Christoph Hartmann: 1737 kamen die ersten Flüchtlinge hierher und es gibt noch einige Familien, die auf diese böhmischen Wurzeln zurückgehen - allerdings nur noch vereinzelt, einige Familien. Die anderen sind inzwischen jetzt dazugekommene, andere Leute, die natürlich auch anders geprägt sind, mit anderem Hintergrund, jüngere Leute, die hier als Studenten oder mit jungen Familien unterwegs sind in der Stadt und die dann zu verschiedenen Versammlungen kommen - oder auch nicht kommen. Je nach dem, die wir dann auch wieder anders erreichen - so mischt sich das Veranstaltungsprogramm ganz bunt, so wie in anderen Gemeinden ja auch: vom Kinderprogramm bis offene Veranstaltungen, Gemeindeabende zu speziellen Themen und so weiter. Autorin: Christoph Hartmann ist Pfarrer der Herrnhuter Brüdergemeine in Rixdorf. Die ersten protestantischen Glaubensflüchtlinge seien vor 275 Jahren hierher gekommen. Und zwar aus dem böhmischen Horny Czerna, erzählt der Pfarrer vor einem Denkmal von König Friedrich Wilhelm I. 29. O-Ton Christoph Hartmann: Dieses Denkmal hat in diesem Jahr zu allen Jubiläen, die wir ohnehin schon feiern auch sein 100-jähriges Bestehen, ist aufgestellt worden - ja, aus Dankbarkeit für Friedrich-Wilhelm, der damals die Flüchtlinge hier aufgenommen hat, als sie eben nach einer Bleibe suchten für ihre Glaubensgemeinschaft, für ihr Leben überhaupt, das sie so unter der habsburgisch- katholischen Obrigkeit eben nicht so frei leben konnten. Er hat ihnen das hier gewährt und ist damit in die Geschichte eingegangen hier auch dieses speziellen Fleckchens. Heute ist es Berlin - damals war es weit vor den Toren Berlins. Autorin: Damals, am 1. Juni 1912, habe es eine große Einweihungszeremonie mit Vertretern aus dem Hause Hohenzollern und dem Bürgermeister gegeben, erzählt Christoph Hartmann weiter. Wer sich alte Fotografien von dem Tag ansieht, kann nicht nur schnauzbärtige Herren in Uniform oder mit Frack und Zylinder erkennen, sondern auch die Neuköllner Bevölkerung: Feingemacht auf den Balkonen mehrstöckiger Mietshäuser oder in den Fenstern einfacher Einfamilienhäuser. Die dörflichen Häuser und das Kopfsteinpflaster - es gibt sie heute noch. 30. O-Ton Christoph Hartmann: Sie bekamen hier alles zur Verfügung gestellt: Land und Häuser - zunächst waren das neun Doppelhäuser für 18 Familien - dazu die Scheunen, in die auch Einlegerfamilien einziehen konnten. Es wurde ihnen Vieh und Hausrat zur Verfügung gestellt gegen geringes Entgeld, sie wurden steuerlich zunächst erst einmal freigestellt und zunächst auch vom Militärdienst. Sie bekamen also bestimmte Vergünstigungen. Friedrich-Wilhelm hoffte natürlich darauf, dass sie hier auch die Wirtschaft in Gang bringen, die Böhmen galten ja als gute Handwerker und tüchtige Leute, die hier was - in dem immer noch entvölkerten Gebiet - etwas hochbringen konnten hier in Brandenburg, und zudem spielte natürlich die Toleranz schon auch'ne Rolle, dass er hier zeigen konnte und wollte, dass hier Menschen auch unterschiedlichen Glaubens ihren Platz finden. Autorin: Die Flüchtlinge von 1737 fühlten sich wohl in Rixdorf, das schon seit 1360 existiert. In der Richardstraße 80/81 kann man noch heute erkennen, wie die Häuser von damals ursprünglich aussahen, erklärt Pfarrer Hartmann: 31. O-Ton Christoph Hartmann: So können wir uns alle neun vorstellen: Mit dem Giebel zur Straße, so aufgeteilt dass von der Spitze des Giebels bis unten zum Grund, zum Fundament eine Mauer durchging, die beide Wohnbereiche oder beide Wohnungen teilte, so dass die Siedler so ihren eigenen Bereich jeweils hatten... Autorin: ... eine damals effektive Methode des Bauens, bei der quasi zwei komplette Häuser in einem genutzt werden konnten. Christoph Hartmann dreht sich um und geht in ein schmales, aber tiefes Gartengrundstück. 32. O-Ton Christoph Hartmann: Hier gibt's eine spezielle Technik, einen Druckknopf den ich drücken muss (drückt), um in den Comeniusgarten zu gelangen. Das ist bewusst so angelegt, ein Garten als grüne Oase hier im Viertel, mit speziellem Bezug zu dem Lebenswerk des Johann Amos Comenius, der einmal Bischof war, Theologe, aber genauso auch ein Weltendenker, Cosmopolit, ein Philosoph, ein berühmter Pädagoge, der den Menschen sah, als einen der nicht in dem Sinn erzogen werden muss, als dass man etwas in ihn einfüllen muss, ihn belehren über die Dinge, die er noch nicht weiß (...) sondern der Mensch selbst hat im Inneren alle Möglichkeiten, das aufzuspüren, das zu entdecken, was für sein Leben entscheidend wichtig ist. Und dazu nur gilt es ihn anzuleiten oder ihn sozusagen zu erwecken, dass er sich da auf die Suche macht und all das entdeckt, was Gott ihm für sein Leben schenkt. Autorin: Der Garten befindet sich auf dem Grundstück einer ehemaligen Mietskaserne und wird von einigen engagierten Menschen gepflegt. Er spiegele Comenius' Auffassung vom Lebensweg eines Menschen durch verschiedene Schulen, erklärt Pfarrer Hartmann. 33. O-Ton Christoph Hartmann: Wir sind jetzt sozusagen von der Hintertür hereingekommen, aber das ist auch die Tür, durch die man in den Garten üblicherweise eintritt, die andere ist meistens verschlossen. Das ist hier also schon der "Akademiebereich", also der Bereich, in dem der spätere Teil der "Schulbildung" sozusagen angesiedelt ist. Mit den drei Symbolen, des Teleskops und des Spiegels und des Mikroskops. (...) Das sind auch alles Gerätschaften, die hier die Kinder, oder wer auch immer kommt, durchaus mitbedienen können, die ihre Funktion haben, die man ausprobieren kann. Garten ist es eben deswegen, weil der Mensch seine Natur, seine Welt (...) durchaus gestalten kann. Nicht so, dass er sie gegen den Willen des Schöpfers sozusagen verwirrt und zerstört, sondern mitfühlend, einfühlend in die Natur und dann doch eine zweite Natur daraus gestaltet. Autorin: Der Comeniusgarten, erzählt Christoph Hartmann, werde auch von vielen Migrantenkindern aus dem Kiez besucht. Sie können hier zu bestimmten Themen forschen, etwa zum Thema Himmel oder Wunder. 34. O-Ton Christoph Hartmann: Für uns ist das ein ausgesprochen interessantes und gutes Umfeld hier. Also wenn ich von mir selbst erzählen kann: Ich bin jetzt seit dreieinhalb Jahren hier in Rixdorf und ich erlebe eine große, einerseits Offenheit in der Gemeinde - sicher an manchen Stellen auch immer Momente, wo einzelne zurückzucken oder sagen: Was soll das jetzt? - wenn wir zum Beispiel interreligiös feiern in der Gemeinde - aber möglich ist es jedenfalls und versuchen das verstärkt zu tun und Begegnung zu fördern. Unser Kirchensaal bietet sich ja auch dazu an, dass er explizit religiöse Symbolik zum Beispiel enthält, so dass wir da sehr gut mit Muslimen oder Menschen aus anderen Religionen uns da treffen und auch zusammen feiern können. Ich bin begeistert von dem Ort, von Böhmisch-Rixdorf, das gefällt mir hier, ich bin viel mit dem Fahrrad unterwegs, hab' in Berlin das Auto dann auch bald abgeschafft und merke, dass das hier wunderbar geht, auch das ist ein Pluspunkt, der für mich'ne große Rolle spielt. Kennmelodie Spr. v. Dienst Vom Brennpunkt-Stadtteil zum Szeneviertel - Der Reuterkiez in Berlin-Neukölln. Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Friederike Wyrwich. Ton: Inge Görgner Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2012 Manuskript und eine Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 1