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In aufblühenden Kaffeehäusern entwickelt sich eine neue Öffentlichkeitskultur: Bei unzähligen Tassen des Modegetränks diskutieren die Intellektuellen der Aufklärung brennende Fragen der Zeit: religiöse Toleranz und Freihandel, Pressefreiheit und Menschenrechte. Ein Thema spielt in den Debatten so gut wie keine Rolle: Es ist das Elend der aus Afrika deportierten Sklaven, die in den riesigen Feldern der frühen Agrarindustrie für den Wohlstand Europas bluten. Geräusch 1 Meeresbrandung Wind Schiffsknarren Peitschenknall AUTORIN 2 Die Geschichte des haitianischen Vodou und anderer afroamerikanischer Religionen beginnt mit der Verschleppung von zwölf Millionen Menschen aus Afrika in die europäischen Kolonien der Neuen Welt. Nichts als ihr nacktes Leben nehmen sie mit - und die Erinnerung an die religiösen Kulte ihrer Heimat. Der Historiker Oliver Gliech ist Autor des Buches "Saint Domingue und die Französische Revolution". Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der Sklaverei. O-Ton 1 Oliver Gliech Jährlich starben in normalen Jahren etwa fünf Prozent der Schwarzen. Das sind demographisch katastrophale Werte. Das ist in Deutschland in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs in etwa erreicht worden oder des Zweiten Weltkrieges. Näherungsweise kann man sich vorstellen, dass ein normales Friedensjahr für die afrikanische Bevölkerung, die dort lebend erstmal angekommen ist, Auswirkungen hatte, die Kriegen in - vor allen Dingen nicht irgendwelchen Kriegen, sondern den verheerendsten, die wir überhaupt kennen - in Europa entsprachen. AUTORIN 3 Bei Ausbruch der französischen Revolution leben in Saint Domingue, dem heutigen Haiti, fünfhunderttausend Sklaven - verschleppt aus den verschiedensten Regionen Afrikas. Wer die Pflanzungen nach der monatelangen, mörderischen Überfahrt lebendig erreicht, hat noch eine Lebenserwartung von etwa zehn Jahren. Elend sterben die Menschen nach ihrer Ankunft an Infektionen mit neuen Krankheiten, schlechter Ernährung, seelischer Traumatisierung und einer erbarmungslosen, auf ihren Verschleiß hin angelegten Arbeit. 1782 beschreibt ein Zeitzeuge das Leben der Sklaven: Z I T A T O R 1 Ihre Arbeit beginnt vor Anbruch des Tages. Um acht Uhr frühstücken sie, dann setzen sie ihre Arbeit bis Mittag fort. Um zwei nehmen sie die Arbeit wieder auf und sind bis Einbruch der Nacht, manchmal bis zehn oder elf Uhr abends tätig. O-Ton 2 Oliver Gliech Sie müssen sehr häufig auch ihre Lebensmittel anbauen. Dafür bekommen sie ein kleines Stück Land, also es ist nicht so, dass die Sklaveneigentümer jetzt sehr hohe Ausgaben hatten, um diese zu unterhalten, sondern dann hatten die Sklavenbesitzer dann eigentlich nur noch die Profite abzuschöpfen. Geräusch 2 Karge tropische Natur-Atmo in der Nacht, Grillen und Zikaden AUTORIN 4 Es ist die traumatische Stunde Null verschleppter Menschen. Sämtliche sozialen, politischen, kulturellen Bindungen an ihre Gemeinschaften in Afrika sind zerstört; ihr gesamtes bisheriges Leben pulverisiert. Musik 3 Erste zaghafte Vodou-Klänge unter den Text legen AUTORIN 5 Wie können die Geknechteten so etwas wie Gemeinschaft und Solidarität organisieren, wenn es dutzende kultureller Herkünfte gibt und keine gemeinsame Sprache? Wie lässt sich eine Basis des Vertrauens herstellen unter diesen meist sehr jungen Männern, die ihre eigene Kultur noch kaum kannten, als sie ihr entrissen wurden? Wie schaffen sich die entwurzelten Menschen einen neuen Halt? Musik 4 Vodou-Klänge steigern sich etwas O-Ton 3 Oliver Gliech Wir haben aus Senegambia Sklaven, aus dem damaligen Dahomey beziehungsweise aus den Randgebieten, Aja, Yoruba, Ibo, aus Regionen des Nigerdeltas, sehr viele Sklaven aus dem Kongoraum, die brachten alle ihre einzelnen Götter, Kulte und Rituale mit. Die wurden dort zusammengefügt, in Haiti, was eine kulturelle Leistung für sich ist, denn es hätte ja auch sein können, dass jetzt eine Religion sagt, wir beanspruchen jetzt die Vorherrschaft, das geschah dort aber nicht, und hat dafür gesorgt, dass die Sklaven eine Gemeinsamkeit hatten, allen Unterschieden zum Trotz, und das war ganz wesentlich die Religion. Musik 5 Vodou-Musik voll und laut Z I T A T O R 2 Alle Erscheinungsformen der Erde sind von Geistwesen beseelt - tote Natur gibt es nicht. Über allem schwebt der "gute Gott", Le Bondieu. Dieser höchste Gott bleibt abstrakt, tut nichts und wird auch nicht angebetet. Dafür gibt es hunderte von Loa - die Götter, die Geister. Loa verkörpern Aspekte und Aufgaben des guten Gottes. In Ritualen angerufen, fahren sie in Menschen ein und geben durch deren Mund Hilfe und Rat. O-Ton 4 Richard Haas Es gibt vierhunderteins Vodougeister, sogenannte Loa. Die sind sehr, sehr unterschiedlich. Manchmal sind sie regional auch nur anzutreffen und nicht in ganz Haiti. AUTORIN 6 Richard Haas ist stellvertretender Direktor des Ethnologischen Museums Berlin und hat sich in einem Ausstellungsprojekt mit dem haitianischen Vodou beschäftigt. O-Ton 5 Richard Haas Sie sind anzutreffen im Alltag, aber sie sind auch anzutreffen nur im geheimeren Ritual, das ist ganz vielfältig. Sie haben verschiedene Aufgaben, so wie die katholischen Heiligen auch verschiedene Ressorts haben, und das Ganze kumuliert in der Hauptgottheit - die vierhunderteins Geister - die bilden in ihrer Gesamtheit Gott, weil jeder Vodougeist einen Aspekt Gottes verkörpert. Musik 6 Ruhige Vodou-Klänge, einzelne Frauenstimme AUTORIN 7 Ezuli Freda, ursprünglich eine afrikanische Wassergöttin, ist die Loa der Schönheit und der Liebe, ähnlich der römischen Göttin Venus. Sie verkörpert auch Mutter Erde, die Mutter Haitis. Wer eine Liebesbeziehung aufbauen oder erneuern möchte, ruft sie an; die Göttin kann aber auch Gifte und böswillige Magie neutralisieren und ihren Gläubigen zu Wohlstand verhelfen. Unter ihrem zerstörerischen Aspekt wird sie als "Ezuli Dantor" verehrt; denn Vodou- Gottheiten besitzen auch dunkle Seiten, können launisch und unberechenbar sein - wie die Götter der Griechen und Römer. Die Ethnologin Wiebke Ahrndt, Professorin am Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen und Direktorin des Überseemuseums: O-Ton 6 Wiebke Ahrndt Wir in den abrahamitischen Religionen, im Judentum, Christentum, Islam, wir haben etwas salopp gesagt das Böse outgesourct. Diese Vorstellung ist in den meisten anderen Religionen der Welt - und da ist Vodou nicht ausgenommen - trägt nicht. Ein Gott, der nur lieb ist, der nur gut ist, der hat keine Kraft. Um einen Menschen beschützen zu können, muss ich auch im Stande sein, ein sehr kraftvoller Gott zu sein oder auch einer, der auch Schaden ausüben kann. Musik 7 Katholische Gesänge AUTORIN 8 Auch das Christentum schreibt sich dem Vodou ein, auf ganz eigene Weise. In Massen lassen die Plantagenbesitzer ihre Sklaven taufen; an einer echten Bekehrung zeigen sich Missionare allerdings nicht weiter interessiert. Ihren eigenen Glauben dürfen die Afrikaner auch nicht weiter ausüben. In ihrer Bedrängnis suchen sie nach Wegen, den Schein zu wahren. Der Volkskatholizismus mit seinen vielen Heiligenbildern bietet einen Ausweg. O-Ton 7 Oliver Gliech Viele afrikanische Gottheiten wurden jetzt mit christlichen Symbolen versehen oder ersetzt durch christliche Heilige, weil die eben in den Kolonien als Bild akzeptiert wurden. Die afrikanischen Sklaven sahen in ihnen aber ihre Götter, das heißt also Maria ist dann eben die Vodou-Venus - man konnte also da Maria in seiner Hütte stehen haben und dann die eigene Fruchtbarkeitsgöttin darin anbeten. Musik 8 Katholische Gesänge und afrikanische Klänge/Trommeln mischen AUTORIN 9 Und wenn die Sklaven in ihren Hütten das Bild der Jungfrau Maria verehren, meinen sie eigentlich ihre Liebesgöttin Ezuli. Damballah Wedo, ein mächtiger Wassergott, verbirgt sich hinter dem Heiligen Patrick. Abbilder des christlichen Jakobus stehen für den mächtigen Kriegsgott Ogou. Die christlichen Heiligenbilder liefern den versprengten afrikanischen Gemeinschaften die ideale Tarnung - dahinter bewahren sie Reste ihrer Kultur. Musik 9 Indianische Klänge und afrikanische Klänge/Trommeln mischen AUTORIN 10 Afrikanische Spiritualität, christliche Heiligenbilder und eine dritte Religion nimmt Vodou in sich auf: die Kulte der Taino-Indianer Haitis. Nach der Eroberung der Insel überlebte die Taino-Kultur nur wenige Jahrzehnte. Im Vodou finden sich ihre einzigen Spuren. Dazu gehören grafische Zeichen aus Maismehl, so genannte "Veves", mit deren Hilfe sich die Loa-Götter im Ritual abbilden lassen. Auch ein Frühlingsfest und verschiedene Heilrituale gehen wohl auf die Taino zurück. O-Ton 8 Wiebke Ahrndt Da gibt es Parallelen zu den Glaubensvorstellungen der Indianer im südlichen Amerika, wo die Taino ursprünglich mal hergekommen sind, und da kann man Bezüge herstellen, aber man muss immer bedenken, dass die Taino nur eine Generation noch überlebt haben nach der Eroberung durch die Spanier, das heißt der Kontakt auch zur schwarzen Bevölkerung war nicht sehr lang. AUTORIN 11 Vor ihrer vollkommenen Auslöschung konnten nur wenige Taino in die Wälder der Insel fliehen und trafen hier auch auf entlaufene Sklaven. So bedrängt und flüchtig die Kontakte zueinander waren: Die schwarze Bevölkerung Haitis hält das indianische Erbe der Vodou-Religion bis heute in hohen Ehren. O-Ton 9 Richard Haas Heilrituale sind in Vodou ganz wichtig, ein großer Teil von Vodou-Zeremonien findet zu Zwecken von Heilritualen statt. Und was der Vodou übernommen hat aus dem Indianischen, sind Archäologika der Tainokultur - deren heilige Objekte haben als Archäologika überdauert und werden in den Ritualen genutzt. AUTORIN 12 Archäologika - die museumswürdigen Faustkeile, Tonfiguren und Steinobjekte - manche von ihnen einen stattlichen halben Meter hoch - werden auch heute noch ganz alltäglich vom Vodou-Priester eingesetzt. O-Ton 10 Richard Haas Er nimmt sie in die Hand oder er legt sie auf seinen Altar, sie sind einfach quasi mit anwesend. Das Spannende für uns als Wissenschaftler ist, dass hier Archäologika in einer lebendigen Kultur weiterleben. Objekte, die ein Ethnologe oder ein Archäologe als tote archäologische Objekte klassifizieren würde, so wie sie in unseren Museumssammlungen ja auch sich befinden, finden sich plötzlich als ganz lebendige Objekte im einundzwanzigsten Jahrhundert auf Vodou-Altären. Musik 10 Noch einmal: Soundcollage christlich-afrikanisch- indianischer Klänge AUTORIN 13 Religiöse Ideen verschmelzen, verweben, neu organisieren, Kulte erinnern und neu erfinden, Rituale aus dutzenden von Ländern und drei Kontinenten zu einem neuen, stimmigen Ganzen zusammenfügen - wer ist angesichts des harten Lebens auf einer Plantage zu einer solchen Kulturleistung in der Lage? O-Ton 11 Oliver Gliech Das kann man sich nicht autodidaktisch aneignen. Genauso wie bei anderen Religionsgemeinschaften bedarf das einer langen Vorbereitung und einer langer Praxis, was voraussetzt, dass die Vodoupriester relativ viel Freizeit hatten. Es muss sich also auch um relativ privilegierte Sklaven gehandelt haben. Ein Zuckerarbeiter ist am Abend todmüde nach hartem Arbeitstag, und deshalb können wir davon ausgehen, dass die Priesterschaft von den privilegierten Sklaven gestellt wurde - und die importieren natürlich die kultischen Handlungen, die sie aus Afrika gewohnt sind. AUTORIN 14 Vodou-Priesterinnen und -Priester nehmen verschiedenste kultische, aber auch soziale Funktionen wahr, bauen Gemeinschaften in einer extrem schwierigen Lage auf, halten sie zusammen, geben ihnen Ausgleich und Hoffnung. Kranke erfahren hier beides: medizinische Hilfe mit Heilkräutern und Bandagen und spirituelle Hilfe. Dazu bitten die Priester Vodou-Gottheiten um Rat und geben dem Kranken ein kleines Päckchen mit auf den Weg - das "paquet Congo". O-Ton 12 Wiebke Ahrndt Das ist also ein psychosomatischer Heilungsprozess, um den es da geht. "Paquet" - da schwingt schon das Wort "Paket" drin, also so Gefäße, häufig Flaschen, gefüllt mit Dingen, die wir gar nicht wissen, was da so genau drin ist, das ist pflanzlich, Tiere, Steine, ähnliche Dinge, die da rein gepackt werden, die fest verschlossen werden und die dem Patienten auch mitgegeben werden und in denen sich dann die heilenden Kräfte entfalten sollen. Musik 11 Legba-Lied AUTORIN 15 Die Anrufung der Loa, der Rat gebenden Götter - dieses Ritual steht im Zentrum des Vodou. Denn die Welt ist geteilt in eine irdische und eine überirdische Sphäre. Nur das Ritual kann die Schranke zwischen den beiden Welten zeitweise niederreißen. Im Ritual können, müssen und werden - dafür sorgen die Gläubigen mit ihren Tänzen und Gesängen - beide Welten einander durchdringen. O-Ton 13 Oliver Gliech Deshalb ist der nächste Schritt, dass man den Gott, der dafür zuständig ist, nämlich Legba, dazu aufgefordert, diese Schranke beiseite zu ziehen. Der wird also als allererstes beschworen: "Legba öffne die Barriere", heißt es dann. In der Regel geschieht das so, dass Trommler die Gemeinschaft erstmal rhythmisieren, auf einen Rhythmus bringen. Teilweise fallen erste Initiierte oder auch einzelne Gläubige schon in Trance und personifizieren diesen Gott Legba. AUTORIN 16 Das haitianische Vodou-Ritual kommt ohne bewusstseinsverändernde Drogen aus - lieber wird eine starke Zigarre geraucht. Alkohol in Form von Rum ist mal mehr, mal weniger im Spiel - je nach Gottheit, die man anruft. Immer spielt Essen eine Rolle. Die Gläubigen bringen den Gottheiten Speisen dar und stärken sich während der stundenlangen Zeremonien daran auch selbst. Rudolf Mentges ist initiierter Vodou-Priester und hat in Haiti viele Rituale miterlebt: O-Ton 14 Rudolf Mentges Ein typisches Ritual hat bestimmte - genauso wie eine Messe, kann man sagen -, es gibt einfach Bestandteile, die dazu gehören. Erstens sind das die Vorbereitungen, dass alle Menschen dazu beitragen, dass das Fest auch gelingen kann. Dann werden Eingangslieder gesungen oder auch eine Litanei; dann fängt es an, intensiver zu werden, das heißt, die Trommeln setzen ein und man begrüßt die Trommeln, dann wird getanzt, dann wird gesungen, inzwischen ist der Altar natürlich vorbereitet mit allen Dingen, die man für den Loa vorbereitet hat... Musik 12 Gesänge, Rasseln, Trommeln AUTORIN 17 Tänze, Gesänge, Rasseln und Trommeln helfen, die wichtige Trance herbeizuführen. O-Ton 15 Wiebke Ahrndt Man sinkt in einen Trancezustand, und die Vorstellung in Haiti dabei ist, dass der Teil meiner Seele, der meinen Charakter ausmacht, meine Persönlichkeit definiert, dass der ein bisschen Platz macht in mir für die Seele des Loa, der dann in mich hinein fährt und aus mir spricht. Ich bin in dem Augenblick eine Hülle, derer sich der Loa bedient, um zu den Menschen zu sprechen. O-Ton 16 Rudolf Mentges Ein solches Geistwesen präsent zu spüren und dann auch zu merken, dass diese Präsenz also so mächtig im Raum ist, dass man sie tatsächlich wie einen realen Körper erlebt - man muss sich diesen Prozess eben auch als einen sehr harmonischen, es ist also eine liebevolle Erfahrung, wir reden da lieber von Erfüllung, also dass der Loa uns erfüllt - und wenn dann diese Trance vorbei ist, dann bleibt ein ganz tiefes Glücksgefühl so, auch ein Gefühl satt zu sein, es ist einfach so ein großes Geschenk, weil diese spirituelle Energie die Seele, oder wie Sie's auch immer nennen wollen, so ernährt, dass man sich damit sehr gestärkt fühlt. Musik 13 Schnellere Ritual-Musik AUTORIN 18 Wer von einem Loa ergriffen wird, der verwandelt sich in diese Gottheit. Er spricht so wie sie, isst so wie sie, tanzt so wie sie - für die Gemeinde ist der Gott nun persönlich zugegen und kann auch um Rat gefragt werden. O-Ton 17 Oliver Gliech Das ist vermutlich der Urgrund aller Religionen gewesen, dass überirdische Wesen personifiziert wurden, man konnte sie anfassen, das ist der echte Gottesbeweis: Hier neben mir steht der Gott, der Schamane repräsentiert ihn, ein Mitglied der Gemeinschaft. Man kann ihn anfassen; wenn er was sagt, dann ist das jetzt die göttliche Stimme, und ich brauche keine langen philosophischen Debatten darüber, ob Gott existiert oder nicht - der ist vor mir. Z I T A T O R 3 Die von Damballah-Wedo Besessenen züngeln, kriechen wellenförmig auf dem Boden. Sie hängen sich in das Dachgebälk und lassen sich wie eine Boa mit dem Kopf voran nach unten fallen. AUTORIN 19 Der schweizerisch-amerikanische Ethnologe Alfred Metraux nimmt in den 1950er Jahren an vielen Vodou-Ritualen teil. Er kann beobachten, wie unterschiedlich die einzelnen Loa Erscheinung treten: Z I T A T O R 4 Damballah spricht nicht, sondern pfeift. Sie sind bemüht, sich dadurch verständlich zu machen, dass sie die Töne wie gesprochene Wörter modulieren. Der Gott Ogou oder der Priester des Heiligtums übersetzt die Botschaft des Gottes. Musik 14 Glockenstück AUTORIN 20 An den Ritualen lässt sich ablesen, was den Sklaven widerfuhr - alles hat sich der haitianische Vodou gleichermaßen einverleibt, das Schreckliche und den Triumph. Die Glocke, die frühmorgens zur Arbeit treibt, kann man ebenso hören, wie das Knallen der Peitsche. Tod und Totenschädel sind im Vodou allgegenwärtig, so wie im Leben der Sklaven. Selbst Folterinstrumente finden Eingang in die neue Religion, zum Beispiel der Schraubstock, in den die weißen Herren ihre Sklaven einspannten, um sie zu disziplinieren. Hat ein Gläubiger die Götter beleidigt, so umklammert er mit den Beinen einen Ritualbaum und verharrt unbeweglich, wie ein eingespannter Sklave. Nur der Priester kann ihn aus der Starre befreien. O-Ton 18 Oliver Gliech Das sind sehr bindungsfreudige Religionen, die diversen Formen von Vodou, das heißt sie nehmen das auf, was sie für spirituell, kultisch für wirksam halten und nehmen es auf, probieren das - und wenn es nicht funktioniert, wird's wieder ausgesondert. Es entstehen also in einem fort Rituale, aber wir haben einen bestimmten Kernbestand an alten Ritualen, die seit dem achtzehnten Jahrhundert sich im Wesentlichen nicht verändert haben. Musik 15 Noch einmal Glockenstück AUTORIN 21 Katholische Liturgiegesänge bindet die afroamerikanische Religion ein, die Taufe und viele Symbole der Freimaurerei. Die Liebesgöttin Ezuli trinkt nur Champagner und liebt Parfüm - wie die reichen französischen Herrschaften vor zweihundert Jahren. In seiner Bindefreudigkeit zeigt sich der haitianische Vodou als undogmatische und tolerante Religion - ohne eine Amtskirche, die zentrale Regeln vorgeben könnte, ohne eine Heilige Schrift. Das Missionieren ist dem Vodou fremd, seine Gläubigen fühlen sich nicht im Widerspruch zu anderen Glaubensformen. Das macht die Rituale des Vodou vielfältig und bewegt, hält seine Lehren offen für Interpretationen. O-Ton 19 Oliver Gliech Es wird entschieden durch die Praxis der Masse, was nicht akzeptiert wird, das fliegt dann eben aus dem kultischen Repertoire wieder raus. Das heißt, es gibt immer mal Priester, die versuchen, Innovationen einzuführen, es gibt in einem fort neue Gottheiten, die haben meistens bloß regionale Bedeutung, wenn der Priester stirbt, stirbt auch der Gott. Geräusch 3 Kanonen, Schlachtlärm Musik 16 Französische Musik vom Anfang Wird verdrängt von Vodou-Trommeln und Kanonenschüssen AUTORIN 22 Erstaunlich viele Loa treten in Uniformen auf, ausgestattet mit schweren Stiefeln, Säbeln und Gewehren. In den Ritualen spielen Schilde, paillettenbesetzte Flaggen in den Farben Haitis und abgeworfene Sklavenketten eine Rolle. Das hat einen sehr realen Hintergrund: 1804 konnten sich die verschleppten Afrikaner aus der Gewaltherrschaft befreien, die einzige erfolgreiche Sklaven-Revolution der Weltgeschichte. Napoleon schickt seine Truppen, um die Aufständischen wieder in die Knie zu zwingen, doch die Sklaven tragen den militärischen Sieg davon und rufen ihren eigenen Staat aus. Dem Mythos zufolge war der Auftakt des Aufstandes - ein Vodou- Ritual. Die Erinnerung an diese Zeit ist im Vodou bis heute sehr lebendig. O-Ton 20 Richard Haas Die Sklaverei abzulegen, war natürlich ein riesiger Erfolg. Er war von kurzer Dauer, weil die ersten unabhängigen Präsidenten leider nicht in der Lage gewesen waren, das Land auch wirklich zu leiten. Es kam sehr schnell Korruption auf, es kamen Kämpfe untereinander auf und Haiti ist dann leider in ein Chaos gestürzt, aus dem es ja nie wirklich herausgekommen ist. Insofern hat Haiti keine guten Zeiten erlebt und natürlich denkt man dann sehr gerne an die Unabhängigkeit, an die Zeit zurück, die quasi der größte Erfolg Haitis war. AUTORIN 23 Nicht nur die Korruption, die in ihrem zusammen gewürfelten Gemeinwesen um sich greift, lässt Haiti in bitterer Armut versinken. Mehr noch sorgt dafür eine perfide Politik der einstigen Herren. Frankreich fordert von seiner abtrünnigen Kolonie einhundertfünfzig Millionen Franc, eine exorbitant hohe Summe, die heute achtzehn Milliarden Dollar entspräche. Frankreich will das Geld als Entschädigung - für den Verlust der Plantagen und den kostspieligen napoleonischen Militäreinsatz gegen die Sklaven. Z I T A T O R 5 Um Druck zu erzeugen, verhängen Europa und die USA ein Embargo gegen den jungen Staat, bis die Schulden bezahlt sind. Mehr als ein Jahrhundert lang hält Frankreich an seinen Forderungen fest. Zwischen 1925 und 1946 - unter amerikanischer Militärverwaltung - bezahlt der Staat der ehemaligen Sklaven tatsächlich einundzwanzig Milliarden Dollar Entschädigung an die einstigen Herren. Musik 17 Schlangenhafte Rassel-Klänge AUTORIN 24 Vielleicht ist der gelungene Aufstand auch ein Grund für den schlechten Ruf des Vodou. Schon im achtzehnten Jahrhundert grassiert eine Giftmord-Hysterie. Die Herren der Zuckerplantagen fürchten die Rache ihrer Sklaven. Später hieven billige Hollywood-Filme die von Nadeln durchstochenen Puppen auf die Leinwand, mit denen Vodou-Priester angeblich Menschen vernichten. Diese Praxis gibt es im Vodou nicht. Die Vorlagen solcher Horrorgeschichten stammen aus dem Propaganda-Fundus des rassistischen Ku-Klux-Klan. Nur die populäre Figur des Zombie stammt tatsächlich aus dem Vodou - sie ist ein eindrucksvolles Bild für das, was die Sklaverei einem Menschen antut: O-Ton 21 Wiebke Ahrndt Ein Zombie ist ein Mensch, dem der Teil der Seele geraubt wurde, der für die Persönlichkeit steht und für den freien Willen. Und das ist natürlich etwas, was einen Sklaven kennzeichnet, dass ein freier Wille nichts zählt. Er ist ein Arbeitsroboter für seinen Besitzer. Und das ist sicherlich eine koloniale Erfahrung, die aber bis heute trägt, und tatsächlich eine große Sorge vieler Haitianer, auch älterer Haitianer insbesondere darstellt, dass jemand von meiner Persönlichkeit Besitz ergreift. Musik 18 Heutiges Legba-Lied AUTORIN 25 Wie jede andere Religion führt Vodou seine Gläubigen auch auf einen Weg der persönlichen Läuterung. Nicht nur die Gottheiten vereinen ins sich das Gute und das Böse - das tut auch jeder Mensch. An ihn richtet Vodou einen moralisch- ethischen Auftrag. O-Ton 22 Wiebke Ahrndt Im Vodou, weil es eben auch eine Moral-Lehre ist, gibt es ganz klar die Vorstellung, dass ich, da ich mich auf einem Weg zu Gott bewegen soll, das nur tun kann, wenn ich mich meinen Schattenseiten auch stelle. Das heißt, ich muss in mein tiefstes Inneres hinein schauen, damit dieser Weg zu Gott überhaupt beschritten werden kann. Musik 19 Legba-Lied noch einmal kurz hoch AUTORIN 26 Heute ist Vodou auf Haiti Staatsreligion, neben dem Katholizismus. Sämtliche Vernichtungsstrategien der Kirche schlugen fehl; noch in den 1940er Jahren warfen katholische Priester wertvolle Vodou-Kultgegenstände auf Scheiterhaufen, und die eigenen Heiligenbilder gleich dazu, weil Vodou- Gläubige sie in Rituale einbanden. Musik 20 Leise schlichte Trommel (bis zum Ende führen) AUTORIN 27 Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre; die meisten Menschen hier leben von weniger als einem Dollar am Tag. Der Vodou nimmt bis heute komplexe Aufgaben wahr - ist immer noch Hauptgesundheitssystem des Landes, eine Gegenkultur zu den europäisch orientierten Oberschichten, dient als Kraftquelle und Überlebensstrategie. O-Ton 23 Wiebke Ahrndt In Haiti sagen viele Vodouisten sogar, Vodou sei für sie gar keine Religion, Vodou ist ein "way of life". Das heißt es gibt diese Trennung zwischen mir als Alltagsperson und mir als gläubigen Menschen nicht. Es ist eins. Und das hat natürlich schon etwas sehr Faszinierendes, sich das anzugucken, wenn die Glaubenswelt das gesamte alltägliche Leben durchdringt. O-Ton 24 Oliver Gliech Dass Dinge passieren, die einem als europäischen Rationalisten nicht so vertraut sind. Dass einfach Leute, die am Boden der Hierarchie leben, in kultischen Zusammenhängen vollkommen andere Realitäten erleben. Sie sind für kurze Zeit von der Schwerkraft und von all ihren Leiden erlöst. Und das ersetzt natürlich soziale Veränderung nicht, aber solange die nicht in Sicht sind, ist das ein wichtiges Element der Kultur von Menschen, von denen man denkt, die würden immer nur in Not und Unglück leben, aber in dem Augenblick erleben sie eben Momente der Emphase und Ekstase, und sie werden selbst zu Göttern. Und welchem Europäer ist das schon mal vergönnt? Musikende 2 von 18 1 von 18