COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Zeitreisen 14. September 2011, 19:30 Uhr "Wenn die Psyche zersplittert" 100 Jahre Schizophrenieforschung Von Wibke Bergemann Vor hundert Jahren schuf der Psychiater Eugen Bleuler den Begriff "Schizophrenie". Sie gilt als Inbegriff psychischer Erkrankungen. Eine schizophrene Krise ergreift einen Menschen umfassend. Alles kann zusammenbrechen: die Person, die Psyche, der Körper oder die Realität der Gedanken. Heute taucht das Modewort als Metapher in immer neuen Zusammenhängen auf. Das Wort Schizophrenie wurde alltagstauglich, weil es sich von der eigentlichen medizinischen Bedeutung entfernte. Vieles, was wir als Merkmale unserer Zeit betrachten, scheinen psychotische Menschen in zugespitzter Form zu erleben: Auflösung tradierter Werte, zunehmende Individualisierung, sinnlose Beschleunigung, Fragmentierung. Atmo Straße O-Ton 1 Kamp Für mich ist die ganze Welt wahnsinnig laut. ( ... ) Das wird dann ja auch bedrohlich auf der Straße, wenn man dann mit den Fahrrädern noch aufpassen muss. Also, optische Eindrücke kommen dann und so ne akustischen. Das ist dann schwer für mich einzuordnen. Dann denke ich Gefahr. Autorin Unterwegs in Berlin. Die vierspurige Straße, an der Vera Kamp entlang geht, wird gerade aufgerissen. Ein Presslufthammer dröhnt, die Fahrräder schlängeln sich auf dem Bürgersteig an den Fußgängern vorbei. Hier durchzukommen, kostet Vera Kamp viel Kraft. Die 44-Jährige ist froh, als sie ein Café erreicht, endlich wird es etwas ruhiger. Denn Kamp hört Stimmen in ihrem Kopf. Atmo Café O-Ton 2 Kamp Es ist ja dann auch schwierig, wenn man da immer eine Gruppe bei sich hat, und man da immer vermitteln muss, also der jetzt nicht, also vielleicht muss der jetzt mal warten. ( ... ) Das gehört dann irgendwie schon zu mir, die sagen einfach irgendwas zu den Situationen. Und irgendwo sind sie auch ein Helfer, also warnen einen. Autorin Vor 13 Jahren unternahm Vera Kamp einen Selbstmordversuch. Eine ihrer Stimmen hatte sie dazu angetrieben, sich umzubringen. Sie kam in die Psychiatrie und durchlebte eine schwere psychotische Krise. O-Ton 3 Kamp In dem Moment habe ich einfach nur gedacht, was ist denn das jetzt. Ich konnte nicht mehr schlafen, ich hatte explosionsartige Eingebungen in der Nacht. Es hat mich verrückt gemacht, im wahrsten Sinne des Wortes. Also, ich hatte einfach nur Angst. Autorin Die starken Psychopharmaka, mit denen sie in der Klinik behandelt wurde, halfen ihr, wieder zur Ruhe zu kommen. Doch die junge Frau litt unter den heftigen Nebenwirkungen der Medikamente. Mit Hilfe eines Psychologen schaffte sie es nach einigen Jahren, sie abzusetzen. Jetzt braucht sie die Psychopharmaka nur noch sehr selten, in Ausnahmesituationen. O-Ton 4 Kamp Wenn ich gesund sein will, gehe ich nach Hause, mache erstmal die Rollos runter, mache alles still, muss auf all die Stimmen hören und das sortieren, ist alles ok? Und alle beruhigen, alles durchsacken lassen und gucken, was für eine Meinung ich dazu habe. Autorin: Mit den Jahren hat sie gelernt, mit der Krankheit zu leben: mit den Stimmen in ihrem Kopf genauso wie mit der extremen Sensibilität, mit der sie die Außenwelt wahrnimmt. O-Ton 5 Kamp Vielleicht ist es auch einfach, feine Antennen zu haben, zu sehen, oh, der zieht heute den Fuß ein bisschen nach. Das kann ich gut für meine Arbeit gebrauchen. Das war immer dienlich für meine Arbeit als Krankenschwester, wo ich schon vorher gemerkt habe, da läuft irgendwas schief, ohne dass die Monitore irgendwas gezeigt haben. Autorin Heute kann sie offen über ihre Krankheit sprechen. Für sie selbst wäre es kein Problem, mit ihrem richtigen Namen im Radio genannt zu werden. Doch um ihre Familie zu schützen besteht sie dann doch auf einem Pseudonym. Die Diagnose Schizophrenie ist damals, vor 13 Jahren, ein Schock für sie gewesen. O-Ton 6 Kamp Das war für mich das Bild, was ich hatte von psychischer Erkrankung, was viele Menschen auch haben, glaube ich, das ist sehr grauselig. Man weiß nicht, was passiert, Elektroschocks und so. Da gibt es auch schon schlimme Bilder von Leuten, die ausrasten, das hat man schon im Kopf. Atmo Musik/Buchaufschlagen Sprecher Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler prägte vor 100 Jahren den Begriff der Schizophrenie. Mit seinem 1911 erschienenen Buch "Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenien" ersetzte Bleuler den bis dahin geltenden Begriff der Dementia praecox, der frühzeitigen Verblödung, und veränderte damit auch die Wahrnehmung der Krankheit. Der Psychiater Asmus Finzen: O-Ton 7 Finzen Bleuler ist der Einzige, der nicht nur Symptome beschrieben hat, sondern auch die normalen Funktionen. Und das ist ganz wichtig, weil er und sein Sohn haben immer wieder gesagt, im Schizophrenen bleibt das Gesunde erhalten. Und mit dem Gesunden kann man arbeiten, therapeutisch. Ich habe immer wieder Kranke erlebt, die waren hochintelligent, und wo man sich auf den ersten Blick gefragt hat, warum können die denn nicht mehr in ihrem ehemaligen Beruf als Lehrer oder als Mathematiker arbeiten. Sprecher Anfang des 20. Jahrhunderts waren die sogenannten Irrenanstalten reine Verwahranstalten - voller Menschen, die für ihre Umgebung nicht mehr tragbar waren. Man glaubte nicht, die Patienten heilen zu können. Es ging vor allem darum, sie in das Leben der Anstalt zu integrieren. Bleuler näherte sich der Krankheit mit Empathie. Der Schweizer Arzt und Anhänger Freuds lebte tagtäglich mit Schizophreniepatienten zusammen. In jahrelangen persönlichen Beziehungen zu den Kranken versuchte er, nicht nur die Symptome genau zu beschreiben, sondern auch die Inhalte der Psychosen zu verstehen. O-Ton 8 Finzen Er hatte eine ältere Schwester, Pauline, und die litt an einer Psychose. Die lebte in seiner Kindheit überwiegend zuhause auf dem elterlichen Gut. Und als er dann Chef in Burghölzli war, pendelte sie zwischen der Klinik und seiner Wohnung. Sprecher Bleuler wählte mit dem Begriff der Schizophrenie bewusst ein schwer verständliches Wort, sagt der Psychiater Finzen. O-Ton 9 Finzen Für die Öffentlichkeit, sagt man, hat er es geschaffen, weil er die Diskriminierung mildern wollte. Das stimmt möglicherweise. Das ist das eine. Deshalb hat er einen Kunstbegriff geschaffen, den kein Mensch versteht. Er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er die Karriere von dem Wort mitgekriegt hätte. Sprecher: Schizophren leitet sich ab aus dem griechischen "s'chizein" für gespalten und "phrein" für Seele. Eine gespaltene Seele. Für Bleuler sind bei den Patienten die elementaren psychischen Funktionen zersplittert und gestört: also das Denken, das Fühlen, das Wollen, und das subjektive Gefühl der Persönlichkeit. Aus Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie: Zitatorin: Das schizophrene Leben ist gekennzeichnet durch Mangel an Einheitlichkeit und Ordnung aller psychischen Vorgänge. Widerstrebende Vorstellungen und Emotionen werden ungenügend aneinander angepasst und laufen widersprüchlich nebeneinander. Wie im Traum des Gesunden überwiegt im Schizophrenen die Tendenz, sich - unbekümmert um die Realität- ein Bild der Welt nach dem eigenen widersprüchlichen Wünschen und Ängsten zu machen. Die schizophrene Funktionsspaltung macht es möglich, dass Gegensätze, die sich sonst ausschließen, nebeneinander in der Psyche existieren. Liebe und Hass gegenüber der nämlichen Person können gleich feurig sein, ohne einander zu beeinflussen. Sprecher: Vor 100 Jahren wurde die Schizophrenie als eigenständige psychische Krankheit klassifiziert. Der Zeitpunkt ist kein Zufall. Gerade hat der Wiener Neurologe Sigmund Freud seine psychoanalytische Theorie des Unbewussten aufgestellt. In der Gesellschaft der Moderne rückt das Subjekt immer mehr in den Mittelpunkt. O-Ton 10 Leferink Erst als die Menschen anfingen, über sich selbst zu sprechen, über ihre Innenleben, über ihre Subjektivität, konnte das, was die Schizophrenie ausmacht, zum Beispiel die Ich-Störung, überhaupt zur Sprache gebracht werden und auf Interesse stoßen. Erst dann haben die Psychiater angefangen hinzuhören, was denn die Betroffenen zu sagen haben, und es aufzuschreiben. Und es ist interessant, dass man das früher nicht so gesehen hat. Dazu musste erst eine andere gesellschaftliche Wahrnehmung etabliert werden. Sprecher Sagt der Berliner Psychologe Klaus Leferink. Psychiater können mit der Schizophrenie erstmals eine Störung der Subjektivität bei ihren Patienten ausmachen. Die psychische Krankheit hat damit eine tiefgreifende Bedeutung für das Selbstverständnis einer Gesellschaft. O-Ton 11 Leferink Ich habe auch die These aufgestellt, dass der moderne Roman und die Schizophrenie sich einem gleichen Entdeckungshintergrund verdanken. Der Roman bringt das subjektive Erleben des Lebens mit anderen Menschen, mit denen man zusammenkommt, erst in die Sprache rein. Ein Text über ein Individuum mit einer eigenen Subjektivität, was sich entwickelt was Kontakte hat, was Schicksale hat, gab es eigentlich nicht. Und erst als das möglich ist, beginnt man sich dafür zu interessieren für das Ich, für das ganze Innenleben. Und dann hat die Stunde der Schizophrenie eben auch geschlagen. Atmo: Zeitungsrascheln: Sprecher: Der Begriff Schizophrenie hat in den letzten 100 Jahren eine erstaunliche Karriere gemacht. Er ist aus dem medizinischen Bereich in die Alltagssprache eingewandert. Die Basler Psychiaterin Ulrike Hoffmann-Richter hat sämtliche Ausgaben von sechs deutschsprachigen Zeitungen innerhalb eines Jahres nach dem Wortstamm *schizo* durchsucht: Nur bei knapp einem Drittel der Treffer war tatsächlich der medizinische Fachbegriff gemeint. Meistens wurde "schizophren" in einem ganz anderen Zusammenhang verwendet. Das Wort dient als Metapher, als ein drastisches Bild, das Aufmerksamkeit erzeugt. Atmo: Zeitungsrascheln Zitatorin (als Collage) Wir sind weniger schizophren als die SPD Die Schizophrenie des israelischen Alltags Bis zuletzt hat die Autoindustrie die Schizophrenie bis zum Äußersten getrieben. Blühende Schizophrenie - Kunst in Vietnam. Atmo: Zeitungsrascheln Sprecher: Der Ausdruck "schizophren" löst eine Vielzahl von Assoziationen aus. Denn was eine schizophrene Erkrankung genau bedeutet, wissen die Wenigsten. Der Duden übersetzt Schizophrenie mit dem verwirrenden Ausdruck "Spaltungsirresein", und verweist auf weitere Bedeutungen wie "zwiespältig" oder "widersprüchlich". Das Wort Schizophrenie wurde alltagstauglich, weil es sich von seiner eigentlichen Bedeutung entfernte. O-Ton 12 Schomerus 1927 erscheint der Steppenwolf von Hermann Hesse. Und die Hauptperson sagt von sich an vielen Stellen im Buch, dass sie eine Schizophrenie habe. Und zwar beschreibt sie damit, dass sie eine vielfältige Persönlichkeit habe, dass sie viele Seelen habe, und sagt richtig, die scheinbare Einheit der Person wäre eine Illusion und das sei eigentlich schon lange bekannt, dass der Mensch aus einer Vielheit von Ichs besteht und die Wissenschaft hätte den Begriff Schizophrenie gefunden. Und damit setzt er die Vielheit der Persönlichkeit gleich mit der Schizophrenie. Sprecher: Der Psychiater Georg Schomerus hat mit einer Gruppe von Forschern an der Universität Leipzig große Datenbanken durchforstet und entdeckte die veränderte Bedeutung des Begriffes schon in literarischen Texten aus den 20er und 30er- Jahren: etwa bei Lion Feuchtwanger oder Stefan Zweig. O-Ton 13 Schmomerus Oder es gibt den Faust, der sagt: "zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust." ( ... ) Ich glaube, dieser Begriff ist zusammen gekommen mit einem Motiv, das es schon vorher gab, und er hat eben gleichzeitig so eine Assoziation mit Psychiatrie, mit Verrücktheit mit was Abgründigem, der den Begriff einfach noch interessanter macht. Sprecher Die Leipziger Forschergruppe befragte knapp 1000 Personen, was sie sich unter "Schizophrenie" vorstellen. Fast ein Drittel der Befragten gab an, dass bei einer Schizophrenie ein Mensch in zwei Persönlichkeiten gespalten sei. Davon waren vor allem die Befragten mit einem höheren Bildungsgrad überzeugt. O-Ton 14 Schomerus Also es ist eigentlich kein Informationsdefizit, sondern es ist eher so, dass es ein scheinbarer Wissensvorsprung ist. Es ist etwas, was man gelernt hat, ein Fremdwort. Der Begriff hat eine bildungssprachliche Bedeutung als Fremdwort und heißt, gespaltene Persönlichkeit aber auch widersinnig, absurd, verrückt, und wird auch so verwendet. Sprecher Versuche, den umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes durch verstärkte Aufklärung zu korrigieren, hält der Psychiater Schomerus für sinnlos. Zu tief habe sich das Wort in unserem Wortschatz festgesetzt. O-Ton 14a Schomerus (0:48) Das Wort diese bildungssprachliche Bedeutung angenommen. Und ich selber benutze das Wort manchmal auch, weil es einfach ein gutes Wort ist, um Widersprüchlichkeiten und Absurdität zu benennen. Man sollte nur eben ganz klar sagen, dass das Krankheitsbild der Schizophrenie nichts mit dieser bildungssprachlichen Wortbedeutung zu tun hat. Sprecher Eine Bedeutung, die mittlerweile unsere Vorstellung von der Krankheit stärker bestimmt als das medizinische Wissen und so zu einem falschen Verständnis führt. Viele Psychiater würden "Schizophrenie" am liebsten durch einen neuen Fachbegriff ersetzen, um die Krankheitsbezeichnung unmissverständlich von dem umgangssprachlichen Ausdruck abzusetzen. Das Problem: Ein neuer Fachbegriff müsste ebenso vage bleiben, um die Vielzahl an Symptomen, die eine Schizophrenie begleiten, zu fassen. O-Ton 15 Schomerus Es haben sich wirklich schon einige Leute Gedanken gemacht, wie man die Schizophrenie besser benennen könnte. Und es hat sich niemand durchgesetzt, und das liegt zum einen daran, dass man immer noch nicht genau weiß, ob es wirklich eine Krankheit ist, oder ob es nicht ein Erscheinungsbild von Krankheitssymptomen ist, die verschiedene Ursachen haben können. Und zum anderen ist es schwierig, dieses Krankheitsbild in eine griffige Formel zu bringen. Sprecher Die Symptome der Schizophrenie, wie sie Bleuler und sein Vorgänger Emil Kraepelin vor hundert Jahren zu einer Krankheit zusammengefasst haben, sind auch heute noch in der Psychiatrie gültig. Noch immer zählen zu den wichtigsten Symptomen die Störungen im Denken, der Wahrnehmung, der Gefühle und des Ich-Empfindens. Vera Kamp weiß wie es ist, wenn die Grenzen der eigenen Person zerfließen. O-Ton 16 Kamp Das ist das Gefühl, als ob sie der ganze Raum sind, dass sie nicht wissen, wo sie anfangen und wo sie aufhören. Unvorstellbar für andere, ne? ( ... ) Das ist einfach, als ob ich der ganze Raum bin und sie würden im Prinzip in mir rumlatschen. O-Ton 17 Schomerus Was Bleuler mit der Spaltung ausdrücken wollte, ist was man heute mit Inkohärenz beschreibt. Dass die Sachen nicht mehr so richtig zusammenpassen im Denken. Das ist ein ganz typisches Symptom für Schizophrenie. Dass das Denken ungeordnet wird, dass neue Worte gebildet werden. Dass Gedankengänge für Außenstehende nicht mehr nachvollziehbar sind, weil die Assoziationen ganz locker werden. Weil man vom einen zum anderen springt, weil es richtig durcheinander gehen kann. Sprecher Doch statt die Zerrissenheit und Spaltung in den Vordergrund zu stellen, wie Bleuler es tat, würde der Psychiater Schomerus heute die Krankheit etwas anders erklären: O-Ton 18 Schomerus Es ist eine Störung der Informationsverarbeitung ganz einfach. Weil ich glaube, was man eigentlich für ganz normal und gegeben wahrnimmt, dass man sich in einer Wirklichkeit bewegt, die Sinn macht. Das ist eine ziemlich beeindruckende Leistung des Gehirns, also zum Beispiel, wenn ich einen Polizeiwagen vorbeifahren sehe, und wenn der mit Blaulicht kommt, dann gehe ich davon aus, da wird irgendwo ein Unfall gewesen sein. Das weiß ich natürlich gar nicht. Das ist eine Erfahrung, die ich mitbringe, was die Szene für mich sinnvoll macht und damit auch nicht beunruhigend. Sprecher Diese integrative Arbeit des Gehirns, eine sinnvolle Wirklichkeit herzustellen, ist bei der Schizophrenie gestört - für den Betroffenen ein äußerst beängstigender Zustand. Der Kranke beginnt, sich eine eigene Realität aufzubauen, die für ihn einen Sinn ergibt. So bizarr diese Wahnvorstellungen oft auch sind, der Psychiater Schomerus betont, dass auch Gesunde in manchen Situationen ähnlich empfinden: O-Ton 19 Schomerus Dass man vor einer Prüfung ganz genau aufpasst, ob alles glatt läuft, weil man denkt, heute wird ein guter Tag. Die Ampel war grün, die nächste war schon wieder grün. Ich werde eine super Prüfung machen. Das ist nicht so fremd, alsodass man in der Umgebung irgendwelche Zeichen sucht, die eine Bedeutung für einen haben, ist eigentlich relativ normal. In der Psychose dann aber ganz doll übersteigert, dass diese Zeichen einfach Gesetz sind, dass die eine riesen Bedeutung haben, dass die einen bestimmen. Atmo Musik Autorin: In ihrem Essay "Krankheit als Metapher" beschreibt die Publizistin Susan Sontag die verschiedenen Vorstellungen, die auf schwere Krankheiten wie Tuberkulose, Lepra und Krebs durch die Jahrhunderte projiziert wurden: Zitatorin: Nichts ist strafender als einer Krankheit eine Bedeutung zu geben - da diese Bedeutung unausweichlich eine moralische ist. Jegliche gewichtige Krankheit, deren Kausalität im Dunkeln liegt und deren Behandlung wirkungslos ist, wird tendenziell mit Bedeutsamkeit aufgeblasen. Zunächst einmal werden die Gegenstände der tiefsten Furcht mit der Krankheit identifiziert. Die Krankheit selbst wird zur Metapher. Dann wird im Namen der Krankheit, das heißt indem man sie als Metapher gebraucht, dieses Entsetzen auf andere Dinge übertragen. Die Krankheit wird adjektivisch. Man sagt von etwas, es sei krankhaft, und meint damit, dass es abstoßend und hässlich ist. Im Französischen ist eine verwitternde Steinfassade immer noch lepreuse.(..) Autorin: Doch Krankheit steht nicht nur für das Übel der Welt. Susan Sontag zeigt, dass es - trotz der mit ihr verbundenen Leiden - auch die Verherrlichung von Krankheit gibt. Für die Romantiker des 19. Jahrhunderts wurde die Tuberkulose zu einem Synonym für vornehme Sensibilität und Traurigkeit. Sontag zitiert den Schweizer Schriftsteller Henri Amiel, der 1852 in seinem Tagebuch notierte: Zitatorin: Der Himmel drapiert in Grau, gefältet durch kaum merklich Schattierungen, Nebelschwaden, die an den fernen Bergen entlang ziehen; ( ... ) Blätter, die allerorten fallen wie die verlorenen Illusionen einer Jugend unter den Tränen unheilbaren Kummers ... Die Föhre, allein in ihrer Kraft, grün, stoisch in mitten dieser universalen Tuberkulose. Autorin: Die Romantiker gefielen sich darin, in Melancholie zu versinken. Heute neigen wir eher dazu, uns am Rande des Wahnsinns zu sehen. Das Modewort "schizophren", oder kurz auch einfach nur "schizo", verwenden immer mehr Menschen auch in Bezug auf ihre direkte Umgebung oder sogar auf sich selbst. "Wir Schizo-Eltern" lautet eine Überschrift in der Süddeutschen, es geht um die Misere, zwischen Kind und Karriere hin- und her gerissen zu sein. Eine Stellenanzeige wirbt mit dem Spruch Visionäre, Ästheten und Wahnsinnige bevorzugt!" um kreative Köpfe für ein Jugendmagazin. Und nicht zu vergessen: Eine der Popköniginnen unserer Zeit nennt sich Lady Gaga. Der Psychologe Klaus Leferink: O-Ton 20 Leferink Man steht heute unter dem Willen, aber auch unter dem gesellschaftlichen Druck, etwas Besonderes zu sein. Man muss sich besondern. Und sein Besonderheit herausstellen, um in der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das ist eine starke gesellschaftliche Strömung. Man sieht es in verschiedenen Fernsehsendungen, in allen möglichen Castingshows. Jeder Teilnehmer will sich gut rüberbringen und stellt sich als was Besonderes dar. Dazu muss er erkennbar sein, und dazu muss er etwas Verrücktes an sich haben. Daran erkennt man seine Individualität. Autorin: Nicht nur die Popkultur kokettiert mit dem Schizophrenen. Man nähert sich dem Wahnsinn im augenzwinkernden Einvernehmen. Schizophrenie, oder viel mehr das, was man sich darunter vorstellt, erscheint als eine alternative Seinsform, der man durchaus zustimmt und mit der man sich sogar - mehr oder weniger ironisch - identifiziert. Wir empfinden unsere Welt als verrückt. Schizophrenie scheint geradezu der Inbegriff unserer Zeit: O-Ton 21 Leferink Kraepelin, der hat gesagt, Schizophrenie, oder seine Dementia praecox, ist der Verlust des inneren Zusammenhalts der Person. Und das ist eine Sache, die wir vielleicht in leichteren Graden heute alle an uns erleben. Dass wir Schwierigkeiten haben, unseren inneren Zusammenhalt zu bewahren, beziehungsweise wieder herzustellen, bei komplexen Lebensanforderungen. Das heißt, wenn wir nicht eingebunden sind in traditionelle Lebenszusammenhänge, einen festen Beruf, eine feste Familie, sondern uns eher aufteilen müssen auf eine Patchwork-Familie, mehrere Jobs. Dass wir dann größere Schwierigkeiten haben als der traditionelle Mensch eine inneren Zusammenhang für uns herzustellen.. Autorin: Das heißt nicht, dass das moderne Leben den Menschen schizophren macht. Tatsächlich gibt es kaum Schwankungen bei der Schizophrenie-Rate: Rund 1 Prozent der Bevölkerung erlebt mindestens einmal im Leben eine Psychose. Die Rate ist seit vielen Jahrzehnten unverändert und auch in anderen Gesellschaften ähnlich. O-Ton 22 Leferink Ich nehme an, dass Menschen heute sehr unterschiedlichen Anorderungen ausgesetzt sind, und dass sie versuchen müssen, diese unterschiedlichen Anforderungen miteinander zu vereinen. Und so was zu machen wie Multitasking, sich irgendwie aufteilen. Das bezeichnen sie dann häufig als schizophren, dass es eigentlich unmöglich, dass sie es gar nicht können. Dass sie es aber trotzdem tun, obwohl es verrückt ist. Autorin: Dabei ist die Komplexität unserer Welt, das Multitasking und die Beschleunigung nicht nur eine Anforderung die von außen an uns gestellt wird, sondern auch etwas, das wir selbst in unser Leben bringen. O-Ton 22a Leferink (10:24) Es hat manchmal einen sehr entlastenden Effekt, nicht mehr eine einheitliche Person sein zu müssen. Dass man auf einem Bereich des Lebens etwas machen kann, was man vor dem anderen Teil des Lebens eventuell nicht mehr verantworten muss. Das hat was moralisch entlastendes, was psychisch entlastendes, man kann hier so sein und dort so sein. Standardbeispiel ist der Mann, der im Beruf seinen Mann steht, vielleicht auch eine Autorität ist, oder so auftritt, und dann zu einem SM-Studio geht und die Rolle des Sklaven einnimmt. Autorin: Vieles, was wir als Merkmale unserer Zeit betrachten, scheinen psychotische Menschen in zugespitzter Form zu erleben. Die Auflösung tradierter Werte, zunehmende Individualisierung, Ambivalenz, grenzenlose Beschleunigung, die Zersplitterung und Fragmentierung unseres Alltags - all das sind Tendenzen, mit denen sich die fortschreitende Entwicklung unseres Lebens beschreiben lässt. O-Ton 22b Leferink (26:50) Aspekte, die im 19. Jahrhundert bis in die 60er-Jahre hinein als unmittelbare Anzeichen für eine Pathologie gegolten hätten, sind heute einigermaßen entpathologisiert. In den Bereich des Normalen getreten. Das gilt für sprachliche Bereiche, für Kleidung. Überall, wo sie hinsehen. Wer heute mit einer zerrissenen Hose rumläuft, ist nicht länger ein Außenseiter, sondern ein Mensch, der sich eine teure Designerjeans leisten kann. Autorin Unsere Gesellschaft sympathisiere mit der Schizophrenie, meint Leferink,, weil sie darin "einen Moment ihres Verfasstseins erkennt". O-Ton 21 Leferink Die psychische Krankheit, die immer überall wieder auftaucht, um uns klarzumachen, wer wir eigentlich sind. Genauso wie andere Gruppen, meinetwegen Kriminelle. Dauernd Verbrecherfilme im Fernsehen. Wir schauen uns Verbrecherfilme im Fernsehen an, um zu begreifen, wer wir eigentlich wirklich sind. Mal mit Distanz und Abscheu, mal aber auch mit Sympathie für den Verbrecher, weil wir spüren, wir könnten auch selbst der Verbrecher sein. Atmo im Cafe Autorin: Vera Kamp hat jetzt genug, sie will nach Hause. Die Musik im Café stört sie zu sehr. O-Ton 22 Kamp Die ganz Welt wird beschallt wird, wo immer sie sind, Supermarkt und so, ist ein Horror. Man kann es ein bisschen lernen, aber eigentlich ist die Welt überlaut, es sind zu viele Eindrücke, zu viele Bilder. Man sagt ja so, dass man nicht so eine Schutzhülle hat, dass man durchlässig ist. Autorin: Was hält sie als Betroffene eigentlich von dem Begriff "Schizophrenie"? O-Ton 23 Kamp Das Wort existiert für mich so nicht. Ich habe eine Entwicklung durchgemacht, und habe gesehen dass es nicht notwendig ist. Das ist eine Kategorisierung, das braucht die Krankenkasse, und der Rententräger oder wer auch immer, für seine Gutachten. Und es gibt auch viele Fachleute, die das benötigen. Autorin Sie selbst spricht von Psychosen. So einfach ist das. Literatur: Bleuler, Eugen: Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Deuticke, Leipzig und Wien, 1911. Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie. Springer Verlag Berlin, 1972 (1916) Hell, Daniel/Scharfetter, Christian/ Möller, Arnulf (Hgg): Eugen Bleuler - Leben und Werk. Verlag Hans Huber, Bern, 2001 Leferink, Klaus: Sympathie mit der Schizophrenie: Die Moderne und psychische Krankheit. In: Zaumseil, Manfred / Leferink, Klaus (Hgg.): Schizophrenie in der Moderne. Psychiatrie Verlag. Bonn, 1997 Leferink Klaus: Schizophrenie als Modell des Postsubjekts Thesen zum Zusammenhang von Moderne und psychischer Krankheit (Colloquium 9.7.1997, Freie Universität Berlin) Schomerus, Georg / Kenzin, Denis / Borsche, Julia / Matschinger, Herbert / Angermeyer, Matthias C.: The association of schizophrenia with split personality is not an ubiquitous phenomenon. In: Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol (2007, 42(10):780-6) Sontag, Susan: Krankheit als Metapher Carl Hanser Verlag, München, 1978 1 1