Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 22. März 2014, 11.05 - 12.00 Uhr KW 12 Kleine Insel mit europäischer Größe - Leben und Überleben auf Lampedusa mit Reportagen von Karl Hoffmann Redaktion und Moderation: Katrin Michaelsen Musikauswahl und Regie: Babette Michel Ton und Technik: Gunther Rose, Anna Dhein Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Ein afrikanischer Waisenjunge über sein neues Leben auf Lampedusa: Ich habe einen Kurs fürs Pizzabacken besucht Und dann bin ich ja auch noch ein Inter- Mailand-Fan. Nur leider spielt die Mannschaft schlecht in dieser Saison. Eine Juristin, die sich für die Rechte der Flüchtlinge einsetzt: Es ist wirklich gravierend, dass wir Privatleute uns um etwas kümmern müssen, was doch eindeutig Aufgabe der Behörden ist. Hirnverbrannt ist das. Und ein Künstler über den permanenten Ausnahmezustand auf der Insel: Das Problem Immigration kommt in Wellenbewegungen immer wieder auf uns zu. 2011 zum Beispiel, als die Tunesier kamen. Lampedusa ist Teil des weltpolitischen Kontextes. In dem das Mittelmeer heiß umkämpft ist und wo ganze Regionen destabilisiert sind. Kleine Insel mit europäischer Größe - Leben und Überleben auf Lampedusa heißt es an diesem Samstag in den Gesichtern Europas. Mit Reportagen von Karl Hoffmann. Am Mikrofon: Katrin Michaelsen. Lampedusa war einmal eine Insel wie jede andere im Mittelmeer. Und kaum jemand kannte den südlichsten Teil Italiens, der geographisch betrachtet Afrika näher ist als Europa. Erst als immer öfter Boote mit Flüchtlingen vor der Küste der Insel strandeten, wurde Lampedusa zu einem Begriff und gilt mittlerweile als ein Symbol: Für die massenhafte Wanderung von Menschen aus dem armen Süden in den reichen Norden. Erst vor wenigen Tagen retteten italienische Marine, Küstenwache und Handelsschiffe mehrere tausend Flüchtlinge und brachten sie nach Sizilien. In den nächsten Monaten werden noch viele von ihnen folgen. Die Bewohner Lampedusas haben sich bis heute nicht daran gewöhnt, im Mittelpunkt der Migration zu leben. Im Gegenteil. Sie haben sich verändert. Einst eine geschlossene Gemeinschaft, ist ihnen gar nichts anderes übrig geblieben, als sich permanent mit einem ungelösten europäischen Problem auseinanderzusetzen. Wie aber gehen die Bewohner damit um? Paola la Rosa war früher einmal Anwältin in Palermo und hat sich für ein alternatives Leben auf Lampedusa entschieden, lange bevor die vielen Flüchtlinge Station machten auf ihrem Weg von Afrika nach Europa. Deren Schicksal lässt Paola la Rosa jedoch nicht kalt. Sie setzt sich dafür ein, dass sie zu ihrem Recht kommen, und sie ist eine wichtige Mitstreiterin der Bürgermeisterin Giusi Nicolini. Für sie selbst kommt ein politisches Amt nicht in Frage, Paola la Rosa will Lampedusas Gastfreundschaft auf andere Art und Weise vorführen. Mit einem kleinen Bed & Breakfast Hotel. REPORTAGE 1 Aufgeschreckt: Die Juristin Paola La Rosa hilft den Flüchtlingen wo sie nur kann. Kaum ein Besucher käme auf die Idee, in den kleinen Sandweg einzubiegen, der rechter Hand an dem hässlichen Ungetüm des E-Werkes mit seinen abgasgeschwärzten Schloten leicht abwärts zur Küste hin führt. Nach etwa 100 Metern ist die Straße zu Ende. Linker Hand eine weißgetünchte Mauer und ein Tor durch das man in einen kleinen Innenhof kommt, wie er typisch ist für Häuser im nordafrikanischen Baustil. Rechts ein großer Salon, durch dessen Glasfenster der Blick frei ist auf eine kleine schmale Bucht mit türkisblauem Wasser und einem kleinen, weißgelben Sandstrand, direkt vor der Wohnzimmertür. Wie aus dem Bilderbuch. Das ist das kleine Reich von Paola La Rosa, Ich arbeitete für die Bank Morgan & Stanley. Und ich war so beschäftigt, dass ich nicht mal Zeit hatte, um das Geld auszugeben, das ich verdiente. Tja und dann fiel es mir eines Tages wie Schuppen von den Augen: das Wertvollste, Schönste und Wichtigste im Leben ist die Zeit. Und dafür ist Lampedusa genau richtig. Hier kannst du alle Zeit der Welt haben und sie verwenden wofür du willst. Um zu lesen, oder mit Freunden einen Espresso in der Bar trinken, was in der Großstadt keiner mehr tut. Aber aufgepasst: selbst über die Zeit zu bestimmen ist nicht einfach, niemand sagt dir was zu tun hast. Wenn dir das gefällt, ist es toll, wenn nicht dann gibt's du dir die Kugel. Ihr Vater hatte das kleine Haus am Strand vor knapp 50 Jahren als Feriendomizil erworben. Schon als kleines Kind verbrachte Paola La Rosa jeden Sommer in der heiteren Beschaulichkeit von Lampedusa. Vor 12 Jahren vollzog sie zusammen mit ihrem Lebensgefährten eine radikale Wende. Sie richtete ein paar Gästezimmer ein und betreibt seither in den Sommermonaten ein Bed & Breakfast, das ihr ein bescheidenes Auskommen garantiert. Schnell erfuhr sie, dass Lampedusa keine Insel der Seligen war. Hier erlebst du alles, was es an Problemen auch im übrigen Italien gibt. Nur noch näher und noch direkter. Die Bausünden anderer betreffen dich unmittelbar, weil sich alles auf kleinstem Raum abspielt. Alles was hier abläuft ist ein Spiegel des ganzen Landes. Auch die Medien tragen ihren Teil dazu bei. Zum Beispiel wenn es im Fernsehen heißt: die Insel erlebt eine Invasion von Illegalen. Da denkst du dir, na sowas, warum hab ich davon nichts mitbekommen? Ich war doch grade beim Bäcker, habe einen Kaffee in der Bar getrunken. Wo ist bitte die Invasion? Man möchte meinen, Lampedusas Probleme würden hochgespielt um von anderen Dingen abzulenken. Paola sieht durch das große Wohnzimmerfenster auf die traumhafte kleine Bucht. Sie ist knapp über 40, hat noch immer dichtes schwarzes Haar, tiefdunkle Augen und ein herzliches Lachen wenn sie ihre Gäste empfängt. Sie ist aufgeschlossen und selbstsicher. Aber sie gesteht, dass sie und ihr Partner Carmelo auch erst mal einen Riesenschrecken bekamen, als sie dort in einer kalten Winternacht plötzlich Schreie hörte und Dutzende von Flüchtlingen aus dem Wasser stiegen. Im ersten Moment haben wir gedacht, wir müssten uns verbarrikadieren. Das war ein vernichtender Moment. Für diese Angst werde ich mich mein Leben lang schuldig fühlen. Auch wenn ich natürlich einsehen musste, dass diese Angst eine völlig natürliche Reaktion auf etwas war, was da an Neuem und Unbekanntem auf uns zukam. Paola hatte sich immer für modern, aufgeschlossen und altruistisch gehalten. Das plötzliche Auftauchen dieser unbekannten Flüchtlinge in ihrem kleinen Inselidyll stellte sie jedoch auf eine harte Probe, die sie am Ende meisterte: Wir haben schnell gespürt, dass diese Angst völliger Quatsch war. Das waren Schiffbrüchige, vor denen hat man doch keine Angst. Das hat doch keinen Sinn. Jemand der Hilfe braucht, ist einem höchstens gleichgültig, aber er macht einem bestimmt keine Angst. Wir haben also die Küstenwacht angerufen, mit den Autoscheinwerfen den Strand beleuchtet. Wir zogen die Flüchtlinge aus dem Wasser, die selber vor Angst und Kälte zitterten. Einer von ihnen fragte mich schließlich: "Sind wir in Italien?" Und ich antwortete." Nein. Das hier ist noch lange nicht Italien". Paola holt das kleine Mokkakännchen vom Regal, schraubt es auf, füllt es mit Wasser und Kaffeepulver und stellt es auf die Gasflamme am Herd. Alles geschieht langsam und bedächtig. Paola hat sich dem Rhythmus der Insel angepasst. Denn in Lampedusa scheinen die Uhren langsamer zu gehen. Draußen regnet es in Strömen. Schlechtes Wetter verhindert nicht nur die Überfahrt von Flüchtlingsbooten, sondern legt auch das öffentliche Leben weitgehend lahm. Die Fährverbindungen zum Festland sind manchmal tagelang unterbrochen. Es bleibt Zeit zum Reden und zum Nachdenken. Und Paola beschloss eines Tages, dass sie sich stärker für die Rechte der Immigranten einsetzen wolle. In der Hoffnung, dass die italienische Regierung und auch die EU mehr unternehmen, um die fliehenden Menschen zu retten. Umso grösser war der Schock für sie als am 3. Oktober letzten Jahres ein Schiff vor der Küste Lampedusas kenterte und 366 Menschen ums Leben kamen. Es war ein epochales Ereignis. Obwohl wir auch schon vor dem 3. Oktober wussten, dass jedes Jahr viele Hundert Menschen im Mittelmeer ertrinken. Jahrelang hatte ich es als meine moralische Pflicht betrachtet, von den Flüchtlingsbooten zu erzählen die Flüchtlingspolitik anzuklagen und die Zustände hier anzuprangern. Und oft warf man mir vor ich würde übertreiben. Als am 3. Oktober die Menschen vor unserer Insel starben, also praktisch vor unseren Augen, da hatte ich keine Lust mehr zu reden. Die Leute riefen bei mir an und ich sagte Ihnen: was soll ich jetzt noch sagen. Zehn Jahre lang habe ich dafür gekämpft, dass so etwas nicht passiert. Und es hat nichts gebracht. Freunde und Feriengäste haben mich angerufen, als wollten sie mir ihr Beileid aussprechen. Ich wurde richtig sauer. Das waren doch keine Angehörigen von mir. Leute, ihr verwechselt da was. Als Reaktion auf das traumatische Ereignis gründete Paola schließlich mit einigen Freunden das "Komitee 3. Oktober". Seither findet in Lamepdusa am 3. jeden Monats eine kleine Veranstaltung statt, um der Opfer zu gedenken und die sichere und menschliche Aufnahme der Flüchtlinge in Europa zu fordern. Paola La Rosa kämpft auch um die Einrichtung einer Datenbank mit den Genproben der Ertrunkenen. Denn bis heute wissen die viele Hinterbliebenen nicht, in welchem der drei Massengräber auf Sizilien ihre ertrunkenen Angehörigen beigesetzt wurden. Darüber ist Paola empört: Es ist wirklich gravierend, dass wir Privatleute uns um etwas kümmern müssen, was doch eindeutig Aufgabe der Behörden ist. Das ist das Bescheuerte an diesem Land, dass Paola La Rosa, die Besitzerin eines Bed & Breakfast auf Lamepudsa um die Einrichtung einer eine Datenbank für tote Flüchtlinge kämpfen muss. Hirnverbrannt ist das. LITERATUR In Lampedusa besitzen wir seit 1842 nichts mehr, weder einen Orangenhain noch einen Garten, auch weil ich glaube, dass keines dieser beiden wunderbaren Dinge diesen melancholischen Felsen gedeihen kann. Eine Pfarrei gab es dort nie, weil die 2000 Lampedusaner seit jeher den Ruf haben, sich durch keine Religion binden zu lassen. Da sie früher die Komplizen und Handlanger der Barbaresken waren, sind sie, wenn überhaupt, mehr Mohammed zugeneigt als Christus. Guiseppe Tomasi di Lampedusa, sizilianischer Aristokrat. Adam Allasan ist einer von ihnen. Einer der Afrika verlassen hat, um in Europa ein neues Leben zu beginnen. Und wie so viele vor und nach ihm, wählte auch Adam den lebensgefährlichen Weg, und zwar den über das Mittelmeer. Allein im vergangenen Jahr wagten fast 45.000 Menschen die Überfahrt nach Italien und nach Malta. Damit waren es so viele wie noch nie, berichtet die Internationale Organisation für Migration in Genf. Die meisten der Flüchtlinge kamen zunächst nach Lamepdusa. So wie Adam. Für ihn war die Insel jedoch keine Durchgangsstation, sondern Adam ist geblieben. Seit vier Jahren schon lebt er hier. In Sicherheit. Für den 19jährigen inzwischen eine Selbstverständlichkeit. Dreimal pro Woche kommt Adam zu Paola La Rosa. Sie gibt ihm Nachhilfe-Unterricht in Italienisch und in Geschichte. Und Adam lernt wie ein Besessener. Er saugt alles auf, was ihm eine bessere Zukunft verspricht. REPORTAGE 2 Angekommen: Der afrikanische Waisenjunge Adam Allasan hat auf Lampedusa ein neues Leben begonnen. Das ist der italienische Sender Radio Radicale, den höre ich immer. Jeden Morgen, kaum dass ich aufgestanden bin. Um zu lernen mache ich das Radio an und höre mir an was die Politiker zu sagen haben. Willst du denn auch Politiker werden? Wenn es sich ergibt, natürlich. Aber ich muss erst die Schule beenden und das ist nicht leicht. Aber ich will diese Chance unbedingt wahrnehmen. Jetzt helfen die Menschen mir, und wenn ich mir Mühe gebe, werde ich später anderen helfen können. Adam ist klein, kaum 1.70 groß. Begrüßt er andere Menschen, dann huscht ein scheues Lachen über sein Gesicht. Auf der linken Wange trägt er eine Brandnarbe, auch die Handrücken sind gezeichnet. Adam hat jede Hilfe verdient. Aguassi nannte ihn seine Großmutter. Sonntag. Adam ist ein Sonntagskind, vielleicht ist er deshalb noch am Leben. Mein Vater starb, als meine Mutter gerade schwanger war. Nachdem ich auf die Welt kam, hat mich meine Mutter verlassen, um einen anderen Mann zu heiraten. Bis ich fünf Jahre alt war, habe ich geglaubt, dass meine Großmutter meine Mutter sei. Später hat Adam erfahren, dass sein Vater von fundamentalistischen Glaubensbrüdern umgebracht wurde. Als er 15 war, wurde auch er bedroht und konnte aber rechtzeitig fliehen. Adams 2. Leben begann in einem Autobus Richtung Norden. Als wir an die Grenze zu Togo kamen, musste ich mich unter den Sitzen verstecken, weil die Polizei mich nicht durchgelassen hätte. Ich war ja erst 15. Um von Togo nach Benin zu kommen, wieder das gleiche. Und dann wieder als ich nach Agades im Niger musste. Agades, infernalische Durchgangsstation für Flüchtende aus aller Herren Länder. Und der Startpunkt für die Höllenfahrt Richtung Libyen auf einer Piste, die gesäumt ist von menschlichen Überresten. Beinahe wäre er von bewaffneten Straßenräubern getötet worden Einer hat vor meinen Augen einen Mann erschossen. Direkt vor mir. Da ist in meinem Hirn alles durcheinander geraten. Dann fragten sie mich: Wie heißt du? Mein Name ist Adam. Adam! Wie alt bis du? 15. Wir wollen Geld. Wenn du Geld hast, bis du unser Freund. Wenn nicht bist du ein Feind Ich sagte: Ich habe kein Geld. Du hast doch gesehen, wie wir grade jemanden umgebracht haben. Wer kein Geld hat muss sterben. Wenn du kein Geld hast, dann ist deine Reise hier zu Ende. Ein paar Mitreisende sammelten etwas Geld für Adam, er blieb am Leben. Kam nach Tripolis und schlug sich durch, bis vor drei Jahren der Bürgerkrieg ausbrach. Adam geriet in die Hände von Soldaten, wieder hatte er den Tod vor Augen, rannte um sein Leben und schaffte es auf ein Flüchtlingsboot Richtung Europa - und wäre um ein Haar ertrunken, in der stürmischen See gingen viele seiner Schicksals-genossen über Bord. Direkt vor mir trieb einer, mit dem ich grade Freundschaft geschlossen hatte und der kurz zuvor noch neben mir gestanden war. Er hat die Arme gehoben und geschrien. Aber wir konnten nichts für ihn tun. Wieder hatte ein gütiges Schicksal das Sonntagskind verschont. Adams Boot schaffte die Überfahrt, auf Sizilien wurde er in einem Jugendheim untergebracht. Dort begann er wieder einmal ein neues Leben. Adam lernte endlich lesen und schreiben. Im letzten Jahr, mit 18, bekam er ein Stipendium, mit dem er in diesem Jahr auf Lampedusa den Schulabschluss machen kann. Er ist unglaublich fleißig, einer der Besten in seiner Klasse. Paula kann stolz auf ihn sein. Ich habe eine gute Note in Geschichte bekommen. Alles was wir am Tag vorher hier durchgenommen haben, habe ich gewusst, Ging glatt. Was war das? Die Perserkriege Marathon? Ja genau . Und den Aufsatz in Italienisch habe ich einfach so hingeschrieben. Und am Ende hat die Lehrerin gesagt: Adam das ist in Ordnung. Danke hab ich gesagt. Mein italienischer Freund zum Beispiel hat die Prüfung nicht bestanden. Adam ist gut aufgehoben in einer Gastfamilie. Und wenn er Zeit hat dann pflegt er seine beiden Hobbies: die Pizza und den Fußball: Ich habe einen Kurs fürs Pizzabacken besucht Und dann bin ich ja auch noch ein Inter- Mailand-Fan. Nur leider spielt die Mannschaft schlecht in dieser Saison. Paula hast du den neuen Rucksack gesehen, den sie mir geschickt haben? Von Inter . Ich habe mich im Fanclub eingeschrieben, und dann kam der Rucksack an. Er sei ein guter Mittelfeldspieler, kleiner aber auch schneller als die anderen, sagt Adam. Beim Fußballspielen vergisst er die Todesangst, die ihn noch immer ab und zu heimsucht. Dann sage ich mir: Adam, du kannst überleben, du weißt das jetzt. Aber es ist keine einfache Sache. Ich habe blutige Körper und geschundene Leichen gesehen. Ich habe gesehen, wie Menschen umgebracht wurden. Das macht es nicht einfach. Adam ist glücklich auf Lamepdusa. Hier hat er ein neues Leben begonnen, sein 5., wenn er richtig gezählt hat. Er ist durch das Tor Europas getreten, wo seine Zukunft liegt. LITERATUR Das Fehlen der Bäume auf der gesamten Fläche dieses Landes erzeugt in mir eine dunkle Traurigkeit, verstärkte meine Einsamkeit und machte mich geradezu orientierungslos. Die Bewohner der Insel leiden nicht unter diesem Gefühl, aber wer nicht zu ihnen zählt, der kann nicht anders als nach einer gewissen Zeit auszurufen: Oh ein Baum! Wer gibt mir einen Baum! Leutnant Edoardo Avogadro di Vigliano, italienischer Kommandeur, 1879. Sein Lied "Libertà", die Hymne an die Freiheit, hat Giacomo Sferlazzo im Jahr 2009, in nur wenigen Stunden komponiert. Aus Protest. Gegen die Zustände in den Flüchtlingslagern. Damals, vor fünf Jahren, drohte die Situation im Lager zu eskalieren, weil die Regierung in Rom den Weiter-Transport von Immigranten verzögerte. Die Protest-Hymne "Libertà" war Giacomos Antwort, und sie war tagelang auf der Piazza vor dem Rathaus zu hören. Giacomo war damals drauf und dran die Insel zu verlassen und sein Glück auf dem Festland zu suchen. Als Maler, Liedermacher und Poet. Doch daraus ist nichts geworden. Er ist mit seiner Familie geblieben. Leben kann er zwar noch immer nicht von seiner Kunst. Aber im Haus seines Schwiegervaters ist genug Platz. Außerdem ist Lampedusa für ihn zu einer perfekten Bühne geworden, mit einem wachsenden Publikum, dem er seine Gedanken über "Immigration", "Menschenrechte" und das "Ungleichgewicht zwischen Reich und Arm" vortragen kann. Themen, die Giacomos Ansicht nach, weit über die Insel hinausreichen. REPORTAGE 3 Aufgewühlt: Der Künstler Giacomo Sferlazzo hat Lampedusa doch nicht verlassen. Giacomo holt seine Gitarre vom Rücksitz des Autos und zieht einen Schlüsselbund aus der Tasche. Wir gehen jetzt in unseren neuen Ausstellungsraum. Hier sind jede Menge Fundsachen aus den Flüchtlingsbooten untergebracht. An der Außenwand des einstöckigen schmucklosen Gebäudes im Ortsteil Guizza, versteckt zwischen leeren Urlauberhotels und verwilderten Baugrundstücken, sind kunstvoll alte farbige Bretter angeordnet. Bootsplanken vom Schiffsfriedhof unten am Hafen, wo immer noch Dutzende von zerborstenen Fischkuttern aus Libyen und Tunesien liegen. Porto Emme - der Hafen für Musik, Migration Misere und vieles andere mehr, erklärt Giacomo. Hier hat Giacomo mit seinen Freunden die Zeugnisse des jahrelangen Flüchtlingsdramas an Europas Südgrenzen gesammelt. Seit 1. Februar sind sie in einer Dauerausstellung zu besichtigen, Als wir all diese Fundstücke beisammen hatten überlegten wir, was wir wohl damit tun könnten? Warum wir sie eigentlich gesammelt hatten? Erst wollten wir ein Museum einrichten, aber jetzt ist es einfach nur eine Ausstellung für alle geworden. All diese Objekte drücken etwas aus. Tragen eine Botschaft in sich. Wenn ich vor ihnen stehe, dann ist es als könnte ich die Schreie der Allerärmsten hören, jener, denen man selbst das Recht auf ein eigenes Leben verweigert hat. Nur wenn man diese Dinge den Leuten zeigt, sind sie zu etwas nütze. "Porto Emme" besteht aus einem großen Raum. Giacomo zeigt auf eine stilisierte Weltkarte an der linken Wand. Die Kontinente sind aus Kartons geschnitten, über die man von Flüchtlingen verlorene Kleidungsstücke gezogen hat. Ein bunter Alt-Kleider-Weltatlas, Symbol der stetigen Wanderungsbewegungen der Menschheit. Die nur ins Bewusstsein der Menschen rückt, wenn Tragödien passieren, wie im Herbst vergangenen Jahres. Was damals geschah war ja nur ein Ereignis von vielen, wenn auch mit den meisten Todesopfern. Aber es sind ja an die 20.000 Menschen gestorben in den letzten Jahren. Das Unglück vom 3. Oktober hat die Aufmerksamkeit der Menschen im übrigen Europa nur deshalb auf Lampedusa gelenkt, weil es viele Tote waren. Wir in Lampedusa nehmen das anders wahr. Bei uns geht das nun schon seit 2004 so, das Problem Immigration kommt in Wellenbewegungen immer wieder auf uns zu. 2011 zum Beispiel, als die Tunesier kamen. Lampedusa ist Teil des weltpolitischen Kontextes. In dem das Mittelmeer heiß umkämpft ist und wo ganze Regionen destabilisiert sind. Die heile Welt ist eine Heuchelei, singt der Liedermacher Wir sind die Moderaten, die Guten, die Höflichen, die Wohlerzogenen. Wir sind die Moderaten, die Gutgläubigen und Sparsamen, tragen allerdings Waffen, wenn wir außer Haus gehen. Lampedusa ist wie ein Magnet, so die simple Antwort von Giacomo auf die Frage, warum er letztlich doch nicht ausgewandert ist. Die Insel hat ihn festgehalten, und er ist damit zufrieden. Kürzlich ist meine jüngste Tochter zur Welt gekommen, die zwei anderen Kinder wachsen heran. Und als Künstler sehe ich die Dinge inzwischen viel klarer. Es hat viele Auseinandersetzungen gegeben, viele Proteste. Inzwischen habe ich jeden Glauben an die Institutionen verloren, dafür halte ich immer mehr von kleinen, selbständigen Gemeinschaften. Banken und Modefirmen wollten diese Ausstellung von Fundstücken mitfinanzieren, aber wir haben nein gesagt. Wir brauchen euch nicht. Wir machen das alleine. Giacomo nennt sich Künstler und Aktivist. Seine Weltsicht ist oft plakativ. Mit seinen zornig-beißenden Liedern gegen Establishment und die Mächtigen der Welt wirkt er wie ein Don Quijote an den Grenzen Europas. Beinahe mit Ehrfurcht betrachtet er all die gesammelten Zeugnisse von menschlichem Leid, die er liebevoll in seiner Galerie angeordnet hat Briefe, Fotos, Tassen. Babyfläschchen, ein gelbes Nudelsieb, Rettungsringe und Schwimmwesten und eine grüne Plastikflasche mit einer auf Arabisch geschrieben Botschaft samt Handy Nummer: "Wer diesen Zettel findet bekommt mich zur Frau nach moslemischem Ritus". Uns geht's gut, denn wir stellen uns immer auf die Seite der Sieger. Giacomos strubbeliger schwarzer Bart ist in den letzten Jahren genauso gewachsen wie sein Zorn auf den Opportunismus der reichen Europäer. Ihnen gibt er die Schuld dafür, dass aus Lampedusa ein derart neuralgischer Punkt in Europa geworden ist. Nur ein Beispiel: Unsere Erdölfirmen haben das Nigerdelta zerstört, eine der schönsten Landschaften auf der Welt. Kann man das, was wir da machen, wirklich Fortschritt für die Afrikaner nennen? All diese Länder sollen ein Recht auf Selbstbestimmung bekommen. LITERATUR Eine kleine Insel ohne Häuser, voll niedrig wachsender Myrte und Wacholder. In glücklicher Abgeschiedenheit für Hirsche, Rehe Hasen. Außer den Fischern ist sie kaum jemandem bekannt. Wo die feuchten Netze zum Trocknen auf Bäumen hängen: Und die Fische derweil in ruhigem Meere schlafen. Ludovico Ariosto, italienischer Dichter, Anfang des 16.Jahrhunderts. Enzo Bellici war häufig Retter in letzter Not. Wenn er mit seinem Fischkutter auf dem Mittelmeer unterwegs war, und einem in Seenot geratenen Flüchtlingsboot zu Hilfe eilte. Wobei er sich damit eigentlich strafbar machte. Denn seit dem Jahr 2002 gilt das sogenannte Bossi-Fini-Gesetz, benannt nach den beiden Urhebern. Dem früheren Chef der Lega Nord, Umberto Bossi und nach Gianfranco Fini, dem ehemaligen Anführer der neofaschistischen Partei Alleanza Nazional. Das Bossi-Fini-Gesetz besagt, dass sich jeder, der einem Schiffbrüchigen zu Hilfe eilt, der Beihilfe zur illegalen Einwanderung schuldig macht. Und das gilt nach wie vor in Italien. Keine der nachfolgenden Regierungen in Rom sah sich bislang dazu veranlasst, an dieser gesetzlichen Regelung etwas zu ändern. Inzwischen aber hat die italienische Marine ihre Präsenz im Mittelmeer stark ausgebaut und versucht selbst Flüchtlingsboote, wenn möglich, schon auf hoher See aufzuspüren und zu retten. Und inzwischen hat auch Enzo Bellici ganz andere Sorgen. Der Fischer ist zum Gemeinderat gewählt worden und hat auch gleich das Amt eines Assessors übernommen. Er ist zuständig für die Fischerei, das Transportwesen und die Wasserversorgung auf Lampedusa und hat sich damit die wichtigsten Probleme der Insel aufgehalst. REPORTAGE 4 Pflichtbewusst: Enzo Bellici muss sich als Assessor um die wichtigsten Probleme der Insel kümmern. Die Flex sprüht Funken, während Enzo das Stahlseil durchschneidet. In regelmäßigen Abständen müssen die Taue der Fangnetze ausgetauscht werden, mit der Zeit scheuern sie durch auf dem Meeresgrund. Wenn sie draußen auf hoher See reißen, dann sind die Netze futsch und natürlich auch die gefangenen Fische. Enzo hat jetzt aber erst einmal genug. Er ruft zur Kaffeepause in seinem Stammlokal. Dort warten seine Brüder Seit er Assessor ist werde er dauernd auf den Arm genommen, beklagt sich Enzo immer soll er den Espresso für alle bezahlen. Enzo gibt sich entrüstet. Bei ihm wirkt das wenig glaubwürdig. Trotz seiner 50 Jahre ist er schlank und geschmeidig und ausgesprochen jungenhaft. Tatsächlich ist er hochgeschätzt bei seinen Kollegen, Sie wissen, er ist zuverlässig, erfahren und verantwortungsbewusst. Und natürlich versteht er Spaß Mehr als einen Kaffee gibt's aber nicht. Kaum ist der Espresso ausgetrunken wird diskutiert. Enzo berichtet von seinem jüngsten Besuch der Regionalregierung in Palermo. Die Fischer von Lampedusa beklagen sich seit Jahren bitter über die unlautere Konkurrenz der Tunesier, direkt vor ihrer Insel. In den Gewässern um Lampedusa stoßen zwei Welten aufeinander. Wir unterstehen all den europäischen Vorschriften. Wir müssen Ortungsgeräte an Bord haben, dürfen nicht über die 12 Meilen hinausfahren. Und in diesem engen Bereich muss ich mein Brot mit den Tunesiern teilen. Die kümmern sich nicht um europäische Normen, fischen unerlaubt in italienischen Gewässern und niemand schickt sie weg. Warum nicht? Weil Italien keinen Streit mit Tunesien will. Und wenn ihr die tunesischen Fischer bei der Küstenwacht anzeigt? Dann gibt's Riesenärger. Innerhalb von 24 Stunden beschlagnahmen die Tunesier als Rache ein italienisches Fischerboot vor ihrer Küste. Unsere eigene Regionalregierung hat uns deshalb schon gerügt. Wir sollen keinen Ärger machen und Ruhe geben. Dabei haben die tunesischen Boote doch auch ein GPS. Und die Küstenwacht sieht die genauso wie mich. Ich trau mich nicht aus der 12 Meilenzone hinaus, weil ich sofort eine Strafe bekomme. Die Tunesier dagegen dürfen unerlaubt hier zu uns herein und keiner unternimmt etwas dagegen. Schon seit vielen Jahren geht das so. Und das ist nicht das einzige Dauerproblem der Fischer von Lampedusa. Sie müssen ihren hart erarbeiteten Fang 180 Kilometer weit nach Sizilien schicken. Weil die Fähre schon recht klapprig und störungsanfällig ist, stellt sie den Betrieb ein, sobald das Wetter schlecht wird. Dann bleiben die Fischer auf ihrem Fang sitzen. Er verliert rapide an Wert und wandert am Ende in die Konservenfabrik. Enzo will nun als zuständiger Assessor versuchen, etwas daran zu ändern, aber das haben andere vor ihm auch schon vergeblich versucht. Enzos Brüder gehen alleine zum Fischkutter zurück. Enzo hat einen Anruf bekommen. Ein Notfall, für den er als Gemeindeassessor zuständig ist. Wo fahren wir hin? Ich muss ein Pumpwerk der Kanalisation unten am Strand in der Turchese-Bucht überprüfen. Die Pumpe arbeitet nicht richtig. Das Abwasser droht überzulaufen und den Strand zu verunreinigen. Schauen wir mal was los ist. Die Arbeiter sind schon da. Ja leider bin ich auch dafür zuständig. Für die gesamte Wasserversorgung und die Kanalisation. Während ein heftiger Wintersturm losbricht schaut sich Enzo di Bescherung an. Die Halterung der Pumpe ist gebrochen, der Sammler muss erstmal geleert werden, bevor man den Schaden reparieren kann. Das Abwassersystem ist vor 40 Jahren gebaut worden und war ausgelegt auf 3500 Bewohner. Jetzt steigt die Bevölkerung im Sommer auf mehr als 20.000 Personen an, das Abwassersystem bricht immer wieder zusammen und dann hat Enzo ein Problem. Gehen wir zu Fiorella auf die Gemeindeverwaltung, erklären ihr das Problem und dann sehn wir was zu tun ist. Fiorella Scalia ist Ingenieurin und verantwortlich für alle Baumaßnahmen auf der Insel. Kaum steht Enzo vor Fiorellas Schreibtisch, gibt's erstmal eine gehörige Gardinenpredigt: Ihr müsst eure Probleme alleine lösen. Sagt mir was ihr an Material für die Pumpe braucht, alles andere ist eure Sache. Ich frage ja nur nach, zur Sicherheit, damit wir das schnell in Ordnung bringen Ich schaffe das alles nicht mehr, ich habe anderes zu tun, ihr müsst alleine zurechtkommen. Natürlich trügt der Schein: Enzo und Fiorella sind die besten Freunde. Die Aufregung ist meist gespielt, aber sie spiegelt die Wirklichkeit von Lampedusa wieder. Auch ohne die Immigranten sind die Probleme der kleinen Insel kaum zu lösen. Es fehlt an Geld und Personal. Die Bürger erwarten mehr, als ihre Gemeindeverwaltung zu tun in der Lage ist. Fiorella muss bis tief in die Nacht schuften und ist dann schnell gereizt. Enzo ist müde, morgen früh wird er sich um die Kanalisation kümmern. Er verlässt die Gemeindeverwaltung und macht sich auf den Nachhauseweg durch den rauschenden Regen. Langsam fährt er wie durch eine Wasserwand, die Straße ist überflutet, Donner grollen, Blitze schlagen auf der Insel ein. Plötzlich verlöschen alle Lichter Das Telefon klingelt, Enzos Frau Piera ist dran. Was ist, bist du noch am Leben? Soll ich dir die Gemeindepolizei schicken? Oder hast du dich unter der Bettdecke versteckt? Bravo. Ist der Strom ausgefallen? Hast du Angst? Dann bleib einfach im Bett. Ich komme gleich. Enzo lacht. Er ist seit 30 Jahren glücklich verheiratet hat zwei erwachsene Kinder, die Lampedusa inzwischen verlassen haben. Und manchmal fragt er sich, was ihn hier noch hält. Er erfüllt seine Pflicht als Assessor, aber immer öfter sehnt er sich aufs Meer hinaus, so weit weg, wie er mit seinem Kutter darf, wo sein Handy keinen Empfang mehr hat und ihn keines der ungelösten Probleme Lampedusas mehr einholen kann. LITERATUR Lampedusas Position ist die beste, die das Mittelmeer zu vergeben hat. Sie eignet sich sogar besser als Malta dazu, in Friedens- wie in Kriegszeiten eine Flotte zu stationieren. (...) Dies ist die beste Position um den Handel zu beschützen. Da sich die Insel auf halbem Weg zwischen der Levante und der Meerenge von Gibraltar befindet könnten die Frachter, die von der einen und der anderen Küste kommen, von den hier stationierten Fregatten beschützt werden. Fürst Grigori Alexandrowitsch Potjomkin, russischer Feldherr Ende des 18. Jahrhunderts. Die einen nennen sie "Die Rettungsinsel", andere sprechen von einer "Verkehrskreuzung für Migranten": Es sind vor allem die Flüchtlingsdramen, die mit Lampedusa verbunden werden. Doch die Insel ist noch viel mehr. Meeresbiologen erforschen die Unterwasserwelt, Ornithologen beobachten die Zugvögel. Und Klimaforscher befassen sich seit Jahren schon mit einem der drängensten Probleme der Menschheit: Mit der drohenden Zerstörung der Atmosphäre und der Erderwärmung. Nur wenige Orte gibt es auf der Welt, wo sich derart aussagekräftiges Datenmaterial sammeln lässt, wie auf der Mittelmeer-Insel Lampedusa. REPORTAGE 5 Problembewusst: Klimaforscher Damiano Sferlazzo untersucht die Luft auf Lampedusa. Viermal am Tag fährt Damiano Sferlazzo, ein weit verbreiteter Name auf Lamepdusa, die holprige Zementpiste, zum nordöstlichen geglegenen Capo Grecale. Direkt am Rande der über 80 Meter hohen Steilküste liegt sein Arbeitsplatz, ein kleiner quadratischer und eher unscheinbarer Bau. mit einigen Antenne. Vor allem im Winter stürmt es hier kräftig. Man kann die Luft hier mit Händen greifen. Und um die Luft von Lampedusa kümmert sich Damiano Sferlazzo, der seit sieben Jahren für ENEA, die Staatliche Agentuir für Umwelt und Technologie arbeitet. Das kleine Labor von Damiano Sferlazzo ist voller elektronischer Geräte: Computer, Bildschirme, Behälter, Schläuche und Pressluftflaschen surren und blinken auf engstem Raum. Damiano Sferlazzo hat alles im Blick. Wir betreiben hier chemische Forschung der Atmosphäre. Speziell forschen wir nach Treibhausgasen. Co2 und andere. Und das rund um die Uhr . Dafür haben wir alle möglichen Geräte, die Luft ansaugen und Daten an Computer weitergeben. Daneben erforschen wir neuerdings auch die Auswirkungen der Sahariana, der Sandstürme aus der Sahara. Diese Wüstenwinde, die man ab und zu sieht, wie sie den Himmel überziehen grauen und rötlichen Sandpartikeln, wie beeinflussen sie die Atmosphäre, wieviel Sonnenergie schirmen sie ab. Ein Nischenprogramm eines abseitigen Wissenschaftlers? Und was soll in Lamepdusa schon groß an Co2 zu messen sein? Wieviel Kohlendioxid haben wir grade? 8ppm Teile pro einer Million . Ist das viel oder wenig? Sehr wenig, aber darum geht es gar nicht. CO2 muss es ja geben. Das Problem ist, dass es rapide zunimmt. Trotzdem: warum die Messungen gerade auf dieser kleinen Insel, wo es im Grunde genommen ja nur frische reine Seeluft gibt. Genau deshalb messen wir ja in Lampedusa. Hier sind wir weit weg von allen möglichen Luftverschmutzungen. Wenn also auch bei uns das CO2 zunimmt, wie sieht es dann erst dort aus wo das Treibhausgas produziert wird. Wir sind eine von etwa 200 Messstellen auf der ganzen Welt, an denen die gleichen Messungen gemacht werden. In den Alpen, im Appennin, am Meer. Aber Lampedusa ist noch wichtiger als viele andere Messstellen, weil die Insel ein kleines Pünktchen mitten im Meer ist. Außerdem haben wir ein gleichmäßiges Klima und wenige Pflanzen, deren Photosynthese die Messungen kaum beeinflussen. Lampedusa ist ideal, um die Zukunft des Erdballs vorherzusagen. Vorausgesetzt, die teuren Messgeräte funktionieren immer einwandfrei und weichen nicht von den Normwerten ab, die für alle weltweiten Messstellen gleich sein müssen. Um das zu garantieren wird Lampedusa-Luft in die Vereinigten Staaten geschickt. Dazu verwenden wir diese Stahlkanister, da passen sechs Liter Luft hinein. Ich schließe eine Pumpe an das Ventil, sauge Luft mit einem Schlauch oben vom Dach, bis zu einem Druck von 3 Atmosphären. Das genügt um Messungen andernorts vorzunehmen. Die wöchentlichen Luftsendungen landen bei der NOAA, der zentralen Behörde für Meeres- und Klimaforschung in Boulder im amerikanischen Bundesstaat Colorado. Von dort erhält Damiano im Gegenzug genauso regelmäßig geeichte Luft in Pressluftflaschen. Ich schicke Luft nach Colorado zur Nachkontrolle. Und dann vergleichen wir die Daten und stimmen sie aufeinander ab. Damit ich unsere Geräte auf den gleichen Stand tarieren kann wie alle anderen globalen Meß-Stellen, benötige ich geeichte Luft aus Colorado, die ich in diesen Sauerstoffflaschen geschickt bekomme. Die Luft aus Amerika enthält eine ganz bestimmte Menge an Co2. Und genau die müssen meine Geräte bei der Messung dieser Luft anzeigen. Damit kann ich sie dauernd kalibrieren immer wieder kalibrieren. Und die von mir gemessenen Werte sind garantiert zuverlässig. Eine Sisyphusarbeit. Sein Lebenswerk, sagt Damiano, obwohl er erst 37 ist und noch viele Arbeitsjahre vor sich hat. Er ist stolz auf seine Insel, weshalb er sich vor zwei Jahren zum stellvertretenden Bürgermeister hat wählen lassen. Mit seiner Arbeit will er Lampedusa Ruf aufpolieren. Sie ist nicht nur teil eines Problems, sagt er - die Immigration - sondern will auch mithelfen Probleme zu lösen. Die täglichen Messungen der Treibhausgase, die wöchentlichen Luftsendungen rund um den Erdball , damit all seine Geräte immer präzise arbeiten, die Computerdaten, die Damiano gewissenhaft an ein globales Rechenzentrum in Japan übermittelt, das alles soll dazu beitragen, dass die Katastrophe vermieden wird, der die Erde entgegengeht. Die auch das Ende seiner kleinen Insel bedeuten würde. Damianos Stimme wird lauter, eindringlicher, dramatischer. Die Daten, die ich nach Japan schicke bestätigen eindeutig, was auch anderswo gemessen wird. Das Kohlendioxid in der Atmosphäre nimmt rasant zu. Noch wissen wir nicht genau, wie es in 20 Jahren aussehen wird, aber Grund zur Freude gibt's garantiert nicht. Wenn der Anstieg so weiter geht, dann wird die Natur entsprechend darauf reagieren. Und diese Reaktion ist sehr wahrscheinlich nicht mit menschlichem Leben auf dieser Erde vereinbar. Nehmen wir an, dass es zur Apokalypse kommt, wenn wir weiter alles Erdöl verbrennen. Der Nordpol schmilzt, der Meeresspiegel steigt, Lampedusa wird überflutet. Ich arbeite hier um zu beweisen, was leider viele bisher noch nicht glauben wollen. Lampedusa, Rettung für viele Menschen - am Ende gar für die ganze Menschheit? Das sei wohl übertrieben, sagt Damiano und lacht. Kleine Insel mit europäischer Größe - Leben und Überleben auf Lampedusa. Das waren Gesichter Europas mit Reportagen von Karl Hoffmann. Die Literaturauszüge stammen aus dem Buch "Lampedusa" von Ulrich Ladurner, erschienen im Residenz Verlag. Gelesen von Bruno Winzen. Musikauswahl und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Gunther Rose, Anna Dhein. Am Mikrofon war Katrin Michaelsen. 25 25