Deutschlandrundfahrt Das Geheimnis um die Dunkelgräfin Hildburghausen in Thüringen Von Michael Frantzen Sendung: 22. Februar 2014, 15.05 Uhr Ton: Peter Seyffert Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2014 Kennmusik 1. Atmo (Düstere Musik, Schreie, Uhu im Hintergrund) Regie: Kurz frei stehen lassen, unter folgende O-Töne blenden, nach dem 3. O-Ton wieder hoch und dann per Kreuzblende unter Titel der Sendung blenden 1. O-Ton (Sterzik) „Hildburghausen hat ein Geheimnis? Hildburghausen hat etwas?“ Autor Allerdings. Spukt nämlich hier. 2. O-Ton (Heß) „Eigentlich ist sie ja tot.“ Autor Die große Unbekannte. 3. O-Ton (Ludwig) „Dunkelgräfin. Das ist ja der Mythos von Hildburghausen überhaupt.“ Sprecher vom Dienst: Das Geheimnis um die Dunkelgräfin Hildburghausen in Thüringen Eine Deutschlandrundfahrt von Michael Frantzen 2. Atmo (Atmo-Collage aus pfeifendem Wind und zersplitterndem Glas) Regie: Circa 0’05“ frei stehen lassen und dann unter 3. Atmo blenden 3. Atmo (Rathaus-Uhr schlägt 11) Regie: Kurz frei stehen lassen und dann unter 4. O-Ton blenden 4. O-Ton (Mann auf Straße) „FBI? CIA?“ Autor Nee, nur Deutschlandradio. Schnüffeln wollen wir allerdings auch. Wenn’s geht. 5. O-Ton (Siegfried) „Ich sag’s mal so, wie es is: Ungern.“ Autor Das ist Siegfried. Unsere Quelle. Siegfried hat eine Adlernase – und nicht die beste Laune. 6. O-Ton (Siegfried) „In Hildburghausen bin ich seit 1956. Da kam ich hierher als 18jähriger. Und war Soldat hier bei den Grenztruppen.“ Autor Siegfried hat mit der Zeit umgesattelt. Vom Verteidiger des real existierenden Sozialismus zum Künstler im real existierenden Kapitalismus. 7. O-Ton (Siegfried) „Heimatmaler (lacht) sagen se zu mir. Hab ich kein Problem damit.“ Autor Wir auch nicht. In der Altstadt, in der sich mehr oder weniger windschiefe Häuser aneinander ducken, hat Siegried seine „Kleine Galerie“. Die Preise sind moderat, Siegfrieds Oeuvre reichhaltig. Eine klassische win-win-Situation also, wie es neudeutsch heißt: Alle haben etwas davon. Was, wie Siegfried beiläufig erwähnt, nicht nur „Zahnarztpraxis Doktor May“ dazu animiert hat, eines seiner Aquarelle zu kaufen, sondern auch die „urologische Praxis Doktor Trautwein“. An der großen Unbekannten, die halb Hildburghausen in Aufruhr versetzt, hat er sich auch schon versucht. 8. O-Ton (Siegfried) „Die Dunkelgräfin als junges Mädchen. Ich hab noch ne Kopie. Ich weiß aber nicht, ob....ich will mal gucken (steht auf)...ich glaube nicht...(blättert durch Bilder, Klacken der Bilder) Das ist so ne Sache. (Klacken) Is wahrscheinlich nicht mehr da. Doch! Da isse.“ Autor Die Frau, die von 1807 bis zu ihrem Tod 1837 in der Residenzstadt am Fuße des Thüringer Waldes ein Schattendasein fristete. 9. O-Ton (Siegfried) „Prinzessin Marie Therese Charlotte von Frankreich.“ Autor Die einzig überlebende Tochter des französischen Königs Ludwig XVI. Ist sich Siegfried sicher. Andere nicht so. 10. O-Ton (Siegfried) „Jetzt sind wa an nem ganz wunden Punkt, wo wa angekommen sind.“ Autor Siegfried steht auf. Die Flugblätter! Müsste er doch noch einige haben. Nur wo? Siegfrieds Schaffenskraft ist ungebrochen, die Kapazitäten der lokalen Urologen und Zahnärzte aber begrenzt. Ergo stapeln sich die Bilder in seiner Galerie. Hildburghausens Heimatmaler Nummer Eins fängt an zu kramen – bis er in einem Ordner fündig wird: Da sind sie doch – die Flugblätter. Feinste Lyrik. Aus eigener Feder. 11. O-Ton (Siegfried) „Dem Fallbeil der Revolution entronnen, steht sie jetzt vor der Guillotine gewissenloser Amtsinhaber. Die ihren toten Körper aus Neugier und wissenschaftlicher Sensationslust exhumieren wollen.“ Autor Mitte Oktober wurde das Grab der Dunkelgräfin am Stadtrand geöffnet um die Gebeine zu entfernen – für eine DNA-Probe. Harzer, der Bürgermeister, und der MDR als Kooperationspartner wollten das so. Siegfried nicht. 12. O-Ton (Siegfried) „Als ich hörte, dass sie hier diese Buddelei durchführen, da wurd ich wild. Ich war ja dabei – beim Ausgraben. Ich hab die Filme, alles. Wo se sie wieder bestattet haben. Autor Anfang November. 13. O-Ton (Siegfried) „Ich kenn die ganzen Dinge. Warum? (betont gesprochen) Jeder Mensch hat auch Geheimnisse. Sie und ich. Und jeder andere auch. Eine Stadt sollte auch ihre Geheimnisse haben. Das is doch nichts Unanständiges.“ Autor Siegfried schaut aus dem Schaufenster seiner Galerie. Kaum Leute unterwegs. Dichter Nebel hat den Marktplatz in Watte gepackt. Die Werra ist nicht weit. Kann es einen schon mal frösteln. Draußen. Erst recht, wenn einem der Geist der Dunkelgräfin auf den Fersen ist. Drinnen bullert der kleine Gasofen vor sich hin. Stramm auf die achtzig geht Siegfried jetzt zu. Je älter er wird, sinniert er, desto mehr verfolgen ihn die alten Geschichten. Seine Zeit bei den Grenztruppen; wie er mit Anfang zwanzig spontan einen Ausflug in den Westen machte; damals, Ende der 50er, als die innerdeutsche Grenze noch durchlässig war. 14. O-Ton (Siegfried) „Da ging’s durch einen Wald und da stand man vor dem Schlagbaum. Da war noch nicht einmal ein Drahtzaun, da war nur der geackerte Streifen. (Schnieft) Da hab ich schon gerochen. Der Ort Trappstadt is nicht weit weg. (Schnieft erneut) Da haben wa Bratwurschtduft gerochen. Da, sagt er.“ Autor Siegfrieds älterer Kollege auf Streife. 15. O-Ton (Siegfried) „Heut is Kirmes drüben. In Trappstadt. Aber du bist ja zu feige, mal mit rüber zu kommen. Ich wollte nicht feige sein. Obwohl ich ja innere Angst hatte. (lacht) Hat er gesagt: So! Pass auf! Ich kenn den Dienstplan besser als unser Kompaniechef. Wir gehen jetzt los, essen ne Bratwurscht, drinken nen Bier und gehen dann schleunigst zurück. (betont gesprochen) Ja, gut. Mir war ja nicht so, aber wir sind hin. Haben nen großen Humpen Bier gekriegt. Haben ne Bratwurscht gegessen. Und sind dann wieder schnurstracks zurück. Da hat er gesagt: Du brauchst keine Angst haben. Du hast nichts gehört und nichts gesehen, du warst nie dort. Ich weiß auch von nix, also klar. Und beobachtet worden sind wa ja wohl kaum. Aber das war nicht so. Wir haben viel später erfahren, dass es auch drüben Leute gab, die den MfS zugspielt haben.“ Autor Dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR. 16. O-Ton (Siegfried) „Davor hatte ich am meisten Angst. Ich hatte davor Angst, dass es raus kommt und dann hätt’s ja auch Armeeknast gegeben. Und das wär ja schlimm gewesen. Auch damals schon.“ Autor Siegfried hat Glück. Auch später, als an der innerdeutschen Grenze Schießbefehl herrscht. 17. O-Ton (Siegfried) „Ich muss eigentlich dem lieben Gott danken, dass ich nie in die Verlegenheit kam auf irgendjemanden schießen zu müssen. Ich war dann ja auch Hauptfeldwebel in der Kompanie. Da is man dann ja doch nich so viel draußen im Grenzgebiet. Ich hätte mich heute zu Tode gegrämt, hätt ich irgendwann mal...jeder kann sagen: Das hätt ich nie gemacht! (emotional) Aber man weiß ja gar nicht, wie die Situation war. Aber: Es war halt so.“ Autor Anfang der 70er hat Siegfried genug vom Grenzregiment. Er fängt noch mal von vorne an. Wird Kunsterzieher. Keine schlechte Zeit. Er unterrichtet an der Schule. Etwas Sinnvolles. Für den Arbeiter- und Bauernstaat. Siegfried ist in der SED. Aus Überzeugung. Drüben, meint er und dreht sich nach rechts: Hinter den nebelverhangenen Hügeln, in Bayern, sprich der „BRD“, hätte doch jemand wie er aus einfachen Verhältnissen nie studieren können. 18. O-Ton (Siegfried) „Wie sagt man so? Wir haben an bestimmte Dinge geglaubt. Aber im Laufe der Jahre, wie sich das da so hingeblättert hat, haben wa dann später gemerkt: Wir sind ja ganz schön – auf Deutsch – verarscht worden. Ich sag’s mal so.“ (lacht) Autor Anspruch und Wirklichkeit – je älter Siegfried und die DDR werden, desto weniger will das zusammen passen. Allein schon die Geschichte mit den Laoten; den Lehrlingen aus der Schraubenfabrik, die Siegfried in den 80ern betreut. Da schwenken sie zu offiziellen Anlässen Fahnen, auf denen sie die „unerschütterliche Freundschaft mit dem sozialistischen Bruderland Laos“ beschwören. Und in der Praxis?! Werden die laotischen Lehrlinge kaserniert. 19. O-Ton (Siegfried) „Die hatten ja auch nen ganz anderen Lebensstil. Ne ganz andere Auffassung. Zum Beispiel sind sie am Freitag, mit ner riesengroßen Kutsche, einkaufen gegangen. Im Konsum. Und dort wurde eben Reis eingekauft, in Größenordnungen, für dreißig Mann wurde ja am Wochenende gekocht. Dann wurden Hähnchen geholt. Na, die haben ihr Essen dann zubereitet nach ihren (lacht) heimatlichen Rezepten. Ich hab (lacht) da auch mitgegessen. Die anderen wollten das ja alle nicht, die anderen Erzieher.“ Autor Kurz nach der Wiedervereinigung geht Siegfried in Rente. Der Rücken, andere Wehwehchen, die irgendwann keine Wehwehchen mehr sind, sondern ausgewachsene Krankheiten. Die Wende, meint Siegfried an diesem trüben Wintertag, kam gerade recht. Mit seiner Invalidenrente kommt er über die Runden. So wie es ist, ist es gut. Nur die Sache mit der Dunkelgräfin – die lässt ihm keine Ruhe. 20. O-Ton (Siegfried) „Wenn man jetzt nachweist, dass es wirklich die Prinzessin war, von Frankreich, näh?! Gut! Mag ja sein, dann gibt’s ja möglicherweise auch Ansprüche der französischen Regierung, wenn die das mitkriegen. Die kommt dann in die Familiengruft, die werden se hier wegholen.“ 1. Musik Interpret: Clueso Titel: Augen zu Komponist: Clueso Label: Four Music Productions, LC-Nr.: 00144 4. Atmo (Atmo-Collage aus pfeifendem Wind und Krähen) Regie: Circa 0’05“ frei stehen lassen und dann unter 21. O-Ton blenden 21. O-Ton (Autor läuft durch das Theater) (Mann ruft) „Er kommt runter! (Ludwig kommt näher) „Hallo!“ Autor Das ist Herr Ludwig. 22. O-Ton (Autor) Hallo! Michael Frantzen. (Ludwig) Ludwig.“ Autor Herr Ludwig macht Theater. 23. O-Ton (Ludwig) „Wollen Sie erst Mal nen Blick ins Theater werfen?“ 24. O-Ton (Ludwig) „Das ist (Knarren der Treppen)...unser Theater. Ein kleines, schön nach Rokoko nen bisschen aussehendes Theater. Kronleuchter. Zwei Ränge. Kleinere Bühne. Das ist eines der ältesten Theater Deutschlands. Von 1721.“ Autor Das bleibt nicht ohne Folgen. Für Herrn Ludwig. Und den einen oder anderen Theater-Besucher. 25. O-Ton (Ludwig) „Wir haben eigentlich 450 Plätze drinne. Aber von fünfzig Plätzen sehe ich die Bühne nicht. Weil: Das ist nen Barock-Theater. Und zur Barockzeit war die Bühne nicht das wichtigste. Sondern eigentlich da der Platz in der Mitte; wo der Fürst saß. Das Parkett – da gab’s ja keine Stühle drinne, sondern: Man stand, man aß, man schwatzte. Was auf der Bühne passierte, war eher das Hintergrund-Programm.“ Autor Das ist manchmal heute noch so. 26. O-Ton (Ludwig läuft durch das Theater) (macht Tür auf) (Ludwig) „So! Das ist der sogenannte Backstage-Bereich. Mit dem Angst-Klo hinter Ihnen. (Autor) Oh! (Lachen) (Ludwig) Weil das in Bühnennähe wichtig ist. Jeder muss da mal.“ Autor Selbst Stars. Aber keine Namen! Ludwig tut das, was eine Ursula von der Leyen einmal getan hat, als sie vor Jahren gefragt wurde, ob sie sich denn vorstellen könne, Bundespräsidentin zu werden: Er lächelt wie eine Sphinx und verschließt mit seinen Fingern den Mund. Dis-kre-tion! Will es sich auch nicht mit seinen Schauspielern verscherzen. Seinen „Gast-Spielern“. Ein festes Ensemble gibt es nicht – genauso wenig wie einen Intendanten. Ludwig ist Theater-Manager. Als solcher managt er, was ansteht. 27. O-Ton (Ludwig) „Zum Beispiel: Die Herkules-Keule. Die Pfeffermühle. Rene Kollo. Das ist so der Querschnitt. Wir haben aber auch eigene Programme gemacht: Die Dunkelgräfin als Neustes.“ Autor Eine Trilogie. Im Oktober war Premiere von Teil Zwei. 28. O-Ton (Ludwig) „Als Theatermensch sehe ich immer sofort Geschichten, die erzählt werden. Das Thema steht hier an. Wo ich hierhergekommen bin, hab ich gesagt: Wir müssen eigentlich was mit der Dunkelgräfin machen. Und auch den Hildburghäusern is es einfach klar: Das Thema muss eigentlich vermarktet werden.“ Autor Wo jemand wie Siegfried, der Heimatmaler, die Dunkelgräfin posthum als Opfer sensationslüsterner Leichenfledderer sieht, sieht der Theater-Mann ein volles Haus. 29. O-Ton (Ludwig) „Wo passiert das schon in Deutschland, wo ne kleine Gemeinde so ne Geschichte stemmt?“ Autor Jubiliert der Manager, der theatralische, der im nicht weit entfernten Bad Meiningen lange Dramaturg am Theater war. Eine Frau, die sich dreißig Jahre versteckt hält; von der man nicht weiß, ob sie nun die letzte Tochter von Ludwig XVI. und Marie Antoinette war? Oder doch nur Sophia Botta, eine Bürgerliche aus Westfalen, wie im Totenschein steht? Für Ludwig ist das der Stoff, aus dem Theaterstücke sind. Noch dazu in Zeiten wie diesen. 30. O-Ton (Ludwig) „Es gibt immer wieder Leute, die auf der Flucht sind vor was. Nehmen wir Meister Snowden. Das is so ne Person, der eventuell irgendwann mal untertauchen muss. Letztendlich gibt’s immer Personen, die irgendwo verborgen leben müssen. Weil sie für andere unbequem sind; weil sie gefährlich sind. Oder einfach: Weil sie nix anderes wollen. Weil sie sagen: Lasst mich in Ruhe. Diese Welt nicht mehr.“ Autor Wenn man so will, ist die Dunkelgräfin für Ludwig das Ticket raus aus der Bedeutungslosigkeit, der Randlage. Nach dem Motto: Wir in der Provinz haben es auch drauf. Nicht immer nur Weimar. Erfurt. Ludwig schließt für ein paar Sekunden die Augen. Hildburghausen im überregionalen Feuilleton. Sein Theater. Das wär’s doch. Hat ja auch schon geklappt. Zwar haben sich die Theaterkritiker der Republik nicht gerade darum gerissen, über die Trilogie zu berichten: Dafür aber geistert die Dunkelgräfin seit geraumer Zeit durch den bundesdeutschen Blätterwald: Spiegel; Zeit, Bild: Alle haben schon berichtet. Gab auch schon Anrufe, wann denn endlich Teil 3 der Trilogie auf die Bühne gebracht wird. Ende des Jahres könnte es so weit sein. Bis dahin wird Ludwig das tun, was er gemeinhin tut: Den Alltag managen; an einem der ältesten Theater Deutschlands. 5. Atmo (Atmo aus Parkett) (Mädchen singt: Mit dem Köpfchen Nick-Nick, Fingerchen Tick-Tick, Tick-Tick, einmal hin, einmal her. Rundherum: Das ist nicht schwer.” (Klavier im Hintergrund) (Mädchen) Die Mutter! (Junge) Die Mutter! (Mutter) Was ist das für eine Geschichte?” … Regie: Nach “für eine Geschichte” restlichen Dialog unter Autor blenden Autor „Hänsel und Gretel” in der Version der Laien-Bühne Hildburghausen: Ludwig kann damit gut leben. Ohne die Aufführungen seiner Hobbyschauspieler stände sein Haus noch häufiger leer. In der Provinz, meint der Theatermann, dürfe man keine Berührungsängste haben. Hat ihn die Erfahrung gelehrt. 31. O-Ton (Ludwig) „Bevor ich nach Hildburghausen gegangen bin, hab ich Einkaufszentren gemanagt. Unter anderem fünf Jahre in Bremen. Das war ne ganz interessante Zeit. Ich hab mir gesagt: Marketing is so was ähnliches wie Theater. Da kann man mit leben. Und das hat auch ganz gut funktioniert. (lacht) Letztendlich funktionieren ja heute...es wird überall nur noch nach dem Geld geguckt. Da muss es eben einfach auch stimmen. Die Schwierigkeit is: Wir sind ne 12.000-Einwohnerstadt. Und stemmen das Theater alleine. Das ist nicht ganz einfach. Der Einzugsbereich is auch nicht so riesig. Das is das Spannende an der Geschichte. Was mich auch immer wieder hier hält. Das Theater muss bleiben. Überall hört man: Theater müssen geschlossen werden. Wir haben auch hier Personal abgebaut. Wir arbeiten fast nur noch mit Ehrenamtlichen.“ Autor Ludwig will weiter machen. Wird schon. Auch wenn er sich in ruhigen Minuten schon manchmal fragt, ob das mit ihm und Hildburghausen, dem Provinznest, ein Bund fürs Leben ist. 32. O-Ton (Ludwig) „Mein Vorgänger kam aus München. Und war 14 Tage da.“ (Aufzug im Hintergrund zu hören) (Ludwig steigt aus Aufzug aus) (Tür klackt) Regie: Klacken der Tür unter 2. Musik wegblenden 2. Musik Interpret: Zaz Titel: Ensemble Komponist: Grand Corps Malade, Ilan Abou Label: Sony, LC-Nr.: 06667 6. Atmo (Atmo-Collage aus pfeifendem Wind und zersplitterndem Glas) Regie: Circa 0’05“ frei stehen lassen und dann unter 33. O-Ton blenden 33. O-Ton (Klingel der Eingangstür des Museums klingelt mehrmals) (Römhild sagt) „Ich hör’s schon manchmal nachts klingeln.“ (lacht) (Laufgeräusche) Regie: Laufgeräusche unter Autor blenden Autor Das ist Herr Römhild. 34. O-Ton (Römhild) „Der Museumsleiter des Stadtmuseums.“ Autor Als solchem geht dem bärtigen Mann Hildburghausens große Unbekannte bisweilen auf den Geist. Berufsbedingt. 35. O-Ton (Römhild) „Gehen wir gleich hinten hoch, bei der Dunkelgräfin. Wir rollen die Sache sozusagen von hinten auf. (lacht) Ich mach mal schnell Licht an. (Tür klackt, Römhild geht weg, kommt wieder) So! (steigt kurze Treppe noch) Das sind wirklich Nachlassgegenstände von der Dunkelgräfin und dem Dunkelgrafen. Die wir hier in der großen Vitrine haben. Das sind schöne biedermeierliche Möbel. Ein kleines Kabinett-Schreibtischchen mit Buchattrappen. Wo man also nen Geheimfach dahinter hat. Und der Türklopfer vom Schloss Eishausen, wo das Paar gelebt hat.“ Autor Das Schloss existiert nicht mehr. Wurde abgerissen. Genau wie das im Zentrum Hildburghausens, das in der Endphase des Zweiten Weltkriegs von US-amerikanischen Geschützen zerstört wurde. Hildburghäuser Geschichten. Traurige Geschichten. Wie die von den über hundert schlichten Grabsteinen auf dem Friedhof, fast alle mit demselben Todesdatum: Dem 23. Februar 1945. Es war der Tag, an dem US-Flieger halb Hildburghausen in Schutt und Asche legten. Doch dafür interessiert sich kaum jemand noch. Für die Dunkelgräfin schon. Und ihren Dunkelgrafen: Leonardus Cornelius van der Valck; ein wohlhabender niederländischer Diplomat, der vor seiner Ankunft in Hildburghausen im Dienste des französischen Königs stand. 36. O-Ton (Römhild) „Er hat ja alles von ihr abgeschirmt. Er hat nie behauptet, dass es seine Gattin ist. Und hat sie auch immer sehr ehrfürchtig behandelt. So dass man eigentlich wusste, dass sie die eigentlich höher gestellte Person war. (Autor) So! Guten Tag! (Heß) Hallo! (lacht) (Römhild) Wir sind hier schon mittendrin. (Autor) Wollen Sie uns vielleicht begleiten? (Heß) Natürlich. Mach ich doch gerne.“ Autor Das ist Frau Heß, die Frau vom Stadtmarketing. Wie es sich für jemanden aus ihrem Metier gehört, weiß sich die Frau mit dem pechschwarz gefärbten Haar zu verkaufen; so gut, dass man sich irgendwann insgeheim fragt, ob sie einem zu guter Letzt nicht auch noch eine Waschmaschine verkaufen könnte. Tut sie aber nicht. Ihr steht der Sinn nur nach einem. 37. O-Ton (Heß) „Das Thema Dunkelgräfin is nen ganz spannendes Thema. Is sie es? Is sie es nich? Es is ein Geheimnis der Stadt. Lüften wir das Geheimnis, haben wir vom Stadtmarketing natürlich nen ganz neuen Ansatz. Wir als Stadt haben nichts zu verlieren.“ Autor Schon gar nicht die Marketing-Frau. 38. O-Ton (Heß) „Wir müssen dann riesengroße Parkplätze bauen, weil ja die Busse aus Frankreich kommen. Autor Falls die DNA-Probe tatsächlich ergibt, dass die Dunkelgräfin Marie Therese war. Und sich die Vertauschungs-Theorie bewahrheiten sollte, wonach in den Wirren der Französischen Revolution die Königstochter durch einen Gefängniswärter geschwängert - und wegen der Schande durch ihre Halbschwester ausgetauscht wurde. Die liegt in Slowenien begraben. Statt Slowenien werden die französischen Nostalgie-Touristen bald Thüringen ansteuern: Hildburghausen. Hofft Heß. Für den Fall der Fälle ist sie gewappnet. 39. O-Ton (Heß) „Werden mit dem Tag X sagen: Es gibt eine Souvenirlinie dazu, es gibt eine Publikationslinie dazu. Wir haben ja auch letztes Jahr von einem holländischen Bürger, der gesammelt hat über Jahre, Kistenweise Material darüber bekommen. Also ich sag jetzt mal: Wir stehen in den Startlöchern.“ Autor Freut sich Heß – und schaut im Dunkelgräfinnen-Zimmer nach links – zu Römhild. Während die Marketingfrau ihre Begeisterung kaum bändigen kann, tut sich der Mann, der seit 1999 das Stadtmuseum leitet, schwer mit dem „Kult um die Dunkelgräfin“, wie er das nennt – auch wenn er von offizieller Seite, vom Bürgermeister und dem MDR, immer als Kronzeuge dafür herhalten muss, dass das mit der Exhumierung genau das richtige ist für Hildburghausen. Doch der Schein trügt. Ähnlich wie Siegfried hegt Römhild Zweifel – wenn auch nur leise. 40. O-Ton (Römhild) „Ich denke mal, da spielt auch nen bisschen Angst mit. Die ich auch zum großen Teil nachvollziehen kann. Wir leben in einer Zeit, in der nichts mehr richtig heilig is. In der alles möglich is, was man sich denken kann. Alles is im Umbruch. Nichts bleibt, wie es war.“ Autor Selbst in der Thüringer Provinz nicht. Hinter den Bergen; den nebelverhangenen. Ist ja auch nicht so, als ob sie hier immer ab vom Schuss gewesen wären. Bis 1826 war Hildburghausen Residenzstadt, ehe der letzte Herzog, ein prunksüchtiger Nichts-Nutz namens Friedrich, es vorzog im Zuge einer Erbteilung nach Altenburg zu ziehen. Die Hildburghäuser nahmen ihm das übel; genau wie Jahrzehnte später Josef Meyer, dem Begründer von „Meyers Lexikon“, dass der samt seiner Groß-Druckerei lieber nach Leipzig ging. In die Bücherstadt. Hildburghausen blieb die Erst-Ausgabe von Meyers-Lexikon: 52 Bände samt 70 Millionen Wörtern. Und die Erinnerung an bessere Zeiten. 41. O-Ton (Römhild) „Hier sehen se wirklich: Hildburghausen und Amsterdam. Hildburghausen und New York. Hildburghausen und Paris, Philadelphia. Das waren alles damals Filialen von Hildburghausen.“ Autor Lange her. Genau wie ein dunkles Kapitel der Stadtgeschichte. 42. O-Ton (Römhild steigt Treppen runter) (Römhild) „Hildburghausen unterm Hakenkreuz. (läuft) Eine Hakenkreuzfahne: Un-restauriert, dreckig, schmutzig. Die damals einfach auch das ganze Leben überschattet hat. Haben wir gesagt: Wir zeigen se.“ Autor Meint der Stadthistoriker, nur um hinzuzufügen, die besten Geschichten schreibe so oder so das Leben. Auch unappetitliche wie die des thüringischen Ober-Nazis Frick. 43. O-Ton (Römhild) „Frick war ja Innenminister Thüringens. Hat im Sommer 1930 eine Urkunde ausgestellt, in dem er Hitler zum Gendarmen von Hildburghausen ernannt hat. Hat diese Urkunde auch an Hitler gegeben, aber dem war das wahrscheinlich immer nen bisschen zu popelig. Er wär dadurch automatisch Beamter und automatisch Staatsbürger geworden. Aber er hat diese Urkunde wirklich nie präsentiert. Es ist dann allerdings 1932 bekannt geworden, diese ganze Sache. Es gab Gerichtsverhandlungen, wo Hitler auch aussagen musste. In Weimar. Er ist dann später als Braunschweiger Legationsrat deutscher Staatsbürger geworden.“ Autor Zumindest der Kelch ging an Hildburghausen vorüber. Den Braunen folgten nach 45 die Roten. Das, was Hildburghausen bis dahin ausgezeichnet habe: Die vielen Schulen, der hohe Bildungsstand – meint Römhild – das verschwand in dem Maße, in dem Ulbricht und Co daran gingen, ihre Idee vom neuen Menschen in die Tat umzusetzen. 44. O-Ton (Römhild) „Das Bildungsbürgertum hat man versucht zu beseitigen. Das hat man natürlich hier auch gemerkt. Die alten Familien, die dann plötzlich keine Rolle mehr gespielt haben. Plötzlich kamen halt Bürgermeister, die sind von irgendwoher gekommen. Die hat die Stadt eigentlich weniger interessiert. Die haben ihren Job gemacht. Es gab wirklich nen Schritt rückwärts in dieser Zeit.“ Autor Die Nähe zur innerdeutschen Grenze tat ihr Übriges. 45. O-Ton (Römhild) „Gleich hinter der Stadt war Sperrgebiet. Ich bin in einem Dorf sechs Kilometer von hier aufgewachsen. Da konnte man hundert Meter in den Wald und dann war ne Hundelinie im Prinzip, wo Laufleinen mit Hunden waren, so dass man nicht ins Sperrgebiet kam. Damit sind wir aufgewachsen. Wir konnten in den Westen schauen, aber es war klar: Da kommen wir nie hin.“ 7. Atmo (Laufgeräusche aus dem Wald) Regie: Schon unter Ende des 45. O-Tons legen, kurz hoch und dann unter Autor blenden Autor Auch das Grab der Dunkelgräfin am Stadtrand, dem Schulersberg, war zu DDR-Zeiten nur schwer zugänglich. Direkt hinter dem Grab begann sowjetisches Sperrgebiet. Die Sowjets sind lange weg, heute ist hier nur noch Nebel, der sich von der Werra wie Mehltau über die kahlen Baumwipfel und das Grab der Dunkelgräfin legt. 46. O-Ton (Römhild läuft durch Wald zum Grab, ansteigend) (Römhild) „Links ist von hier aus schon das Grab der Dunkelgräfin zu sehen. (Rascheln) (Römhild) Das Grab ist an sich einfach nen Pyramiden-Stumpf. Ungefähr zwei Meter breit. An der Böschung angelehnt. Und dahinter war eben die einfache Grab-Lage. Ohne jegliche Inschrift. Ohne alles. Immer nur efeuüberwachsen.“ Autor Wenn es nach Römhild gegangen wäre, hätte die ganze Sache mit der DNA-Probe eine Spur kleiner ausfallen können. Aber so ist das nun mal. Blaues Blut verkauft sich besser als ein Josef Meyer, von Adolf Hitler ganz zu schweigen. 47. O-Ton (Römhild) „Sie soll sehr hübsch gewesen sein. Hatte nen weißes Kleid an. Dann hat man den Sarg geschlossen und sechs Träger haben ihn dann hierher geschafft. Und hier beigesetzt – in den frühen Morgenstunden. Ohne priesterlichen Beistand. Damals war einer der Sargträger ein Holzknecht Römhild. (lacht) Und bei der Beerdigung jetzt musste ich die Gebeinen-Kiste tragen. (lacht) So wiederholt sich die Geschichte.“ (lacht) 3. Musik Interpret: Cristina Branco Titel: Memoria de Meu Dem Komponist: Custodio Castelo Label: Universal, LC-Nr.: 00699 8. Atmo (Atmo-Collage aus pfeifendem Wind und Krähen) Regie: Circa 0’05“ frei stehen lassen und dann unter 50. O-Ton blenden 48. O-Ton (Meyhöfer) „…Wasser, Apfelsaft-Schorle. Oder ein Bitter Lemon.“ Autor Das ist Herr Meyhöfer. Ein perfekter Gastgeber. 49. O-Ton (Meyhöfer) „Ich bin Mitglied im Interessenkreis Madame Royale.“ Autor Madame Royale: Das ist die Dunkelgräfin. 50. O-Ton (Meyhöfer) „Steh Ihnen heute Rede und Antwort.“ Autor Meyhöfer mag es korrekt. Die Wohnung: Pikobello aufgeräumt. Die Fläschchen: alle hübsch in Reih und Glied. Genau wie die Kunst an den Wänden. Das da in der Mitte, meint Meyhöfer und steht auf, sei sein „Schmuckstück.“ Ein alter Stich vom Schloss Eishausen, wo Madame Royale, wie er die Dunkelgräfin ehrfürchtig nennt, lebte. Der Mann, der trotz seiner Anfang 40 immer noch etwas von einem Gymnasiasten hat, ist seiner Angebeteten schon als Jugendlicher verfallen; noch zu DDR-Zeiten, als es politisch nicht gerade ratsam ist, sich für eine dekadente Adlige zu begeistern. Noch dazu, wenn der Vater Grenzsoldat ist. So wie Meyhöfers. Doch da sind die Geschichten, die sich die Alten zu raunen. Vom Grab oben auf den Schulersberg. 51. O-Ton (Meyhöfer) „Es war nicht ausgeschildert, es war in keinem Stadtplan oder so eingezeichnet. Insofern haben wir uns da durchfragen müssen. Und irgendwann auch mal durch ein Buschwerk schlagen müssen. Bis wir dann auf fast schon romantische Art und Weise vor diesem Grabhügel standen mit dem Grabmonument.“ Autor Der Romantik ist Meyhöfer treu geblieben. Mag er tagsüber auch als Umweltingenieur mit Zahlen und Fakten hantieren: Abends, nach Feierabend, taucht er ab in die Abgründe menschlicher Existenz. 52. O-Ton (Meyhöfer) „Da versteckt sich jemand dreißig Jahre lang. Geht nur in die Öffentlichkeit mit einem Schleier oder einer grünen Brille. Und man weiß nicht, wer diese Frau gewesen ist. Und warum sie dieses Leben führte.“ Autor Seit der Wende hat Meyhöfer so ziemlich alles gesammelt, was an Literatur über die Dunkelgräfin veröffentlicht wurde. Sachbücher, Romane aus dem 19. Jahrhundert, in denen die Gefühle hochkochen; einfach alles. 53. O-Ton (Meyhöfer) „Ich bin über diese romantische Schiene zu diesem Thema gekommen.“ Autor Da ist er nicht der einzige. 54. O-Ton (Hofmann) „Ich bin irgendwie so in der Zeit um 1800 hängen geblieben. Diese napoleonische Ära. Um 1800, 1805, 1806.“ Autor Das ist Herr Hofmann. 55. O-Ton (Hofmann) „Funktion: Mitglied des Interessenkreises Madame Royale. Ich bin sozusagen die Ortsgruppe Coburg. Wir sind eigentlich länderüberspannend. Wir haben Mitglieder, die auch aus dem Münsterland kommen; aus Rheinland-Pfalz.“ Autor Oder eben aus dem Oberfränkischen. 56. O-Ton (Hofmann) „Steht auch manchmal in der Zeitung: Hobbyforscher.“ Autor Auf Hofmanns Klingelschild steht: „Steuerberater – Schrägstrich Landwirtschaftliche Buchungsstelle.“ Auch er ein Korrekter. 57. O-Ton (Hofmann) „Wir haben keine Vereinskasse, wo wir uns mit bereichern könnten. Jeder forscht, ehrlich gesagt, auf eigene Rechnung.“ Autor Gut zwanzig Kilometer sind es vom fränkischen Coburg nach Hildburghausen. Die Coburger waren den Thüringer Nachbarn immer um eine Nasenspitze voraus: Waren die wichtigere Residenzstadt mit Verbindungen zur britischen Krone; hatten die prächtigeren Patrizierhäuser und Barockkirchen; und nach dem Ersten Weltkrieg das bessere Händchen, als sie sich per Volksentscheid entschlossen, dem Freistaat Bayern beizutreten. So blieb ihnen nach 45 erspart, Teil der sowjetischen Besatzungszone zu werden. Wie Hildburghausen. Das aber hat etwas, womit die Coburger nicht aufwarten können: Die Dunkelgräfin. 58. O-Ton (Hofmann) „Ich würde mal sagen, es is eines der Rätsel der Weltgeschichte.“ Autor Hofmann streicht über seinen grauen Pullover. Nicht mehr das allerneuste Modell. Aber immer noch tadellos in Schuss. So wie sein nüchtern eingerichtetes Büro, von wo aus er den fränkischen Bauern die Bücher führt. Ist OK. Das mit der Zahlungsmoral lasse zuweilen etwas zu Wünschen übrig, aber ansonsten: Habe er keinen Grund zu klagen. Meint Hofmann lapidar. Routine halt. Letztere will auch nach über zwanzig Jahren bei seiner Herzensdame partout nicht aufkommen. Madame Royale. Gibt immer wieder neues zu entdecken. Dinge, die Hofmann zu denken geben. 59. O-Ton (Hofmann) „Es ist überliefert, dass der Dunkelgraf, wenn die Dunkelgräfin im Grasgarten spazieren ging, mit gezogener Pistole am Fenster stand. Wollte er dadurch einen Ausbruchsversuch von ihr verhindern? Oder hatte er einfach Angst, dass jemand kommt und sie entführt? War sie ne Beschützte? Oder war sie ne Gefangene?“ Autor Lauter Fragen, die Hofmann bisweilen um den Schlaf bringen. 60. O-Ton (Hofmann) „Es gab ja auch in dem Schloss Eishausen Hausangestellte. Da wurde zum Beispiel zumindest von den Dienstboten erzählt, dass es wohl von den Bettlaken her nicht zu einer körperlichen Vereinigung der beiden gekommen wäre.“ Autor Einerseits. Andererseits: 61. O-Ton (Hofmann) „Was net unbedingt drauf schließen lässt, dass se kein Paar waren. Man steckt nicht drin.“ Autor In der Tat. Natürlich hat sich Hofmann auch schon gefragt, woher das kommt. Diese Leidenschaft. Für die alten Geschichten. Könnte erblich bedingt. Meint er. 62. O-Ton (Hofmann) „Meine Großmutter war aus dem böhmischen Egerland. Die Böhmen erzählen gern Geschichten und hören auch gerne Geschichten. Zum Beispiel gibt’s a schöne Geschichte in Selb. Da gibt’s einen Herrgottsstein. Und da heißt eben die Geschichte, dass der Herrgott sich auf diesem Stein am siebten Tag ausgeruht hat und hat sich an diesem Stein gelehnt; dass man an diesem Stein praktisch noch die Einbuchtungen sieht von dem Ellbogen; von dem Popo.“ Autor Dem Göttlichen. 4. Musik Interpret: Deutsche Streichphilharmonie Ltg. Michael Sanderling Titel: Serenade For Strings in E major Op.22 , Teil 2. Tempo di Valse Komponist: Antonin Dvorak Label: DeutschlandradioRadio Genuin, LC-Nr.: 12029 9. Atmo (Atmo-Collage aus pfeifendem Wind und zersplitterndem Glas) Regie: Circa 0’05“ frei stehen lassen und dann unter 63. O-Ton blenden 63. O-Ton (Schwamm) „Wir haben uns eigentlich gefunden durch die Bürgerinitiative gegen die Exhumierung der Dunkelgräfin.“ Autor Das ist Frau Schwamm, Schrägstrich Ines. 64. O-Ton (Salier) „Ich bin zwar schon fast siebzig. Aber ich sag’s mal ganz jugendlich: Das ist fast nen Knaller.“ Autor Das: Herr Salier. Schrägstrich Hans-Jürgen. Autor. Verleger. Und bis 1987 Lehrer in Hildburghausen. 65. O-Ton (Salier) „Vielleicht noch ein Hinweis darauf.“ Autor Bitte! 66. O-Ton (Salier) „Ich kenne sie schon seit Kindesbeinen an, seit der Schuleinführung. Sie war selbst einmal Schülerin von mir. Und plötzlich haben wir uns hier gefunden. Und das ist, denke ich, schon eine wunderbare Geschichte.“ Autor Dass Hans-Jürgen und Ines nach all der Zeit „wunderbarerweise“ zueinander gefunden haben, rein platonisch versteht sich, haben sie auch dem Bürgermeister zu verdanken. Steffen Harzer, dem Linken. Seiner fixen Idee, die Gebeine der Dunkelgräfin ausgraben und per DNA-Probe untersuchen zu lassen. Ausgerechnet Harzer! 2002, als das Grab schon einmal geöffnet werden sollte, wollte er sich noch „vor das Grab legen“, um „diese Leichenfledderei“ zu stoppen. Hans-Jürgen hält es kaum noch auf seinem Stuhl im Raucherzimmer vom „Rhodos“ - dem griechischen Restaurant am Platze, das in einem trostlosen Plattenbau untergebracht ist, mangelndes südländisches Flair aber durch kräftige Farben und ein gewisses Laissez-Faire beim Service wettzumachen weiß. Später wird Hans-Jürgen Ines noch zum Essen einladen. „Gyros und so“. Erst einmal aber läuft er fast rot an. Vor Wut. Zwei Drittel! Haben beim Bürgerentscheid dagegen gestimmt, die Leiche zu exhumieren. 67 Prozent! Wenn nur dieses Quorum nicht gewesen wäre! Zu wenige Teilnehmer. Hans-Jürgen hat so seine Theorie. Auf den Dörfern gab es keine Wahllokale, sondern nur in Hildburghausen. Da wurde die Wahlbeteiligung bewusst niedrig gehalten. 67. O-Ton (Salier) „So lange wir hier sitzen und so lange wir etwas tun, werden wir etwas für die Stadt tun. Und auch für dieses Geheimnis.“ Autor Das der Dunkelgräfin. 68. O-Ton (Schwamm) „Wir sind der Meinung, es hätte eigentlich einer Graböffnung nicht bedurft; dass man nun eben den Weg der Exhumierung gesucht hat. Es gab ja damals vom Herzogtum her diesen Eid. Dass man eben nicht verrät, wer diese Dame war.“ 69. O-Ton (Salier) „Das war ja auch nicht das Bedürfnis der Dunkelgräfin. Sie wollte in aller Ruhe sterben. Sie wäre (lacht) die Letzte gewesen, die dieses Einverständnis gegeben hätte. Nun kann man sagen: Mit irgendwelchen Knochen kann man machen, was man will. Na, ganz so is es nich. Es gibt eine gewisse Pietät. Es gibt eine gewisse Moral. Es gibt eine Ethik.“ Autor Nicht nur in Sachen Dunkelgräfin. Deshalb betreiben Hans-Jürgen und Ines zusammen eine Website, auf der sie die Geschehnisse in Hildburghausen „kritisch unter die Lupe nehmen“. Von wegen Ethik und so. Weil Hans-Jürgen gerne das große Ganze im Blick behält, hat er auch passende Vorbilder für ihr Tun gefunden – wie es sich für einen Lokalpatrioten gehört: In Hildburghausen. 70. O-Ton (Salier) „Wenn se mal ans Rathaus schauen: Da haben wir unser Wappen, mit den vier Löwen. Und daneben haben wir zwei Schildhalter. Das Frovelein, also eine barbusige Frau. Die vor 400 Jahren wussten auch schon, was schön is. Und wir haben einen tatkräftigen Mann. Das ist der zweite Schildhalter.“ Autor Macht: 71. O-Ton (Schwamm) „Die Frau Schildburg und der Herr Hausen.“ Autor Sprich: Inis und Hans-Jürgen. Ergibt zusammen: 73. O-Ton (Salier) „Schildburghausen.“ Autor So heißt die satirische Kolumne auf ihrer Website, mit der Hans-Jürgen und Ines ihre Mitmenschen beglücken. Ein „wunderbares“ Zusammenspiel. Schließlich sind sie nicht nur ein Herz und eine Seele, sondern grundsätzlich auch einer Meinung. 74. O-Ton (Salier) „Man sollte hier mal neu sortieren.“ Autor An Ideen mangelt es beiden nicht. 75. O-Ton (Schwamm) „Es geht schon los: Wenn ich die einfache Autobahn lang fahr.“ Autor Ines auf ihrem Weg zur Betonfabrik, wo sie stellvertretende Geschäftsführerin ist. 76. O-Ton (Schwamm) „Die A 73, näh?! Überall stehen die Schilder. Aber Hildburghausen?! Nicht ein Schild! Über historische Altstadt von Hildburghausen oder irgendwas. Nirjens was zu finden.“ Autor Schlimm aber auch. 77. O-Ton (Schwamm) „Ja! (Salier) Was sich da abspielt.“ Autor In Schildburghausen. 5. Musik Interpret: Chor der Christuskirche in Hildburghausen Titel: Wir leben hier in aller Stille Live-Mitschnitt vom Singspiel "Madame royale". Komponist: Torsten Sterzik 10. Atmo (Atmo-Collage aus pfeifendem Wind und Krähen) Regie: Circa 0’05“ frei stehen lassen und dann unter 79. O-Ton blenden 78. O-Ton (Sterzik) „Jetzt stell du dir hier vor: Harry Potter Band 8 wird hier weitergespielt. Jetzt kommen die von Askaban...wie heißen die? Die Dementoren kommen! (gruselig gesprochen) Eiskalt! Und dunkel! Und das muss man sich nur einfach vorstellen. Und dann lebt es sich viel besser hier.“ Autor Das ist Herr Sterzik. 79. O-Ton (Sterzik) „Ich bin Kirchenmusiker in Hildburghausen.“ Autor Sterzik ist überzeugter Thüringer. 80. O-Ton (Sterzik) „Brrr. Einmal Thüringer, immer Thüringer. Es gibt viele Thüringer, die in die weite Welt gehen. Und wieder zurückkommen. Aber ich war schon immer der Meinung, als Thüringer stolz sein zu dürfen auf das Thüringer Land. Und ich denke mal, wir sollten uns viel besser verkaufen als Thüringer. Die vielen Lichter, die wir hier haben, sollten wir nicht unter den Scheffel stellen.“ Autor Schon gar nicht seines. Da geht es ihm so wie der Stadt. 81. O-Ton (Sterzik) „Hildburghausen hat den schönen Beinamen: „Der kleine Klassiker.“ Autor Wie Weimar. 82. O-Ton (Sterzik) „Nur eine Nummer kleiner.“ Autor Dem Selbstbewusstsein tut das keinen Abbruch. In Klein-Weimar. 83. O-Ton (Sterzik) „Wir haben hier viele kleine Fürsten. Hier ist irgendwie (leicht gestöhnt gesprochen)...irgendjemand spielt immer den Hemmschuh.“ Autor Sterziks Augen funkeln. Ist ihm alles eine Spur zu piefig hier; zu mühselig. Kleinigkeiten. Dass er heute nicht in die Christuskirche rein kommt; seine Hauskirche aus dem Spätbarock. Und er für das Interview in das Altenheim der Caritas nebenan ausweichen muss. Statt göttlicher Inspiration erwarten Sterzik Rollatoren und der Geruch Thüringer Klöße mit Hackfleisch. Kann schon mal aufs Gemüt schlagen. Genau wie die Sache mit dem Kinderchor. Sterzik hat seine Vorstellungen, der Gemeindekirchenrat andere. 84. O-Ton (Sterzik) „Es sollen biblische Texte gespielt werden. Nicht nur Märchen, wie wir das bringen. Ich denke: Die Hemmschwelle – je niedriger wir sie bringen, desto besser ist es. Die kommen in die Kirche ohne zu merken in der Kirche zu sein, denn sie waren zum Märchenspiel dort. Emil und die Detektive letztes Jahr war ein wirklicher Kampf dies aufführen zu können. Weil: Da spricht der Herr Jesus nicht mit. Zum Glück kam dann der Superintendant auf die Idee: Na, da geht’s ja um Diebstahl. Du sollst nicht stehlen. Das ist ja was Biblisches. Ich hab keine Lust mehr gegen die kleinen Götter zu kämpfen.“ Autor Als wenn das alles nicht schon schlimm genug wäre, kommen sie ihm jetzt auch noch mit der Dunkelgräfin - die „kleinen Götter“. Und der DNA-Probe. 85. O-Ton (Sterzik) „Dann wissen’s alle. Dann steht das drei Mal in der Zeitung. Dann werden die Lexika geändert. Dann wird das zwei Mal im Fernsehen gesendet. Dann is das Geheimnis auch weg.“ Autor Dafür aber kommen die Schaulustigen nach Hildburghausen, um auf den Spuren der Dunkelgräfin zu wandeln. 86. O-Ton (Sterzik) „Wer soll das machen? (Autor) Touristen! (Sterzik) Ahaaaa! (lacht) In Heerscharen? (Autor) Genau! (Sterzik) Werden die kommen! Ok. (lacht) Ich glaub’s nicht.“ Autor Genauso wenig wie daran, das Geheimnis der Dunkelgräfin zu lüften. Ob sie nun adelig war oder nicht: Sterzik interessiert das nicht. Ihr Schicksal schon. Deshalb hat er 2007, genau 200 Jahre nach ihrer Ankunft in Hildburghausen, ein Singspiel über „Madame Royale“ komponiert. 11. Atmo: Musik aus Singspiel „Madame Royale“ (siehe Musik 5) Regie: Circa 15 Sekunden frei stehen lassen und dann unter Autor blenden Autor Sterziks Singspiel lief ein paar Mal in der Christuskirche. Und vor zwei Jahren zu Ehren des hundertsten Geburtstags von Helga Rühle von Lilienstern – ihres Zeichens Ehrenbürgerin der Stadt und bis zu ihrem Ableben letztes Jahr unbestrittene Königin der Dunkelgräfinnen-Forschung. Eine Dame von Format. Sterziks Gesicht hellt sich auf. 2005, 2006, so um den Dreh rum, muss es gewesen sein: Dass sie sich kennen lernten. Beim Festakt anlässlich ihrer Ehrenbürgerschaft, als er für sie am Klavier über ihren Vornamen improvisierte; improvisieren durfte. 87. O-Ton (Sterzik) „Hatte sie natürlich vorher gefragt: Frau Rühle von Lilienstern? Darf ich sie heute mal mit „Du“ anreden? Da hat sie sich so herzlich und köstlich gefreut. Hildburghausen kann sich glücklich schätzen, die Dunkelgräfin zwei Mal beherbergt zu haben. Einmal durch Madame Royale. Und zum anderen durch Frau Helga Rühle von Lilienstern.“ Autor Seitdem die zweite Madame Royale der ersten ins Jenseits gefolgt ist, fehlt Sterzik etwas. Einfach weg. So wie seine Großmutter. Die hat er auch geliebt. 88. O-Ton (Sterzik) „Diese altklugen Sprüche. Wo wir als Jugendliche oder Kinder eigentlich nur lachen. Und wie wir dann fortlaufend merken im Leben, welche tiefen Weisheiten dahinter stecken. „Humor ist, wenn man trotzdem lacht!“ Hing bei ihr groß in der Küche. Das würde auch nen bisschen zu Frau Rühle von Lilienstern passen.“ Autor Seiner Seelenverwandten. Der zweiten Madame Royale Hildburghausens. Der ersten fühlt Sterzik sich auch verbunden. 89. O-Ton (Sterzik) „Das muss man natürlich erst mal drauf haben. 30 Jahre lang verschleiert rum zu laufen! Da steckt ne ganz schöne Stärke dahinter. Es ist durchaus beeindruckend. Nicht nur diese Geschichte: Diese Person ist beeindruckend. Da liegt noch einiges im Dunkeln. Wir würden heute sagen: Sie hatte Schiss. Es ist kein schönes Wort. Sie hatte einfach Angst, entdeckt zu werden.“ Autor Sterzik ist das nicht fremd. Die Angst entdeckt zu werden. Das Anderssein. Sein Elternhaus im thüringischen Saalfeld war christlich. In der DDR, meint der Anfang 50jährige, habe man sich damit nicht gerade beliebt gemacht. 90. O-Ton (Sterzik) „Am ersten Schultag: Ich war der einzige in der Klasse: Wer geht in die Christenlehre? Aufstehen! Einen ganzen Tag stehen bleiben. An nem Pranger stehen. Das hat geprägt, durchaus. Als dann der Konfirmandenunterricht losging, hab ich einen Freund mitgenommen. Und wir hatten ein Kennen-Lern-Spiel. Da waren Fragen auf dem Tisch, die man zog und vorlas. Meine Frage war: „Wenn Du mit Deiner Familie nach Kanada auswandern könntest, würdest Du das machen?“ Klar! Am nächsten Tag kam mein Vater nicht mehr nach Hause. Weil die Familie Sterzik nach dem Westen gehen wollte. Es gab damals schon zum Teil recht heftigen Ärger, mit Stasi und allem drum und dran.“ Autor Studieren kann Sterzik später trotzdem. Kirchenmusik. In Eisenach. Danach geht er zur Armee. Zwangsweise. 91. O-Ton (Sterzik) „Ich hatte von daher Glück, dass ich tatsächlich in einen Regiments-Club kam, dort den halben Tag am Klavier sitzen konnte. Wobei der Kompaniechef dort damit gar nicht umgehen konnte, natürlich weil ich ein Christ war. Das war das allerletzte, was er sich vorstellen konnte. Das hab ich in jeder Minute, die ich auf der Kompanie gewesen bin, auch gemerkt.“ Autor Sterzik hat auch das überstanden – und Contra gegeben. Hat er später weiter so gehandhabt. 92. O-Ton (Sterzik) „Meine Frau hat mich damals immer zurückgezogen: „Denk dran, du hast Familie! Und wir wollen nicht, dass du innen Knast kommst.“ Aber das ging nicht. Das musste irgendwie raus. Das is bis heute so. Dass alles, was Unrecht ist, aus mir raus muss.“ Autor Sterzik ist sich treu geblieben. Kollateralschäden inklusive. 93. O-Ton (Sterzik) „Meine Frau – wir leben zwar noch zusammen, aber seit acht Jahren sind wir getrennt. Sie ist auch rebellisch. Aber wir vertragen uns. So weit es geht.“ Autor Ist mit seinen drei Söhnen genauso. Die zwei Jüngeren leben in Erfurt, der Älteste als Rettungssanitäter im nahegelegenen Eisfeld. 94. O-Ton (Sterzik) „Ein Sterzett – das passt. Die sind auch alle drei rebellisch.“ Autor Müssen die Gene sein. Hildburghausens Oberrebell steht auf. Die Arbeit ruft. Es muss. Auch wenn es nicht immer leicht fällt. Ab und zu, meint Sterzik, spiele er in Gedanken das „Was wäre wenn“-Spiel. Was wäre beispielsweise gewesen, wenn die Dunkelgräfin ihren Schleier gelüftet hätte. Und damit ihr Geheimnis. Oder er damals, in Weimar, bei der Armee, zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen wäre. 95. O-Ton (Sterzik) „Es gab dort einen Singe-Club, der hieß Thomas Müntzer. Die, die damals in den Singe-Club waren, nennen sich heute „Die Prinzen“. Autor Die Popband. 96. O-Ton (Sterzik) „Die waren ein Jahr vor mir. Wär ich nen Jahr eher dort gewesen, wär ich vielleicht auch nen kleiner Prinz. Ha, ha, ha ha. (lacht) Dann könnt ich hier mitspielen im Fürstentum Hildburghausen.“ Kennmusik Sprecher vom Dienst: Das Geheimnis um die Dunkelgräfin Hildburghausen in Thüringen Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Michael Frantzen Ton: Peter Seyffert Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2014. Manuskript und Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter deutschlandradiokultur.de 10 3