COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur DIE REPORTAGE vom 6.2.2011 Thiens geplatzter Traum Flucht und Abschiebung eines jungen Vietnamesen Von Johannes Nichelmann 1. Szene 01. Atmo: Bahnhof (0,00) – darüber: 01. O-Ton: Zigarettenkäufer (0,10) Meistens hol ick se mir vom Laden. Aber da werden se mir auch langsam zu teuer. Da kosten se ja schon fünf Euro. Die Schachtel. Da hol ick se mir lieber bei de Fitschis hier. Autor „Da hole ich sie mir lieber bei den Fitschis“, sagt ein Mann mittleren Alters. Er kommt gerade aus der S-Bahn, ist auf dem Weg in den Feierabend. „Fitschis“ nennt er die Vietnamesen, die in Berlin an Bahnhöfen und vor Supermärkten illegal Zigaretten verkaufen. 01. Geräusch: Ansage S-Bahn I (0,00) (Ansage) In Richtung Straußberg, Einsteigen bitte! 02. Atmo: Aussteigen aus der S-Bahn/ Atmo Warschauer (3,00) – darüber: Autor Am Ausgang des S-Bahnhofs Warschauer Straße steht ein Vietnamese. Er trägt eine Wollmütze. Seine Schultern hat er so weit wie möglich an seinen Hals gezogen, sein Atem ist deutlich sichtbar. Der Mann aus der S-Bahn geht auf ihn zu, drückt ihm unauffällig 20 Euro in die Hand. Dafür bekommt er eine Stange mit gefälschten Marlboro-Zigaretten. 02. Geräusch: Feuerzeug (0,00) Autor Eine Kippe steckt er sich gleich in den Mund, zündet sie an. Dann ist er verschwunden. So geht das. Jeden Tag, dutzende Male. Und jeden Tag steht der junge Vietnamese hier. Kaum älter als 20 Jahre. Ständig huscht sein Blick umher. Immer wieder guckt er nervös auf das Display seines Handys – dann rennt er plötzlich weg. Vermutlich hat ihn eine SMS vor der Polizei oder vor dem Zoll gewarnt… 03. Geräusch: Ansage S-Bahn II (0,00) (Ansage) Nächster Zug in Richtung Westkreuz 2. Szene 03. Atmo: Zollfahrzeug – darüber: Autor Die Männer vom Zoll beginnen ihren Dienst an der Warschauer Straße am späten Nachmittag. Zwei Beamte auf Streife in der Nähe des Bahnhofs. 02. O-Ton: Zöllner im Auto (0,09) (Müller) Der hier drin gesessen hat, der muss gelegen haben... Autor Die Männer sind in Zivil. Unter ihren weiten Hemden tragen sie schusssichere Westen. Sie fahren in einem blauen VW Kombi die Standorte der Zigarettenverkäufer ab. 03. O-Ton: Zöllner im Auto (0,05 + 0,21 Atmoüberhang) (Schuster) Jetzt geht’s ganz einfach nur zur Bekämpfung des illegalen Zigarettenhandels. Autor Ein echtes Problem. Durch den Schmuggel der gefälschten Ware entsteht in der Europäischen Union jedes Jahr ein Schaden von zehn Milliarden Euro. Die Strippenzieher sitzen in Osteuropa, die Verkäufer in Berlin sind Vietnamesen. Sie stehen am Ende einer langen Kette und verdienen gerade einmal einen Euro pro Stange. 04. O-Ton: Übermacht der Mafia (0,30) Das Problem ist, dass es einfach zu viele Standplätzegibt, nicht? 350, so geschätzt. Und das die an sämtlichen Supermärkten, S-Bahn, U-Bahnhöfen, an Orten mit... wo viel Publikumsverkehr ist, stehen die teilweise mit zwei, drei Mann und das die sich halt sehr absichern. Das ist halt wirklich, nach unserer Meinung, wirklich hoch organisierte Kriminalität ist und das die damit sehr sehr viel Geld verdienen. Also nicht die Straßenhändler,sondern die Hintermänner und ja. Autor Die Fahnder wollen heute Kunden und vielleicht auch einen Händler schnappen. Wer kauft, zahlt für eine Stange 15 Euro Strafe und muss die Zigaretten abgeben. Tabak der oft gestreckt ist mit Arsen oder Tierkot. Schnappen die Zöllner einen Händler, wird er von der Polizei abgeholt und auf die Wache gebracht. 05. O-Ton: Festnahme (0,11) Weil wir natürlich wissen wollen, wer es ist. Weil er ja meistens keine gültigen Papiere dabei hat. Dann kriegt er ein Steuerstrafverfahren und dann darf er wieder gehen. Meistens... wieder gehen. Autor Es sei denn, der Asylantrag, den fast alle Vietnamesen stellen, wurde abgelehnt. Dann geht es in die Abschiebehaft. Ihr Alltag vorher in Deutschland: Arbeiten für einen Hungerlohn, tägliches Katz- und Mausspiel mit der Polizei und dem Zoll – warum nehmen jungen Menschen das alles auf sich? Ist halt so, sagt einer der Zöllner nur. 06. O-Ton: Kreislauf (0,19) Na gut, dann ist ja immer was zu tun. Jetzt müssen Sie sich mal vorstellen, dass wer jetzt so, theoretisch, jeden Zigarettenhändler den wir aufgreifen, der würde sofort ausgeflogen werden und da würde keiner mehr nachkommen. Könnte man irgendwann vielleicht Polizei und Zoll abschaffen. Und so ist immer was zu tun... immer ne Arbeit. Ja. Autor Die beiden Männer fahren weiter, greifen hier und da einen Käufer oder Händler auf. Die meisten lassen sie wieder laufen. 03. Atmo: Ende/ Blende 3. Szene 04. Atmo: Haft Eingangstor (0,00) Autor Zwei Wochen später. An der Straßenbahnhaltestelle „Rosenweg“ im Berliner Bezirk Köpenick, in direkter Nachbarschaft zu Einfamilienhäusern mit Gartenzwerg und Rasensprenger, steht das Abschiebegefängnis. Hohe Mauern mit mächtigen Stacheldrahtrollen, dahinter ein großer Plattenbau mit vergitterten Fenstern. Für viele der illegal eingewanderten Vietnamesen der vorerst letzte Aufenthaltsort in Deutschland. 04. Geräusch: Aufschließen der Türen (0,17) 05. Atmo: Familienzelle (2,08) Autor Holzstühle. Spielzeug. Gitterstäbe: Die Familienzelle im Besucherbereich. Hier sitzt Thien, der Junge vom Bahnhof Warschauer Straße. Die Bundespolizei hat ihn vor ein paar Tagen hier her gebracht. In ein paar Wochen soll er zurück in seine Heimat – nach Vietnam. Für den 23jährigen enden damit drei Jahre Flucht. 07. O-Ton: Raus aus Vietnam (kurz stehen lassen) (0,37) Sprecher 1 In Vietnam habe ich nichts zu tun, keinen Job. Ich habe keine Familie mehr. Es ist schwer das Geld für Essen zu verdienen. Dann habe ich mir gedacht, weil das Leben zu Hause schlecht ist, stelle ich in Deutschland einen Antrag auf Asyl. Ich habe von meinen Freunden gehört, dass in Deutschland die Menschenrechte sehr wichtig sind. Ich dachte, ich kann hier einen Beruf erlernen und arbeiten gehen. Und ich habe gehört, ich kann kostenlos die Schule besuchen. Autor Der Weg nach Europa ist teuer: Schlepperbanden wollen zehntausend Euro von Thien. Geld, das er nicht, das niemand in seinem Heimatdorf, im mittleren Teil Vietnams, hat. Um die ersten viertausend Euro zu beschaffen, verkauft Thien sein Haus. Die Schlepper setzen ihn in ein Flugzeug nach Russland, von dort aus geht es auf Lastern oder zu Fuß ans Ziel seiner Träume. 08. O-Ton: Über die Schlepper (kurz stehen lassen) (0,36) Sprecher 1 Die Schleusung wird von Europäern organisiert. Es gibt aber in den Banden Vietnamesen, die die Anweisungen für uns übersetzen. Es ist sehr gefährlich durch die Wälder zu laufen. Wir hatten kein Essen und es war unglaublich kalt. Für vierzig Personen haben wir nur drei Kilogramm Reis pro Tag bekommen. Wir wären fast alle gestorben! Davon wusste ich vorher nichts, auch nicht, dass es verboten ist über die Grenzen zu gehen. Autor Auf dem Marsch wird eine Frau vergewaltigt, stirbt. Einem Mann erfrieren beide Beine. Thien hält durch. Nach fast einem Jahr kommt er in Deutschland an. Einen Teil seiner Schulden bei den Schleppern kann er nur bezahlen, weil er klaut, illegal Zigaretten verkauft. Das geht nicht lange gut, er wird erwischt. 09. O-Ton: Abschiebung (kurz stehen lassen) (0,18) Sprecher 1 Mein Ayslantrag wurde abgelehnt und in Vietnam habe ich kein zu Hause, keine Unterkunft mehr. Das ist doch scheiße! Das Leben hier in der Haft ist zwar immer noch viel besser als das in Vietnam, meinetwegen kann ich hier ewig bleiben, aber warum werden wir überhaupt abgeschoben? Autor Deutschland sieht Thien als sogenannten Wohlstandsflüchtling an. Der seine Heimat verlassen hat, um Geld zu verdienen. Asyl steht aber nur den Menschen zu, die in ihrer Heimat verfolgt werden. Thien fasst sich in seine raspelkurzen schwarzen Haare, blickt auf das Fensterbrett. Der letzte Schnee, den ich sehen werde, sagt er leise. 05. Geräusch: Schließen der Tür (0,11) Autor Auf einer der Türen nach draußen: ein Aufkleber. Auf ihm steht in großen roten Buchstaben das Wort „weltoffen“. 5. Szene 06. Atmo: Flughafen Hanoi (3,17) – darüber: Autor Drei Wochen später, Flugsteig A, Flughafen Hanoi. Um neun Uhr morgens landet eine Linienmaschine der russischen Aeroflot. An Bord: Thien und sechsundvierzig weitere Abschiebehäftlinge. Der Deutsche Staat gibt jedem von ihnen fünfundfünfzig Euro für die Weiterreise und ein Lunchpaket mit. Sechs Stunden nach der Landung: fast alle Passagiere haben den Transitraum verlassen. Von den siebenundvierzig Abgeschobenen jedoch: keine Spur. Niemand am Flughafen kann sagen wo sie sind. Der Kontakt zu Thien bricht ab. 08. Atmo: Gewaltiges Hanoi (2,36) (0,15 stehen lassen) – darüber Autor Hanoi. Sechs Millionen Menschen. Motorroller. Taxis. Baustellen überall – neue Stadtviertel entstehen. Touristen. Smog – der immer gleiche Grauton. Eine Metropole zwischen Aufbruch in die westliche Moderne und Festhalten am Sozialismus. Propagandaplakate zeigen ein fleißiges Arbeitervolk, eine starke Armee. Und immer wieder H? Chí Minh. Den alten Landesvater - Symbolfigur für Freiheit und Aufbruch. Hanoi boomt. Täglich strömen junge Männer und Frauen aus den Provinzen in die Stadt. Geld verdienen. 19. Atmo: Taxi (4,06) – darüber: Autor Thien hier zu finden ist unmöglich. Aber seine Heimatprovinz, rund um die Stadt Vinh, liegt nur dreihundert Kilometer entfernt. Richtung Süden. Sechs Stunden mit dem Zug. Im Taxi, auf dem Weg zum Bahnhof: Bien. 10. O-Ton: Bien (0,04) Ah. Okay, firstly they... Autor 33 Jahre alt. Aus Saigon. Ein kräftiger Vietnamese auf Rundreise, auch er will nach Vinh. Bien arbeitet an einer Universität, hat vier Jahre lang in Deutschland studiert. Er gehört zur intellektuellen Elite Vietnams. Sein Einkommen ist niedriger als das eines einfachen Soldaten. Trotzdem ist er zurück gekommen. 11. O-Ton: Vita Bian (0,24) The first! That's I don't have relatives in Germany, so living there... I always missed my family, my friends in Vietnam. So i had to... Sprecher 2 Zu erst einmal habe ich keine Verwandten in Deutschland. Ich habe meine Familie und meine Freunde sehr vermisst. Deswegen wollte ich zurück. Und ich hatte ein Stipendium. Ich sollte eh wiederkommen, um für mein Land zu arbeiten. Autor Bien liebt sein Land, versteht aber auch die, die aus den Provinzen Mittel-Vietnams weg wollen. Und: Bien kennt das Dorf von Thien. 6. Szene 09. Atmo: Zug (1,32) (0,10 stehen lassen) – darüber: Autor Je weiter der Zug in Richtung Vinh vordringt, desto karger die Landschaft. Kleine Berge werden abgetragen, damit in Hanoi immer mehr Häuser gebaut werden können. Zerstörte Natur, als Preis für das Wachstum. Die Reisfelder werden weniger – die Böden sind trocken und karg. Die Luft jetzt feuchter, salziger – Thiens Dorf liegt direkt am Meer. Bien will sofort zum Strand. 10. Atmo: Das Meer und die Fischer (0,45) – darüber: Autor Dort stehen zwei Fischer neben ihrem kleinen Holzboot. 11. Atmo: Das Meer (4,03) – darüber: Autor Sie stammen aus dem Dorf, das liegt gleich hinter der Düne. Der ältere Fischer ist vierzig, der jüngere 28 Jahre alt. Der ältere flickt gerade ein kaputtes Netz. Seit er zwölf Jahre alt ist, ist jeder Tag wie der andere. 12. O-Ton: Alltag des Fischers (0,26) -vietnamesisch- (Ab 0,05 langsam abblenden) 13. O-Ton: Übersetzung Bien (0,29) He has to get up early in the morning, around three AM. Sometimes, ja, it depends on the luck... Sprecher 2 Er sagt, er muss früh am Morgen aufstehen, so gegen drei Uhr. Dann hängt alles von seinem Glück ab. Manchmal kann er im Monat ein paar Millionen Vietnamesische Dong verdienen. Autor Eine Millionen Vietnamesische Dong, das sind knapp vierzig Euro. Das reicht für Reis, Gemüse, ab und an ein Stück Fleisch – ist aber nicht genug, um eine Familie zu ernähren. 14. O-Ton: Alte Fischer würde gerne gehen (0,38) -vietnamesisch- Sprecher 1 Ich mag meinen Beruf nicht wirklich. Wenn zum Beispiel ein Sturm kommt, kann ich nicht aufs Meer fahren. Ich würde jeden anderen Job machen, solange er auf dem Land ist. Gerne würde ich auch zum Arbeiten auswandern. Aber sehen sie mich an – dafür bin ich zu alt. Das ist nur etwas für die junge Generation. Ich habe keine Chance mehr woanders hin zu gehen. Autor Sein Blick geht auf das Netz, seine Finger knüpfen weiter. Sein Dorf hat nur fünfhundert Einwohner, kennt er vielleicht Thien? Der Mann überlegt, dann fällt ihm ein, dass vor einigen Jahren ein Junge seine Familie verloren hat und fort gegangen ist. Er hat nie wieder etwas von ihm gehört. Der andere Fischer auch nicht. „Alle wollen doch weg“, sagt er nur. Und die, die bleiben, leben oft vom Geld, das die Angehörigen schicken. 15. O-Ton: Keine Zeit für Familie (0,07) -vietnamesisch- Sprecher 1 Ich muss hart arbeiten jeden Tag, ich habe noch nicht mal Zeit und kein Geld um zu heiraten. Eines Tages will ich viel Geld verdienen, dann kann ich meiner Familie helfen und endlich heiraten. Autor Die Familie ist das Wichtigste in Vietnam, der Zusammenhalt enorm. Wer mit Anfang zwanzig noch nicht verheiratet ist, wird schräg angesehen. Er will deshalb auch nur eins: weg hier. 16. O-Ton: Zukunft (0,05) -vietnamesisch- Sprecher 1 Ich weiß noch nicht wohin ich gehen werde, aber ich werde gehen. Autor Das Ziel ist nicht immer Deutschland. Viele gehen auch nach Japan, Indonesien, Malaysia oder eben Hanoi. 7. Szene 12. Atmo: Schritte durch das Dorf/ Enten (1,52) – darüber: Autor Hinter dem Strand, hinter der großen Düne: das Dorf von Thien. Verstreut liegende, bunt angemalte Häuser aus Stein, umringt von Sträuchern, Bäumen und zugewucherten Wiesen. Dazwischen schmale und breite Pfade. 13. Atmo: Schule (1,58) – darüber: Autor Vierzig Meter von der Düne entfernt: Thiens alte Schule. Gerade ist Pause. Fünfzehn kleine Kinder, im Alter von sechs bis acht Jahren, rennen aufgeregt umher und spielen fangen. Eine junge Lehrerin, Anfang 20, sieht ihnen zu. Thien kennt sie nicht, sie ist noch nicht lange im Dorf. „Die Alten aber wissen sicher bescheid“, sagt sie zu Bien. Und erzählt. Dass der Unterricht im Dorf bis zur fünften Klasse kostenlos ist, die meisten aber das spätere Schulgeld nicht zahlen können. 17. O-Ton: Bessere Bildung (0,16) (Bien) I think they will get better knowlege, compared with our generation, because my country now is developing... Sprecher 2 Ich glaube diese Kinder hier bekommen eine bessere Bildung als unsere Generation. Mein Land entwickelt sich. Es gibt mehr Geld, um Kindern in entlegenen und armen Gegenden zu helfen. (ATMO: kurz stehen lassen, Kinder kreischen) 18. O-Ton: Korruption (0,21) (Bien) But the problem is, this money can not go directly to the poor people or to the school. Sprecher 2 Das Problem ist, dass das Geld nicht direkt bei den Menschen oder der Schule an kommt. Korruption gibt es überall. Zum Beispiel können sich einige Professoren meiner Universität Häuser kaufen, die Millionen von US Dollar kosten. Aber das passiert in Vietnam. Wir müssen versuchen, das zu stoppen. 8. Szene 07. Geräusch: bellende Hunde (0,28) 14. Atmo: Pumpe in der Küche (1,32) – darüber Autor Am anderen Ende des Dorfes: ein gelbes Steinhaus mit einem kleinen Vordach. Darunter: eine Pumpe. Abgemagerte Hühner, Hunde und Katzen. Auf dem Dach: eine Satellitenschüssel. Ein Haus wie dieses hat Thien verkauft, für seine „Reise“. Die Bewohnerin, Frau Hoa, erinnert sich. Er war weg, kurz bevor ihr Mann gestorben ist. Die 43 Jahre alte Frau fasst schnell Vertrauen zu Bien, will gern mehr über das Leben im Dorf erzählen, bittet hinein. 19. O-Ton: Sie will kochen (0,15 Atmo; stehen lassen) (0,20) Autor Reis. (Hoa) -vietnamesisch- (Bien) She said, she will cook for us. 15. Atmo: Kochen (3,36) – darüber: Autor Die Gaskochstelle ist in einer dunklen Niesche des Hauses. Eine Taschenlampe gibt Frau Hoa Licht zum Kochen. Den Reis braucht sie nicht nur für die Mahlzeiten, sondern auch um damit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Frau Hoa fertigt Reisoblaten, verkauft sie. In ihrer Pfanne brutzeln Schweinefleisch, Fisch und Gemüse. In einem Topf der Reis. „So ein Festmahl gibt es ein- oder zweimal im Jahr. Oder wenn Gäste kommen“, sagt Bien leise. Und Frau Hoa erzählt. 20. O-Ton: Das Land (0,12) -vietnamesisch- Sprecher 3 Das Land ist nicht zu gebrauchen Das Leben am Meer, ohne einen Mann, ist sehr hart. Ich kann nicht fischen gehen, um Geld zu verdienen, um meine Kinder zu unterstützen. Autor Ihren Mann verliert sie bei einem Sturm auf See. Ihre drei Kinder sind in Indonesien und Taiwan. Arbeiten. 08. Geräusch: Wasserkocher (0,05) Autor Auf einem Tisch steht ein Wasserkocher einer deutschen Firma. Darauf klebt eine Bedienungsanleitung auf Deutsch. Das Gerät haben ihre Schwestern geschickt, sie leben seit langem in Deutschland. Eine kommt vor der Wende als Vertragsarbeiterin, die andere geht den gleichen Weg wie Thien. Nur, dass sie bleiben darf, weil sie einen Deutschen heiratet. Jetzt ist die Frau Besitzerin eines Geschäftes mit Geschenkartikeln in Berlin. Eine Erfolgsgeschichte. Frau Hoa und ihre Kinder bekommen so regelmäßig Geld aus Deutschland. Das sichert das Überleben. 21. O-Ton: Gutes Leben in Deutschland (0,34) -vietnamesisch- Sprecher 3 Ich weiß nicht viel über Deutschland. Ich weiß nur eine einzige Sache. Meine beiden Schwestern sind dort und sie sagen, dass es einfach ist in Deutschland Geld zu verdienen. Sie können nicht reich werden, aber für das normale Leben ist es ausreichend. Nicht wie hier in Vietnam. Wenn ich könnte, ich würde gehen. 09. Geräusch: Plastikstuhl, hinsetzen (0,05) 16. Atmo: Essen (1,06) – darüber: Autor Eine Stunde später. Das Essen steht auf dem Tisch. Nachdem alle fertig sind, steht Frau Hoa auf, schaltet den Fernseher an. Auch ein deutsches Gerät. 17. Atmo: Fernseher (1,52) (0,20 stehen lassen) Autor Entspannung mit Musikfernsehen. In einem Videoclip steht ein gut aussehender Teenager inmitten einer Mondlandschaft in der die Sonne untergeht. In diesen Bildern, der ganze Weltschmerz. Frau Hoa sieht gerne fern. Da ist die Welt in Ordnung, sagt sie. 17. Atmo: hochziehen, stehen lassen, Blende 10. Atmo: Das Meer (4,03) – darüber: Autor Zurück am Strand. Die Fischer sind weg. Eine kleine Frau im weißen Kleid geht am Wasser entlang. Die Mutter von Frau Hoa. In ihrer linken Hand hält sie ihr Mobiltelefon. Sie ist siebzig und hat nie woanders gelebt. Und glaubt wie Bien, dass sich vieles (in ihrer Heimat) zum Besseren gewendet hat. 22. O-Ton: Veränderungen im Dorf (0,11) -vietnamesisch Sprecher 3 Die Gesellschaft hat sich verändert. Wir sind reicher geworden. Früher hatten wir nicht diese schönen Häuser aus Stein. Wir haben sehr schlecht gelebt. Außerdem haben wir jetzt richtige Straßen. Autor Und dennoch: Ihre Töchter und Enkelkinder sind bisher nicht zurück gekehrt. Ihr jüngster Enkel ist mit Thien zur Schule gegangen, hat kurz nach ihm das Dorf verlassen. „Thien wird doch wohl auch einen ordentlichen Job bekommen haben“ sagt sie. So wie ihr Enkel in Taiwan. 23. O-Ton: Zukunftswunsch (0,35) -vietnamesisch- Sprecher 3 Die jungen Leute sollen eben endlich richtig zu Geld kommen und ein noch besseres Leben haben. In Deutschland ist der Krieg schon so lange her, anders als bei uns. Vielleicht können wir dem Vorbild folgen und eines Tages auch so reich werden wie die Deutschen. Das wünsche ich mir für die Zukunft. 9. Szene 10. Geräusch: Einsteigen ins Taxi (0,10) Autor Am Abend. Auf dem Weg in die nächst größere Stadt, nach Vinh. 30 Kilometer entfernt. In der Hoffnung, dass sich Thien doch noch meldet. 18. Atmo: Taxi auf schlechter Straße (2,57) – darüber: Autor Selbst der Taxifahrer hat seine Geschichte zu Deutschland, erzählt sie Bien sofort. Dass sein Bruder in Berlin lebt, Blumen verkauft. Auch er wählt den gleichen Weg wie Thien. Nach Russland und dann weiter zu Fuß und auf Ladeflächen verschiedener Lastwagen nach Deutschland. Seit vier Jahren haben die Brüder sich nicht gesehen. 24. O-Ton: Vermissen des Bruders (0,09) -vietnamesisch- 24. O-Ton: Übersetzung Bien (0,15) They miss each other very much, but.... Sprecher 2 Er meint, dass sie sich sehr vermissen, aber eben nichts machen können. Wenn sein Bruder den deutschen Pass bekommt, will er zu Besuch nach Vietnam kommen. 19. Atmo: In der Stadt (0,40) – darüber: Autor Natürlich will auch der Taxifahrer nach Deutschland kommen. Irgendwann, wenn er das Geld zusammen hat. Bien nickt, dann wandert sein Blick nach draußen in die Abendsonne. Einen Moment lang wirkt er nachdenklich. Abwesend. Doch dann plötzlich hellwach. Nach diesem Tag will er jetzt eine Sache klar stellen. 26. O-Ton: Ansehen der Flüchtlinge (0,30) Who want to go to Germany, by this way. They are uneducated people. Only! ... Sprecher 2 Die Leute, die auf diesen Weg nach Deutschland gehen, sind ausschließlich ungebildete Leute. Sie gehen dort nur hin, um als Verkäufer für Blumen oder Gemüse zu arbeiten. Oder im Restaurant. Diese Leute werden in Vietnam nicht respektiert. 20. Atmo: Taxifahrer telefoniert/ Autoradio (2,17) – darüber: Autor Der Taxifahrer hört Biens Worte nicht. Das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt, hat er das Autoradio laut aufgedreht. Hinter dem Lenkrad: ein Wackelelvis. Im Radio bringt das staatliche Programm eine Sendung, die vor Schlepperbanden und der gefährlichen Reise nach Europa warnt. Der Taxifahrer schüttelt den Kopf, sagt: „Ich würde es schaffen. Weil ich stark genug bin, wie mein Bruder“. Was zählt sind Erfolgsgeschichten. Wer scheitert und wie Thien aus einem vermeintlich reichen Land zurückkehrt und nichts mitbringt, ist lieber still. Denn er gilt als Versager. Bien jedenfalls glaubt, dass Thien nichts von seiner Reise erzählen wird. Vom Hunger und vom Tod. Und auch nicht von den unzähligen Stunden in Berlin am Bahnhof, wo er illegal Zigaretten verkauft hat. So leben die Mythen von einem Paradies namens Europa fort. 10. Szene 21. Atmo: Hotelzimmer (1,33) – darüber: 11. Geräusch: Handy vibriert (0,05) Autor Eine Stunde später, Im Hotelzimmer von Vinh. Eine Nachricht von Thien. Er will ein Treffen, in einem Café in der Stadt. Ohne Mikrofon. 23. Atmo: Gespräch mit Thien (3,59) – darüber: Autor Im Café: Singvögel in kleinen Käfigen. Rucksack-Touristen. An einem Tisch in der Ecke: Thien. Er sieht müde aus, hat lange nicht mehr richtig geschlafen, sagt er und erzählt ganz ruhig, warum er nicht am Flughafen aufgetaucht ist. „Die Polizisten haben mich sechs Stunden lang festgehalten.“ Dann sperren sie ihn in eine Zelle, nehmen ihm seine fünfundfünfzig Euro ab. Das Geld, das ihm die deutschen Behörden mitgegeben haben. Als er den Flughafen schließlich verlassen darf, sucht er seinen Cousin in Hanoi. Der leiht ihm das Geld für die Fahrt hier her. Kaum zurück in der Heimat, hat er neue Schulden. Wie es jetzt weitergehen soll: er weiß es nicht. Er weiß nur eins. Hier bleiben - auf gar keinen Fall. -ENDE- DLRB Die Reportage: Thiens geplatzter Traum – Warum junge Vietnamesen nach Deutschland flüchten 1/15