COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Literatur vom 14.2.2010 TITEL: "Die Geometrie Gottes" Eine literarische Reise in Pakistans jüngste Vergangenheit AUTOR/IN: Claudia Kramatschek ÜBERSETZUNG der O-Töne: C. Kramatschek REDAKTION: Dorothea Westphal LÄNGE: 55 Min. SENDUNG: 14.02.2010, 00.05-1.00h STIMMEN: Erzählerin (Kommentar) Sprecherin (Zitate und OV) Sprecher (Zitate und OV) Regie: Musik (CD Nazakat & Salamat Ali Khan/2. Raga: Rageshvari) ((Text damit unterlegen)) Moderation: Pakistan - 1947 als Heimat für die Muslime bei der Teilung des indischen Subkontinents gegründet - gilt heute als ‚gefährlichster Staat' der Welt. Eine wachsende Zahl Selbstmordattentate erschüttert das Land, das als Hort und Zufluchtsstätte der Taliban gilt. Der Westen fürchtet daher vor allem die Übernahme der Nuklearanlagen durch die Fundamentalisten. Diese rückten Anfang 2009 bedrohlich nahe auf die Hauptstadt Islamabad zu. Wer aber das Heute verstehen will, muss die Vergangenheit kennen. Eine kleine Gruppe pakistanischer Autoren und Autorinnen blickt in den Spiegel der Vergangenheit und lotet mit ihren aktuellen Romanen die Geschichte ihres Landes aus. Sie alle gehören derselben Generationen an und sind um die 40 Jahre alt; sie alle schreiben auf Englisch; sie alle sind sowohl in Pakistan als auch im Westen beheimatet. Und sie haben in den vergangenen Jahren internationale Prominenz erlangt. Ihre Namen: Mohammed Hanif, Uzma Aslam Khan, Kamila Shamsie, Mohsin Hamid, Nadeem Aslam. Ansage: Die Geometrie Gottes Eine literarische Reise in Pakistans jüngste Vergangenheit Ein Sendung von Claudia Kramatschek Regie: Musik (Riaz Ali Khan: Bulleya/Coke Studio/Episode 4) ((Zitat und ff. immer wieder damit unterlegen)) Sprecher Zitat: Das Flugfeld liegt bei Bahawalpur mitten in der Wüste, sechshundert Meilen vom Arabischen Meer entfernt. Zwischen der gleißenden Wut der Sonne und der endlosen Weite des glitzernden Sandes gibt es nichts außer einem Dutzend Männern in Khaki, die sich auf das Flugzeug zu bewegen. Für einen Augenblick taucht General Zias Gesicht auf - das letzte Erinnerungsbild eines viel fotografierten Mannes. Sein Mittelscheitel glänzt in der Sonne, seine unnatürlich weißen Zähne blitzen, während sein Schnurrbart den üblichen kleinen Tanz für die Kamera aufführt ... Einem aufmerksamen Beobachter fällt vielleicht auf, dass der General sich unbehaglich fühlt. Er hat den Gang eines Mannes, der unter Verstopfung leidet. (Übersetzung: Ursula Gräfe) Erzählerin: Pakistan, 17. August 1988: An diesem Tag stürzt eine Herkules C-130 nur wenige Minuten nach dem Start über der Wüste ab. An Bord: General Zia-ul-Haque, der Pakistan seit 1977 regiert hat, weitere ranghohe Militärs und nicht zuletzt der damalige US- Botschafter Arnold Raphael, ein aufgehender Star am Himmel der US-Diplomatie. Keiner der Insassen überlebt. Die Ära Zia, Synonym für die vollständige Islamisierung des Landes, geht damit zu Ende. Bis heute sind die Umstände des mysteriösen Flugzeugabsturzes ungeklärt - und geben noch immer Anlass zu nicht endenden Gerüchten. Genau diese Gerüchteküche heizt der 1966 im pakistanischen Punjab geborene Autor Mohammed Hanif mit seinem 2009 erschienenen Erstlingsroman "Eine Kiste explodierender Mangos" um weitere Grade an. Denn Hanif schildert zwar die letzten zwei Monate vor dem tragischen Ende des Generals - tut dies aber mit den Mitteln der Doku-Fiktion. Herausgekommen ist eine so aberwitzige wie bitterböse Version jener Epoche, die den Grundstein gelegt hat für Pakistans fatale geopolitische Verstrickung in die aktuelle globale Lage. Regie: O-Ton 1 Hanif The novel is set in a period, and the period is the 80s, when the final scenes of the cold war were being played out in Afghanistan and in Pakistan. And the man that ruled Pakistan at that time was a military dictator, General Zia ul-Haque. And he like a lot of other military dictators was Americas best friend. So America was hoping that they will defeat Sovietunion in Afghanistan. And general Zia ul-Haque was their henceman. He was the chosen man to do this. So some of the main players of that war have a role in my novel. Sprecher (OV Hanif)) Der Roman spielt in den 80er Jahren, als die entscheidenden Szenen des Kalten Krieges in Afghanistan und Pakistan ausgetragen worden sind. Pakistan wurde zu dieser Zeit von General Zia ul-Haque regiert, einem Militärdiktator, der wie viele andere Diktatoren ein sehr guter Freund der Amerikaner war. Die hofften, die Russen in Afghanistan besiegen zu können. Und Zia war ihr Handlanger. Deshalb spielen einige wichtige Figuren aus dieser Zeit auch in meinem Roman eine Rolle. Regie: Musik (Riaz Ali Khan: Bulleya/Coke Studio/Episode 4) ((Zitat damit unterlegen)) Erzählerin: In der Nacht vom 4. auf den 5. Juli 1977 putscht sich General Zia als Pakistans zweiter Militärdiktator an die Macht. Seine ersten Amtshandlungen: die Übernahme der frisch aus der Taufe gehobenen Nukleareinrichtungen durch das Militär - und: Sein Amtsvorgänger Zulfiqar Ali Bhutto, der Vater der inzwischen ermordeten Benazir Bhutto, wird am 4. April 1979 gehängt. Vor allem aber wird die politische und gesellschaftliche Kultur Pakistans brutalisiert. Denn Pakistan verwandelt sich unter Zias Herrschaft in einen Gottesstaat - und geriert sich mit zahlungskräftiger Unterstützung Amerikas als mächtiger Kriegstreiber im benachbarten Afghanistan, wo 1979, zwei Jahre nach Zias Putsch, die Russen einmarschieren. Sprecher Zitat: Seit dem Putsch hatte er stets das Heilige Buch befragt und dort immer die Antwort gefunden, die er suchte. Damals vor elf Jahren, bevor er seinen Truppen den Befehl zur Operation Fairplay gegeben hatte, die Premierminister Bhutto aus dem Amt hob und Zia zum Oberhaupt des Landes machte, hatte er den Vers Wir haben dich als Nachfolger früherer Herrscher der Erde eingesetzt aufgeschlagen. Auch als er zwei Jahre später, während derer er sich der Bitten von Staatsoberhäuptern aus aller Welt, Bhutto nicht zu hängen, hatte erwehren müssen, dessen Todesurteil unterschrieb, hatte er das Heilige Buch geöffnet. ... Die Generäle, die Zia hinter seinem Rücken den ‚Mullah' genannt hatten, schämten sich, ihn unterschätzt zu haben: Er war nicht nur ein Mullah, er war ein Mullah in der Uniform eines Vier-Sterne-Generals. (Übersetzung: Ursula Gräfe) Erzählerin: Mohammed Hanif war einst Pilot der pakistanischen Air Force, bevor er in den 90er Jahren nach London übersiedelte, wo er als Journalist bei der BBC Karriere machte. Ein Pilot der pakistanischen Luftwaffe ist auch sein Ich-Erzähler Ali Shigri. Dessen Vater hat im Auftrag von Zia in Afghanistan Geschäfte zwischen der CIA und den Mudjahedin vermittelt und ist kurze Zeit später tot aufgefunden worden. Der Sohn sinnt auf Rache - doch er ist nicht der einzige, der dem General nach dem Leben trachtet. Der Roman kreist daher um eine Reihe sich überschneidender und perfide verwickelter Mordkomplotte und Verschwörungstheorien. Doch die Frage, wer der Mörder war, bleibt am Ende offen. Stattdessen setzt sein Roman vor allem auf die politische Atmosphäre jener Zeit. Denn Hanif, der Ende 2008 in die südpakistanische Metropole Karatschi zurückgezogen ist, ist selbst ein Kind der Ära Zia. Regie: O-Ton 2 Hanif I grew up during his time, I was a boy when he took over, and by the time he left, I was in my mid Twenties. So a whole generation was being robbed of its normal growing up, of its experiences. Because General Zia had this bizarre idea that he wanted to islamize the country. It was a Muslim country and it is a Muslim country still now. But religion was very much a personal affair. And he made it his business to tell everybody how to live their lives. And also he was considered the godfather of this modern multinational jihad industry that has sprung up all over the world. And he was the pioneer in that, he started that culture in Pakistan and he brought in lots of young people from other Muslim countries and trained them and indoctrinated them and send them into Afghanistan. With the active support of the Unites States of course. So in a way he changed the fabric of the society. Before he came along, Pakistan was a developing country, Pakistan was a struggling country. There were lots of problems but it was very much a secular democracy and it seemed that it was going in the right direction. But general Zia had obviously strange kind of ideas. He wanted to see this country as some kind of medeaval fortress of Islam which would sort of provide leadership to all the Muslim countries. And in trying to implement those ideas he not only destroyed Afghanistan, but he destroyed his own country, my country, Pakistan as well. Sprecher (OV 2 Hanif) Ich bin unter Zia aufgewachsen. Als er an die Macht kam, war ich ein Junge. Als er starb, war ich Mitte Zwanzig. Tatsächlich hat Zia eine ganze Generation um ihr normales Leben gebracht, weil er diese bizarre Idee hatte, das Land zu islamisieren. Pakistan war und ist ein muslimisches Land. Doch bis zu Zia war Religion reine Privatsache - er aber wollte allen vorschreiben, wie sie zu leben hatten. Zugleich gilt er als der geistige Vater genau jener multinationalen Djihad-Industrie, die nun die ganze Welt überzieht. Denn Zia holte eine Menge junger Männer aus anderen muslimischen Staaten nach Pakistan, trainierte und indoktrinierte sie und schickte sie nach Afghanistan - mit Unterstützung der Amerikaner. Zia sah Pakistan als mittelalterliche Festung des Islams, das Land sollte ein Vorbild sein für alle muslimischen Länder. Und mit dieser Idee hat Zia nicht nur Afghanistan zerstört, sondern auch sein eigenes Land, mein Land, Pakistan. Erzählerin: Mit einer gekonnten Mischung aus Wut und Witz, Fakt und Fiktion wirft Hanif ein grelles Licht auf die damalige Zeit: Auf einer Party des US-Botschafters sind William Casey, einstiger Chefstratege der CIA, und ein gewisser Osama Bin Laden zu Gast; Zia wiederum figuriert als paranoider, von Würmern und sexuellen Abwegen geplagter Diktator. Vor allem aber zeigt Hanif die Intrigen von Politik, Militär und dem pakistanischen Geheimdienst ISI. Der wurde 1948 von pakistanischen Offizieren gegründet und spielte eine zentrale Rolle bei der Bewaffnung und Ausbildung erst der Mudschahedin, später dann der Taliban. General Akhtar, damaliger Leiter des ISI und somit zweitmächtigster Mann im Land, wird hier ebenso unschmeichelhaft porträtiert wie sein Schlächtergehilfe Mayor Kiyani, der mit manikürten Händen das Geschäft des Tötens und Folterns verwaltet. Sprecher Zitat: Männer wie er nehmen einen Telefonhörer in die Hand, führen ein Ferngespräch und irgendwo in einem überfüllten Bazar geht eine Bombe hoch. ... Oder er taucht, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, still und leise nach tödlichen Unfällen und ungeklärten Selbstmorden auf der Beerdigung des Opfers auf, fasst alles in einer hübschen kleinen Rede zusammen, kümmert sich um die losen Enden, schützt die Hinterbliebenen vor Autopsien und den Spekulationen der ausländischen Presse, die sich für von Deckenventilatoren baumelnde, hochdekorierte Colonels interessieren könnte. (Übersetzung: Ursula Gräfe) Erzählerin: So nimmt der Roman fast alles aufs Korn, was Pakistan heilig ist. Die Satire, die groteske Überzeichnung sind daher die auffälligsten Mittel, mit denen Hanif sich dem politischen Schrecken dieser Zeit nähert. Regie: O-Ton 3 Hanif I was writing about a period which really was bizarre. Which really was absurd. So sometimes even when you just record the facts, you don't add anything to them, you don't take anything away from them - they come out as very bizarre. For example ... there is this little story in my book as well, but there is this law which General Zia ul-Haque has introduced, that a woman goes to the police and says that I have been raped. Now she will be required for 4 witnesses to prove it. Now it is very rare I think anywhere in the world you will have situations where someone has being raped and that four people standing watching and go and testify. So A) it cant be proofed. But it doesn't stop there. If she can't prove, then automatically she is accused of committing adultery. Now if you just put it down on a piece of paper, it doesn't make sense to anyone. Sprecher (OV Hanif) Die Zeit, über die ich geschrieben habe, war total grotesk. Manchmal muss man einfach nur die Fakten addieren - und der Effekt ist absolut befremdlich. Ein Beispiel: In meinem Roman gibt es eine kleine Episode zu jenem Gesetz, das General Zia einst erlassen hat und das besagt: Wenn eine Frau vergewaltigt worden ist und zur Polizei geht, muss sie vier Zeugen aufweisen können. Nun kommt das sicher auf der ganzen Welt äußerst selten vor, dass vier Zeugen anwesend sind und später aussagen. Sprich: die Frau kann nichts beweisen. Aber es geht noch weiter: Hat sie keine Zeugen, wird sie automatisch und zwar von Gesetzes wegen angeklagt und verhaftet, weil sie Ehebruch begangen hat. Schreibt man das schwarz auf weiß nieder, ergibt das keinerlei Sinn. Erzählerin: Letztlich bleibt einem das Lachen daher auch im Halse stecken. Denn direkt hinter dem Humor vernimmt man die heilige Wut und nicht zuletzt auch die leise Melancholie, mit der Mohammed Hanif in diesem stilistisch brillanten und dramaturgisch ausgefeilten Roman mit der verhängnisvollen Ära Zia abrechnet. Regie: Musik ((CD: Iqbal Bano: life time hits//CD2: Nr. 1/Dasht-e- Tanhai-mein)) ((Erzählerin und ggf. Zitat damit unterlegen)) Erzählerin: Eine Innenansicht jener von kollektivem Terror und persönlichem Trauma geprägten Jahre liefert auch der 2008 erschienene Roman "The Geometry of God" - "Die Geometrie Gottes" von Uzma Aslam Khan. Die 1969 in Lahore geborene und in Karatschi aufgewachsene Autorin beleuchtet darin vor dem Hintergrund des Zia-Regimes und dessen religiösem Fundamentalismus das Widerspiel zwischen den Zumutungen der Geschichte und dem fragilen menschlichen Subjekt. Der bis dato nicht ins Deutsche übersetzte Roman ist sprachlich spielerisch und formal trickreich angelegt. Denn Khan erzählt dieselbe Geschichte mehr oder weniger dreimal, jedes Mal aus anderer Perspektive. Es geht um vier Personen, deren Wege ineinander verschlungen sind: Da sind der Paläontologe Zahoor und seine beiden Enkelinnen Amal und Mehwish. Auch Amal arbeitet als Paläontologin - und sie ist die Hüterin ihrer blinden jüngeren Schwester Mehwish. Und dann ist da noch Noman, ein junger Mann, dessen Vater der Partei der Kreationisten angehört, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Land auf den Pfad der reinen Lehre zurück zu führen. Sprecher Zitat: Wo man auch hinschaut: Pornographie, Obszönität, Frauen im Sport und in der Werbung, Jungen und Mädchen zusammen. ... Er rülpst. Die jungen Pakistaner sind kulturelle Freaks! Ihre Religion ist eine Laune. Wir werden sie vor fremden Einflüssen bewahren - die Wissenschaft! Die Filme! Zurzeit sind in diesem Land Bücher im Umlauf, die behaupten, ein neugeborenes Küken könnte seine Mutter am Geruch erkennen. Alles Lügen! Allah ist die einzige Ursache von allem. Er ist es, der in jeder Sekunde interveniert. (Übersetzung: Claudia Kramatschek) Regie: Musik (( Riaz Ali Khan: Bulleya/Coke Studio/Episode 4)) ((Erz. und ggf. Zitate damit unterlegen)) Erzählerin: Noman wird von seinem Vater als Spitzel auf Zahoor angesetzt. Denn Zahoor erforscht im Salt Range, einer Gebirgskette im Norden Pakistans, das Rätsel eines prähistorischen Wals. Doch so ein prähistorisches Wesen, darf es plötzlich nicht mehr geben. Die Lehre der Evolution ist verboten und untersteht fortan dem von Zia eingeführten Gesetz der Blasphemie. Zahoor wird in den Augen der Kreationisten zu einer unerwünschten Person. Sprecherin Zitat: Großvater hat eine Menge Leute an der Universität verärgert. Er spricht aus, was andere übersehen: Während die Russen Afghanistan im siebten Jahr bombardieren, strahlt das pakistanische Fernsehen keine Wettervorhersagen mehr aus, denn den Regen vorherzusagen, gilt als Hexerei. Er selbst gilt plötzlich als gefährlicher Mann. (Übersetzung: Claudia Kramatschek) Erzählerin: Tatsächlich wird unter Zia nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Geschichte umgeschrieben: Das Gründungsdatum des Landes wird ins 8. Jahrhundert und damit auf die Ankunft der Araber vorverlegt. Arabisch ist fortan Pflichtfach in der Schule; die vor-islamische Geschichte des Landes wird begraben. Auch Uzma Aslam Khan ist - so erzählte sie 2009 in einem Interview mit der indischen Tageszeitung "The Hindu" - zutiefst geprägt von den persönlichen Erfahrungen jener Zeit, die sie in Karatschi gemacht hat. Sprecherin Zitat: Ich bin in Karatschi unter Zias Regime aufgewachsen, als die CIA Milliarden Dollar in die Tasche dieses Diktators fließen ließ, um die Sowjets in Afghanistan zu besiegen. Pakistan war voller Waffen und Drogen - beides sickerte in den Süden des Landes, in das multi- ethnische Karatschi. Dort konnten sich nun die rivalisierenden ethnischen Gruppen gegenseitig bekämpfen. In der Schule sprach man weder über die Dollars, mit denen der Heilige Krieg nebenan finanziert wurde, noch über das einst friedliche Karatschi, das plötzlich von Streiks, Gewalt und neuen Regeln aufgerieben wurde. Meine Generation wurde durch all das geformt. Heute begreife ich: Was mir half, Schriftstellerin zu werden, war das Bedürfnis, meinen Platz in diesem chaotischen Gebilde zu finden, das nicht Gesagte darzustellen. Erzählerin: Khans Roman ist daher düster, aber auch voller Zärtlichkeit. Denn Noman erschleicht sich nicht nur die Zuneigung von Zahoor, sondern verliebt sich auch in Mehwish, dessen Enkelin. Fortan ist er hin- und her gerissen zwischen den Fronten: Nachts liest er heimlich Darwin, tagsüber verfasst er propagandistische Texte. Die Liebe wird siegen - doch alle zahlen dafür einen hohen Preis. Letztlich ist es der Kampf zwischen moderatem und fundamentalistischem Islam, den Khan hier entfaltet: das Ringen um das Recht auf einen Glauben, der weder verordnetes Dogma ist noch erzwungenes Bekenntnis. Noch heute, so Uzma Aslam Khan, sei sie entsetzt darüber, wie sich externe Konflikte dem Menschen einschreiben: Sprecherin Zitat: Es scheint mir, ich habe diese Form der Selbst-Verstümmelung lange Zeit selbst erlebt. In meiner Schule, einer von den Briten gegründeten Klosterschule, mussten wir während der Feiern zum Unabhängigkeitstag des Landes zwischen den Ikonen von Jesus und Maria - die ich mit unserer kolonialen Vergangenheit verband - und der islamischen Flagge marschieren, die ich mit der Militärdiktatur verband. Ich wundere mich noch heute, ob überhaupt jemand verstand, wie es so weit kommen konnte. Und ich bezweifle, ob ich jemals aufgehört habe, zwischen diesen beiden Ikonen hin- und her zu wandern: hier der Imperialismus, dort der Militarismus. Erzählerin: Die aktuelle Lage des Landes empfindet Khan - die derzeit als Dozentin für Literatur auf Hawaii lebt, die letzten zehn Jahre jedoch in ihrem Geburtsort Lahore verbracht hat - daher nach eigenen Aussagen als eine schlechte Neuauflage der Ära Zia. Regie: Musik ((CD Noor Jehan: Ghazals// Nr. 11: Peyam Aaye Hain)) ((Erzählerin damit unterlegen)) Erzählerin: Erst einmal aber löst sich 1988 General Zia in Rauch auf; im gleichen Jahr wird Benazir Bhutto erste Ministerpräsidentin des Landes. 1989 ziehen die letzten Russen aus Afghanistan ab, Kabul zerfällt in Schutt und Asche, die unterschiedlichen Mudjahedin-Gruppen beginnen, sich gegenseitig zu bekämpfen. Afghanistan versinkt in einem blutigen Bürgerkrieg - sehr zum Missfallen Pakistans. Kurzerhand entwickelt Bhuttos Innenminister gemeinsam mit dem ISI den Plan, die Taliban als politisch-militärische Kraft aufzubauen. Mit ihrer Hilfe will man die Macht in Afghanistan übernehmen. Amerika kümmert das nicht wirklich - nach dem Abzug der Russen hat die Supermacht das Interesse an der Region verloren. Das ändert sich schlagartig, als islamistische Attentäter am 11. September 2001 Amerika angreifen und das Land sich nur wenig später zum ‚Krieg gegen den Terror' rüstet. Die Geschichte schlägt zurück. Wie und auf welche Weise, davon handelt nicht zuletzt "Verglühte Schatten", der aktuelle und nunmehr fünfte Roman der 1973 in Karatschi geborenen Autorin Kamila Shamsie. Regie: O-Ton 1 Shamsie The years when Zia-ul Haque was our military dictator in the years from 1977 to 1988 are widely acknowledged now to be the most damaging decade in Pakistan's history. And we are still seeing the repercussions of that. You can trace back growing military to that: The Taliban taking the power in some part of the country, another war in Afghanistan, more frayed relations with Afghanistan. And because during those years there was such censorship so while the CIA as on you were necessarily not reading the much on what was going on. There was a lot of silence in that sense. Or what you did hear was not in official reports but through stories people were telling each other. And we are all General Zia's generation. I was 4 when he came and 15 when he died. He was my childhood, he was the Pakistan I grew up in. And so increasingly the last few years it is impossible to talk about what is happening in Pakistan without talking about Afghanistan, without talking about America. So in some ways I still think of it as a book that is about Pakistan's history - but it is about how Pakistan's history has entwined with the history of so many other nations. Sprecherin (OV Shamsie) Die Jahre der Militärdiktatur unter General Zia ul-Haque von 1977 bis 1988 waren die schädlichsten Jahre in der Geschichte Pakistans. Und die Nachwirkungen dauern an: das Erstarken des Militärs; Pakistans Verwicklungen mit Afghanistan, die Machtübernahme der Taliban in Teilen des Landes; ein neuer Krieg in Afghanistan. Über all das war in den Jahren, als die CIA das Sagen hatte, nicht viel zu erfahren. Es herrschte Schweigen - oder es kursierten Geschichten. Dabei sind wir alle Zias Generation. Ich war vier Jahre alt, als er an die Macht kam, und 15, als er starb. Zia prägte das Pakistan, in dem wir aufgewachsen sind. Tatsächlich ist es in den letzten Jahren unmöglich geworden, über das, was in Pakistan geschieht, zu sprechen, ohne über Afghanistan und über Amerika zu sprechen. Insofern erzählt der Roman, wie Pakistans Geschichte mit der Geschichte anderer Nationen verstrickt ist. Erzählerin: Shamsies Roman schlägt daher einen großen Bogen, zeitlich wie geographisch gesehen: Er hebt an mit dem Bombenabwurf von Nagasaki im Jahre 1945, führt uns dann nach einem Kapitel über die Teilung des Subkontinents in das Pakistan zur Zeit des Afghanistankrieges und endet in New York, wenige Monate nach 9/11, dem 11. September, - die Amerikaner sind bereits in Afghanistan einmarschiert. Momentweise öffnet sich auf den letzten Seiten die Blende nach Guantánamo. Und mit einer prologartig gesetzten Szene in Guantánamo, die mit schmerzlicher Präzision direkt unter die Haut geht, beginnt auch der Roman. Regie: Musik ((CD Nuzrat Fateh Ali Khan: Mustt Mustt/ Nr. 3: Tracery)) ((Zitat und folgendes damit unterlegen)) Sprecherin Zitat: Als er in der Zelle ist, nehmen sie ihm die Fesseln ab und fordern ihn auf, sich auszuziehen. Er streift seinen grauen Wintermantel mit flinker Routine ab, dann - während sie ihn mit vor der Brust verschränkten Armen beobachten - geraten seine Bewegungen ins Stocken, tun seine vor Furcht zitternden Finger sich schwer mit der Gürtelschnalle, den Hemdknöpfen. Sie warten, bis er splitternackt ist, sammeln dann seine Kleidungsstücke ein und gehen hinaus. Seine nächste Bekleidung, vermutet er, wird aus einem orangeroten Overall bestehen. Auf der Bank aus glänzendem Edelstahl zieht sich sein Körper zusammen. Er wird stehen bleiben, solange es geht. Wie konnte es soweit kommen, fragt er sich. (Übersetzung: Ulrike Thiesmeyer) Erzählerin: Wie konnte es so weit kommen? - Diese Frage orchestriert den Roman wie ein Leitmotiv. Denn Shamsie, die einer sowohl deutsch- wie indischstämmigen Familie entstammt, verfolgt vor dem Hintergrund der globalen Zeitenwende das Schicksal zweier befreundeter Familien - die eine japanisch-pakistanischer Herkunft, die andere anglo- amerikanischer Herkunft - deren Leben mit dem Lauf der großen Geschichte kollidiert: Da ist Shamsies wunderbare Ich-Erzählerin Hiroko Tanaka, eine Überlebende des Atombombenabwurfs in Nagasaki, die sich mit ihrem aus Indien stammenden muslimischen Ehemann im frisch gegründeten Pakistan wiederfindet. Und da ist der in Delhi beheimatete Engländer James Burton, dessen Sohn Harry sich Jahrzehnte später als CIA-Agent erst in Pakistan, dann in Afghanistan verdingen wird. Sprecherin Zitat: In der grünen Welt trat Harry Burton auf einen dunklen Klumpen, der aufbrach und ein leuchtendes Inneres offenbarte. Er nahm sein Nachtsichtgerät ab und deutete auf das glimmende Stück Holzkohle, während sich seine Augen an das Halbdunkel der Höhle gewöhnten. ‚Jemand war hier, vor nicht allzu langer Zeit.' Er fuhr mit dem Finger über die rußige Höhlenwand und stieß auf eine Rille im Stein; tastete weiter daran entlang und brachte die Ritzzeichnung eines Falken zum Vorschein. ‚Araber?', fragte sein Exkollege Steve, der inzwischen zum paramilitärischen Arm der CIA gehörte. Was er meinte, war ‚al-Qaida'. Harry zuckte mit den Schultern. ‚Bildliche Vorstellungen passen nicht zu ihrer Spielart des Islam.' ‚Oh ja. Aber Massenmord geht in Ordnung.' Steve winkte müde ab. (Übersetzung: Ulrike Thiesmeyer) Erzählerin: Man ahnt: Es sind Welten, die hier kollidieren. Denn Shamsie, die selbst zwischen Karatschi und London hin- und her pendelt, beleuchtet in ihrem so bilder- wie temporeich erzählten Roman nicht zuletzt auch, wie die muslimische Welt und die westliche, von Vorurteilen gegen den Islam geprägte Welt aufeinanderprallen: Raza, Hirokos Sohn, der in Pakistan geboren wird und im zweiten Teil des Romans im Mittelpunkt steht, gerät aus einem Jungenstreich heraus in ein Ausbildungslager der Taliban. Den Verdacht, ein islamistischer Terrorist zu sein, wird er nicht mehr los, bis zum bitteren Ende des Romans - da kämpft er längst an Harrys Seite im schmutzigen Krieg in Afghanistan. Regie: O-Ton 2 Shamsie One thing which is interesting in religion, is that it is not really about what anyone might believe in terms of their religion. But it is how they are identified. So you are identified as a Muslim, you are identified as a Christian or a Jew or a Hindu. What you believe becomes irrelevant. That religious identity becomes defining of you in certain moments - post 9/11 has certainly been among these moments. I think it is hard to be a Muslim in a world of 9/11 and not to be aware of Muslimness. And it has nothing to do with Islam, with whether I believe anything in the Koran or whether I fast or pray. It is: there is this question you get asked: are you a Muslim? Yes! And you hear all kind of things being said about Muslims. And you start to feel yourself being Muslim in a way you never did before. Sprecherin (OV 2 Shamsie) Das Interessante an Religion ist: Man wird damit identifiziert, ohne dass es um den eigentlichen Glauben geht, der wird nebensächlich. Plötzlich gilt man als Muslim, als Christ, als Jude oder als Hindu. Diese Art religiöser Identifizierung legt einen fest - und 9/11 war solch ein Moment in der Geschichte. Seit 9/11 ist es sehr schwer, Muslim zu sein - und sich dessen nicht bewusst zu sein. Dabei ist es völlig egal, ob ich glaube oder nicht, ob ich bete oder faste. Da ist immer nur die Frage: Bist du Muslim? Wenn ja, erzählen einem die Leute alles Mögliche über den Islam. Man wird zum Muslim in einem Maße, wie man es nie zuvor war. Erzählerin: Dieses Dilemma, Muslim zu sein in der Welt nach 9/11, verkörpert Raza auf tragische Weise, wenn er am Ende des Romans in New York als Terrorverdächtiger festgenommen und nach Guantánamo überführt werden wird. Er ist der Mann, der darauf wartet, den orangeroten Overall überzustreifen - und ausgerechnet Harrys Tochter Kim, eine überzeugte Amerikanerin, wird ihn verraten haben. Regie: Musik ((CD Ghulam Ali/CD Nr. 1, Lied Nr. 1: Chupkey Chupkey)) ((Text und ff. damit unterlegen)) Sprecher Zitat: ‚Ist er das', fragte einer der Polizisten. Er sah Kim direkt an. ‚Hanh', sagte er ganz leise. Hanh. Ja. Sag ja. Er konnte sehen, wie sie ihre Entscheidung traf, wenn ihm auch ihre Beweggründe dazu verborgen blieben. Sprecherin: ‚Ja', sagte sie. Sprecher: Die Männer nickten und zogen Raza wieder vom Boden hoch. Beim Klirren seiner Handschellen riss sie in heller Bestürzung die Augen auf. Sprecherin: ‚Ich weiß nicht, ob er irgendetwas verbrochen hat. Er wirkte bloß verdächtig auf mich. Mein Vater ist vor kurzem in Afghanistan ums Leben gekommen, ich bin immer noch ziemlich durcheinander deswegen. Er hat nichts verbrochen. Bitte, lassen Sie ihn gehen.' Sprecher: ‚Keine Sorge', sagte der eine Polizist in dem Tonfall, den Männer in der Regel bei Frauen anschlagen, die sie für hysterisch halten. ‚Wir werden ihm bloß ein paar Fragen stellen.' ... Dann führten sie Raza ab, zum Streifenwagen, an Kim vorbei. Den Ausdruck auf ihrem Gesicht, das wusste er, würde er nie vergessen. Egal, was nun mit ihm geschah. (Übersetzung: Ulrike Thiesmeyer) Erzählerin: Tatsächlich führt Shamsie - die in den USA erst ein College besuchte und dann an der Universität von Massachusetts ihren Abschluss in creative writing ablegte - in ihrem Roman nicht zuletzt auch den nach dem 11. September grassierenden, neurotischen amerikanischen Patriotismus vor - und den Generalverdacht, den die USA fortan über die muslimische Welt verhängt haben. So kann man "Verglühte Schatten" von seinem bis in die Gegenwart hinein reichenden Ende als Amerika-kritischen post-9/11-Roman lesen. Doch das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Regie: O-Ton 3 Shamsie To me it is also a novel about how we can't make a division between the post-9/11 and the pre-9/11 world. Cause they are so entwined. That one moment of history doesn't come out of the nowhere. There is that expression that you hear a lot in the States about those planes of 9/11 how they came out of the blue. And that became sort of a metaphor as if no one knew that anything like this in the world would be going on. How did that happen, where did they come from. And I always think: Surely people should have been aware that there were these groups of people who regarded America as their enemy and bent on destroying it, that has been growing for many years. And you can trace it back very strongly to what happened in Afghanistan in the eighties. So to me there is not so much in it the pre and post 9/11-novel. To me there is the pre- soviet-invasion-of-Afghanistan-world and the post-soviet-invasion-of- Afghanistan-world. Because it was in Afghanistan in the 80ies that this concept of Jihad, which was largely dormant in most part of the Muslim world, was awoken again and the whole question of fighting rather for religion or for land or nation became powerful again. So a lot of people talk about history restarting in a way with 9/11 and I want to fix it back into the tapestry. Sprecherin (OV 3 Shamsie) Für mich zeigt der Roman, dass wir nicht zwischen der Welt vor und der Welt nach 9/11 unterscheiden können. Sehr oft hört man in Amerika den Satz, die Flugzeuge kamen wie aus dem Nichts. Das wurde eine Art Metapher, als hätte niemand wissen können, dass so etwas geschehen würde. Aber man wusste, es gibt diese Gruppierungen, Leute, die Amerika als ihren Feind ansehen und vernichten wollen. All das kann man zurückverfolgen zu den Ereignissen in Afghanistan in den 1980er Jahren. Und daher teilt sich die Welt für mich weniger in ein Vor- oder ein Nach-9/11, sondern in ein Vor-der-Invasion-in-Afghanistan und in ein Nach-der-Invasion-in-Afghanistan. Denn dort, in Afghanistan, wurde das Konzept des Djihad, das lange Zeit keine Rolle spielte in der islamischen Welt, wieder zum Leben erweckt. Während für viele also die Geschichte mit 9/11 neu beginnt, möchte ich dieses Ereignis in das Gesamtbild einfügen. Erzählerin: Während Shamsie in ihren bisherigen Romanen eher mit den Augen der Fremden auf ihr eigenes Land geblickt hat, nimmt sie in diesem Werk zum ersten Mal bewusst eine Art Binnenperspektive ein: Wie gestaltet sich die Welt, gehört man - aus der Perspektive einer Supermacht - zur falschen, in diesem Fall der muslimischen Seite der Menschheit? Tatsächlich ist "Verglühte Schatten" - 2009 war das Buch übrigens nominiert für die Shortlist des Orange Prize for Fiction - der bislang unversöhnlichste Roman der Autorin. Unversöhnlich - und höchst symbolisch - ist daher auch das Ende: Die gealterte, inzwischen in New York lebende Hiroko kündigt Harrys Tochter Kim und damit den Burtons die Freundschaft auf, die jahrzehntelang zwischen beiden Familien bestanden hat. Sprecherin Zitat: ‚Was waren schon fünfundsiebzigtausend tote Japaner mehr, gemessen am Großen Ganzen des Zweiten Weltkriegs? Vertretbar, das waren sie. Was ist schon ein Afghane vor dem Hintergrund all der Gefahren, die Amerika drohen? Vielleicht ist er schuldig, vielleicht nicht. Warum es darauf ankommen lassen? Kim, du bist die liebste, großzügigste Frau, die ich kenne. Aber jetzt gerade verstehe ich dank dir, wie es möglich ist, dass ein ganzes Land applaudiert, wenn seine Regierung eine zweite Atombombe abwirft.' Die Stille, die danach eintrat, war die Stille zwischen Vertrauten, die sich auf einmal wie Fremde fühlen. (Übersetzer: Ulrike Thiesmeyer) Regie: Musik ((Nuzrat Fateh Ali Khan: Mustt Mustt: Nr. 7: Fault Lines - bei ca. 0.40 min einsteigen - erst da wird es wirklich rhythmisch/akustisch interessant)) Erzählerin: 9/11 stellt auch einen Wendepunkt dar in der ohnehin verhängnisvollen Beziehung zwischen Pakistan und Amerika. In Pakistan ist zu dieser Zeit seit knapp zwei Jahren General Musharraf an der Macht - auch er hat sich, wie Zia ul-Haque, als Stabschef der Armee an die Spitze des Landes geputscht. Einen Tag nach den Anschlägen in Amerika stellt das State Department der pakistanischen Regierung ein Ultimatum, das lautet: ‚Entweder Sie sind für uns oder gegen uns.' Im letzteren Fall würde man Pakistan ‚in die Steinzeit zurück bomben'. Musharraf sieht sich in seiner Machtposition bedrängt und stellt sich - Zähne knirschend - an Amerikas Seite im "Krieg gegen den Terror". Immerhin fließen so erneut US-Gelder ins Land: Bis zum Jahr 2008, als die acht Jahre währende Ära Bush endet, wird Pakistan über sieben Milliarden Dollar amerikanische Militärhilfe erhalten haben. Regie: Musik ((Nuzrat Fateh Ali Khan: Mustt Mustt: Nr. 8/Tana Dery Na)) Erzählerin: Vor dem Hintergrund von 9/11 und dem sich daran anschließenden Krieg gegen den Terror spielt auch der Roman "Der Fundamentalist, der keiner sein will", der 2006 auf deutsch erschienen ist. Es ist der zweite und aktuelle Roman des 1971 ebenfalls in Lahore geborenen und dort aufgewachsenen Autors Mohsin Hamid. Sprecher Zitat: Entschuldigen Sie, Sir, kann ich Ihnen behilflich sein? Oh, jetzt habe ich Sie erschreckt. Sie brauchen keine Angst vor meinem Bart zu haben: Ich liebe Amerika. Mir ist aufgefallen, dass Sie nach etwas suchten; eigentlich mehr als das, es sah eher danach aus, als seien Sie mit einem Auftrag hier, und da ich in dieser Stadt lebe und Ihre Sprache spreche, habe ich gedacht, ich könnte Ihnen meine Dienste anbieten. (Übersetzung: Eike Schönfeld) Erzählerin: Alleiniger Schauplatz des kammerspielartig angelegten Romans ist der quirlige und staubige Anarkali-Bazar im Herzen von Alt-Lahore. Dort treffen ein namenloser Amerikaner und ein redseliger Pakistaner zufällig aufeinander. Ganz wohl ist es dem Amerikaner nicht, als ihn der bärtige Mann anspricht - immerhin befindet sich Amerika im Krieg mit der muslimischen Welt. Doch aus dem kurzen Intermezzo werden Stunden, aus den Stunden wird ein ganzer Tag. Und am Ende dieses Tages - schon bricht die Nacht über den Bazar herein - wissen wir zwar nichts über den geheimnisvollen Amerikaner, aber fast alles über die Lebensgeschichte des knapp dreißigjährigen Changez. Und die liest sich wie das Protokoll einer Entfremdung: die Entfremdung eines jungen Pakistani vom verheißungsvollen Westen, in dem er wider Willen zum Feind wird, schlicht deshalb, weil er Muslim ist. Sprecher Zitat: Es ist beachtlich, was für eine Wirkung ein Bart angesichts seiner physischen Belanglosigkeit - schließlich ist er ja nur eine Haartracht - bei einem Mann meiner Hautfarbe auf Ihre Landsleute hat. Mehr als einmal wurde ich in der U-Bahn, wo ich immer das Gefühl hatte, mich nahtlos einzufügen, von wildfremden Menschen wüst beschimpft. (Übersetzung: Eike Schönfeld) Erzählerin: Wie Changez, sein alter ego, ist auch Mohsin Hamid ein Pendler zwischen den Welten: Einst hat er in Princeton studiert, dann lange Jahre in New York bei einer großen Unternehmensberatung gearbeitet. Kurz vor dem 11. September 2001 zog Mohsin Hamid, der regelmäßig scharfzüngige Artikel für Time Magazine, den Guardian oder etwa die New York Times verfasst, nach London. Regie: O-Ton Hamid 1 In many ways I could almost be a minor character in the story or a friend of Changez. I would be in the same world, familiar with that world, but with somewhat different experience. There was a certain degree of alienation. But not as pronounced as in the way Changez felt. I left America in July 2001, so before 9/11. But it effected a great deal. I lived much in my life in Pakistan, much in my life in the West. And so I like to go between these two worlds. And after 9/11 a lot of walls came up in the world. And that made for someone like me life more difficult. So for example flying to JFK airport in NY and spending 4 hours in security questioning every time I go, even though I lived there for 10 years and have come and gone all the time. Or thinking: what will happen to Pakistan? What will happen in a world where now countries can invade other countries and violence seems so quick? Sprecher (OV 1 Hamid): Ich könnte in Changez' Geschichte eine Art Nebendarsteller sein oder einer seiner Freunde. Denn ich bin mit seiner Welt vertraut, wenn auch aus anderen Erfahrungen heraus. Auch ich habe eine Form der Entfremdung durchlaufen - wenn auch nicht so extrem wie Changez. Ich habe Amerika im Juli 2001 verlassen, also vor dem 11. September. Dennoch hat mich 9/11 stark betroffen: Bis dahin lebte ich sowohl in Pakistan als auch im Westen, und ich mochte es, zwischen beiden Welten unterwegs zu sein. Doch nach 9/11 war die Welt plötzlich voller Mauern: Wenn ich etwa in New York am Flughafen ankam und jedes Mal vier Stunden von Sicherheitsleuten befragt wurde - obwohl ich dort zehn Jahre gelebt hatte. Und dann die Frage: Was passiert mit Pakistan? In einer Welt, in Länder andere Länder besetzen und sich Gewalt so rasch ausbreitet? Regie: Musik ((CD Nuzrat Fateh Ali Khan: Mustt Mustt/Song Nr. 6/Sea of Vapours - ff. damit unterlegen)) Erzählerin: Changez, Hamids Held, lebt den amerikanischen Traum für viereinhalb Jahre. Als Mitarbeiter einer angesehenen Unternehmensberatung scheint sein Leben gemacht. Amerika empfängt ihn mit offenen Armen. Bedingungslos verschreibt Changez sich der emotionslosen Kalkulation von Effizienz und Rentabilität. Bis er eines Tages merkt, dass er hin- und her gerissen ist zwischen dem Wunsch, dazu zu gehören - und seiner Furcht vor der kulturellen Selbstaufgabe in einem Land, das ihm alles gibt, ihm aber auch das Wichtigste nimmt: den Stolz auf die eigene Herkunft. Sprecher Zitat: Vor viertausend Jahren hatten wir, die Menschen vom Indus-Becken, Städte, die als Gitter angelegt waren und ein unterirdisches Abwassersystem vorweisen konnten, während die Vorfahren derer, die in Amerika einfielen und es kolonisierten, noch Barbaren waren. Und nun waren unsere eigenen Städte weitgehend ungeplant und unhygienisch, und Amerika hatte Universitäten mit Stiftungsfonds, die jeweils größer waren als unser nationaler Bildungsetat. An diese gewaltige Ungleichheit erinnert zu werden weckte Scham in mir. (Übersetzung: Eike Schönfeld) Erzählerin: Scham - und Wut mischen sich immer öfter in Changez' Freude am american way of life - bis er schließlich der Fundamentalist wird, der keiner sein will. Ein bewusst doppelbödiger Titel, wie Mohsin Hamid erklärt: Regie: O-Ton 2 Hamid He is the reluctant fundamentalist cause he isn't a religious fundamentalist. But he is seen in some ways by society as being that figure. He is also a reluctant fundamentalist cause he is involved in a business world that is all focussed on valuing companies by the fundamentals of the economic essentials, by profit and loss. And that single-minded focus on the profit and loss on the economic fundamentals he also comes to reject. So he rejects a sort of economic fundamentalism. For me fundamentalism is really about focussing on just one aspect of world view. It is not necessarily a religious phenomenon. So the novel is playing with those notions. But also trying to make the point that fundamentalism is not always what we think it could be. Sprecher (OV 2 Hamid): Er ist ein Fundamentalist, der keiner sein will, weil seine Umgebung ihn als religiösen Fundamentalisten sieht, obwohl er keiner ist. Er selbst wiederum lehnt den ökonomischen Fundamentalismus der Geschäftswelt ab, zu der er gehört - einer Welt, die ihren Fokus allein auf Gewinn und Verlust ausrichtet. Für mich ist genau das Fundamentalismus: die Welt allein aus einem Blickwinkel heraus zu betrachten und alle anderen auszuschließen. Fundamentalismus ist nicht nur ein religiöses Phänomen. Und genau damit spielt der Roman: zu zeigen, dass Fundamentalismus nicht immer nur das ist, was wir uns darunter vorstellen. Erzählerin: Wer nun einen Roman über die Radikalisierung eines vom Westen enttäuschten Muslims erwartet, liegt falsch. Vielmehr hält Mohsin Hamid - der Ende 2009 wie Mohammed Hanif nach Pakistan zurückgekehrt ist - Amerika in diesem literarischen Rollentausch einen äußerst kritischen Spiegel vor: die imperiale Hybris des Landes, das Gehabe als Weltpolizei, die Selbstgefälligkeit - all das wird hier gegen die Supermacht zu Felde geführt. Als dann auch noch am 11. September die Türme zusammenstürzen und Amerika kurze Zeit später in Afghanistan einmarschiert, bröckelt Changez' amerikanisches Ich endgültig. Sprecher Zitat: Ich war in meinem Zimmer und packte meine Sachen aus. Ich schaltete den Fernseher an und hielt das, was ich da sah, erst für einen Film. Doch als ich weiterschaute, wurde mir klar, dass es keine Filmszenen waren, sondern die Nachrichten. Ich sah mir an, wie einer - und danach der andere - der Zwillingstürme des World Trade Center in New York einstürzte. Und dann lächelte ich. Ja, so abscheulich es auch klingen mag, meine erste Reaktion war eine bemerkenswerte Freude. (Übersetzung: Eike Schönfeld) Erzählerin: Changez geht zurück nach Pakistan. Dort aber fühlt er sich offenbar ebenso verfolgt wie sein amerikanisches Gegenüber, das immer wieder nervös um sich blickt. Sprecher Zitat: Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich das sage, aber die Häufigkeit und Beharrlichkeit, mit der Sie sich umschauen - wenn Sie den Blick von einem Punkt zum nächsten lenken, scheint es in Ihrem Kopf beharrlich tick-tick-tick zu machen - erinnert an das Verhalten eines Tieres, das sich zu weit von seinem Bau entfernt hat und nun in der vertrauten Umgebung nicht recht weiß, ob es Jäger oder Beute ist. (Übersetzung: Eike Schönfeld) Erzählerin: Tatsächlich illustriert Mohsin Hamid bis in die Konstruktion des Romans hinein, dass die Frage, wer Feind ist und wer Freund, im Auge des Betrachters liegt. Denn in diesem verbalen Schlagabtausch zwischen den beiden Männern - die Antworten des Amerikaners erschließen sich übrigens allein aus den Repliken seines pakistanischen Gegenübers - bleibt es bis zum Schluss bewusst offen, wer der Böse, wer der Gute ist. Regie: Musik (CD Nusrat Fateh Ali Khan: Mustt Mustt/Song Nr. 11)) Erzählerin: Nur wenige Wochen nach den Anschlägen des 11. Septembers marschieren amerikanische Truppen in Afghanistan ein - die Operation enduring freedom beginnt. Im Norden Afghanistans, in den Höhlenlabyrinthen des Tora Bora Gebirges, vermutet man das Versteck des neuen Staatsfeindes Nr. 1: Osama Bin Laden, Chef der radikal- islamistischen Terrorgruppe Al-Qaida, die sich der Anschläge bezichtigt hat. Die Grenzregion von Afghanistan und Pakistan, kurz Af- Pak genannt, gilt nun als Epizentrum eines bis dahin unbekannten fundamentalistischen Extremismus. Die Operation enduring freedom dauert an. Doch Frieden herrscht weder in Afghanistan noch in Pakistan. Und niemand hat die Geschichte des Kriegsschauplatzes Afghanistan bis dato so eindringlich erzählt wie der 1966 im pakistanischen Gujaranwala geborene Autor Nadeem Aslam in seinem aktuellen Roman "Das Haus der fünf Sinne", der Anfang 2010 auf Deutsch erschienen ist. Regie: Musik ((CD Nazakat und Salamat Ali Khan: Raga Nr. 3 Zitatorin und eventuell O-Ton Folgende damit unterlegen)) Sprecher Zitat: Dieses Land war schon immer Drehscheibe für das, was von einer Seite der Welt auf die andere gebracht wurde; Religionen und Mythen, Kunstwerke, Karawanen mit Bündeln chinesischer Seide, die ihrerseits an mit Glas aus dem alten Rom oder Perlen aus dem Golf beladenen Kamelen vorüber zogen. ... Und heute bringen Comanche- Hubschrauber gewaltige Paletten mit abgefülltem Wasser zu den amerikanischen Truppen hierher in diese Region, in der die Jagd nach Terroristen noch anhält. (Übersetzung: Bernhard Robben) Regie O-Ton 1 Nadeem Aslam The history of the past thirty or thirty-five years of my region of the world and how it connects with the West through Al Qaeda is so predictable, you couldn't make it up. In the 1980ies during the CIA's jihad against the Soviets, the Quran was translated in Berlin into Uzbek language. The CIA had an Uzbekistani expert, a linguistic, translate the Quran, it was flown over to Pakistan, from there it was smuggled into Afghanistan, from there it was smuggled into Uzbekistan on the back of mules. Imagine this image! And the CIA actually went to those Uzbekistanis and said, you are Moslems, here is your holy book saying it is your duty to fight the infidel. Thirty years later now Americans are dropping missiles into an area in Pakistan, Waziristan is it called, and the biggest group of Al Qaeda terrorists there is Uzbekistanis.s I mean what did you think was going to happen? As a fiction writer, as someone who creates narratives, it is nearly quite humiliating to have to tell this really predictable story. Sprecher (OV1 Aslam) Die Geschehnisse der vergangenen dreißig Jahre in diesem Teil der Welt und ihre Verkettung mit dem Westen durch Al-Qaida: All das war so vorhersehbar, dass man es gar nicht hätte erfinden können. In den 80er Jahren, als die CIA ihren Djihad gegen die Russen führte, wurde der Koran auf Geheiß der CIA von einem usbekischen Linguisten ins Usbekische übertragen, dann nach Pakistan geflogen, von dort erst nach Afghanistan, dann nach Usbekistan geschmuggelt - und zwar auf Eselsrücken! Die CIA selbst forderte also die Usbeken auf: Hier ist euer Heiliges Buch - darin steht, es ist eure Pflicht, gegen die Ungläubigen zu kämpfen! Und dreißig Jahre später, nämlich jetzt, greifen die Amerikaner mit Flugkörpern ein pakistanisches Stammesgebiet namens Waziristan an, in dem sich vermutlich Al-Qaida-Kämpfer aufhalten - und die Mehrzahl von ihnen sind Usbeken! Was glaubte man, was passieren würde? Als ein Autor, als jemand, der Geschichten erfindet, ist es fast eine Beleidigung, eine so vorhersehbare Geschichte erzählen zu müssen! Erzählerin: In "Das Haus der fünf Sinne", einem historisch so tief gehenden wie gesellschaftlich breit angelegten Roman, lässt Nadeem Aslam noch einmal die wichtigsten Stationen der vergangenen dreißig Jahre Revue passieren: die russische Okkupation Afghanistans Anfang der 80er Jahre; der Bürgerkrieg zwischen den warlords nach Abzug der Russen; die Machtübernahme der Taliban Ende 1995; die amerikanische Invasion im Gefolge von 9/11. Nadeem Aslam - der als knapp 15- Jähriger wegen des politischen Widerstands seines Vaters gegen das verhasste Zia-Regime Pakistan mit seinen Eltern verlassen musste und schon seit langem nahe London lebt - sammelte zehn Jahre lang Material für diesen Roman. Der afghanische Bürgerkrieg war zu Ende, er selbst schrieb völlig zurückgezogen von der Welt an seinem zweiten Roman "Atlas für verschollene Liebende", der ihn 2005 auch in Deutschland bekannt machte. Die Handlung von "Das Haus der fünf Sinne" ist angesiedelt in der Gegenwart - Schauplatz ist Usha, ein Dorf am Fuße des Höhlenkomplexes Tora-Bora, rund 50 km von Jalalabad entfernt. Und hier, an diesem abgelegen Ort, im Haus eines Engländers namens Marcus, treffen eine Handvoll Figuren aufeinander, darunter der Amerikaner und Ex-CIA-Agent David; ein junger Fundamentalist namens Casa; und Lara, eine Russin, die auf der Suche ist nach ihrem in Afghanistan verschollenen Bruder Benjamin, der dort als Soldat gedient hat. Regie: Musik ((Atif Aslam: Mai ne //Coke Studio)) Sprecher Zitat: Was für eine lange Reise hat sie gemacht, sie, die aus dem fernen St. Petersburg stammt, um hier in diesem Land zu sein, das Alexander der Große auf seinem Einhorn durchquerte, in diesem Gefilde sagenhafter Obstgärten, dichter Maulbeerwälder und Bäume mit Granatäpfeln, die schon vor tausend Jahren als Illustrationen auf den Rändern persischer Manuskripte auftauchten. Marcus Caldwell heißt ihr Gastgeber, ein Engländer, der eine Afghanin geheiratet und fast sein ganzes Leben in Afghanistan verbracht hat. (Übersetzung: Bernhard Robben) Erzählerin: Es ist eine Schicksalsgemeinschaft, die Aslam hier zusammenführt: Marcus hat unter den Taliban nicht nur seine Hand eingebüßt, sondern auch seine Frau Qatrina verloren - sie wurde von den Taliban zu Tode gesteinigt, in deren Augen ihrer beider Ehe nicht rechtens war. Marcus' und Qatrinas Tochter Zameen dagegen, die Jahre zuvor in den Wirren des afghanischen Bürgerkriegs verschwand, wurde von Laras Bruder vergewaltigt und bekam ein uneheliches Kind - ein Kind, das Marcus seit zwanzig Jahren sucht. David wiederum lernte Zameen kurz vor ihrem Verschwinden kennen und lieben, als er noch für die CIA tätig war, deren Machenschaften er inzwischen skeptisch gegenüber steht. Und dann ist da noch Casa, der junge Mujaheddin und treue Gefolgsmann eines warlords namens Nabi Khan, der auf Rache sinnt, weil er von seinem Konkurrenten aus Usha vertrieben worden ist. Casa soll einen Anschlag auf das Dorf vorbereiten, verletzt sich dabei jedoch schwer. Notgedrungen rettet er sich in Marcus' Haus - das all jene beherbergt, die er als seine Feinde erachtet: Westler, Russen, Frauen. Sprecher Zitat: "Seit Ewigkeiten bist du ein Gedanke im Geiste Allahs." Mit diesen Worten der Ermutigung war der vierzehnjährige Casa 1990 mit tausend anderen Jungen aus seiner Medrese ((Koranschule; d. A.)) in Pakistan hierher nach Afghanistan geschickt worden. ... Im Strom der weltlichen, christlichen Zeit hätten sie nur wie eine Bande zerlumpter Jungen gewirkt, doch im entsprechenden islamischen Kalenderjahr - 1417 - waren sie Krieger, die ihre Schwerter zogen und die Scheiden für immer fortwarfen, die ihre Kleider enger um sich zurrten, um ungehindert kämpfen zu können, die Fortsetzung einer langen Reihe, die mit Mohammed begann, Könige von morgen, die das Blutbad hassten, das sie anrichten mussten, aber anrichten mussten sie es. (Übersetzung: Bernhard Robben) Regie: Musik ((CD Nusrat Fateh Ali Khan: Mustt Mustt - Nr. 9: Shadow. Erzählerin/Zitator 1/Erzählerin/O-Ton 3 damit unterlegen)) Erzählerin: Tatsächlich kommen alle Stimmen in diesem Roman zur Sprache: die Frauen und ihr Schicksal unter den Taliban; die gemäßigten und die radikalen Kräfte des Islams; die einzelnen Kriegsparteien und ihre unheilvollen und wechselnden Machtallianzen; die amerikanischen Besatzer mit ihrer imperialen Arroganz, im Roman verkörpert von einem special agent namens James Palentine. Sprecher Zitat: ‚Hast du von diesen Typen gehört, die Afghanen entführen und foltern, um Informationen über Al Qaida und die Taliban zu erhalten?' James sieht ihn an. ‚In einem Land wie diesem müssen wir mit einem Wort wie ‚Folter' vorsichtig sein. Wenn diese Menschen hier das Wort ‚Folter' hören, denken sie an Frauen, die zu Tode vergewaltigt werden, an abgesägte Gliedmaßen, an fünfzehn Zentimeter lange Nägel, die in Köpfe gehämmert werden - das ist es, was ‚Folter' hier normalerweise bedeutet. Ein kalter Raum aber ist keine Folter, einem Verwundeten Schmerzmittel vorzuenthalten, das ist keine Folter. ... Wir haben es mit einer neuen Sorte von Feinden zu tun, David. In Guantànamo Bay dürfen sie den Koran lesen, das ist ihr religiöses wie menschliches Recht. Aber hast du ihn mal gelesen? Fast auf jeder Seite steht ein Aufruf zu den Waffen, ein Aufruf, uns Ungläubige abzuschlachten.' (Übersetzung: Bernhard Robben) Erzählerin: Doch Nadeem Aslam, der für die Vorarbeiten zu diesem Roman zweimal in Afghanistan auf Reisen war, geht es nicht um Schuld. In Wahrheit ist der Roman eine einzige menschliche Verlustgeschichte: Mehr oder weniger alle Figuren werden als Opfer von Krieg und Geschichte dargestellt; alle sind gefangen zwischen willentlicher Täuschung und Selbstillusion; man verrät sich gegenseitig, selbst den Menschen, den man liebt. Die Liebe hat im Roman übrigens unerwartet das letzte Wort. Ihr ist das oberste und sechste Zimmer im Haus der fünf Sinne gewidmet. Jedes der fünf Zimmer ist verziert mit Wandgemälden im Stil eines persischen Meisters, jedes Zimmer preist einen der fünf Sinne des Menschen. Vor allem das Motiv des Geruchssinns spielt eine wichtige und wiederkehrende Rolle im Roman - genauso wie der Kopf eines überdimensionalen Buddhas, der verborgen ist im Fundament einer stillgelegten Parfümfabrik, die Marcus einst erbaut hat. Regie: O-Ton 2 Aslam In march 2001 when the Bamiyan Buddha was blown up, that day the Taliban come into the house and they see this Buddha and they want to destroy it at the precise moment that Buddha in the Bamiyan valley has been destroyed. So they begin to pile the explosive around them and then the Buddha begins to bleed liquid gold and they run away. But this was really my comment on the events of that day in the Bamiyan valley in that. Here the Buddha survives, in the imagination of this writer, this person. Afghanistan was a Buddhist country before Islam came. That was my way of saying that it is Afghanistan's past - that we must remember the past. As a nation if you forget the past or try to forget or erase the past, then there will be some kind of trauma. Sprecher (OV 2 Aslam) An genau jenem Tag im März 2001, an dem der Buddha von Bamiyan zerstört wird, kommen die Taliban auch in Marcus' Haus. Sie sehen den Buddha und wollen auch ihn zerstören. Doch als sie den Zündstoff anbringen, beginnt der Buddha flüssiges Gold zu bluten und sie rennen davon. Das war meine Weise, die Ereignisse im Bamiyan-Tal zu kommentieren. Indem ich sage: In der Imagination dieses Autors, dieser Person, überlebt der Buddha so wie er ist. Denn Afghanistan war ein buddhistisches Land, bevor der Islam kam. Das ist Teil der afghanischen Vergangenheit - und wir müssen uns an die Vergangenheit erinnern! Wenn eine ganze Nation ihre eigene Geschichte vergisst, verleugnet oder vernichtet, droht eine Art Trauma. Erzählerin: Es ist nicht zuletzt dieses Trauma, dem Nadeem Aslam - der ebenso plant, zumindest zeitweise nach Pakistan zurück zu kehren - in diesem so eindringlichen wie erschütternden Roman mit sehr poetischer Sprache Ausdruck verleiht. Derweil gehen die amerikanischen Drohnenangriffe auf Pakistan unvermindert weiter - derzeitiges Ziel ist vor allem das Stammesgebiet Südwaziristan, wo die Amerikaner Al- Qaida-Truppen vermuten. Regie: O-Ton 3 Aslam Over the past 3 years - these are official figures - with American drones attacks 14 highly placed al-Qaeda operatives they have killed. They find out where they are, the missile is dropped - ok. Whether it is actually a traditional killing we can talk about that later - but lets for a while think: Ok, you got 14 bad guys. In order to kill those 14 al-Qaeda people, 687 ordinary Pakistanis have been killed. Mothers, daughters, children. And the idea is that they are collateral damage. Would that be allowed on main land of the United States? I don't think so. Sprecher (OV 3 Aslam) In den vergangenen 3 Jahren - das sind offizielle Zahlen - wurden bei amerikanischen Drohnenangriffen vierzehn ranghohe al-Qaida-Kämpfer getötet. Man findet heraus, wo sie sind - dann wird die Rakete abgeschossen. Ob das Mord ist, sei dahin gestellt - sagen wir einfach mal: OK, Ihr habt vierzehn bad guys erwischt. Aber um die zu töten, starben 678 ganz normale Pakistaner: Mütter, Töchter, Kinder. Sie gelten als ‚Kollateralschaden'. Die Frage ist: Wäre das ebenso denkbar auf amerikanischem Boden? Ich glaube nicht. Regie: Musik ((Riaz Ali Khan: Bulleya/Coke Studio/Episode 4)) Erzählerin: Im Schatten dieses Terrors aber erblüht auf ihre Weise die englischsprachige Literatur des Landes. Auf heimischem Boden spielt sie derzeit nicht mehr als eine Nebenrolle. Uns aber liefert sie - ob mit den Romanen von Mohammed Hanif oder Uzma Aslam Khan, Kamila Shamsie oder Nadeem Aslam - einen anderen, dringend benötigten Blick auf die Ereignisse einer Welt, in der ein Krieg als ‚gut', ein anderer als ‚schlecht' bezeichnet werden kann. "Leave the fiction to us, you do the confession" - "überlasst uns das Erzählen, bekennt Ihr Eure Schuld" - forderte Uzma Aslam Khan jüngst mit Blick Richtung Amerika. Das erste Kapitel dieser neuen Erzählung von Welt haben Khan und ihresgleichen mit Bravour eröffnet. 1