COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 10.6.2007, 0.05 Uhr Die Gespenster der RAF - ein Kapitel in der deutschen Literatur von Claudia Kramatschek Regie: Klaus-Michael Klingsporn Anmod/ 18. Oktober 1977: Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan Carl Raspe werden tot in ihren Zellen in Stuttgart-Stammheim aufgefunden. Mit ihnen stirbt endgültig die Gründergeneration der Roten Armee Fraktion; Ulrike Meinhof hatte bereits 1976 den Tod gefunden. Doch die Toten in Stuttgart-Stammheim markieren auch das vorläufige Ende des blutigen Jahres 1977, in dem die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland auf den Prüfstand gestellt worden war. 1998 erklärte die R.A.F. ihre Auflösung. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen aber lebt sie fort: offen gebrandmarkt als politisches Schreckgespinst, heimlich bewundert als Ikonen eines existentialistischen Kampfes. Noch immer ist die R.A.F. Kopfkino, an dessen Bildkraft sie selbst bereits früh arbeitete: Italo- Western gehörten ebenso zu ihrem ästhetischen Fundus wie Vorbilder aus der Literatur. Welche Bilder aber kehren zurück in die Literatur selbst - jenem Archiv der kollektiven Erinnerung? Was ist von jenem Kampf in den Büchern deutscher Autoren gespeichert? Ein Rückblick auf literarische Stimmen zwischen 1978 und 2001. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/take 8/bei ca. 0.19 Spielzeit mit dem Song beginnen) Sprecher 2: (Zitat) Was man hier auf Erden meinen Schatten nennt, ist mein eigentlicher Stoff. Mich düngt, mein Leib ist nur der Bodensatz meines reineren Wesens. So nehme meinen Körper, wer mag, jawohl, nehmt ihn nur, er ist nicht ich. Und gehe das Schiff zu Bruch, gehe der Leib zu Bruch, meine Seele brechen kann selbst Jupiters Blitzstrahl nicht. Regie: MUSIK weiterlaufen lassen: ab jetzt ertönt Schreibmaschinengeklapper; leise auf die nächste Passage unterlegen, bis Zitat beginnt Sprecherin 1: Was aber sucht Hermann Melvilles "Moby Dick" in den Händen der RAF? Sprecher 1: Ganz einfach: Man überlistet seine Überwacher, indem man sich Decknamen gibt! Sprecherin 1: Gudrun Ensslin? Sprecher 1: Smutje, der Koch Sprecherin 1: Jan Carl Raspe? Sprecher 1: der nützliche Zimmermann Sprecherin 1: Holger Meins? Sprecher 1: Starbuck, der Steuermann Sprecherin 1: Andreas Baader? Sprecher 1: Ahab, der sich verzehrt auf der Jagd nach dem Weißen Wal, dem unbesiegbaren Feind, dem monströsen Leviathan.... Sprecher 2: (Zitat) Künstlich erschaffen ist jener gewaltige Leviathan, den man Staat nennet. Regie: MUSIK: War/Temptations (Song 5; Einstieg ca. 0.45 "I said..." bis ca. 1.00; damit den folgenden Text unterlegen, bis 1. O-Ton) (im schnellen Wechsel lesen) Sprecherin 1: 1977 findet der Kampf zwischen der Roten Armee Fraktion und der Bundesrepublik Deutschland ihren Höhepunkt in einer Eskalation der Gewalt. Sprecher 2: 7. April: Sprecherin 1: Generalbundesanwalt Buback wird in seinem Dienstwagen erschossen Sprecher 2: 30. Juni: Sprecherin 1: Jürgen Ponto, Vorstandschef der Dresdner Bank, wird bei einem Entführungsversuch erschossen Sprecher 2: 5. September: Sprecherin 1: Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer wird entführt, um 11 Gefangene der RAF freizupressen Sprecher 2: 13. Oktober: Sprecherin 1: die Landshut wird mit 86 deutschen Urlaubern an Bord auf dem Rückflug von Mallorca entführt Sprecher 2: 18. Oktober: Sprecherin 1: beim Sturm auf die Landshut tötet die GSG 9 drei der Entführer Sprecher 2: 19. Oktober: Sprecherin 1: Hanns-Martin Schleyer wird tot im Kofferraum eines Autos in Mülhausen gefunden Regie: O-Ton/Band Kraushaar/take 1 Das Entscheidende im Jahr 77 ist sicherlich (..) die Übertragung des Agressionspotentials von ausgewählten prominenten Wirtschafts- und Finanzführern auf die Bevölkerung als solche, nämlich auf den durchschnittlichen Mallorca-Urlauber (..) und damit die Emotionalisierung eines erheblichen Teiles der Bevölkerung und gleichzeitig auch ein (..) nicht zu unterschätzendes Maß an Überreaktion bestimmter Politiker. Sprecherin 1: 44 Tage war das Schicksal des entführten Hanns-Martin Schleyer ungewiss. 44 Tage, die der Historiker Wolfgang Kraushaar, Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, eine Zeit ohne Opposition nennt. Denn in dieser Zeit sind die rechtsstaatlichen Instanzen nicht nur von der RAF, sondern auch innerhalb der Demokratie selbst außer Kraft gesetzt. (die folgende Passage in großer Geschwindigkeit; jeweils fast ineinander übergehend) Sprecherin 1: Der große Krisenstab bildet sich unter Beteiligung aller politischen Führungspersonen, arbeitet jedoch ohne Verfassungsauftrag Sprecher 1: die Bundesregierung verhängt eine totale Kontaktsperre über die Gefangenen; kein Anwalt, keine Post, keine Information dringt mehr zu ihnen durch Sprecherin 1: die Bundesregierung verhängt eine Nachrichtensperre, der sich die deutschen Zeitungen und Rundfunkanstalten unterwerfen Sprecherin 2: Endgültig bestimmt eine Hatz auf die sogenannten Sympathisanten das öffentliche Klima. Rund 10000 Personen zählt das BKA bereits Ende 74 zu diesem Kreis. Wer sich nicht öffentlich von der R.A.F. distanziert, wird von der Staatsmacht ins Visier genommen. Regie: MUSIK (unterlegen mit: CD Hasch/take1/ab ca. 0.15 Spielzeit reingehen) Sprecher 1: (Zitat) Jemand mußte in Fritz Buchonia ein schlechtes Gewissen erzeugt haben, denn ohne daß er sich einer Schuld bewußt gewesen wäre, hatte er eines Morgens einen Traum. Durch das Tal kamen Polizisten auf den Hügel zu. Sie waren weit ausgeschwärmt, das Schnellfeuergewehr vor der Brust, den Stahlhelm auf dem Kopf, am Koppel baumelten Handgranaten und Gasmasken. Sprecherin 2: 1978 erscheint der Roman "Die Herren des Morgengrauen", eine kafkaeske Parabel über den orwellschen Verdächtigungswahn des Deutschen Herbstes 77. Denn besagter Fritz Buchonia, ein unbescholtener Schriftsteller und Anwalt, sieht sich plötzlich in die Mühlen der Staatsanwaltschaft verstrickt. In einem Schreiben an Kollegen hat er auf die Haftbedingungen der Gefangenen aufmerksam gemacht und wird nun selbst des Aufrufs zur Gewalt bezichtigt. Angst, Misstrauen und auch anti-intellektuelles Ressentiment - dies ist die damalige spezifisch bundesdeutsche Melange, die dem Roman des 1934 geborenen Peter O. Chotjewitz zugrunde liegt. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/take 5/ab ca. 0.05 Spielzeit) Sprecher 2: (Zitat) Alles, was er tat und dachte, war diktiert von dem Gefühl, ein Ermittlungsobjekt zu sein. Er kam sich vor wie in einem Agentenfilm, als er das Zimmer absuchte, unter das Bett schaute, unter dem kleinen Schreibtisch nach einem Abhörgerät suchte und schließlich sogar die Muschel des Telefonhörers aufschraubte, aber er mußte es tun. Es war zwanghaft. Alles sprach plötzlich gegen ihn. Sprecherin 2: Bereits im Vorfeld sorgt Chotjewitz' Roman für einen Eklat: Das Buch soll in der Autorenedition erscheinen, einer Tochtergesellschaft von Bertelsmann, doch der Konzern legt ein Veto gegen das Manuskript ein. Literarische Mängel werden vorgeschoben; ausschlaggebend dürften jedoch jene Passagen sein, in denen auf die Tode in Stammheim und das Begräbnis von Ensslin, Baader und Raspe angespielt wird. Pikantes Detail: Chotjewitz selbst ist von Haus aus nicht nur Rechtsanwalt wie sein alter ego Buchonia, sondern war in dieser Eigenschaft auch einer der Wahlverteidiger von Andreas Baader. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/take11/ bitte Zitat auf Taktgeschwindigkeit sprechen) Sprecher 2: (Zitat) Sie sehen also, Herr Buchonia: Ausreichend ist die bloße Möglichkeit einer strafbaren Handlung. Sie brauchen Ihre Äußerung nicht ernst gemeint zu haben, Sie brauchen nicht gewollt zu haben, daß die Tat, zu der Sie aufgerufen haben, auch begangen wird, es braucht keine Tat begangen worden zu sein. Das alles schließt Ihre Bestrafung nicht aus. Sprecherin 2: Doch trotz aller Kritik am Polizeistaatgehabe, trotz aller Einfühlung in die schleichende Traumatisierung eines zu Unrecht Verdächtigten, trotz aller zeitgeschichtlicher Realien: Zu sehr weicht die gewollte Anklage in das Nebulöse einer symbolisch überhöhten Atmosphäre aus. Denn bis zum Ende des Romans beläßt Chotjewitz es im Unklaren, was Traum, was Realität im Erleben seines Alter ego ist. Regie: MUSIK Marvin Gaye: What's going on (von Spielzeit ca. 0.08 - 0.45; damit unterlegen Sprecherin 1) Sprecherin 1: Rund 6000 Personen sind 1977 als Kontaktpersonen der RAF verzeichnet. - In einer Datei namens PIOS: Personen, Institutionen, Objekte, Sachen. PIOS ist das Herzstück jenes gläsernen Datennetzes, das Horst Herold, seit 1971 Leiter des Bundeskriminalamts, über der Bundesrepublik auswirft. Rasterfahnung ist das Zauberwort. Rund 11 Millionen Daten sind zum Thema RAF registriert: 2,1 Millionen Fingerabdrucke, 1,9 Millionen Lichtbildaufnahmen, rund 60 000 Handschriftenproben. Eine Nation unter Verdacht. Regie: O-Ton/Band Delius/take 1 1977 war noch so nah, war noch so lähmend im Bewusstsein, dass ich mir überlegt habe, ich will das durch Schreiben herausfinden, was da war. Das heißt: wie hat sich eigentlich die Gesellschaft verändert, wie haben sich Leute verändert. Die Politik verändert uns ja, obwohl wir eigentlich mit Politik nichts zu tun haben wollen, aber Politik verändert ständig unser Leben und unser Denken. Mich hat nicht interessiert sozusagen die politische Schlagzeile; das, was sowieso in der Presse stand, sondern: Was verändert das im Bewusstsein? Sprecherin 2: 1981 veröffentlicht der Schriftsteller Friedrich Christian Delius mit "Ein Held der inneren Sicherheit". Es ist der erste von drei Romanen, die das Jahr '77 fokussieren und unter dem Titel "Deutscher Herbst" als Trilogie zusammengefaßt sind. Ein unbescheidener und problematischer Titel, denn Delius schildert weniger die realpolitischen Ereignisse der damaligen Zeit. Vielmehr beschreibt er die Innenseite jener sogenannten bleiernen Zeit, die der1943 geborene Autor von ihren Anfängen an mit erlebt hat. Regie: O-Ton/Band Delius/take 2: Ich habe sehr früh mich eigentlich abgestoßen gefühlt von dem Druck, der von der RAF ausging, also von diesem Behauptungsmonopol, was gesagt hat, wir müssen kämpfen und das geht nur so, wie wir das tun. (..) Das hat mir nicht gefallen, (..) nicht nur aus rationalen, politischen Gründen, sondern aus emotionalen, ganz psychischen Gründen. Sprecherin 2: Die Schleyer-Entführung, die gekaperte Landshut, das Begräbnis der Stammheim-Toten - das sind die tagespolitischen Ereignisse, die den Spannungsrahmen für je einen der Romane liefern. Doch die Hauptakteure bleiben unsichtbar im Hintergrund. Stattdessen bedient sich Delius der Perspektive einer exemplarischen Randfigur und beschreibt die Auswirkungen der Politik auf den Alltag eines Einzelnen. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/ take 3/ab ca. 0.05) Sprecher 2 (Zitat) An diesem Morgen war Roland Diehl es leid, in ein Netz ungewohnter Gefühle gezogen zu sein. Seit Tagen konnte er sich nur schwer mit etwas anderem beschäftigen als mit seinem Chef, Präsident des Verbandes der Menschenführer Alfred Büttinger, der auf so lächerlich einfache Weise entführt versteckt gesucht war. Der Terminkalender befahl, zwei Büttinger-Reden zu entwerfen. Diese Arbeit hatte Diehl lang genug aufgeschoben, hatte gewartet auf Büttinger. Wie kann ich für Büttinger schreiben, wenn ich nicht weiß, ob er diese Reden überhaupt halten kann. Sprecherin 2: Mit Roland Diehl, Redenschreiber und rechte Hand des sogenannten Menschenführers, führt Delius in das Innere jener Machtapparatur, auf die die RAF mit der Schleyer-Entführung gezielt hatte. Ein geschickter Erzählgriff, der es Delius erlaubt, Diehls persönlichen Kampf um Macht- und Prestigeerhalt mit dem kalten Tauschgeschäft der damaligen Bundesregierung zusammenzubringen: Die hatte das Leben des gefangenen Schleyer geopfert, um das ungehinderte Funktionieren der Maschine Staat zu demonstrieren. 1987 erscheint Delius' zweiter Roman "Mogadischu Fensterplatz". Ein Buch, mit dem Delius auf brisante Weise mit dem Charakter des Halbdokumentarischen flirtet, da es die Leser mit in den Bauch der entführten Landshut-Maschine nimmt. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/ take 9) Sprecherin 1: (Zitat) Plötzliche Schreie wie Blitze, ganz nah, von allen Seiten, schrille zänkische Mädchenstimmen, hartes, unverständliches Befehlsgebrüll, kratzendes Englisch, polternde Schritte, die Schreie gleichzeitig vorn und hinten, immer lauter und bellend. Angstkreischen, Zetern, Frauenschreie, Männergebrüll, Schreckensrufe. Nichts davon paßte in ein Flugzeug. Hands up! Hands up! Hands up! das war das einzige Geräusch, das immer deutlicher alles andere übertönte. Sprecher 1: Fünf Tage und Nächte dauert die Odyssee der in Mallorca gekaperten Landshut: Rom, Larnaka, Persischer Golf, Dubai, Aden, schließlich Mogadischu. Fünf Tage, in denen es für alle 91 Deutschen an Bord ungewiss ist, ob die Regierung ihr Leben retten und mit den palästinensischen Entführern verhandeln wird, deren Geiseln sie sind. Geiseln, um die Gefangenen der RAF freizupressen. Fünf Tage, denen erst die Aktion Feuerzauber - so das Codewort der Erstürmung - ein Ende bereitet. Drei der Entführer werden erschossen; zwei Tage zuvor hatten diese bereits Flugzeugkapitän Schumann erschossen. Sprecherin 2: Es ist die physische Ausnahmesituation, die Delius interessiert: eine Art leiblicher Hölle, von dessen Martyrium er Kunde gibt durch das fiktive Leidensprotokoll der Passagierin Andrea Boländer, auch sie eine Erfindung. Anlaß ihres minutiösen Berichtes ist der Antrag zur Entschädigung für die Opfer von Gewalttaten, der vor ihr liegt. So vergegenwärtigt sie - in einer das Beamtendeutsch bloßstellenden Obsessivität - ihre Gedanken, ihre Gefühle, Gesehenes, Gehörtes. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/ take 9) Sprecherin 1: (Zitat) Die Jeans klebten am Körper. Ich wollte sie ausziehen, öffnete aber nur den Knopf und den Reißverschluß. In der Reihe vor uns kippte eine junge Frau um. Eine Stewardess kümmerte sich. Bis zum Bauch saß ich wie in warmem klebrigen Wasser. Aus den Achselhöhlen rann immer neuer Schweiß und rann über den alten, stinkenden, halb angetrockneten Schweiß. Ich zog die Bluse aus. Den Büstenhalter behielt ich an, weil ich dachte, wenn du umkippst, dann sollen sie dich nicht nackt sehen, nicht nackt durch den Gang schleppen. Wieder das Geräusch eines hinfallenden Körpers. Wieviel Grad, vierzig, fünfundvierzig, fünfzig oder mehr? Es spielte keine Rolle, es war keine Steigerung mehr denkbar. Sprecherin 2: Es bleibt jedoch ein Unbehagen bei der Mischung von Fiktion und Authentizität. Denn gerade der einfühlsame Nahblick gerät in bedrohliche Nähe zu jenem voyeuristischen Schauder derer, die am Schrecken umso aufrichtiger teilnehmen, da sie ihn umso sicherer fern von sich wissen. Sprecher 1: Giftcontainer - so nennt der Berliner Kulturkritiker Klaus Theweleit die Mitglieder der RAF. Denn Baader, Ensslin und Co., so Theweleit, hatten nicht nur Vieles ausgelebt; sie hatten wie in geheimer Mission auch all das auszuleben, wovon die Sympathisanten nur träumten, ohne den Mut zum Letzten zu haben: zum Schritt in die Illegalität. Regie: O-Ton/Band Kraushaar/take 2 Wir haben auf jeden Fall eine Reihe von Gesetzen zurück behalten, die nicht verabschiedet worden wären, wenn es die RAF nicht gegeben hätte, die auf jeden Fall zu einer Illiberalisierung der Rechtslage mit beigetragen haben. Was ich für sehr viel gravierender halte, ist, daß erstens sich am Modell dieser RAF-Rebellion heraus kristallisiert hat, daß eine Revolution in einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland auf völlig verlorenem Posten sich bewegt. Und das ist im Grunde genommen der gesamten radikalen Linken durch die RAF deutlich geworden. Und das zweite in der weiteren Folge ist natürlich so etwas wie ein diffuses Bedrohungs- und Verängstigungsgefühl von Teilen der Bevölkerung vor radikalen Interventionen, die mit der Propagierung von Gewalt oder sogar von Waffengewalt auftreten. Das ist zurück behalten worden. Insofern ist die Aktualisierung der Bilder aus den 70er Jahren sehr sehr stark, (selbst im Zusammenhang mit dieser Art von Mega-Terrorismus, den wir in New York und Washington erlebt haben. Sprecherin 1: Am 20. September 2001, nur wenige Tage nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York, wird der Paragraph 129 a auf ausländische Organisationen erweitert. Der sogenannte Anti- Terrorismus-Paragraph stellt Gründung, Mitgliedschaft und Unterstützung terroristischer Organisationen unter Strafe und war 1976 zur Bekämpfung des Linksterrorismus ins Strafgesetzbuch aufgenommen worden. Sprecher 1: Am 1. Oktober 2001 läuft in Deutschland zum ersten Mal wieder seit den 70er Jahren eine Rasterfahndung an. Erneut herrscht Generalverdacht. Sprecherin 2: Viel Feind, viel Ehr'... wer aber war eigentlich dieser Feind im Inneren der Demokratie? Sprecher 1: Am 14. April 1970 wird Andreas Baader, zu dieser Zeit in Berlin-Tegel in Haft, während eines Freigangs befreit. Ein Mann wird erschossen. Ulrike Meinhof - eine der Befreierinnen - wird fortan steckbrieflich gesucht. Der Tag gilt als Geburtsstunde der RAF, an deren Spitze - Kollektiv hin, Kollektiv her - Baader, Meinhof und Ensslin als charismatische Führungsfiguren stehen. (das Folgende rasch ineinander über wechseln lassen) Sprecherin 1: Gudrun Ensslin: 1940 geboren als viertes Kind in einer evangelischen Pfarrersfamilie; geisteswissenschaftliches Studium; Verlobung mit dem Schriftsteller Bernward Vesper, ein Kind Sprecher 1: Primat der Praxis lautet die Formel der RAF. Was man will, sind endlich Taten. Taten angesichts der erneuten Wiederaufrüstung eines Staates, der, so die Überzeugung der RAF, seine faschistische Vergangenheit nicht wirklich abgelegt hat. Sprecherin 1: Andreas Baader: 1943 geboren, Sohn eines promovierten Historikers; intelligent, jedoch auch aufsässig; er liebt die Literatur ebenso wie schnelle Wagen und hat schon früh ein Faible für die Halb- und Unterwelt Sprecher 1: Taten angesichts eines Staates, der sich immer stärker dem anheischig macht, was man verächtlich US-Imperialismus nennt. Sprecherin 1: Ulrike Meinhof: 1934 geboren in einer kirchlich geprägten Familie; Studium der Pädagogik und Psychologie, Mitarbeit im SDS sowie in der sich formierenden Friedens- und Anti-Atom-Bewegung; 1960 Chefredakteurin des linken Magazins 'konkret'; 1961 Heirat mit Klaus Rainer Röhl, zwei Kinder. Sprecher 1: Taten angesichts des amerikanischen Vietnam-Krieges, der im Zentrum der Proteste dessen steht, was als 68-er-Bewegung Geschichte machen wird. Regie: O-Ton/Band Kraushaar/take 3 Die Rolle der Gewalt hat ja in der 68er-Bewegung insgesamt ja eine zentrale Bedeutung eingenommen, weil man im Grunde genommen von einem globalen Modell ausgegangen ist und sich gesagt hat: Das, was im Vietnam geschieht an Offenkundigkeit von gewaltsamen Aktionen eines Staates, einer Militärmaschinerie, sei in den sogenannten Metropolen, in den westlich geprägten Industrienationen verborgen. Man müsse das eigentlich erst zur Erscheinung bringen. Im Grunde genommen wurde das Weltganze unter diesen Gewalt- und Kampfaspekt gestellt. Regie: MUSIK James Brown: This is a men's world (den Song beginnen lassen bei: 0.11 Spielzeit;unterlegen auf O-Ton Geissler/take1; langsam abblenden und O-Ton allein laufen lassen) Regie: O-Ton/Band Geissler/take 1 Ich bin aus meiner Geschichte auf eine widersprüchliche Weise verbunden (..) mit denen, die man RAF oder wie wir sagen Genossen aus der RAF nennt.Vom Sentimentalen weg war es zunächst einmal Verbundenheit durch Wissen: Klassenwissen. Ich war Mitglied in der damals verbotenen Kommunistischen Partei, Ulrike Meinhof war es auch. So fing meine Verbindung zur Roten Armee Fraktion über meine politische Wissensverbindung mit Ulrike Meinhof an. Aber ich hatte auch (..) leidenschaftlich gerne die Vorstellung, daß innerhalb der Klassenarbeit auch bewaffnete Arbeit getan wird. Weil - das ist auch erst recht heute meine Meinung - diejenigen, die wir Klassengegner nennen, hochgradig bewaffnet sind. (..) Die Verbundenheit bestand also auch in dem Wissen, daß es einen bewaffneten Arm innerhalb der internationalen - und wohlgemerkt innerhalb der internationalen Kampfe geben muß, und hier ist nämlich ganz wichtig: Es hieß Rote Armee Fraktion. Von Anfang an waren die ersten, das weiß ich ganz genau, der Meinung, daß sie ein Teil der gesamten legalen und illegalen revolutionären Bewegung in der Welt seien, nämlich der Teil, der bewaffnet ist, aber ein Teil des Ganzen. Sprecherin 2: Zurück zu den Anfängen, in jene Zeit nach dem 14. April 1970, führt Christian Geisslers Roman "kamalatta". 1988 erscheint das Buch und ist eines der ganz wenigen, die den Kampf aus der Sicht der Kämpfenden beschreiben. Rasch löst der Roman eine kontroverse Debatte aus. Den einen ist das Buch zu politisch, den anderen nicht radikal genug, den einen zu schöngeistig, den anderen zu plakativ. Durchhaltepropaganda nennt das ehemalige RAF-Mitglied Wackernagel den Roman in einer eher polemischen Besprechung. Doch stattdessen hat man ein Buch der Liebe vor sich: über die Liebe zum Kampf, aber auch über die Liebe zum Leben, das gegen die Liebe zum Kampf fragend abgewogen wird. Eine Standortbestimmung demnach, die der 1928 geborene Geissler vollzogen hat - eine sehr persönliche zudem. Regie: O-Ton/Band Geissler/take 2 Ich war nicht bewaffnet, war aber Kommunist und bin es auch jetzt, und mußte also, wollte auch einen Weg finden der Verbindung zwischen legalem Bereich und illegalem Bereich. Denn ich konnte meine Familie nicht verlassen. Ich wollte auch meine Familie nicht verlassen. Ich wollte auch meinen Beruf nicht aufgeben. Ich dachte beides, meine Familie mitsamt den Kindern (..) und mein Beruf mitsamt den Sendungen hat auch eine Funktion innerhalb des Kampfes. Also: wie mache ich die Funktion? Und wie man lesen kann in Kamalatta: Das kann sehr lebensgefährlich werden. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/take 3/rein bei ca. 0.11 Spielzeit) Sprecher 2: (Zitat) proff ist nie gefunden worden. als ich seinen kopf, geschoren kalt, aus sonnenwarmem schotter vorsichtig aufhob, fand ich die stirn gespalten. ich war von der feinheit der schneidung tief gerührt. keine fremde hand, keine einwirkung von außen kann einen menschen so sicher treffen, so scharf auf das bestimmte bedacht, erpicht auf die endlich eindeutige bewegung. hier war nichts überrascht, nichts niedergestürzt, gefällt. hier war die niederlage als die aufrichtung im stein, das bewegte herz in den starrungen seiner befreiten raserei, die zerreißung ins ganze. Sprecherin 2: Proff - dies ist der Spitzname der äußerst ambivalenten Hauptfigur im vielköpfigen Romanpersonal. Von Beruf Dokumentarfilmer und mit Frau und Kind im trauten Heim, ist er mehr als nur das alter ego des Autors Geissler. Er ist vor allem der Inbegriff für besagte 'Zerreißung ins Ganze': Einer, der den - letztlich tödlichen - Versuch unternimmt, den illegalen Kampf und das legale Leben miteinander zu vereinen. Einer aber auch, der sich für keine Seite ganz entscheiden kann. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/take 2/Spielbeginn 0.15) Sprecher 2: (Zitat) du gehst nicht, alter, das ist das problem, und das schon, so lang ich dich kenn. immer das bein frei hoch, aber dann doch nicht den schritt mal machen. so stehst du da rum in der landschaft, du tänzer, und ein stoß, egal wo, und du kippst. mal nach da und dann mal nach da. Sprecherin 2: Der Roman kreist um die Vorbereitungen eines Anschlags, den eine Rote-Armee-Fraktion auf eine Anti-Guerilla-Spezialeinheit plant, die sogenannten green berets. Proff dient ihnen als Informant, da er beauftragt ist, das Treffen zu filmen. Weder er noch die kämpfenden Genossen ahnen, daß er selbst als Lockvogel eingesetzt ist. Doch nicht der Anschlag steht im Mittelpunkt des Romans. Eigentliches Herzstück sind die zahlreichen Einzelschicksale, die Geissler episodisch miteinander verflechtet. Eine Art Wegekarte der vielschichtigen Existenz im Kampf, die Stadtteilarbeit und Gefängnisbesuche ebenso umfaßt wie die Sorge um ein krankes Kind. Doch Geissler verzeichnet auf dieser Karte auch die Wege, die in Widersprüche führen. Widersprüche auszusprechen aber, das war ein Tabu in der späteren RAF. Regie: O-Ton/Band Geissler/take 3 Es kam mir damals darauf an (..), daß man das, was die RAF nannte 'unsere politische Identität' (..) niemals statisch zu erleben, fest gefügt (..), sondern als einen Prozeß. (..). Also (..), in der RAF, mit der RAF zusammen dieses Problem aufzudecken: Kümmern wir uns um eine statische unantastbare Identität? Die kam mir völlig steinern vor. Oder (..), lernen wir, uns im Prozeß zu behalten und uns zu verschärfen vielleicht sogar. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/take 2) Sprecher 2: (Zitat) vieles war ungleich, noch vielerlei ungleichzeitigkeit, wie abgerissen vom ganzen die heimat, das kollektiv. in brüllender wirklichkeit sind wir stumm. warum. was hat uns die zunge so festgebunden. Regie: O-Ton/Band Geissler/take 4 Es ist mein Brief (..) an die Genossen. Nicht ein besserwisserischer, sondern ein Gesprächsangebot. (..) eine Arbeit, die davon ausging, (..) wir können miteinander reden und wir können mit einander schlauen werden. Innehalten war damals für mich ein ganz wichtiger Begriff. (..) Das Innehalten ist überhaupt nicht als Einladung wahr genommen worden. Regie: MUSIK Velvet Underground/All the black angels (spielen bis ca. 0.30 Spielzeit; auf die letzten ca 15 Sekunden den folgenden Sprecherin-4-Text lesen) Sprecherin 2: Im gleichen Jahr wie der Roman "Kamalatta" - also 1988 - erscheint ein weiterer Roman, der sich mit dem Thema "bewaffneter Kampf" auseinandersetzt. Ein Roman ganz anderer Art, aber getrieben von der gleichen ästhetischen Radikalität. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/take 9) Sprecher 2: (Zitat) Ich erzähle hier die Geschichte des Jahres neunzehnhundertsiebenundsiebzig. heute ist Montag, der siebzehnte Oktober, kurz nach zwölf, nein, null Uhr zwei. Ich korrigiere, heute ist Montag, der siebzehnte zehnte, null Uhr drei, eben ist das dunkle Silberglimmen der Ziffern meiner Uhr von zwei auf drei gesprungen, gewisser Zeitwahn, um mich Nacht. Sprecherin 2: So beginnt der Roman "kontrolliert" von Rainald Goetz,. Er erzählt die Geschichte des Jahres 1977 strikt als das Erlebnis eines Subjekts, das im eigenen Denken gefangen bleibt. Dem von der RAF propagierten Primat der Praxis stellt Goetz das Primat des reinen Denkens gegenüber - und reflektiert damit unausgesprochen zugleich das Scheitern der Tat. Immerhin spielt der Roman in der Todesnacht von Stammheim. Doch gerade angesichts des Scheiterns stellt sich für Goetz' Erzähl-Ich erneut die Frage nach der Möglichkeit unmittelbarer Tat, für die der Kampf der RAF abstraktes Sinnbild ist. Regie: Musik (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/take 7/Stück beginnen bei 0.13) Sprecher 2: (Zitat) Die Täter, die gehandelt haben, gleich wie falsch, sind die Herausforderung für jedes Leben, das sich richtig leben will. Sprecherin 2: Dem Schriftsteller Goetz aber geht es nicht nur um die Suche nach einem Leben in Unmittelbarkeit: Ihm geht es vor allem um die Suche nach einer Sprache als Äquivalent zur radikalen Tat. Eine Sprache, die ebenso reine Tat wäre wie der terroristische Akt. Erzählte Zeit und Erzählzeit fallen daher in "Kontrolliert" ineinander. Dabei entsteht ein scheinbar mäanderndes Sprech- bzw. Denknotat, das noch die kleinste Bewegung an den Rändern zu verzeichnen sucht. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/take 5/ab ca. 0.40) Sprecher 2: (Zitat) Ich bin hier weniger der Bauherr, mehr der Schreiber, der sich nur dem Material der Zeit in der Geschichte des von ihm erlebten unterwirft, aus der Erfahrung, daß das Leben klüger sich in Wirklichkeit gelebt hat, als man als ein ich im nachhinein dann immer glaubt. Umgekehrt wäre das natürlich Lüge, daß einer, so wie ich, sich einfach gehen lassen wollte, aus einem Zustand haltloser Ekstase, von Weltrausstand und Wortzustand, in den Automaten des Erzählens. Ich bin nämlich Wortkraftwerk, richtig ist natürlich eine Werkanlage, nicht nicht konstruiert, mit anderen Worten unterstellt einem Diktat der Gegengegenkonstruktion, natürlich kontrolliert. Sprecherin 2: Bis an die Schmerzgrenze dehnt Goetz diese Sprache ins Unverständliche aus: Wie Wortgeschosse torpedieren Parataxefallen, Substantivungetüme und doppelte, ja dreifache Verneinungs- und Genitivketten in dieser Raserei eines unmittelbaren Schreibens den Leser. Goetz handhabt die Sprache wie eine Waffe - so wie die RAF-Mitglieder im Endkampf des Hungerstreiks den Körper zu ihrer Waffe machten. Regie: (die obige Passage unterlegen - wenn machbar - mit dem folgenden Zitat. Wenn nicht: geht leise aufblenden und nur den letzten Satz blanko laufen lassen) Sprecher 2: (Zitat) Momentelang ist alles klar dann tritt ein Minimalereignis ein, ein Widerspruchsgedanke, ein abschweifen in irgendwas erinnertes, oder nur der raus gehaute Schneidezahn an meinem Schädel rechts vor mir, das helle löchrige des Knocheninneren an dieser Oberkieferstelle, die den Zahn gehalten hat in dem Gebiß des Menschen, dem dieser Schädel Basis war für seinen Kopf. Jedes Wort im Hirn ist allerletzter Endzustand natürlicher Basalprozesse an den materiellen Grenzen menschlicher Gehirnmaterie und so weiter. Regie: O-Ton/Band Kraushaar/take 4 Ich glaube, daß die RAF ohnehin nur unter existentialistischen Kategorien angemessen beschrieben werden kann. Ob sie auch unter denen interpretiert werden kann, würde ich eher bezweifeln. Aber beschrieben werden kann sie wahrscheinlich nur unter Zuhilfenahme solcher Kategorien. Insofern liegt natürlich das Geheimnis ihrer Anziehungskraft darin, nicht nur ein Abenteuer zu suchen, ein Risiko einzugehen, sondern Regeln, Gesetze, Normen zu überschreiten. Sprecherin 1: Mit Goetz, der 1954 geboren ist, vollzieht sich eine Art Zeitenwende im literarischen Diskurs zum Thema RAF. Denn nun tritt eine neue Generation an, die sich erzählerisch dieser Zeit annimmt: eine Generation, die weder direkte Zeitzeugenschaft noch lediglich Nachgeborenenstatus einnimmt. Wo sie vom Kampf schreibt, ist ihr Blick durch das Wissen vom Scheitern mitbestimmt. Dies Wissen ist die Folie, vor der die Frage verhandelt wird, wie überhaupt noch über die radikale Tat geschrieben werden kann, ohne den Kampf, aber auch ohne das Scheitern zu verleugnen. Regie: MUSIK Velvet Underground/All Tomorrow Parties (Zitat leise damit unterlegen; Song nach Zitat weiter laufen lassen bis ca. 0.44; bei Ende des ersten Refrains: "....parties" ausblenden) Sprecher 2: (Zitat) Nach siebenundsiebzig war nichts mehr wie vorher. Der Staat nicht, die Revolution nicht, die Rolle Deutschlands nicht, und nicht die Stellung des bewaffneten Kampfs im Klassenkrieg, alles war gebrochen. Das Nicken, das der Anwort, auf die ganzen Fragen von der Wortwand her gegeben, zustimmte, hieß immer wieder nur, siebenundsiebzig, ganz genau, sonst nichts. Sprecherin 2: Partygeschwätz, name-dropping und eine Rhetorik der Abfertigung - mit diesen harschen Worten straft der literarische Historiograph dieser Zeit, Christian Friedrich Delius, Goetz' Roman in einer Besprechung ab. Als Delius vier Jahre später, 1992, mit "Himmelfahrt eines Staatsfeindes" seine Deutsche-Herbst-Trilogie beendet, wirkt dieser Roman daher auch ein wenig, als wolle er das richtige Buch sein über eine Zeit, die das Falsche wollte. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/ take 12/ab 0.04. Bitte nicht wundern: Nummer 12 geht dann sofort in 13 über, ist aber das gleiche = richtige Stück!) Sprecher 2: (Zitat) Der Schuß tat nicht weh: ich lag auf dem Rücken, auf den warmen Wellen meines Bluts, und schwebte (..) höher und höher: alle Gewichte fielen vom Körper ab, immer neue Schübe der Erleichterung, und ich stieg auf: in ein helles, freches Glück hinein, das die Zeit aufhob, mich allem überlegen machte, Wände und Horizonte wie mit Laserstrahlen aufschnitt: Im Tod das Auge offen wie nie im Leben und süchtig nach Bildern. Sprecherin 2: In einem partiturhaften Stimmenchor läßt Delius hier noch einmal - fiktiv verfremdet - Meinungsvertreter all jener zu Wort kommen, die den öffentlichen Diskurs des Deutschen Herbstes bestimmten: eine Terroristin, die darüber nachdenkt, auszusteigen; einen Arzt jener Internationalen Untersuchungskommission, wie sie tatsächlich aus Anlaß des bis heute letztlich ungeklärten Todes von Ulrike Meinhof gebildet worden war; vor allem aber Horst Herold, Chef des BKA und Chefjäger der RAF, sowie den toten Andreas Baader. Denn: Der Roman nimmt das Begräbnis der Stammheim-Toten zum Anlaß - ein Begräbnis, das die Emotionen in der Öffentlichkeit noch einmal hoch kochen ließ. Sprecherin 1: Schlagzeile "BILD" am 25. Oktober 1977: Sprecher 2: (Zitat) Mit dem Tod muß jede Feindschaft enden - Stuttgarts Oberbürgermeister Rommel erklärt, warum die drei Terroristen Baader, Raspe und Ensslin auf dem Friedhof beerdigt werden, auf dem auch Theodor Heuss liegt. Regie: MUSIK CD Hasch/ take 14 ( bitte nur das kleine Stück einblenden von Spielzeit 0.24 bis 0.33; also: den Satz "Die Arbeit ist getan" rausschneiden! ) Sprecherin 2: Einziger Unterschied: Nicht Stuttgart, sondern Wiesbaden - Heimatstadt des BKA - ist Schauplatz des Begräbnisses. Eine Verschiebung im Detail, die das Verhältnis zwischen Staat und dem sogenannten inneren Feind zur Groteske verwandelt. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/ take 6/ab ca. 0.04) Sprecher 2: (Zitat) Die Kamera wird zur Mitte des Zuges gerollt, nah an einen fabrikneuen Gepäckwagen. Ein Trommelwirbel, Tür auf, und sechs Polizisten marschieren auf das Treppchen zu, steigen in den Gepäckraum und kehren mit einem weißlackierten Sarg zurück. Andere Polizisten tragen Kränze und Blumengebinde, zwischen ihnen posieren sich drei Beamte , die Kissen aus rotem Samt in Händen halten: auf zwei Ordenskissen liegen je eine Pistole, auf dem dritten Kissen ein zusammengerolltes Elektrokabel. Nun setzt sich alles in Bewegung, eingerahmt von Beamten in Kampfanzügen und weißen Helmen: alle begleitet und gestört von zappligen Fotografen und herrischen Kamerateams, die eine ordentliche Formierung des Trauerzugs behindern, der nach und nach das große Spruchband passiert: WIESBADEN BEGRÜSST SEINE TERRORISTEN. Sprecherin 2: Delius' These: Gerade die RAF habe einer zweiten Modernisierung des deutschen Staates unfreiwillig Vorschub geleistet. Regie: O-Ton/Band Kraushaar/take 5 Die Frage, ob die RAF im Rahmen der innenpolitischen Auseinandersetzungen eine von ihr zu einem erheblichen Teil unabhängigen Status oder eine Rolle gespielt haben könnte, nämlich im Sinne einer innerstaatlichen Feinderklärung, also so als seien die RAF- Terroristen an die Stelle der früheren Kommunisten getreten, diese Interpretation ist ja von einer Reihe Autoren insbesondere aus der Linken gerade zu propagiert worden. Einer derjenigen, der diese These formuliert hat, war der Sozialpsychologe Peter Brückner aus Hannover, dem man ja zum Vorwurf gemacht hat, daß er (..) insbesondere Ulrike Meinhof behilflich gewesen sei im Jahr 1970 bei ihren Versuchen, unterzutauchen, (..). Und Peter Brückner hat in der Tat (..) geglaubt erkennen zu können, daß die RAF in der innenpolitischen Auseinandersetzung weit über ihre reale Bedeutung hinaus einen Stellenwert eingenommen hat, mit der dann politisch gearbeitet worden ist, mit der - und zwar im Zusammenhang zwischen Bundesregierung und Opposition - ein ganz anderes Kräftefeld aufgemacht worden ist. Einer Politik, die vor allem geprägt war durch das Reformprogramm der sozialliberalen Koalition auf der einen Seite (..) und den ständigen Angriffen und Vorwürfen seitens der konservativen und rechtskonservativen Politiker, Parteien und Presse. (..) Und innerhalb dieses Spektrums spielte die RAF auf einmal eine ganz andere Rolle: (..) Das heißt, sie wurde überhöht und (..) ein Stück weit entgrenzt aus ihren realen Zusammenhängen und Bedrohungsszenarien heraus. Sprecherin 1: Aus dieser Überhöhung aber speist sich auch die nicht allein politische Symbolkraft, von der vor allem Teile der Radikalen Linken angezogen werden. Ein Faszinosum, das Wolfgang Kraushaar eine Identifikationsfalle nennt. Die konnte so gut greifen, weil die Idee des Bewaffneten Kampfes bereits viel früher in den Reihen der Linken eine Rolle spielte: Erstmals wird das Konzept Stadtguerilla im September 1967 vorgestellt - von Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl, den zwei wichtigsten Köpfen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, dem SDS. Sprecher 1: Ergebnis einer Repräsentativumfrage des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts am 25. Juli 1971: Unter dem Stichwort "Baader-Meinhof: Verbrecher oder Helden?" erklärt jede vierte Person der rund 1000 Befragten, 'gewisse Sympathien' für die Gruppierung zu hegen. Regie: MUSIK Marvin Gaye/Inner city blues (spielen von ca. 0.41 - 1.12 Spielzeit; auf die letzten ca 10. Sekunden Sprecherin 2 unterlegen) Sprecherin 2: Von einem, der dem Eros des Kampfes für kurze Zeit verfällt, ihm aber nicht wirklich erliegt, erzählt der Romancier Michael Wildenhain in seinem Roman "Erste Liebe. Deutscher Herbst", der 1997 erscheint. Regie: O-Ton/Band Wildenhain/take 1 Ich glaube, daß ich mich in dieser Zeit, konkret zwischen 1970 und 1977, nahezu überhaupt nicht für die RAF interessiert habe. Ich war ja bis 1977 auf der Schule, und solange ich auf der Schule war, hat mich Politik allenfalls gestriffen. Ich könnte im nachhinein nicht mal sagen, ob ich von den Ereignissen des Jahres 1977 über die Maßen viel mitbekommen habe. Sprecherin 2: Auch Wildenhains Roman spielt vor dem Hintergrund des Herbstes 1977. In diesem Jahr wird der Ich-Erzähler, ein 18-jähriger junger Mann, sein Abitur machen. Die tagespolitischen Ereignisse dringen zu ihm nur wie von Ferne durch. Der Roman ist weniger als eine Chronik angelegt, sondern dokumentiert vielmehr das Klima jener Zeit. Regie: O-Ton/Band Wildenhain/take 2 In Berlin gab's die RAF sowieso nicht, weil die ist nie nach Westberlin gekommen. Es gab einen Sympathisantenkreis oder Leute, die sich den Positionen irgendwie nahe fühlten, die saßen aber überwiegend im Knast, weil die Anfang 1980 am 1. Mai das Amerikahaus besetzt hatten, und der Rest war ziemlich kläglich. In Berlin waren die immer ein bißchen belächelt, (..) in der späteren Zeit, dann so Ende '81. Da haben die (..) in den Eingängen der Versammlungen gestanden und einem aus klandestin anmutenden Plastiktüten Flugblätter zugesteckt. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/11) Sprecher 2: (Zitat) Ich hielt das Flugblatt in der Hand, das mir auf dem Schulhof zugeflogen war: ISOLATIONSFOLTER IST MORD! ZUSAMMENLEGUNG JETZT SOFORT! Ich hatte nur eine ungefähre Vorstellung von der Bedeutung dieser Zeilen. Aber ich wußte, die Worte laut in die Aula gesprochen, würden die Feierstunde beenden. Regie: O-Ton/Band Wildenhain/take 3 Mein Problem war immer, dass ich diesen Ansatz zu abgehoben fand. (..) Für mich war das von der Lebenswelt sowohl der Leute in den politischen Bewegungen als auch der ganz normalen Leute (..) soweit weg, dass das für mich (..) von vorneherein eine völlig erfolglose Strategie war. Hinzu kam der moralische Druck. (..) Immer wenn ein Hungerstreik anstand, war man ja verpflichtet, solidarisch zu sein. Und ich fand diese Hungerstreiks, obwohl ich ihre Berechtigung ohne weiteres eingesehen habe und auch nach wie vor einsehe, (..) auf eine bestimmte Art und Weise eigentümlich, weil die (..) sowohl die linke politische Szene (..) - insbesondere die, die am stärksten mit der RAF sympathisiert haben - als auch letztlich den Staat moralisch angesprochen haben. Sprecherin 2: Wie für seinen Kollegen Rainald Goetz stellt sich daher auch für den 1958 geborenen Wildenhain die Frage, mit welchen literarischen Mitteln man als Zeuge des Scheiterns einer linksradikalen Politik dennoch den Kampf derer, die sich diesem Engagement verschrieben hatten, darstellen könne - jenseits der Idealisierung, aber auch jenseits der Denunziation. Doch wo Goetz die fast paranoide Klaustrophobie des Jahres 77 im Wort- und Denkterror eines einzelnen Hirns einfängt, taucht Wildenhain den Leser in jene beklemmende Atmosphäre des Schweigens, wie sie gerade für den historischen Bruch zwischen der vom Nationalsozialismus geprägten Elterngeneration und den protestierenden 68-ern kennzeichnend war. Regie: O-Ton/Band Wildenhain/take 4 Für mich steht eigentlich im Vordergrund die extrem durch die Zeit gefärbte Geschichte einer Emanzipation, (..) eine Entwicklungsgeschichte, die (..) in der späten Pubertät sich abspielt. (..) Und für mich ist dabei sehr wichtig: (..) klimatische Couleur. Also ohne die spezifische Atmosphäre, die ja auf konkrete Ereignisse zurückgeht, und ohne die Verfaßtheit der Situation hätte sich die Geschichte so nicht abspielen können in dieser Form. Sprecherin 1: Vier Personen stehen im Mittelpunkt: Zwei Frauen und zwei Männer, die Wildenhain in jenem Moment zeigt, wo ihre persönliche Glückssuche von den politischen Ereignissen des Herbstes 77 durchkreuzt wird. Schöpp, ein junger Schulkamerad des Ich-Erzählers, muß die Schule verlassen, da er sich für einen als Kommunisten gefeuerten Lehrer eingesetzt hat; Barbara, die Freundin des Ich-Erzählers, nutzt die Hochphase des Terrors, um sich endlich aus der erstickenden Nähe zu ihren Eltern zu befreien; Manon schließlich, eine junge Lehrerin, organisiert in ihrer Wohnung eine Art politischen Zirkel. Regie: MUSIK ( Zitat unterlegen mit: CD Hasch/11) Sprecher 2: (Zitat) "Katalysator, sagte Manon, "Ferment im gesellschaftlichen Feld". Ein Satz, abstrakt wie die Farbstrukturen im Flur. Möglich, daß Manon lächelte. Schlank und groß vorm hellen Fenster fügte sie hinzu: "Beschleunigt die soziale Reaktion." Wie abwesend ergänzte sie: "Entsprechend sollte man handeln." In meinem Rücken tigerte Schöpp, umstellt von Wänden, auf und ab. "Gibt", fuhr Manon, nun wieder konzentriert fort, "dem, was politisch angelegt ist, die nötige Geschwindigkeit, bündelt die Energien." Sorgfältig lasen all jene, die um Manon herumsaßen, die Worte von ihren Lippen ab. Jedes wurde begutachtet, gesammelt, aufbewahrt. Sprecherin 2: Manon ist in ihrer Entschiedenheit eine Art politische Lichtgestalt - sie verkörpert den Eros des Kampfes. Sowohl Schöpp als auch der Ich- Erzähler werden sich in sie verlieben - für den Ich-Erzähler bedeutet dies zumindest für kurze Zeit ein politisches Erwachen. Doch mit dieser Verschränkung von privatem und kollektiven Glücksbestreben - gerade die RAF setzte ja beides auf radikale Weise ineins - zeigt Wildenhain, wie dünn die Haut des Ideologischen letztlich ist und wie groß darunter die Sehnsucht nach Geborgenheit. Regie: O-Ton/Band Wildenhain/take 5 Das finde ich das Interessante: Wenn Einzelne (..) durch eine bestimmte geschichtliche Situation in Zwänge gestellt werden, in denen sie sich in irgendeiner Art und Weise zu verhalten haben und letztlich auch entscheiden müssen. Und insofern dann Teil dieser großen Geschichte werden - aber eben nur als Partikel. Sprecherin 2: Als solche Partikel bleiben seine Protagonisten auch zurück: Allein und nur auf sich gestellt, desillusioniert zudem vom zermürbenden Kampf um das imaginäre Ganze. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: CD Hasch/7) Sprecher 2: (Zitat) Abgeschirmt von der übrigen Welt hielt ich mich nah den Hausfassaden, mied große Plätze, Menschenmengen, bekam vom Studienreferat die Bestätigung, immatrikuliert zu sein. Barbara saß im Gefängnis, meine Eltern saßen zu Hause, Manon saß mit einem älteren Mann beim Wein in einem Restaurant. Alles hatte sich geändert. Niemand nahm Notiz davon. Sprecherin 2: Wildenhains Roman kann damit gelesen werden als eine Art Versuchsanordnung, die anhand ihrer Figuren stellvertretend an das zerstörerische Debakel rührt, in dem der politische Kampf dieser linksradikalen Phase so oft zu scheitern drohte. . Regie: O-Ton/Band Wildenhain/take 6 Der Punkt ist: Wenn man sich in einer politischen Bewegung bewegt, und zwar in einer, die nicht nur immer strikt an der Legalität orientiert ist, dann stellt sich ja irgendwann die Frage: Welches Opfer ist man bereit zu bringen, und wofür? Und das ist zugespitzt genau die Frage, unter der man die RAF als extreme Ausformung betrachten kann. Indem sie in die Illegalität gegangen sind, (..) begeben sie sich tatsächlich in eine vollkommen andere Situation. (..) Insofern als sie ja dann auf Leben und Tod verfolgt werden und auch in den Gefängnissen auf Leben und Tod bedrängt werden, sind sie existentiell auf eine Stufe gestellt, die den Verfolgten der Erde sehr nahe kommt. Und das ist wahrscheinlich auch der Punkt, der sie so interessant macht und sie (..) wahrscheinlich auch noch über Jahre und Jahrzehnte hinweg als Gegenstand des Interesses bestehen lassen wird. Sprecher 1: 1998 erscheint ein verführerisch schöner, in geheimnisvollem Schwarz- Rot gehaltener Bildband. Sein Titel: Hans und Grete. Die RAF 1967 - 1977. Die Herausgeberin: Astrid Proll, ehemaliges Mitglied der R.A.F. Im Vorwort zur Sammlung dieser vorwiegend privaten und zumeist heimlich aufgenommenen 90 Fotografien schreibt Proll: Sprecherin 2: (Zitat) Wenn ich heute diese Fotos sehe, fallen mir auf und gefallen mir die jugendliche Kraft, Vitalität und ungeschminkte Schönheit, die aus etlichen Gesichtern und Körpern spricht. Sprecher 1: Die RAF ist damit endgültig zur Bilderrevue verkommen. Eine Bilderrevue, die ihren Anfang nahm in den Fahndungsplakaten, mit deren lustvollem Schrecken man auch auf der anderen Seite des Kampfes operierte. Das aktuelle Ende dieser Revue bildet jene als Prada-Meinhof betitelte Modestrecke, wie sie 2001 in dem Zeitgeistmagazin Tussi de luxe zu sehen war. - Radikalchic als vorläufig letzte Variante jener Sogkraft des Existentialistischen, ohne die das Phänomen R.A.F. nicht zu denken ist. Politics goes pop? Regie: O-Ton/Band Kraushaar/take 6 Trotz der Restringiertheit, mit der in der Öffentlichkeit Bilder von RAF- Häftlingen verbreitet worden sind - Restringiertheit im Sinne der Bildersprache - ist (..) für insbesondere den Entstehungszusammenhang der RAF deutlich gewesen, daß sich hier eine radikale Gruppierung zu Wort meldet, die auch für ein anderes Lebensgefühl steht. Ein anderes Lebensgefühl, das sich in einer anderen Kleidung niederschlägt, in einer anderen Körpersprache, (..) in einer besonderen Laszivität des Auftretens (..) sich Ausdruck verschafft hat. (..) Insofern ist 30 Jahre danach die Irritation darüber, daß ganz junge Leute, die über die Geschichte der RAF fast nichts wissen, bereit sind, sich mit den Emblemen der RAF zu schmücken und insbesondere Andreas Baader und Gudrun Ensslin als so etwas wie eine Art von Bonnie-and-Clyde-Paar zu halten, (..) nicht so überraschend. Weil mit (..) dem Gestus des Illegalen, des Abenteuers, der Kampfansage etwas verbreitet und vermittelt und assoziiert war, was man als eine romantische Aura bezeichnen könnte. Regie: MUSIK T. Rex: Venus Loop/auf: T. Rex: Zinc alloy and the hidden riders of tomorrow (reingehen mit Text ab 0.12; dann langsam abblenden) (falls nicht vorhanden: Sonny and Cher: I got you babe)) Sprecherin 2: An diesen mythischen Restbestand schließt der Roman "Rosenfest" an. Ein Roman, der im Frühjahr 2001 die Gemüter erregt, denn sein Autor Leander Scholz erzählt den heißen Kampf als eine Geschichte à la Bonnie and Clyde. Wie der Roman von Christian Geissler, ist auch "Rosenfest" situiert in der Frühphase der RAF genauer gesagt zwischen den Jahren '67 - der Erschießung Benno Ohnesorgs im Rahmen der Schah-Demonstration - und der Verhaftung von Ensslin und Baader im Jahr 69 wegen Brandstiftung. Doch dem Autor Scholz - der 1969 geboren ist und damit ein Nachgeborener jener Geschichte namens RAF - dienen die politischen Aktionen dieser Zeit als dekorative Kulisse für die Liebesgeschichte zwischen Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: Mozart: Figaro; 1. Akt: "Cinque.. dieci.. centi..") Sprecher 2: (Zitat) Es war der 2 Juni. In der Deutschen Oper wurde Mozart gegeben Eine Handkamera fuhr durch die Menge der schreienden Studenten. Andreas Baader langweilte sich. "Schah, Schah, Scharlatan", riefen die Demonstranten und warfen Tomaten, Eier, Farbeier und Steine in die Richtung der Straße, auf der sie, über fünfzig Meter weit entfernt hinter einer stählernen Absperrung, die Staatskolonne erwartet hatten. Unbeteiligt ließ Andreas den Fokus der Kamera über die grölende Menge gleiten. Eine menschliche Leberwurst, dachte er, die an beiden Enden auseinanderplatzen müßte, wenn die Schlagstöcke der Polizisten auf ihre Mitte einprügeln würden. Da den Eingekesselten die Flucht in die Breite versagt blieb, bildeten sie eine zweite Etage nach oben. O Susanna, Susanna, wie tust du mir weh, mit diesem reinen Gesicht, hallte Figaros Stimme noch in den Galerien, als eines dieser geschulterten Mädchen Andreas direkt vor die Augen fiel. Sprachlose Enttäuschung stand in dem schmalen Gesicht. "Ich mache dir einen Vorschlag", rief Andreas in dem schwachen Versuch, witzig zu sein, "ich bringe deine Mutter um, dafür bringst du meine um". Das Mädchen grinste, ohne es zu wollen. "Ilse", rief sie, Ilse Ensslin. ich heiße Gudrun." Regie: O-Ton/Band Scholz/take 1 - part one!! ((Achtung: gesplittet!!)) In dem Buch versuche ich (..) nicht so sehr meine persönliche Faszination zu rekonstruieren, sondern (..) eine Art kollektive Faszination. Also zu fragen: Was ist an diesen Figuren faszinierend? (..) Wie funktioniert der Mythos, und was heißt das, wenn man sagt, das ist ein Mythos. (..) Mythos bedeutet ja eigentlich, dass etwas historisch verbürgt ist, sich aber (..) die Erzählung von ihrem Ursprung loslöst und Selbstständigkeit gewinnt. Und (..) was mich (..) so fasziniert hat, war (..): Wofür stehen diese Figuren eigentlich? (..) Welchen Wunschtraum, was organisiert eigentlich diesen Mythos? Sprecherin 2: Tatsächlich nimmt Scholz den Mythos beim Wort und erzählt ihn noch einmal: als Mythos. Seine Intention: den Mythos zugleich zu dekonstruieren, indem er ihn - im Sinne einer Neubearbeitung - als Spielmaterial seiner selbst einsetzt. Dazu dient nicht allein die so gewagte wie heikle Veränderung der historischen Chronologie: Zeitabläufe werden wie im Zoom gedehnt oder verkürzt oder neu erfunden; reale Personen werden wie in einer Mehrfachbelichtung in einzelne Figuren ineinandergeblendet - eine Grenzaufhebung zwischen Fakt und Fiktion, die allein der Kenner der Materie rekonstruieren kann. Regie: O-Ton/Band Scholz/take 2 Das ist das, was ich als Politik des Erinnerns (..) bezeichne, dass man sich ja immer fragen muss: Was überlebt? Was kann, was wird repräsentiert, und was wird aus einer Repräsentation, also wie reicht das Historische hinein in unsere Jetztzeit, und was lässt sich darüber dann sagen. Und ich glaube, (..) diesen Blick habe ich natürlich eher, weil für mich der Ursprung, sozusagen das Authentische, all diese Zuschreibungen des Primären, des Seins, des Dabeigewesenseins (..) sowieso schon nicht gelten. (..) Und dadurch kann ich (..) ein größeres Augenmerk legen auf das, was man eben Konstruktion nennt. Sprecherin 2: Auffallend ist vor allem die extreme Stilisierung der Paargeschichte Baader/Ensslin: Deren Liebe wird als ein Pakt in inszeniert, der aus der Unversöhnlichkeit Beider mit der Welt resultiert; ein Pakt, der gerade aus dieser Ineinssetzung von Gewalt und Liebe seine Kraft bezieht. Regie: O-Ton/Band Scholz/take 3 Was mich an den beiden Figuren interessiert hat, war, daß sie ästhetisch sehr sehr lange, zum Teil auch bis heute noch, in einem fast unberührbaren transzendenten Raum des Erhabenen eingeschlossen waren. Fast balsamiert und in gewisser Weise ohne Körper, obwohl der Körper im politischen Widerstand ja diese entscheidende Rolle spielt. (..) Und ich habe den Eindruck, als wären Andreas Baader und Gudrun Ensslin eigentlich von Anfang an in diesem Bildraum eingeschlossen, der sie wirklich fast ja zu Ikonen im strengen Sinn des Wortes auch gemacht hat Sprecherin 2: Doch Ikonen bleiben sie auch bei Scholz: Wider die bessere Absicht des Autors, ihnen neues Leben einzuhauchen, flirtet seine Neubearbeitung zu sehr mit dem schönen Schein der Oberfläche, um einer Remythologisierung wirklich zu entgehen. Denn stärker noch als der Gestus des Populären à la Bonnie and Clyde lockt eine ganz andere Identifikationsfalle: die romantische Reinheit der Liebenden. Regie: MUSIK (Zitat unterlegen mit: Sonny and Cher: I got you babe) (Zitat) Sprecherin 1: Hör mal, ich muß dir was sagen. Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt. Sprecher 1: Wirst du mir glauben, wenn ich sage, daß es mir genauso geht? Sprecherin 1: Ja, das werde ich. Sprecher 1: Ich bin froh, daß du es mir gesagt hast. Ich bin glücklich, daß wir uns getroffen haben. Von den vierundzwanzig Jahren waren alle, an die ich mich erinnern kann, beschissen. Ich weiß, was es heißt, soviel Glück zu haben, überhaupt einem Menschen wirklich zu begegnen. (Zitatende) Sprecherin 2: Baader - das ist bei Scholz das ungeliebte Stricherkind, das mit der femme messie namens Ensslin endlich die Liebe kennen lernt. Der politische Kampf ist nichts anderes mehr als eine dem Eros unterworfene Strategie. Dennoch: Obwohl hart am Kitsch vorbei, rührt Scholz' Roman offensichtlich an einen wunden Kern. Regie: O-Ton/Band Scholz/take 4 Das Schöne ist doch: Wenn man (.) Zeitzeugen reden hört, die (..) sich natürlich distanzieren müssen unter moralischem Druck von bestimmten Strategien und politischen Überzeugungen, und dann aber immer dieses Lächeln noch haben, und sagen: Aber es war eine geile Zeit. Sprecher 1: Vertreter aber genau jener Zeitzeugengeneration stellten empört die Frage nach der literarischen und auch historischen Legitimation dieses unbeleckten Nachgeborenen. Regie: O-Ton/Band Scholz/take 5 Man muß eigentlich zurück fragen auf die Frage 'darf man das', warum die Frage gestellt wird. Das scheint mir aber damit zusammen zu hängen, (..) daß dieser Erinnerungsraum in einer bestimmten Weise nur dokumentarisch bearbeitet werden kann. (..) Dabei weiß doch jeder, wie schwierig Erinnerung ist und wie stark auch die eigene Erinnerung medial konstituiert ist. Also gerade (..) wenn Leute zu mir kamen und sagten nach Lesungen : (..) Genauso war es, und die Polizisten waren auch so fruchtbar und ich kann mich genau an (..) Figaro erinnern, und ich habe ja z.B. Figaro ausgetauscht, es war nicht Figaro. (..) Das sind für mich (..) die spannenden Momente: Woran will man sich denn erinnern, und aus welchen Gründen will man sich an was erinnern, und aus welchen Gründen darf nur der sich und der sich an was erinnern. (..) Es gibt glaube ich keine Zeit, wo das Dabeigewesensein einen solch emphatischen Charakter bekommt. Und das hat dann irgendwann eben wieder eine politische Dimension, weil das dabei gewesen sein (..) legitimiert zu einer bestimmten erzählerischen Autorität, die (..) für heutiges Handeln und für heutige Identitäten offensichtlich noch wichtig sind. Sprecherin 2: Demnach stünde fortan nicht allein die Geschichte der R.A.F. auf dem Prüfstand der Historie, sondern auch die Königsperspektive der Literatur. Dann hieße es nicht mehr: 'so war es gewesen', sondern: 'so wird es gewesen sein'. Die Fiktion der Erinnerung anstelle fiktionalisierter Erinnerung.) Ein Ringen um Deutungshoheit mit offenem Ausgang. 7