COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport vom 05.03.2010 Es geschah...in Leipzig - Hinrich Lehmann-Grube: vom BRD- zum DDR-Politiker - Autor Ralf Geißler Redaktion Julius Stucke Sprecher Thomas Fränzel Sendung 05.03.2010 - 13.07 Uhr Länge Beitrag 20.00 Minuten Länge Sendung 21.08 Minuten MANUSKRIPT BEITRAG (MUSIK) OT 01 (Lehmann-Grube) Herr Stadtpräsident, meine Damen und Herren Stadtverordneten. Sehr geehrte, liebe Bürgerinnen und Bürger von Leipzig. Sie haben mich soeben zu ihrem neuen Oberbürgermeister gewählt. Sie haben mir damit großes Vertrauen geschenkt. Ob ich dies Vertrauen verdiene und ob ich ihre Erwartungen erfüllen kann, weiß ich selber noch nicht. AUTOR Leipzig, am Nachmittag des 6. Juni 1990. In der Oberen Wandelhalle des Neuen Rathauses hält Hinrich Lehmann-Grube seine Antrittsrede. Ein hagerer, blasser Mann. Dunkler Anzug, große Brille. Der 57-Jährige steht hinter einem Pult. Die Halle ist voll, die Erwartungen an ihn sind hoch. Doch Lehmann-Grube klingt bescheiden, fast demütig. Der frisch gewählte Oberbürgermeister verspricht keine blühenden Landschaften. Und auch keinen schnellen Aufschwung. OT 02 (Lehmann-Grube) Wir sind - wie alle Städte in der DDR - praktisch ohne Geld. Und darum steht es zunächst schlecht. Die amtierende Stadträtin für Finanzen hatte mir versichert, bis Ende dieses Monats Juni sei noch Geld in der Kasse. Und dann? Ich weiß es nicht. AUTOR Es sind ungewisse Zeiten - und Hinrich Lehmann-Grube hat sich auf ein Abenteuer eingelassen. Der westdeutsche Jurist hat seine Arbeit in der Hannoveraner Stadtverwaltung aufgegeben, hat die DDR- Staatsbürgerschaft angenommen und steht wenige Monate später als Oberbürgermeister im Leipziger Rathaus. Nach seinem Wahlsieg jedoch wähnt er sich nicht am Ziel. Lehmann-Grube sieht sich ganz am Anfang. OT 03 (Lehmann-Grube) Ich kannte ja keinen Menschen im Rathaus und es gab keinen nach westdeutschen Muster gelernten Inspektor. Das war deshalb so wichtig, weil für mich und alle anderen klar war: Jetzt bauen wir hier eine Stadtverwaltung, eine Großstadtverwaltung nach westdeutschem Muster. Einen anderen Blueprint gab es nicht. Und nach dem haben wir gearbeitet. (MUSIK) AUTOR Zwanzig Jahre später. Lehmann-Grube sitzt in seiner Wohnung am Rand des Leipziger Stadtzentrums. Ein helles Zimmer mit großen Fenstern. Der ehemalige Oberbürgermeister blickt auf den Johannapark und die restaurierte Lutherkirche. Auf dem roten Dach des Backsteinbaus liegt etwas Schnee. Strahlend weiß. So weiß wie man ihn in Leipzig gar nicht kannte, als Lehmann-Grube hier ankam. OT 04 (Lehmann-Grube) Leipzig hat gestunken, Leipzig war grau und dreckig. Das war für meine verwöhnten Wessi-Augen das Hervorstechende. Auf der anderen Seite habe ich sehr wohl gesehen, dass hier mal eine großartige Stadt gewesen war. Nur, ich habe das immer verglichen mit einem gut angelegten Garten über den dann viele Winter gegangen sind, ohne dass er gepflegt worden ist. AUTOR Lehmann-Grube soll den Garten herausputzen. Leipzig wieder zu einer Weltstadt machen. Davon träumen die Menschen hier im ersten Frühling nach der Friedlichen Revolution. OT 05 (Christian Schulze) Wir waren einfach beseelt von der Idee, jemanden zu finden, der natürlich möglichst unser Parteibuch hat und die entsprechende Fachkompetenz mitbringt. AUTOR Christian Schulze gehörte zu jenen SPD-Genossen, die Lehmann-Grube nach Leipzig gelockt haben. Die Idee reift am Abend des 18. März 1990. Die Fernsehsender veröffentlichen die Ergebnisse der ersten freien Volkskammerwahlen. Die Sozialdemokraten haben unerwartet schlecht abgeschnitten. Sie holen nicht einmal 22 Prozent. Die Leipziger SPD will nun wenigstens die Kommunalwahlen gewinnen. Es muss ein Zugpferd her. OT 06 (Christian Schulze) Und damals gab es das Problem noch nicht, im März 1990, dass jemand, der aus dem Westen kam als ein Problem angesehen wurde. Das war überhaupt kein Thema. Im Moment waren die Leute, die aus dem Westen kamen noch die Heilsbringer. (MUSIK) AUTOR Lehmann-Grube gilt als Verwaltungsexperte. Er hat als junger Mann in der Hauptgeschäftsstelle des Deutschen Städtetags gearbeitet und danach viele Jahre als Beigeordneter für Allgemeine Verwaltung in Köln gewirkt. 1990 ist er bereits das elfte Jahr Oberstadtdirektor in Hannover. Die niedersächsische Landeshauptstadt pflegt mit Leipzig eine Städtepartnerschaft. Man kennt sich. OT 07 (Lehmann-Grube) In der Nacht vom 19. auf den 20. März. Nachts heißt um zwölf oder halb eins. Da schlief ich in Ruhe und da klingelte das Telefon. Meine Frau war gar nicht da. Und dann kam eine Anfrage aus Leipzig. AUTOR Lehmann-Grube überlegt im Frühjahr 1990 tatsächlich, sein Amt in Hannover aufzugeben. Trotzdem kommt der Anruf der ostdeutschen Genossen überraschend. OT 08 (Lehmann-Grube) In der Nacht war es mit dem Schlaf zu Ende. Und ich bin dann lange um die Graft - wir wohnten direkt an dem Herrenhäuser Garten, der umgeben ist von einem Kanal - da bin ich dann eine Runde um die andere gelaufen und habe mir das überlegt. AUTOR Während der Oberstadtdirektor grübelnd seine Runden dreht, ist Ehefrau Ursula Lehmann-Grube auf einer lang geplanten Bildungsreise. Ausgerechnet in Leipzig. Und als wäre das nicht Zufall genug, trifft sie dort auf SPD-Mann Schulze. Der erzählt ihr von den Plänen. Sie ist skeptisch. Ursula Lehmann-Grube fürchtet, ihr Mann solle in Leipzig eine Art Gallionsfigur werden. Ein Politiker, der glänzt, aber nichts zu entscheiden hat. OT 09 (Christian Schulze) Und deswegen war ihre erste Frage: Was habt ihr denn hier für eine Kommunalverfassung? Da habe ich das Wort zum ersten Mal gehört in meinem Leben. Zum allerersten Mal. Kommunalverfassung. Noch nie gehört vorher. Mit 26 Jahren. Und da habe ich zu ihr gesagt: Ich glaube, die muss er erstmal machen. Ich wusste keine bessere Antwort. Und da hat die mich vollkommen entgeistert angeguckt und in ihren Erinnerungen schreibt sie dann. Spätestens dann habe ich gedacht: Der hat 'ne Vollmeise. Was sind das für Verrückte hier, die meinen Mann nach Leipzig holen wollen? Ich habe wirklich zu ihr gesagt: Na, die muss er erstmal machen. (Lacht) Da lacht sie heute noch drüber, wenn sie sich daran erinnert. AUTOR Der Ehemann findet die Anfrage nicht ganz so verrückt. Er trommelt die Familie zusammen. Ursula Lehmann-Grube erinnert sich: OT 10 (Ursula Lehmann-Grube) Die Entscheidung hat er erst nach diesem Familienrat getroffen. Niemand war begeistert. Aber letzten Ende wussten unsere Kinder und ich wusste auch: Er konnte eigentlich gar nicht anders. Und wir waren auch der Meinung, die finden keinen besseren. Und deshalb fanden wir das dann gut, dass er das macht. (MUSIK) AUTOR Das Ehepaar packt Hab und Gut zusammen und zieht nach Leipzig. In ein ehemaliges Gästehaus der Stasi. Graue Fassade, zugige Fenster. Das Telefon funktioniert nur gelegentlich, Gespräche in den Westen benötigen Dutzende Anläufe. In den Geschäften sind die Regale meistens leer. Es ist ein Kulturschock. OT 11 (Ursula Lehmann-Grube) Ich habe das Einkaufen bald als tägliche Demütigung erlebt. Nicht der kümmerlichen Versorgungslage wegen, sondern wegen der Umgangsformen in den Geschäften. Ich habe die Verkäuferinnen, das Verkaufspersonal als schikanös erlebt. Und eigentlich noch schlimmer habe ich die Kunden als zu geduldig erlebt. Es ist mir sehr schwer gefallen anzusehen, was die Einkäuferinnen sich alles gefallen ließen von den Verkäuferinnen. AUTOR Doch das Paar arrangiert sich. Sonntags erkunden sie Leipzig oft gemeinsam mit dem Fahrrad. Im Wahlkampf staunen die Bürger über einen Politiker zum Anfassen, der ausgesprochen bescheiden auftritt. Nach seiner Wahl begnügt sich Hinrich Lehmann-Grube mit 3000 Mark Gehalt und einem dunkelblauen Lada als Dienstwagen. Statt ums Prestige sorgt er sich ums Personal. Es fehlen Mitarbeiter. Überall. OT 12 (Hinrich Lehmann-Grube) Ich brauchte einen Hauptamtsleiter, einen Personalamtsleiter, einen Dezernenten für die allgemeine Verwaltung, für den Städtebau. Für die Wirtschaftsförderung. Also das gesamte Führungspersonal der Stadtverwaltung musste neu besetzt werden. AUTOR In die Stellenausschreibung für den Wirtschaftsdezernenten schreibt Lehmann-Grube wörtlich: "Die Bezahlung entspricht nicht den Herausforderungen und der Verantwortung". Das sorgt für Aufsehen, trifft aber den Kern. Die Suche nach Personal wird für den Oberbürgermeister zur schwierigen Aufgabe, viele zieren sich. OT 13 (Hinrich Lehmann-Grube) Ich habe Personal immer sehr wichtig genommen. In einigen Fällen musste ich Überzeugungsarbeit leisten. Das ging dann bis dahin, dass ich die Leute irgendwo in ihren Wohnungen aufsuchte und mit den Ehefrauen sprach. AUTOR Auch Jürgen Zimmermann will anfangs nicht. Der parteilose Anästhesist soll Sozialdezernent werden. Als Lehmann-Grube ihn fragt, antwortet Zimmermann: Er halte sich für nicht kompetent genug. Lehmann-Grube solle einen anderen suchen. Doch der Oberbürgermeister findet keinen kompetenteren und so tauscht Zimmermann seinen Raum im Krankenhaus gegen ein Büro im Rathaus. Jeden Montagabend treffen sich alle Dezernenten mit dem Oberbürgermeister zur Dienstberatung. OT 14 (Jürgen Zimmermann) Er hat sehr kollegial mit uns zusammen gearbeitet, aber doch immer eine gewisse Distanz gewahrt. Er war der Chef. Und er hat uns - ich kann mich da gut entsinnen - bei einer Gelegenheit nach ein paar Jahren mal angeboten, ihn nicht mehr Oberbürgermeister zu nennen in seiner Dienstberatungsrunde, sondern einfach mit Namen. Und ich muss ehrlich sagen: Nicht nur mir fiel das schwer. Weil einfach diese natürliche Autorität eine gewisse Barriere aufbaute. (MUSIK) AUTOR Lehmann-Grube - gebürtiger Königsberger - führt die Stadt mit einer Mischung aus preußischer Disziplin und sächsischem Pragmatismus. Die Probleme sind überwältigend. 30.000 Wohnungen gelten als unbewohnbar, mehr als 800 Kilometer Straßennetz müssen saniert werden. Die Wasserleitungen haben 120 Jahre auf dem Buckel. Die Stadtkasse ist leer. Straßenbahn, Schulspeisung und sogar die Friedhöfe werden subventioniert. Das verschlingt Millionen. Aus eigener Kraft können sich die Kommunen nicht helfen. Das wird Lehmann-Grube schnell klar. Er wirbt in Bonn und Ost-Berlin um Unterstützung, um neue Formen der Zusammenarbeit. Oft vergeblich. OT 15 (Hinrich Lehmann-Grube) Es gab bei der politischen Klasse. Ich nehme dort die Mitglieder der eigenen Partei nicht aus. Gab es im Grunde genommen keinerlei Bereitschaft Neues zu denken und Neues zu erfinden. Es wurden die erkennbaren Schwierigkeiten finanzieller Art, organisatorischer Art wurden behandelt mit den Rezepturen aus den achtziger Jahren. Und wenn diese Rezepturen, die ja an westdeutschen Verhältnissen entstanden waren, wenn die nicht passten, dann wurde das den Patienten zur Last gelegt und nicht den Rezepturen. AUTOR Lehmann-Grube streitet gegen das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" und für eine moderate Schuldenregelung für die ostdeutschen Kommunen. Er setzt sich unermüdlich für seine neue Heimat ein. Das beeindruckt selbst politische Gegner - wie den Leipziger PDS-Politiker Lothar Tippach. OT 16 (Lothar Tippach) Ich habe ihn kennen gelernt als einen Menschen, der Argumente, die gebracht wurden in seine Überlegungen hat mit eingeschlossen. Also Argumente gewissermaßen auch in sich aufgenommen hat. Es gibt eine ganze Reihe Beispiele, wo er nach einer gewissen Überlegenszeit - manchmal dauerte das auch eine Woche - Meinungen, die er hatte, korrigiert hat. Also dieses Auseinandersetzen mit der anderen Auffassung. Ich habe das später in der Weise nicht wieder kennen gelernt. AUTOR Um die Probleme zu bewältigen, regiert Lehmann-Grube mit wechselnden Mehrheiten. Mal arbeitet seine SPD im Stadtrat mit der CDU zusammen, mal mit Bündnis90/Die Grünen. Gelegentlich auch mit der PDS. Umgesetzt wird, wofür es eine breite Zustimmung gibt. Unabhängig von parteipolitischen Interessen. Lehmann-Grubes Credo: Es gibt keine christ- oder sozialdemokratischen Abwasserrohre. OT 17 (Hinrich Lehmann-Grube) Meine westdeutschen Kollegen, die mich gelegentlich besuchten, die konnten gar nicht verstehen, wie ich hier ohne Koalition Mehrheitsentscheidungen herbei kriegen konnte. Und ich habe ihnen gesagt: Im Gegenteil. Wir sind ungeheuer schnell und beweglich, weil wir keine Koalitionsgespräche führen müssen. Wir müssen schwer wiegende Entscheidungen fällen und das geht nicht mit Koalitionsvereinbarungen. Das geht nur, wenn wir uns hart in der Sache auseinandersetzen, vielleicht streiten, aber dann zu einer Entscheidung kommen. Und dazu gehört auch, dass eben ein SPD-Mitglied oder ein CDU-Mitglied dann mal sagt: Nein, tut mir leid, da kann ich nicht mit stimmen; ich stimme dagegen. Das war völlig akzeptiert. AUTOR Bald trägt sein Politikstil den Namen "Leipziger Modell". Doch auch für wechselnde Mehrheiten müssen Stadträte überzeugt werden. Der Oberbürgermeister schuftet oft 14 Stunden täglich. Manchmal steht der schmächtige Mann fast vorm Kollaps. Abends kommt er bleich und abgespannt nach Hause. OT 18 (Ursula Lehmann-Grube) Das war die schiere Arbeitslast. Und ich habe noch im Ohr, wie er immer wieder davon sprach, dass man keinen Grund unter den Boden kriegt, dass man immer wieder einbricht zum Teil etwa bei Stasi oder alten Kadern. (MUSIK) AUTOR Im November 1990 gibt es Ärger mit Messe-Direktor Siegfried Fischer. Er hat die elf städtischen Messehäuser an eine dubiose Mannheimer Firma vermietet. Für 25 Jahre. Und ohne Rücksprache. Fischer wird entlassen. Wenige Monate später entpuppt sich der Kulturstadtrat Bernd Weinkauf als ehemaliger Stasi-IM. Auch er muss gehen. Derweil wächst bei der Bevölkerung die Enttäuschung über die Wiedervereinigung. Ab 1991 demonstrieren die Leipziger wieder montags vor der Nikolaikirche. OT 19 (Collage) Kohl muss weg. Den Menschen hier steht das Wasser bis zum Halse. In Bonn aber erlaubt man sich seit Wochen den Luxus einer ideologischen Grundsatzdebatte und blockiert weiter notwendige Investitionen. Kohl muss weg. AUTOR Der Unmut richtet sich vor allem gegen Bundeskanzler Helmut Kohl. Hinrich Lehmann-Grube kommt seine Zurückhaltung im Wahlkampf zu Gute. OT 20 (Ursula Lehmann-Grube) Er machte keine Versprechungen. Eine aber doch. Das betraf die Straßenbahn. Die Straßenbahn in Leipzig kam immer rudelweise. Also es kam ganz lange keine Straßenbahn und dann kamen alle hintereinander. Und er sagte, er versprach im Wahlkampf: Er würde dafür sorgen, dass ordentliche Fahrpläne eingehalten würden. Diesen Unsinn würde er schnell abstellen. Nicht mal das Versprechen konnte er halten, denn dieses rudelartige Auftreten von Straßenbahnen lag daran, dass eben auch die Infrastruktur vollkommen kaputt war. Ständig war an den Schienen was. AUTOR Ursula Lehmann-Grube hat in Leipzig Tagebuch geführt. Liest man ihre kürzlich veröffentlichen Aufzeichnungen, so erscheinen die Jahre 1990/91 wie eine Achterbahnfahrt. Eine wilde Abfolge aus Höhen und Tiefen, die ihrem Mann dutzende schlaflose Nächte beschert. OT 21 (Hinrich Lehmann-Grube) Nein, an Rücktritt habe ich nie gedacht. Ich habe oft daran gedacht: Wenn ich jetzt mit einem Herzinfarkt oder aus welchen Gründen auch immer tot umfalle, dann bin ich fürs Vaterland gestorben. Ich hatte mir gesagt: Das wird jetzt endlich mal eine große nationale Friedensaufgabe. Und dafür muss man sich einsetzen. Und wenn es dann unbedingt sein muss, das eigene Ableben oder schwere Leiden in Kauf zu nehmen. Das war mir ein durchaus vertrauter Gedanke. AUTOR In Leipzig hat der Bürgermeister bald einen Spitznamen: der Eiserne Hinrich. In Rekordzeit baut er die Verwaltung auf. Danach gehen Investoren im Rathaus ein und aus. Die Messe bekommt einen neuen Standort. Quelle baut ein Versandzentrum. Der denkmalgeschützte Hauptbahnhof wird restauriert. In keiner anderen Stadt gibt es Mitte der neunziger Jahre so viele Baukräne je Quadratkilometer. "Leipzig kommt", lautet der Slogan. Die Stadt scheint endlich den Boom zu erleben, den sie so lange ersehnt hat. Doch es gibt Mitte der neunziger Jahre auch kritische Stimmen, wie den PDS-Stadtrat Reiner Engelmann. OT 22 (Reiner Engelmann) Das Problem ist einfach, dass ich und meine Fraktion das Gefühl haben, dass wir wahnsinnig dabei sind, uns in dieser Stadt zu übernehmen. Wir haben also gesagt, es ist notwendig, eine Stadt einer neuen Bescheidenheit zu gründen. Das heißt nicht, auf gewisse Standards zu verzichten, aber nicht sozusagen glänzen zu wollen mit Dingen, die nun nicht unbedingt notwendig sind. AUTOR Die Mehrheit der Leipziger sieht das anders. 1994 wird Lehmann-Grube wiedergewählt. Am 30. Juni 1998 scheidet er aus dem Amt. Zwei Jahre früher als er laut Kommunalverfassung müsste. Doch seiner Frau hat er immer versprochen: Mit 65 Jahren ist Schluss. Heute ist es fast unmöglich, kritische Stimmen über ihn zu finden. Selbst ehemalige PDS-Politiker wie Lothar Tippach nennen Lehmann-Grube einen Glücksfall für die Stadt. OT 23 (Lothar Tippach) Er wohnt heute noch in Leipzig. Er engagiert sich in vielen Ehrenämtern in Leipzig. Und das wird schon nicht nur anerkannt, sondern wird schon gut gefunden, dass er gewissermaßen - das klingt jetzt vielleicht ein bisschen überhöht - einer von uns geworden ist. Ich bin Leipziger. Also ein Leipziger nicht durch Geburt sondern durch sein Verhalten zu dieser Stadt geworden ist. AUTOR Der parteilose erste Sozialdezernent Jürgen Zimmermann meint: OT 24 (Jürgen Zimmermann) Das Besondere an Lehmann-Grube war, dass er sich in spezifisch ostdeutschen Belangen, die also mehr das Ideologische und das Ideelle beinhalteten, sehr, sehr zurückgenommen hat. Bei Entscheidungen, die die Mentalität der Leipziger betrafen, hat er gefragt: Was meinen Sie? Er hat uns gefragt, die wie hier groß geworden sind, die hier die Menschen kennen. Und hat sich sehr danach gerichtet. (MUSIK) AUTOR Leipzig hat heute drei noch lebende Ehrenbürger: den Dirigenten Kurt Masur, den Schriftsteller Erich Loest - und Hinrich Lehmann-Grube. Er hat den alten Glanz von Leipzig wieder zum Vorschein gebracht. Aber die Stadt hat auch ihn verändert. Im Alten Rathaus hängt heute ein Portrait von Lehmann-Grube. Es zeigt den Ex-Oberbürgermeister...mit schief sitzender Krawatte. Leipzig hat den gebürtigen Preußen lockerer gemacht. OT 25 (Hinrich Lehmann-Grube) Die Entscheidung nach Leipzig zu gehen von Hannover, um hier Oberbürgermeister zu werden für acht Jahre, habe ich keine Minute bereut. Aber ich habe oft gedacht, ich stehe es nicht durch. - ENDE - 14 1