Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 13. Dezember 2010, 19.30 Uhr (aktualisierte Wiederholung vom 15.2.2010) Brav geprügelt Ehemalige Heimkinder fordern ihre Rechte ein Eine Sendung von Barbara Zillmann Musik Regie: ruhige Pianomusik, minimalistisch, hier etwas melancholisch Sprecher Uwe ist vier, als er ins Heim kommt, kurz nach Kriegsende. Sein Vater ist gefallen. Die Mutter bringt ihn und den Bruder zur Fürsorge. Im christlichen Heim hört er, wie die "Tanten", die Erzieherinnen, über einen anderen Jungen sprechen. "Wenn du ihn schlägst", sagt die eine, "dann soll er sich bei dir bedanken. Sonst machst du weiter, bis er gehorcht." Spr. vom Dienst Brav geprügelt Ehemalige Heimkinder fordern ihre Rechte ein Ein Feature von Barbara Zillmann Sprecher Vom 4. bis zum 21. Lebensjahr lebt Uwe, der anonym bleiben will, in verschiedenen Heimen einer evangelischen Stiftung. Wenn er davon spricht, kommt das Herzrasen, kommt die Atemnot. Zur Beruhigung legt Uwe gern Musik auf. Auch das hat mit dem Heim zu tun. Denn er durfte im Knabenchor singen: Schubertlieder, Volksweisen, Bachkantaten. Dann war der Junge vor Prügeln sicher. Und dann, sagt er heute mit leisem Stolz "dann hatte ich eine tragende Stimme". Musik noch mal hoch Sprecherin Erst seit kurzem werden die Stimmen der ehemaligen Heimkinder in der Bundesrepublik gehört. Etwa 800.000 Mädchen und Jungen lebten zwischen 1949 und 1970 in Heimen, zwei Drittel in der Obhut der Kirchen. O-Ton 1 Hügel Ich bin dann oft einfach geschlagen worden mit dem Argument, n Teufel steckt in mir. Ich hab einfach oft Prügel bekommen und wusste wirklich nicht, warum. Sprecherin 2006 hatte das Buch des Journalisten Peter Wensierski "Schläge im Namen des Herrn" Türen der Erinnerung geöffnet. Immer mehr ehemalige Heimkinder erzählen seitdem von körperlicher und seelischer Misshandlung, von erzwungener Arbeit ohne Lohn, von entgangener Bildung und sexuellem Missbrauch. Öffentlich fordern sie Aufklärung, auch Entschädigung, wenden sich schließlich an den Petitionsausschuss des Bundestages. Hier wird ihr Anliegen ernst genommen, und der Ausschuss fasst im November 2008, nach zahlreichen Anhörungen und Gesprächen, einen ungewöhnlichen Beschluss: Zitator Fraktionsübergreifend besteht Konsens darin, dass die Aufarbeitung in dem üblichen parlamentarischen Verfahren allein nicht gewährleistet werden kann, sondern weit darüber hinausgeht, ... Der Petitionsausschuss vertritt die Auffassung, dass die Anliegen der Heimkinder, ... im Rahmen eines Runden Tisches einer Lösung zugeführt werden sollen. Sprecherin Am 17. Februar 2009 tritt der "Runde Tisch Heimerziehung" erstmals zusammen. 19 Vertreter von Bund, Ländern, Kirchen, Wissenschaft, Jugendhilfe und Justiz sowie drei ehemalige Heimkinder gehören dem Gremium an. Seine Aufgabe: die historischen Fakten zu klären und Möglichkeiten einer Wiedergutmachung zu prüfen. Doch die einzelnen Taten sind meist verjährt. Manches, was heute verboten ist, etwa die Prügelstrafe, war damals erlaubt. Auch sonst sei die nachträgliche Entschädigung ein juristisches Problem, sagt Antje Vollmer, Politikerin der Grünen und Vorsitzende des Runden Tisches Heimerziehung: O-Ton 2 Vollmer Es war ein Rechtsstaat, in dem Unrecht passierte, und im System Heimerziehung passierte Unrecht über einzelnes Vergehen hinaus. So wie es ist, kann da aber nur die Gesellschaft darauf antworten. In mancher Hinsicht haben wir's mit unserem Runden Tisch viel schwerer als die, die - sagen wir mal - NS-Zwangsarbeit behandeln oder Stasi-Unrecht. Denn da konnte man immer sagen, das war ein Unrechtsregime, das gibt es nicht mehr, und als Nachfolgestaat ist die Bundesrepublik der Überzeugung, sie sollte da was tun. Aber dass die Bundesrepublik über die Bundesrepublik sagt, in Teilen ist da so viel Unrecht passiert, das ist rechtlich ganz schwierig. Sprecherin Was nicht sein darf, das nicht sein kann? Es seien Einzelfälle, besonders schlimme Heime, unfähige Erzieher, hieß es zunächst. Der Zwischenbericht, den der Runde Tisch Anfang des Jahres vorgelegt hat, stellt jedoch klar: Misshandlungen und Demütigungen gingen weit über Einzelfälle hinaus und waren Teil eines staatlich getragenen Erziehungssystems. Manfred Kappeler hat das schon um 1970 aufgedeckt. Der emeritierte Pädagogikprofessor ärgert sich deshalb über das Erstaunen und die Abwehrstrategien heutiger Verantwortungsträger. Was macht den kritischen Blick auf die frühere Bundesrepublik so schwer? O-Ton 3 Kappeler Da müssten sie ja auch ihr Bild von dieser Nachkriegsbundesrepublik revidieren, sie müssten ja diese ganze beschworene Aufstiegspropaganda, wie sie jetzt anlässlich 60 Jahre Grundgesetz im vergangenen Jahr uns jeden Tag um die Ohren geflattert ist - wie ein Phönix aus der Asche hat sich diese wunderbare Republik aus Krieg und Faschismus erhoben, ja. Für welche Opfer! Und was steckt da alles dahinter! leise Pianomusik, Anmutung Nachkriegszeit, darüber O-Ton 4 Ika Hügel Damals ist man einfach davon ausgegangen, dass man uns in dem ganz allgemeinen Stadtbild ja nicht sehen wollte, also wir verkörperten ja allein schon durch die Hautfarbe, dass Deutschland auch den Krieg verloren hat, und man hat schon versucht, gerade Kinder von schwarzen GIs, also von schwarzen Soldaten, außer Landes zu bringen. Viele sind auch in die USA adoptiert worden, soweit das möglich war, aber wie bei meiner Mutter, die hätte mich nie zur Adoption freigegeben. Also man hat schon versucht, uns aus der Gesellschaft so ein Stück weit auszusondern. Sprecherin Ika Hügel-Marshall galt als sogenanntes Besatzungskind - ihre Mutter hatte sich in einen amerikanischen Soldaten verliebt. Zur Heirat kam es nicht. Automatisch übernahm das Jugendamt bei ihr wie bei allen nichtehelichen Kindern die Vormundschaft. O-Ton 5 Hügel Man hat damals gerade so den weißen Müttern, und meine Mutter gehörte dazu, sehr nahegelegt, uns doch in Heime zu geben, so nach dem Motto, wir wären ja doch ziemlich vielen Diskriminierungen ausgesetzt, und eigentlich hätten wir nicht wirklich ne Chance, wenn wir da blieben in unseren Heimatstädten oder Dörfern, das war so das Argument. Es sei wirklich besser für die Kinder, wenn man sie ins Heim gäbe. Es war natürlich überhaupt gar nicht wahr, ja? Anstatt dann solchen Müttern ne andere Form von Unterstützung zu geben, das haben sie natürlich nicht gemacht. Sprecherin Vom 7. bis zum 15. Lebensjahr lebte Ika Hügel-Marshall in der "Kinderheimat Gotteshütte" im Bergischen Land. Wie ihre Mutter litt sie unter der Trennung. Aber schlimmer war für das Kind die Einsamkeit im Heim. O-Ton 6 Hügel So mein extremstes Erlebnis war, dass die Erzieher denn auch mit der Wurzelbürste in meinem Gesicht gekratzt haben, um den Kindern zu demonstrieren, ich bin nicht aus Schokolade, sondern ich bin eben schwarz, also da entsteht zum ersten Mal auch n Bewusstsein des Andersseins. Das war schon anders als zuhause. Das war ne Kleinstadt, man kannte sich doch, jeder wusste auch, wo ich hingehöre, wer meine Mutter ist, das war schon anders. Und im Heim hat wirklich für mich der Horror kann man sagen angefangen. Sprecherin Irgendwann wollen die christlichen Schwestern dem Mädchen - den Teufel austreiben. Unter Gebeten und Schlägen wird es gequält, bis es sich zitternd übergeben muss. Darüber kann Ika der Mutter später nichts erzählen. Zu kostbar ist die Zeit, wenn sie einmal in den Ferien nachhause darf. Zur Oma, zur kleinen Schwester und der Mutter, die inzwischen einen Deutschen geheiratet hat. Das Chaos der ersten Nachkriegsjahre beginnt sich zu ordnen. O-Ton 7 Vollmer Und dann kamen aber plötzlich sehr rigide Moralvorstellungen dazu. Das war ja auch so, die Frauen sollten wieder in die Familie, die ja die letzten Kriegsjahre eigentlich die Familien hochgehalten haben, die Männer waren in ihrer Autorität abgrundtief geschädigt - und dann waren es oft aus heutiger Sicht minimale Anlässe - gerade junge Mädchen kamen schnell unter den Aspekt, sie verwahrlosten und man müsste sie jetzt unter ganz rigide Aufsicht bringen, Unehelichkeit, ein Massenphänomen in den ersten Nachkriegsjahren galt als soziale Schande, und aus all diesen Gründen war das Heim natürlich eine Möglichkeit, dass die Erwachsenen ihren Schein besser aufrechterhalten konnten. Sprecherin Den Schein einer neuen Bürgerlichkeit, sagt Antje Vollmer, in der vieles störte. Vor allem unangepasste, selbstbewusste Jugendliche. Wie Rolf Breitfeld. O-Ton 8 Rolf Breitfeld Ich war gerade dreizehn Jahre alt, da befragte mich ein Turnlehrer in der Schule nach meinen blauen Flecken und Striemen, und ich habe ihm gesagt, das hat mein Vater gemacht. Er hat nichts mehr gesagt, und wahrscheinlich nur telefoniert, ich wurde am selben Tag in der Schule abgeholt. In diesem Auffangheim - als ich nach drei Wochen zaghaft gefragt hab, wie das Leben denn so weitergehen wird, da wurde mir geantwortet von einer Erzieherin, wir müssen erstmal wissen, was du gemacht hast. Nichts hatte ich gemacht. Sprecherin Doch: Kinder sind immer schuld. Ihnen wird nichts angetan, sie tun Böses, und liefern ständig Gründe zur Empörung. Diese Auffassung hat Rolf Breitfeld immer wieder erlebt. Nach einer Zwischenzeit bei der Mutter und ihrem Geliebten muss er wieder ins Heim. Da ist er sechzehn und möchte vor allem eines: seine Autoschlosser-Lehre abschließen. O-Ton 9 Rolf Breitfeld Es wurde mir direkt gesagt, ich komme in ein Lehrlingsheim! Sonst wäre ich mit diesen Leuten gar nicht mitgekommen, ich hätte mich damals schon dagegen gewehrt. Und so bin ich mit einer Fürsorgerin mit Chauffeur in der Dienst-Uniform los, im schwarzen Opel Rekord fuhren wir nach Neumünster, und ich kam dann in die freiwillige Erziehungshilfe. Da war aber nichts freiwillig. Sprecherin Denn statt Lehrling ist er nun Hilfsarbeiter. Jeden Morgen wird Rolf Breitfeld vom Heim aus zu einer Glashütte gefahren. O-Ton 10 Breitfeld Da hab ich das gute 14 Tage ausgehalten, und dann bin ich nachts durchs Toilettenfenster getürmt. Ich war ja damals schlank. Unterwegs - ich bin vorher niemals kriminell gewesen - unterwegs hab ich n Fahrrad geklaut, habe das nach Benutzung stehengelassen, das war bei diesem Mal eigentlich das einzige. Und dann kam ich ins Landesjugendheim Schleswig. Das war dann schon Fürsorgeerziehung. Sprecherin Eine Stufe weiter nach unten. Eine Stufe weiter in der Karriere eines Heimkindes. O-Ton 11 Breitfeld Dazu muss ich sagen, ich wurde dazu niemals von einem Richter befragt, was eigentlich Vorschrift war, bekam eine schriftliche Mitteilung, habe einen Brief dagegen geschrieben, der nicht beantwortet wurde. Sprecherin Doch das Prinzip "Jeder hat vor Gericht das Recht auf Gehör" hatte die Bundesrepublik in ihrer Verfassung verankert, ebenso die Menschenwürde und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Professor Manfred Kappeler: O-Ton 12 Prof. Kappler Das ist im Grundgesetz verbrieft für jeden Bürger, jede Bürgerin der Bundesrepublik, und natürlich auch für Kinder und Jugendliche. Und dieser Anspruch auf rechtliches Gehör ist ja einer der zentralen Punkte - die Verweigerung dieses Anspruchs hat dazu geführt, dass diese Systeme hermetisch abgedichtet bleiben konnten. Niemand, keine Instanz in diesem ganzen System, obwohl sie juristisch vorgesehen waren, hat den Kindern Gehör geschenkt. Es gab keine Möglichkeit für sie, irgendeinen unabhängigen Ort der Beschwerde, der Klage zu finden, der sich verpflichtet gefühlt hätte, dem nachzugehen. Musik Sprecher Manchmal, im großen Schlafsaal, wird Uwe durch Schläge aus dem Schlaf gerissen. Auf die Frage, warum, antwortet der Erzieher zynisch: "Für das, wobei ich dich nicht erwischt habe". Uwes Bettnässen wird immer schlimmer, und manchmal muss er sein nasses Laken an einer Fahnenstange durch den Speisesaal tragen - unter dem Gelächter der anderen. O-Ton 13 Ika Hügel Ich hab nur sone ganz vage Erinnerung, dass ich oft geschlafen hab, und dass irgendein Kind dann sagte, die macht Schweinereien, wo ich überhaupt nicht wusste, worum es jetzt ging. (lacht) Und das andere Mal weiß ich, dass ich mal nachts wachgeworden bin und ich mich gut erinnere, dass man mir die Decke weggezogen hat, und mich angeguckt hat, aber ich hab ja die Augen nicht aufgemacht. Das sind ja so Gefühle, die man - ich kann auch den Gefühlen noch keinen richtigen Namen geben, aber ich fand es, wenn ich es heute ausdrücken würde, ich fand es total übergriffig. Es hat für mich auch mit Gewalt zu tun. Sprecher Manchmal hört Uwe, wie andere Kinder aus dem Schlafsaal in den Duschkeller geschickt werden, dort müssen sie auf einem kalten Holzrost liegen. Andere werden zu den Erziehern aufs Zimmer gerufen und missbraucht. Uwe selbst hat das nicht erlebt, sagt er. Aber er weiß, wie das Leiden der Kinder manche Erzieher regelrecht in Fahrt bringt: so meldet er sich immer als erster zum wöchentlichen Prügelappell - da hat er es schneller hinter sich, und kann sich bei den Schreien der anderen die Ohren zuhalten. O-Ton 15 Ika Hügel ich sag mal so provokant, ich hätte lieber mal öfter ne Ohrfeige gekriegt oder gleich ne Strafe, als so diesen Abstand von zehn Tagen, dann praktisch wie im Gänsemarsch anzutreten, sich da aufzustellen, und dann die Hose runterzuziehen, sich zu bücken, und dann geschlagen zu werden. Das fand ich - ich mein, auch jedes Kind hat n Recht auf ne Intimsphäre, und ... diese Form von Strafen fand ich dermaßen was von sadistisch! O-Ton 14b Antje Vollmer Ich glaube, dass in der frühen Zeit der Bundesrepublik ein Stückchen überzogener Reaktion zum Ausdruck gekommen ist, nämlich in dem Sinne, das Chaos, auch das moralische Chaos, das wir hinter uns haben, dieses, das wir an uns selber nicht verstehen an Verbrechen, der jungen Generation muss das von Anfang an mit einem ganz autoritären Gegenbild - ihr gehorcht, ihr ordnet euch unter, ihr seid jetzt bürgerlich, ihr seid jetzt diszipliniert, ihr erlaubt euch keine Freiheiten mehr, ihr erlaubt euch keine Lebensexperimente mehr - denen eingebläut zu werden. Musik Sprecher Uwe ging zur Schule. Aber auch die gehörte zum Heim. Und der Erzieher war zugleich der Lehrer. Er erzählte vom Krieg, ansonsten lernten sie die Bibel und das Gesangsbuch auswendig. Rechnen und Schreiben, so erinnert sich Uwe, nur in Grundzügen. Ein Zeugnis gab es nicht. Dafür aber auch hier "Tatzen", Schläge auf den Handrücken. O-Ton 16 Ika Hügel Ich weiß, das einmal eine Lehrerin - früher hat man ja Gedichte geschrieben, und dann sollte man was drunter malen, und ich hab gemalt. Und die hat mein Heft genommen und gesagt: guckt mal, wie schön die Erika, so wie ich damals mich genannt hab und heiße, wie schön die gemalt hat. Ich male heute noch. Und das hat mich wahnsinnig beflügelt. Damit will ich nur sagen, es hat immer Menschen gegeben, die trotzdem an mich geglaubt haben, das hat mich wirklich richtig gerettet! Sprecherin Obwohl die Lehrerin es vorschlägt, darf das Kind nicht aufs Gymnasium. "Aus dir wird nichts, deine Mutter ist eine Negerschlampe." So etwas hört das Mädchen oft von den frommen Schwestern. Noch lebt die Rassenlehre der Nazis in vielen Köpfen, noch spricht man davon "Unerziehbare auszusondern". O-Ton 17 Breitfeld Wer dort in Schleswig mehrmals weggelaufen war, der kam zur Beobachtung in die Psychiatrie, und dies wurde als Bestrafung deklariert. Ich wurde nicht mehr geprügelt, ich hab da sogar freiwillig gearbeitet, in der Gärtnerei, steht sogar in meiner Akte, dass ich da sogar gut war. - Eines Tages hieß es: Sachen packen. Es erschienen zwei kräftige Herren, die mich in Handschellen gelegt haben, zu einem Kleinbus gebracht haben, da saß noch ein dritter, der sich als Psychologe vorstellte, und mir sagte, dass es nach Glücksstadt geht. Von Glücksstadt hatte ich ja nun schon reichlich gehört. Also es wurde im Heim mit Glückstadt gedroht als letzte Station. Sprecherin Glücksstadt, die Landesfürsorgeanstalt Schleswig Holstein, hatte als Gefängnis Tradition. In der NS Zeit war sie ein Straflager für "Arbeitsunwillige" und Zwangsarbeiter. Die Karte, die dort noch 1950 verwandt wurde, sagte alles: "Lagerkommandant" war durchgestrichen, stattdessen stand da: Heimleiter. Der "Häftling" wurde zum Zögling, und das Personal weitgehend übernommen. Aber auch hier flitzt Rolf. Dafür muss er in die "Box", eine schalldichte Zelle, innen ein Gitterkäfig, nur ein Klo ohne Spülung, Tage ohne Essen und Schlaf, das Licht bleibt immer an. O-Ton 18 Breitfeld Was man da alles zu befolgen hatte, das ging gar nicht. Man durfte noch nicht mal die Hände in den Hosentaschen haben. Also Widerworte gingen überhaupt nicht. Da wurde gleich auf einen eingeprügelt. Sprecher Als Uwe einmal flüchtet, weil er Misshandlungen und Einsamkeit nicht mehr aushält, sucht er Schutz bei der Polizei. Da gibt man ihm zunächst eine Stulle und ein Bier, schenkt ihm Gehör. Doch als der Heimleiter kommt und sagt: alles Lüge - da glaubt ihm niemand mehr. O-Ton 19 Vollmer Und das machte den Weg ins Heim für die Kinder so rettungslos. Weil sie keinen Begleiter hatten. Keine Stelle, wo sie sich vertrauensvoll hätten hinwenden können. Und wenn man jetzt die einzelnen Geschichten sieht, ist das für alle das Schlimmste. Dieser Weg ohne Wiederkehr, ohne Revision. Ohne noch malige Überprüfung. Sprecherin Eine demokratische Kontrolle der geschlossenen Erziehungssysteme fand nicht statt. Zucht und Ordnung waren im Interesse des Staates, auch wollte niemand den mächtigen kirchlichen Trägern auf die Finger schauen. Amtsvormünder, die sich um das Wohl der Zöglinge kümmern sollten, kannten die Kinder oft nur nach Aktenlage. Hätten die Jugendbehörden in den 50er und 60er-Jahren nicht einschreiten müssen, wenn sie von Gewaltorgien im Namen des Kindeswohls erfuhren? Wenn sie sahen, dass eine "angemessene Unterbringung" nicht möglich war, dass Kinder, obwohl sie sich positiv entwickelten, nicht entlassen wurden, sondern wie Gefangene lebten? Ein gesellschaftlicher Konsens stand dagegen, den erst die Proteste der 68er Bewegung erschütterten. O-Ton 20 Kappeler Und dabei hat es auch schon in den 50er-Jahren in der Fachpresse Auseinandersetzungen gegeben über die Rechtsposition der Kinder und Jugendlichen in der Heimerziehung. Und schon in den 60er-Jahren wurde immer wieder in der Fachpresse darüber debattiert, dass Kinder und Jugendliche Träger von Grundrechten und von Menschenrechten sind. Aber es gab sozusagen nicht die Rechtspraxis im Alltag der Republik, die das bestätigt hätte. Sprecherin Es dauerte bis in die 70er-Jahre, bis das bundesdeutsche Verfassungsgericht die Züchtigung in öffentlichen Einrichtungen verbot und eine umfassende Heimreform auf den Weg brachte. 2001 wurde die Prügelstrafe dann auch in Familien untersagt. Was bleibt, sind die Verletzungen in der Seele und dem Selbstbild der ehemaligen Heimkinder. Viele sehen sich um Lebenschancen betrogen - durch entgangene Bildung, verweigerte Berufszugänge, nicht gezahlte Löhne oder Rentenbeiträge. O-Ton 21 Breitfeld Ich erwarte erst mal eine Rehabilitation, so ungefähr wie jemand, der unschuldig im Gefängnis gesessen hat. Eine Entschuldigung, Anrechnung meiner Arbeitszeiten, meiner Zwangsarbeit auf die Rente, ich würde auch gerne meine nicht bezahlte Arbeit endlich mal bezahlt bekommen! Ich habe diese Arbeit nicht freiwillig verrichtet, ich bezieh mich da auf Artikel 12 des Grundgesetzes, und es gibt auch noch einige andere Definitionen von Zwangsarbeit, das ist ganz klar Zwangsarbeit gewesen. Diese Arbeit wurde unter Androhung von Schlägen und Arrest erzwungen. O-Ton 23 Ika Hügel Ich finde, dass die Kirchen genauso verantwortlich sind auch ne Entschädigung zu zahlen, wie der Staat selber auch. Das ist wirklich etwas was ich erwarte und ich muss schon sagen, es würde meiner Seele sehr gut tun, wenn ich wirklich das Gefühl hätte, für das, was mir angetan worden ist, ne Entschädigung zu bekommen, ja, mir geht es überhaupt nicht um die Summe - es geht mir um dieses - für mich hat das auch was mit Ethik zu tun, ja, dass ich wirklich finde, dass das auch ne Form von Entschuldigung ist, und etwas, was wir auch gebrauchen können, ich hab - mühsam mir mein Leben aufbauen müssen und hab vieles entbehrt, was andere nicht entbehrt haben, ja, ich sag das einfach mal so. Musik Sprecherin Heute hat in Berlin der Runde Tisch Heimerziehung seinen Abschlussbericht vorgestellt und darin Vorschläge für eine Wiedergutmachung unterbereitet. Wie kann eine Entschädigung aussehen, und wer soll sie unter welchen Bedingungen bekommen? Ehemalige Heimkinder fordern eine pauschale monatliche Rente von 300,- Euro oder eine Einmalzahlung von 54.000 Euro. Darüber stritt der Runde Tisch bis zuletzt. Er hatte psychologische und juristische Gutachten zur damaligen Heimerziehung und ihren Folgen eingeholt. Antje Vollmer, die Moderatorin des Runden Tisches, fasst die ernüchternde Bilanz zusammen: O-Ton Vollmer 2 Nachdem wir zu der gemeinsamen Erkenntnis gekommen sind, - es gab ein System Heimerziehung, an dem alle zu ihrem Teil Träger und mitverantwortlich waren, war die Frage, war das auch aus damaliger Sicht Unrecht. Und aus damaliger Rechtslage. Und auch das haben wir festgestellt. Das heißt, wenn nicht verjährt wäre, hätten da eindeutig Rechtsansprüche bestanden. Sprecherin Weil in den Heimen mehr oder weniger systematisch Verfassungsrecht gebrochen wurde. Doch eine Erweiterung der Verjährungsfristen hätte die Opfer mit aufwändigen Beweisverfahren belastet, so Antje Vollmer, und sei zudem nicht durchsetzbar gewesen, ebenso wenig eine pauschale Entschädigungslösung: O-Ton Vollmer 1 Es war nicht möglich und es wäre auch nicht wahrheitsgerecht zu sagen, allein die Tatsache der Heimunterbringung erfüllt den Anspruch auf Entschädigung. Das wäre in keinem Parlament der Bundesrepublik durchgekommen und hätte ja auch ungeheure Folgen. Sprecherin Ein pauschaler Rechtsanspruch könnte ein Präzedenzfall sein für andere Opfergruppen wie Psychiatrieinsassen, Behinderte oder Opfer sexuellen Missbrauchs. Antje Vollmer präsentierte stattdessen das Modell eines Stiftungsfonds, der die individuellen Folgeschäden der Heimerziehung und "entgangene Lebenschancen" berücksichtigen soll: O-Ton Vollmer 3 Das heißt, ich muss nur einigermaßen glaubwürdig machen, dass weil jemand im Heim war, er heute in seinem Lebensglück und in seinen Lebensfähigkeiten eingeschränkt ist, dann ist er bereits berechtigt, an diesen Fond heranzutreten und mit dem zu überlegen, was man tun kann, um ihm speziell in seiner besonderen Situation zu helfen. Sprecherin Therapiekosten, Fahrkosten, Hilfen zur ambulanten Krankenpflege im Alter, aber auch ein Ausgleich für entgangene Rentenzahlungen sollen gewährt werden. Sie dürfen nicht mit anderen Sozialleistungen verrechnet werden und können sich im Einzelfall summieren. O-Ton Vollmer 4 Und wenn wir dazu sagen, es soll in den Regionen Anlaufstationen geben - und die werden darauf geschult, mögliche Hilfen anzubieten und die Beweispflicht sehr flach zu halten, also es reicht zu sagen, der war da und da und haben heute Dinge, die sie immer noch an dieses Schicksal binden. Dann ist, glaub ich, die Hürde so niedrig, wie man sie nur machen kann. Sprecherin Der Fonds soll mit 120 Millionen Euro starten, die Kirchen, Bund und Länder zu gleichen Teilen aufbringen. Das wären bei etwa 30.000 Antragstellern im Durchschnitt 4000 Euro pro Person. Bei Bedarf soll der Fonds aufgestockt werden. Ehemalige Heimkinder, die am Runden Tisch vertreten waren, haben dieses Ergebnis hart erstritten. Für andere Heimkinder bleibt das jedoch ein Almosen. Die Arbeit des Runden Tisches Heimerziehung hat es möglich gemacht, über ein beschämendes Kapitel der frühen Bundesrepublik öffentlich zu sprechen. Ehemalige Heimkinder sind aus der Isolation getreten. Doch bis sie endlich Hilfe bekommen, müssen weitere Hürden überwunden werden. Zeitliche Zusagen haben die Bundesländer am Runden Tisch nicht gemacht. O-Ton Vollmer 5 Also dieser ganze Prozess von zwei Jahren war ja sehr kompliziert und hat alle fast an die Grenzen ihres Vermögens gebracht, aber jetzt muss es wirklich schnell gehen. Also ich bitte dringend, die Parlamente, das noch jetzt 2011 in die Gänge zu bringen und auch für den Übergang ne Adresse zu schaffen, wohin die Betroffenen ihre Wünsche und personalen Unterlagen schicken können, damit wir nicht jetzt was beschließen sogar mit Geld, mit Strukturen und Öffnungen von Möglichkeiten, und dann wieder abgewartet werden muss. Musik Sprecherin Was ist aus dem afrodeutschen Mädchen Ika, dem stillen Uwe, und Rolf, dem selbstbewussten Kämpfer aus Glücksstadt geworden? Uwe machte nach seiner Heimzeit eine Lehre als Restaurantfachmann, er wurde Barchef in einem Gourmet- Restaurant. Rolf Breitfeld fuhr zur See, er ist Frührentner - wegen seiner Schwerbehinderung: Rücken und Nerven, sagt er. Er begleitete kritisch den Runden Tisch und ist empört über das Ergebnis. Ika Hügel-Marshall wurde Sozialarbeiterin und Dozentin an einer Fachhochschule für Sozialarbeit in Berlin. Ihre Erfahrungen als Heimkind hielt sie in einem Buch fest. Sie bekommt eine geringe Rente und hofft nun, dass man ihr bald unbürokratisch entgegenkommen wird. Neu O-Ton Ika Hügel 1 ... also es würde mir schon sehr schwer fallen Anträge zu stellen, wo ich denk, Mensch, ihr wisst eigentlich ganz genau was los ist. Es war ja nicht nur die Hautfarbe, man war ja Freiwild, man hat sich gefühlt wie der letzte Dreck, ja? Sprecherin Ika Hügel-Marshall spricht eine Sorge aus, die viele Heimkinder umtreibt: Neu: O-Ton Ika Hügel 3 Ich würde mich, glaub ich, eher umbringen als mich in irgendein Pflegeheim zu begeben. Und ich merk das schon, ja, alleine solche Institution zu betreten, ich fang an zu schwitzen, mein Herz rast, ich zeig ganz schnelle Fluchttendenzen, also da spielt sich ne Menge ab, und es dauert verdammt lange, bis man wieder zur Ruhe kommt - und ich will es einfach nicht! Ich will es nicht, dieses Gefühl - ich empfand es ja auch wie ein Gefängnis - möchte ich einfach nicht mehr haben. Und ich hab auch n Recht darauf, das nicht mehr zu haben, dieses Gefühl. Musik, darauf Absage Spr. vom Dienst Brav geprügelt Ehemalige Heimkinder fordern ihre Rechte ein Ein Feature von Barbara Zillmann Es sprachen: Nadja Schulz-Berlinghoff und Markus Hoffmann Ton: Ralf Perz Regie: Rita Höhne Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 14 1