COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. DeutschlandRadio Kultur Redaktion: Dorothea Westphal Fluchtwege im Zeilengrund Der deutsch-georgische Schriftsteller Giwi Margwelaschwili von Sven Ahnert Musik Kantscheli-Tango (Take 1 kurz ) O-Ton Catherine Hottier (Deutsch mit Akzent) Das ist kein großer Mann, er ist von mittlerer Größe, er hat auf dem oberen Kopf keine Haare, und über die Ohren ist es ein bisschen lang und weiß. Er ist jemand, der ein bisschen schüchtern aussieht. Aber sehr sympathisch. Sprecher 1 Catherine Hottier, Buchhändlerin in der Librairie Française an der Berliner Friedrichstraße. Dort kauft Giwi Margwelaschwili regelmäßig französische Bücher. Philosophen wie Gilles Deleuze oder Jacques Derrida sind ihm wichtige Ratgeber bei der Erkundung seiner verzwickten und kuriosen Buchwelten. In einem Café in Prenzlauer Berg treffe ich die Germanistin und Journalistin Sieglinde Geisel. Sie begleitete den Schriftsteller 1999 auf einer Reise nach Tiflis. Dort leben Margwelaschwilis geschiedene Frau und die gemeinsame Tochter. O-Ton Sieglinde Geisel Das Interessante ist, dass ich in Georgien verstanden habe, warum Giwi Margwelaschwili fremd ist, also was das für sein Leben bedeutet. Als ich ihn hier in Berlin getroffen habe, war mir sofort klar, das ist kein Deutscher, man sieht es sofort: Das Gesicht kommt von ganz woanders her. Auch sein Temperament, sein Lachen, wenn er dann so auflebt im Erzählen. Das ist nicht deutsch. O-Ton Alexander Kartosia Das ist natürlich ein außerordentlicher Mensch. Er hat eine besondere Rolle für die georgische Literatur gespielt, obwohl er deutschsprachiger Autor ist. Obwohl er nur in der deutschen Sprache geschrieben hat, hat er für die georgische Literatur und Kultur des 20. und 21.Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt. Sprecher 1 Alexander Kartosia, Germanist, ehemaliger Bildungsminister von Georgien, kennt und verehrt das Werk Margwelaschwilis. O-Ton Kartosia Was ist das für ein Dichter, was ist das für ein Mensch? Giwi Margwelaschwili ist, würde ich sagen, selber eine Buchperson. Er schreibt ja über die Buchpersonen. Die Hauptfiguren, die Hauptakteure, die Hauptpersonen seiner Romane sind die Personen aus anderen Büchern. Sprecher 1 In Berlin-Wedding unweit vom S-Bahnhof Gesundbrunnen stehen einförmige Wohnblocks aus den 1970er Jahren. In einem davon wohnt Giwi Margwelaschwili. Im maroden und mit Graffiti vollgesprühten Fahrstuhl fahre ich zu seiner Wohnung. Die Tür steht offen. Ein zierlicher Herr mit langen weißen Haaren, großen Augen und feinen, unverkennbar kaukasischen Gesichtszügen führt mich in seine mit Büchern voll gestopfte Studierstube, die ausschließlich zum Schreiben einlädt. Wieselflink eilt der gelehrte Poet durch seine schwach erleuchtete Wohnung. Den gebürtigen Berliner erkennt man an der Sprache. Wenig später steht er mit einer großen altmodischen Schere in der kleinen Küche nebenan und öffnet eine Schachtel mit Weihnachtsgebäck. Mit diebischer Freude erzählt er ohne viel Umschweife von seinen Leselebewesen. Das sind Figuren in bereits erschienen Büchern aller Genres, aller Kulturen, mit denen er sich literarisch befasst. O-Ton Margwelaschwili Es ist so, dass eben dieses Leselebewesen, es lebt ja nicht biologisch, es lebt bliblio-bologisch; da haben sie sofort wieder einen neuen Begriff: Die Biblio-Biologie. Das heißt: Mit den Augen dieser Biblio-Biologie sehen sie die Realität in das Leseleben dieser seltsamen Geister. Nennen Sie es, wie sie wollen, sehen, wie die überhaupt existieren können. Sprecher 1 Margwelaschwili nimmt bereits vorhandene Figuren der Weltliteratur und macht sie zu Akteuren seiner philosophisch-literarischen Experimente. Sein Anliegen: Diese Figuren oder Buchpersonen aus ihrer Geschichte zu befreien, ihnen neue Handlungsspielräume zu gewähren. O-Ton Margwelaschwili Was ich am meisten liebe, ist, die Buchperson von ihrem Thema befreien. Alles ist ein Kreislauf. Und: Gelesen werden, heißt im Kreislauf leben, und mit jedem neuen Leser erleben sie ihr Thema wieder wie neu. Musik Kantscheli (Take 2 lang) O-Ton Kartosia Es ist ja eine sehr ungewöhnliche Biographie. Er ist als Sohn eines georgischen Emigranten in Berlin aufgewachsen. Seine Muttersprache ist deutsch, obwohl seine Mutter eine Georgierin war, sein Vater war auch ein Georgier. Seine Muttersprache ist Deutsch, er konnte kein georgisch. Er ist 18 Jahre alt geworden in Berlin, und als er 18 Jahre alt war, sind er und sein Vater verschleppt worden, aus West-Berlin nach Ost-Berlin. O-Ton Margwelaschwili Wir wurden ja gekidnappt mit meinem Vater. Die hatten es auf meinen Vater abgesehen und sahen mich zufällig in der Wohnung, und so wurde ich mit gegriffen. Dann war ich da, wie vom Himmel gefallen, bin ich da angekommen und hatte mich da einzuleben, hatte da Antennen zu entwickeln für bestimmte Sachen und so weiter. Es hat auch nicht gefehlt an guten Leuten, die mich da auch orientiert, auch geführt haben in der ersten Zeit. Denen ich auch sehr dankbar bin bis heute. Musik Kantscheli (Take 1 kurzer Akzent) Sprecher 1 Giwi Margwelaschwili wird im Dezember 1927 in Berlin geboren als Kind georgischer Emigranten, die 1921 vor dem Einmarsch der Sowjets entkommen konnten. Seine Mutter stirbt früh, sein Vater Titus lehrt Philosophie und Orientalistik an der Berliner Universität und schreibt für die Emigrantenzeitung "Kaukasus". O-Ton Margwelaschwili Hier in Deutschland war ich ein kleiner Junge. Ich war Karl May-Fan. Ich hatte unterm Tisch komischerweise (Gelächter) - da ist es dunkel - hatte ich meine Lampe und diese Karl May-Bücher, diese Bände - nicht nur Karl May-Bücher, hatte Indianer-Bücher noch und noch - die hatte ich da aufgestapelt. Die habe ich dort gelesen, da durfte mich keiner stören. Unterm Tisch. Das will ja auch schon was sagen. Musik Kantscheli (Take 1) Sprecher 1 Giwi Margwelaschwili wächst im Berlin der Nazizeit auf, liest die deutschen Klassiker Goethe, dann Heine, Tieck und E.T.A. Hoffmann, interessiert sich für Jazz, Musik die nach Aufbruch klingt. Musik Kenny Clarke O-Ton Margwelaschwili Das ist der Jazz, das ist der Jazz. Das war die Musik der Freiheit. Das kam von woanders her. Da war eine Lustigkeit drin, eine Ausgelassenheit, die es hier nicht gegeben hat. Hier war die Trommel. Bum Bum Bum etc. Die Trommel hat etwas Düsteres. Der Longfellow hat das sehr gut gesagt: Muffled Drums. Beating Muffled Drums. Wenn die Stöcke noch verbunden sind. Bum, Bum, Bum. Musik Kenny Clarke Zitator (auf Musik) Art is long, and time is fleeting, And our hearts, though stout and brave, Still like muffled drums are beating Funeral marches to the grave. Sprecher 1 Der amerikanische Dichter Henry Wadsworth Longfellow aus: "A Psalm of Life". O-Ton Margwelaschwili Das ist das Schlagen des Herzen, das unter diesem Rhythmus sich auf sein Grab zu bewegt. Das ist die Idee von Longfellow. Klingt düster, aber so ist nur der Anfang des Gedichtes. Nachher geht es weiter, ganz optimistisch. Ganz richtig amerikanisch. ev. Musik noch mal hoch Sprecher 1 Er übersteht die Nazizeit und den Krieg. Doch dann macht der sowjetische Geheimdienst NKWD Jagd auf die Emigranten der Revolutionszeit. 1946 wird er zusammen mit seinem Vater aus dem westlichen Sektor Berlins nach Ost-Berlin gelockt, verhaftet und ins ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Der Vater wird ermordet, der Sohn 1947 nach Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, deportiert, wo er zunächst bei seiner Tante lebt. Seine ersten Texte entstehen, allesamt in deutscher Sprache, die, für die Schublade geschrieben, weder ins Georgische übersetzt noch auf deutsch publiziert werden. Schreiben ist für Giwi Margwelaschwili eine existenzielle Erfahrung. O-Ton Margwelaschwili Da ist ja auch dieses schreibende Moment, ein sehr wichtiges Moment. Da habe ich dann auch schon meine ersten Gedichte geschrieben. Die taugten alle nichts. Aber es war eine Art von Expression. O-Ton Kartosia Das Leben hat es so gewollt, das Schicksal hat es so gewollt, dass er aus dem Leben rausgeworfen und in die Sprache hinein katapultiert wurde. Seitdem lebt er in der Literatur und Sprache. Aus der Sprache heraus schafft er seine wunderbaren Werke. O-Ton Margwelaschwili Ich war in einem fremdsprachlichen Element. Viele Sprachen knallen aufeinander. Der Kaukasus ist ja der Berg der Sprachen. Ich kannte keine Einzige. Zitator Du willst wissen, was der georgische Bauer für ein Mensch ist? wiederholte mir mein Cousin einmal - ich war damals noch nicht lange in Georgien und interessierte mich verständlicherweise sehr für meine neue Umgebung - sinnend meine Frage. "Wenn du als Fremder auf seinem Hof erscheinst, um eine Auskunft von ihm zu erbitten oder auch bloß für einen Schluck Wasser, rennt er gleich einem Huhn hinterher, um es zu schlachten und dich dann, mit gutem Wein, versteht sich, zu Tisch zu rufen." Ich hielt das zuerst für übertrieben, musste jedoch später, bei meinen Wanderungen durch das Land, bekennen, dass er recht hatte. Und natürlich ist unter Wortmenschen ein Gelage vor allem ein Fest des Wortes. Sprecher 1 Giwi Margwelaschwili, Der Kantakt. O-Ton Kartosia Diese Fremdheit und sich nirgends zuhause zu fühlen ist wohl ein Bestandteil seines Schicksals. Deshalb verwundert es auch nicht, dass die Befreiung des Menschen von den Zwängen, die ihm vom Schicksal auferlegt werden, dass die Befreiung von diesen Zwängen, dass Hauptthema von Margwelaschwili geworden ist. Die Befreiung vom Thema, das ist das Thema seiner Literatur. Musik Kantscheli (Take 2 länger ) Sprecher 1 Mit finanzieller Unterstützung von Freunden und Verwandten studiert Margwelaschwili in Tiflis Germanistik. Nach dem Tod Stalins arbeitet er von 1954 bis 1970 als Deutschlehrer am dortigen Fremdsprachen- Institut. Danach wird er Mitarbeiter am Philosophischen Institut der Georgischen Akademie der Wissenschaften. Dort schreibt er zahlreiche Werke zur deutschen Philosophie, unter anderem Studien über Martin Heidegger. O-Ton Geisel Sein ganzer Ansatz seiner Romane ist ein philosophisches Denken. Was ist der Mensch? In welcher Welt leben wir? Was für Kräfte bestimmen uns? Er macht das dann literarisch produktiv. Ich denke auch, dass der Ansatz, dass Buchpersonen in einer Verswelt leben, wo es eine Versweltverwaltung gibt und Buchpersonen oft auch nicht wissen, dass sie Buchpersonen sind oder nur ganz wenige Leute diesen Unterschied überhaupt kennen, das ist ja ein philosophischer Gedanke, der sich auch auf unser Leben übertragen lässt. Ich denke, bei ihm hat das damit zu tun, dass er im eben im Sozialismus gelebt hat und sich selbst auch als Buchperson in einem fremden Text empfand. Sein Leben war ja extrem geprägt von solchen Eingriffen. Sprecher 1 1987 reist Margwelaschwili auf Einladung seines Freundes Ekkehard Maaß nach Ost-Berlin. Nach der Wiedervereinigung wird er als Stadtschreiber nach Saarbrücken eingeladen. Seit 1993 lebt er in Berlin. Erst Jahre später erhält Margwelaschwili einen deutschen Pass. Zwei Jahre zuvor erscheint im Frankfurter Inselverlag sein Roman "Muzal", der fälschlicherweise als georgischer Roman vermarktet wird und somit die Erwartungen des Publikums nach einem epischen Roman im Stile etwa eines Tschingis Aitmatov enttäuscht. Musik (Take 4, kurz) O-Ton Kartosia "Muzal" würde ich als sein Selbstporträt bezeichnen. Muzal ist jemand, der von seinem Pferd in ein fremdes Land geschleppt wird, und in diesem Land - sobald er dieses fremde Land betritt - wird die Hauptperson, Muzal, getötet. Der Roman befasst sich damit, wie der Muzal, der ja jedes Mal, wenn der Leser das Buch in die Hand nimmt, sich stellen muss und getötet wird, wie also dieser "Muzal" von dem Thema befreit werden kann. Wie kann er am Leben bleiben. Zitator Ich sollte sagen: zu uns, denn ich bin nicht allein in meinem Buch. Mit mir zusammen sind da noch hundert andere Gestalten. Wir bilden eine zahlreiche, auch ziemlich weit verzweigte thematische Verwandtschaft. Als beiläufige Erklärung sei eingeschoben, dass die Buchpersonen- familien im Unterschied zur Realwelt- wo die Leute doch vor allem nach ihren Blutsverwandtschaften geordnet sind - immer ein Thema zu Grundlage haben. Blut und Thema können natürlich auch zusammen- gehen. Es gibt ja genug, zumeist auch sehr dicke Geschichten, die mit Familiennamen überschrieben sind. Mit meinem Buch verhält es sich etwas anders. Es hat ein blutiges Thema: ich werde gleich am Anfang erschlagen. Sprecher 1 Obwohl Muzal eine Figur der georgischen Heldendichtung ist, ist der Roman keine Nachdichtung oder eine Verbeugung vor der georgischen Sagenwelt. Margwelaschwili benutzt lediglich die Geschichte dieser literarischen Figur, holt sie aus ihrer "Buchexistenz" heraus und stellt sie auf die Bühne seiner autobiographischen und theoretischen Überlegungen zu Themen wie Totalitarismus, Flucht und Identität und dem Kernthema seiner Bücher: Wie entkommen wir unserem Schicksal? Sprecher 1 Der Berliner Verbrecher-Verlag veröffentlicht seit 2007 die Werke Margwelaschwilis. Bisher sind vier Bücher erschienen, darunter das Lesedrama "Zuschauerräume", der Erzählband "Vom Tod eines alten Lesers", die Krimi-Farce "Officer Pembry" und zuletzt sein autobiographischer Essay "Der Kantakt". Man braucht viel Zeit und Muße, will man sich den literarischen Kosmos dieser Texte erschließen. Ist man allerdings einmal gefangen von der Idee, dass Texte gewissermaßen Lebewesen sind und ein Eigenleben führen, bleibt man am Ball. Ein glühender Anhänger von Margwelaschwilis Literatur ist der in Berlin lebende Bolivianer Marcos Kiesekamp. O-Ton Kiesekamp Mein erster Gedanke war: So etwas habe ich noch nie gelesen. Ich stand da wie eine Statue und habe nur gelesen und gelesen. Ich hatte sozusagen keine Zeit, das Buch zu kaufen. Dann habe ich das Buch zugeklappt, bin zur Kasse gegangen und habe es gekauft. Es ist eine ganz andere Perspektive auf unsere alltäglichen Probleme, an philosophische Fragen heranzugehen. Bei Margwelaschwili werden kaum Geschichten erzählt. Es werden Geschichten über Geschichten erzählt und Geschichten über Geschichten. Es ist wie ein Labyrinth und kein gerader Strang, den man nachvollziehen kann. Das war völlig neu für mich. Sprecher 1 Marcos Kiesekamp, spaziert mit mir durch die Berliner Friedrichstraße. Wir suchen die französische Buchhandlung, wo Margwelaschwili regelmäßig Bücher kauft. Kiesekamp ist Naturwissenschaftler, stammt aus Bolivien und ist fasziniert von der Literatur Margwelschawilis. O-Ton Kiesekamp Er ist nicht ein Dichter, der Romane im üblichen Sinne schreibt, sondern über Romane, über Gedichte Geschichten erzählt. Das ist etwas anderes, nicht etwas, das bis jetzt in dieser radikalen Form vollzogen wurde. Die schon bei Kafka ansetzt und sich im 20. Jahrhundert weiterentwickelt. Aber nirgendwo so radikal. Zitator Ich bin eine Buchperson. Das bedeutet, dass ich eigentlich nur in einem Buch zu Hause bin, nur zwischen zwei Deckeln richtig existiere und statt einer Telefonnummer eine Seitennummer habe. Ab und zu - es geschieht nicht oft, aber auf ein paar Besuche im Jahr kann ich immer rechnen - steckt eine Realperson ihren Kopf zu mir herein. Sprecher 1 Giwi Margwelaschwili, Muzal. O-Ton Kiesekamp Was mich mehr angezogen hat, sind die philosophischen Fragen, die sich in seinen Büchern stellen. Die er nicht ausdrücklich stellt, die aber gestellt werden und die Art, darüber zu reflektieren. Es ist nicht so: Da kommt ein Philosoph und erzählt etwas über eine Thematik, sondern auf eine ganz lockere Art mit viel Humor, indem Geschichten erzählt werden über hoch komplizierte Fragen. Sprecher 1 Auf den Bergen des Herzens Zitator Wir sind Alpinisten der Gedichtweltverwaltung und klettern in den Bergen des Herzens. Wir haben uns den höchsten Berg in dem ganzen Herzgebirge als Ziel genommen, den Gipfel der reinen Verweigerung. So heißt dieser Peak. Übrigens nicht zu Unrecht, denn majestätisch hoch und unnahbar ragt der Zacken in den Himmel. Eigentlich sind wir eine Rettungsmannschaft. Viel zu oft kommt es vor, dass sich ein lyrisches Ich in diesem Gebirge versteigt und klagend seine Hilferufe per Funk in die schon ziemlich dünne Gedichtwelthochgebirgsluft hinaus schickt. Sprecher 1 Anders als beispielsweise in den labyrinthischen Bibliotheken von Jorge Luis Borges oder den Tintenherzzauberwelten von Cornelia Funke, vermischen sich poetische Fiktion und philosophische Reflexion zu einer besonderen Spielart postmoderner Literatur. Musik Kantscheli (Take 2 kurz) Sprecher 1 Im schlichten, aber gleichwohl schrillen Look präsentiert der Verbrecher Verlag seine Produktion - mal zitronengelb, mal babyblau oder schweinsrosa, so wie bei Margwelaschwilis Roman "Officer Pembry". O-Ton Kiesekamp Mich hat das schockiert. Hätte ich Margwelaschwili nicht gekannt, hätte ich nicht so ein Buch gekauft. Aber trotzdem sind das sehr gute Bücher, wirklich gute Bücher, die bis jetzt dort erschienen sind. Sprecher 1 "Officer Pembry" war der erste Band der auf mehrere Jahre angelegten Margewelaschwili-Werkausgabe, eine amüsante Variante seiner originellen und fantasievollen Idee, literarische Eingriffe vorzunehmen. Die Versuchsanordnung ist ähnlich wie in vielen Büchern Margwelaschwilis: Der Ich-Erzähler, in diesem Fall heißt er "Meinleser", versucht, eine literarische Figur über ihr literarisches Schicksal zu informieren und ihr zu helfen: "Meinleser" greift ein und konfrontiert die Buchperson mit ihrer fatalen Situation. Zitator "Meinleser? Komischer Name! Also Mister Meinleser, ich finde es zwar sehr nett, dass sie so besorgt sind um mich, aber ich verstehe trotzdem noch immer nicht." "Lassen Sie bitte den "Mister" weg, wenn Sie mit mir reden, Pembry!" Unterbreche ich ihn freundlich, indem ich eine Hand auf seine Schulter lege. "Sagen Sie einfach "Meinleser". Sprecher 1 Ich-Erzähler "Meinleser" und Officer Pembry, eine Randfigur aus dem Thriller "Das Schweigen der Lämmer" von Thomas Harris, werden zu Akteuren in Margwelaschwilis Science Fiction-Farce. "Meinleser" setzt Pembry über sein Schicksal als Romanfigur in Kenntnis. Zitator Wenn Sie die Lektüre langweilt oder wenn Sie generell nur sehr wenig lesen, so genügt es schon, wenn Sie in diesem Roman...", ich klopfe jetzt mit dem Zeigefinger auf "Das Schweigen der Lämmer", "nur die Passagen lesen, die sie unmittelbar betreffen. Das ist ab Seite 248, wo von Ihrem Leichnam die Rede ist." "Wie bitte? Von..?" "Ja, Sie haben ganz richtig verstanden. Auf Seite 248 sind Sie eine Leiche." Musik Kantscheli (Take 1 kurz) Sprecher 1 Immer wieder aufs Neue spielt Margwelaschwili das Szenario der Befreiung der Buchperson von ihrem Thema durch: Ein Leser, ein Ich- Erzähler, versucht, mit den Lebewesen bereits geschriebener Bücher Kontakt aufzunehmen. Daraus ergeben sich absurde Konstellationen und Spielarten. Zitator Ein wichtiges Ergebnis unserer Forschungsarbeit in der Versweltverwaltung ist dieses - reale Gedankenfäden, aus denen literarische Texte gesponnen sind, haben, so haben wir herausgefunden, die Eigenschaft von Gummibändern. Sprecher 1 Bungeespringen von Textweltrand Zitator Wir können also sagen: Jede literarische Textwelt ist an ihrem thematischen Gedankenfaden abwickelbar. Der Weber solcher Welten ist selbstverständlich der Dichter. Der Leser kann dem weltbildenden Faden nur folgen, und gewöhnlich bleibt er immer bei dem hauptsächlichen Strickmuster des ganzen Gewebes, an seinem äußersten Saum, das heißt am Rand dieser Textwelten. O-Ton Margwelaschwili Als ich dahinter kam, dass das Buch nicht nur ein Buch ist, das man aufmacht, ein bisschen rumschmökert und weglegt, da war ich mir gleich bewusst, dass ich da an einer Fundgrube stand. Da habe ich gleich losgelegt mit meinen Sachen. Zitator "Super" sagte sie ganz beglückt, obwohl ihr der Angstschweiß noch die Stirn herunterperlte. "Einfach super! Das ist es, was man braucht, wenn einen der Versweltschmerz packt und die blödesten Gedanken den Kopf verwirren. Doch sagen Sie, meine Herren, sind die Bungeesprünge aus der Gedichtwelt eigentlich schon poetisch erfasst. Gibt es schon einen Gedichtweltbezirk, der solche Sprünge zum Thema hat? Da würde ich gerne wohnen." Musik Kantscheli Sprecher 1 Prägend für das gesamte Werk von Margwelaschwili ist die Erfahrung, in zwei Diktaturen, in zwei Regimen gelebt zu haben, die auf brachiale Weise Denken und Fantasie kontrolliert haben. Margwelaschwilis Texte sind Reflexe darauf und beschreiben fantasievolle Fluchtwege aus totalitären Denkverboten, die in umfänglichen ideologischen Schriften fixiert wurden. Stalins sechzigbändige Enzyklopädie ist für Margwelaschwili das Paradebeispiel eines monströsen Textgebirges, das förmlich in die Köpfe der Bevölkerung geprügelt werden musste. Margwelaschwili macht dies zum Thema einer eigenen Enzyklopädie. O-Ton Margwelaschwili Ich habe gleich losgelegt mit der Enzyklopädie: Kloppen. Die Enzyklopädie das ist das philosophische Gesamtwerk von Lenin und von Stalin: 60 Bände. Ganz furchtbar. Das ist die Enzyklopädie. Sie steht da in der Welt mit ihren Anspruch auf seine Fähigkeit, die Welt zum Guten zu verändern. Da haben sie diese Masse von Büchern zu lesen und dass hinter diesen Büchern die entsprechende Gewalt gestanden hat, weiß ja jeder. Deshalb: Enzyklopädie. Kommt von Kloppen! Sprecher 2 Der Tod eines alten Lesers Zitator "Wirklich?" schnaufte der Diktator hoffnungsvoll. "Was muss ich tun?" "Sie haben doch in ihrem realen Leben sehr viel geschrieben", erklärten wir ihm, "Sie haben Ihre Auffassungen über die Realwelt in 25 dicken Bänden niedergelegt, die alle ihren Namen tragen. "in 26", verbesserte er uns stolz, "und was verlangen sie von mir?" Musik Kantscheli (Take 4 kurz) Zitator Auf ihrem riesigen Zeilengebiet werden Sie ihr ganzes Lese- Lebenswerk, den Inhalt aller 26 Bände vorfinden. Und sie werden, ja sie müssen, unablässig mit der Lektüre dieser Texte befasst sein. Sie dürfen dort nichts anderes tun, als sich selbst zu lesen. Musik Kantscheli, lang Sprecher 1 Margwelaschwili blickt etwas müde aus dem Fenster seiner Wohnung; im nächsten Moment ist er wieder quicklebendig: Wie von einer Tarantel gestochen, erzählt er von neuen Ideen. In seiner Bücherklause stapeln sich die Manuskripte zukünftiger Buchprojekte, die ein Teil seines "Überleselebens" sind, wie er - halb schalk-, halb ernsthaft - sagt. Neben unzähligen anderen Projekten ist ein Rennfahrerroman in Vorbereitung, daneben ein Romanprojekt über Parsifal, ganz frisch ist ein Buch über Berliner Mauerinschriften. Alles ist ihm gleich wichtig und gleichwertig. Graphoman, schreibsüchtig, muss man diese Passion nennen. Hin und wieder klingelt das Telefon. Freunde und Bekannte wollen ihn einladen. Mit leicht gequältem Blick sagt er die Einladung ab: Die Schicksale seiner Buchpersonen dulden keinen Aufschub. Nur ungern verlässt er seine Wohnung, mittags geht er in ein nahe gelegenes Einkaufszentrum zum Essen, ein oder zweimal im Monat fährt er in die Friedrichstraße, "seine" französische Buchhandlung zu besuchen. Musik Kantscheli kurz [Regie: Hier bereits Atmo/Hottier] O-Ton Margwelaschwili Der Gilles Deleuze hat gesagt, es gibt auch philosophische Buchpersonen. Wenn sie den Descartes lesen, da ist immer impliziert, dass der Philosoph mit ihnen redet. Was da geredet wird, sagt ein Philosoph Ihnen. Ist eine "personnage philosophique". Ja, wenn sie diese "personnage philosophique" bei Heidegger suchen, ein Philosoph von alten Schrot und Korn, der sie auch begeistern kann. Das hat er auch gemacht. Nach Thomas Mann ist Heidegger für mich der nächste größte deutsche Bestimmungsfaktor gewesen, in dem, was ich so ganz bescheiden versuche, zu machen. Sprecher 1 Weitermachen ist die Devise, so lange es geht, so sieht es der Retter der Buchpersonen. Sein neues Projekt dreht sich um die Parsifal-Figur aus dem mittelalterlichen Epos, das kaum noch jemand lesen will. Margwelaschwili richtet folgerichtig in seinem Erzählkosmos als Leselebenshilfe ein Kloster ein, von dem aus im fiktiven Lesegebiet operiert wird. Denn auch Parsifal muss vor seinem Autor geschützt werden. Sind wir noch bei Margwelaschwili im Arbeitszimmer oder schon im Biosphären-Kloster seiner Fantasie? Die Übergänge sind fließend. Musik Akzent Sprecher Eines Tages bekam Giwi Margwelaschwili Post aus Bremen von der Redaktion der Schülerzeitung "Das Nashorn". Die jungen Redakteure baten um ein Gedicht über ein Nashorn. Warum nicht, dachte sich der Hüter der Buchpersonen und schrieb ein Gedicht über das Nashorn als Buchlebewesen, das es ebenfalls zu befreien gilt. Er holt einen Ordner heraus mit Gedichten anderer Kollegen, die auch aufgefordert wurden, für das "Nashorn" zu schreiben und liest sein Gedicht: O-Ton Margwelaschwili Nein Kinder, nein, ich bin nicht froh Ein normales Nashorn steht im Zoo Ich aber steh auf dem Papier und frage mich, was soll ich hier. Immer muss ich um mein Dasein beben Denn gelesen werdend leben, ist sicher das Beschwerlichste und auch noch das Gefährlichste Denn, was mach ich armes, dickes Biest, wenn mich keiner liest. Auf meinem miesen Zeilengrund Sterbe ich noch am Leserschwund. Ach, wie fürchte ich doch den Lesertod. Drum Kinder hört mein Angebot Für mein Überleseleben möchte ich Mich euch zum Reiten geben Doch dazu braucht es Fantasie Kleiner Leser hast Du sie? (Zuklappen des Buches, Gelächter ) Musik Akzent Tango ENDE Bibliographische Angaben Giwi Margwelaschwili: Officer Pembry. Verbrecher Verlag, Berlin 2007 15 Zeilen Giwi Margwelaschwili: Vom Tod eines alten Lesers. Verbrecher Verlag, Berlin 2008 25 Zeilen Giwi Margwelaschwili: Der Kantakt. Verbrecher Verlag, Berlin 2009 20 Zeilen 23 1