KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 300 Titel : Sonntagskind. Über die Autorin Gerlind Reinshagen AutorIn : Katharina Döbler Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 4.5.2014 Regie : NN Besetzung : Sprecherin, Sprecher, Zitator, Zitatorin Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Deutschlandradio Kultur/Literatur: 4.5.2014 Sonntagskind Über die Autorin Gerlind Reinshagen Von Katharina Döbler Redaktion: Barbara Wahlster Besetzung: Sprecherin Sprecher Zitatorin (Schauspielerin!) Zitator (Schauspieler!) O-Töne von: Gerlind Reinshagen (in verschiedenen Aufnahmen und Jahrzehnten) Christiane Caemmerer, Literaturwissenschaftlerin Gabriele Neumann, Ex-Lektorin Claus Peymann, Regisseur Musik: 1. Swing (1950er Jahre, Tanzmusik) 2. Keith Jarrett, Das Köln Konzert 3. Music for imaginary films (Arling/Cameron) Track 11, Herrmann Anmerkungen: O-Töne 14,15,16 und 29 gestrichen Zitatorin: Lange vor uns waren die Geister da, hockten im Fachwerk und wollten heraus: Affe und Teufel nebeneinander, was hats zu bedeuten? Bock, Hahn und Hund, lauernd in Winkeln am Katzenplan, in der alten Vogtei, im Zwicken, Drachenloch, Düstergraben, am Bullerberg, in der Ochsenkopfstraße; Gaukler, Spieler und Knecht, die wilden Männer von der Komisse, weh uns, wenn sie los sind! Das wussten alle Liebespaare in der Stadt, wenn sie zur Nacht stumm in die Mauern wuchsen, und Kinder wussten es. (Gerlind Reinshagen, Zwölf Nächte, Suhrkamp 1989, S. 57 ff.) O-Ton 1 (Reinshagen) Ich bin in Königsberg geboren, ja, aber ich bin sehr klein da weggekommen und ich war in Halberstadt am Harz, weil meine Eltern da gelebt haben, das war so ne mittelgroße Stadt, die bis zum Schluss so kleine Fachwerkhäuser und so idyllische Ecken hatte, der Krieg war eigentlich weit weg, bis drei Tage vor Ende, da wurde es total zusammengedonnert. Sprecher: Gerlind Reinshagens 19. Geburtstag lag genau zwischen Hitlers Selbstmord und der endgültigen Kapitulation Nazideutschlands. Geboren ist sie am 4. Mai 1926. Sprecherin: Also: Aufgewachsen im Krieg. Pubertät unter Bombenhagel. Verdunklung. Brieffreundschaften mit Frontsoldaten. In ihren Texten kann man es nachlesen, zuletzt noch in dem Roman ?Vom Feuer? der 2006, kurz vor ihrem 80. Geburtstag erschienen ist. Sprecher: Und auch ihr berühmtestes Stück, mit dem sie in den 1970er Jahren zur meistgespielten Dramatikerin der Bundesrepublik wurde handelt genau davon. Es hieß, ausgerechnet, ?Sonntagskinder?. O-Ton 2 (Reinshagen) Man kann ja immer nur (...) diese Zeit von einem Punkt her beschreiben. Für mich war das Furchtbare die Selbstverständlichkeit, mit der das normale Leben weiterging und Stachelbeeren eingemacht wurden und die Kinder zur Tanzstunde gingen und rechts und links gingen die Jungs kaputt, mit denen wir zur Schule gegangen sind. Regie: Musik (Swing) langsam aufblenden und drunterlegen Sprecher: Nach dem Krieg begann das normale, das eigentliche, das erwachsene Leben: Sprecherin: Studium der Pharmazie und wenig zu Essen, Arbeiten in den Trümmern, in den Fabriken. Die jungen Männer kommen zurück, Sprecher: auch der künftige Ehemann: ein Kriegsheimkehrer. Regie: Musik kurz stehen lassen. Sprecher: 1951 zieht das Paar nach Westberlin, wo viele Verwandte leben, Flüchtlinge aus Königsberg. Sprecherin: Erst dort beginnt, wie nebenbei, Gerlind Reinshagens lebenslanges Experiment: der Umgang mit den Worten, das genaue Zuhören, das Schreiben. O-Ton 3 (Reinshagen) Ich hab ein bisschen wie im Spiel angefangen, ich hab für meine eigenen Kinder geschrieben, neben anderen Sachen und dachte, wenn du damit an die Öffentlichkeit gehst, ist das leichter ein Kinderbuch zu schreiben. Das war eine grobe Fehleinschätzung, weil ich jetzt sehe, dass Kinderbücher eigentlich die besten sein müssten, aber damals hab ich das so gedacht. Sprecherin: Sie sucht nach einer neuen, größeren Herausforderung und kommt auf etwas, das gewissermaßen in der Luft liegt. Sprecher: Das Hörspiel erlebt gerade seine Blütezeit. In den 1950er Jahren hat fast jeder einen Radioapparat, Fernsehen ist noch lange kein Massenmedium. Sprecherin: Im Hörspiel erprobt Gerlind Reinshagen den Umgang mit Dialogen, die anfangs noch ganz realistisch klingen, Sprecher: sogar mit dem ihr so vertrauten Königsberger Akzent. Sprecherin: Daraus entwickelt sie eine artifiziell gewandelte Umgangssprache, hyperrealistisch verfremdet. Diese Sprache wird zur Grundlage all ihrer späteren Arbeiten in Drama und Prosa. O-Ton 3a (Weißt du überhaupt, wie sich det abspielt, so?n Besuch? Solln wa ihn ma aufklärn, Opa? Kennste die Tiefflieger? Kennste natürlich nich, da hingste ja noch an der Mutterbrust, wie die hier so rumgesäuselt sind. Das fängt also so janz kleen an, so ganz leise. Denkste, da kann nischt passiern, aber denn, plötzlich, eh es dir versiehst, da is der über dir. Ratata. Da ziehstn Kopp ein. Und da betste Vaterunser. Und wenn du denkst, es ist aus, denn biste perdü. Uff eenmal wird?s wieder dünner. Janz von selber rauschen die ab. Die siehste von hinten. Dann atmeste uff. Und beten brauchste nu nich mehr. O-Ton 4 (Reinshagen) Ich hab ziemlich lange Hörspiele gemacht, bis ich gemerkt habe, das ist ne ziemlich einfache Sache, formal man kann springen, man kann eigentlich jede Form anwenden, und ich wollte etwas Strengeres ? außerdem wollte ichs gerne sehen. Dann hab ich nach zehn Jahren, glaub ich, erst angefangen mit dem Theater. Sprecherin: Sprung ins Jahr 1967. Proteste gegen den Schah von Persien, aber auch gegen die Zustände in der Bundesrepublik. Das Land ist in Aufruhr. Sprecher: Das Flaggschiff der linken Intellektuellen, das die Gedanken der Kritischen Theorie, die großen Erzählungen der Zeit, die international renommiertesten Autoren transportiert heißt: Suhrkamp. Auch die wichtigen Theaterautoren sind dort vertreten. Sprecherin: Und ganz in der Nähe, in Frankfurt am Main, beginnt sich ein junges experimentelles Theater zu entwickeln in enger Zusammenarbeit des Suhrkamp-Theaterlektors Karlheinz Braun mit einem jungen Krawallregisseur namens Claus Peymann. O-Ton 5 (Peymann) Alles was gut war, war eigentlich in dem Verlag von Bertolt Brecht. Das war eigentlich ganz klar, dass da die junge Literatur war. Wir waren das junge Theater, eine Art Avantgarde-Theater, in dem kurz zuvor die Publikumsbeschimpfung von Peter Handke herausgekommen war, (..) und das ja eigentlich ganz naheliegend, der Suhrkamp-Verlag war gleich nebendran. (...)Das war für jeden eh klar, das Theater der Literatur, ein schönes Theater, ein ehemaliges Volksbildungsheim mitten in Frankfurt, da war schwer was los, kann ich ihnen sagen. O-Ton 6 (Reinshagen) Ich hatte ein Stück zum Suhrkamp-Verlag geschickt, und die haben so ein bisschen hin und her gemosert und haben gesagt, na ja, es ist eigentlich ganz schön, aber es ist nicht literarisch genug. Aber wir schickens mal dem Peymann. Der hat das dann sich angeguckt und wir haben drüber gesprochen. Und dann hab ichs total verändert, und dann hat ers sofort gemacht. Er war, ja vom Studententheater war er schon weg, er war im Theater am Turm und experimentierte auch noch viel rum. O-Ton 7 (Peymann) Wir haben dort ?Doppelkopf? rausgebracht. Ein Stück, das auf einem Betriebsfest spielt, das war gleich ein ziemlicher Knüller. Eine ziemliche Orgie hat da stattgefunden auf der Bühne. Die Geschichte von einem Menschen, gespalten zwischen seiner Karriere und seiner Arbeit für die Gewerkschaft, jemand der zerreißt, eigentlich. Doppelkopf: Der nach beiden Seiten geht und daran zerbricht. (...) Wir waren damals ziemlich verblüfft, dass eine so zarte und leise sprechende, schöne Frau ein so kräftiges Stück geschrieben hat. Das war dann so Liebe, oder wenn Sie so wollen Interesse auf den ersten Blick. Wir waren jung. Ich war jung, und wir haben da ziemlich zugelangt und eine kräftige Handschrift wurde mit einem Ruck eigentlich sichtbar. Das Theater am Turm war das Theater von Peter Handke, von Fassbinder dann später, von Martin Walser, Kipphard und so. Und da passte die Gerlind Reinshagen hinein mit ihrer kräftigen und, wie es uns damals schien, wüsten Sprache, rhythmisiert und gegliedert ? nicht in Versform, aber die rhythmisierte Dialogführung war toll. O-Ton 8 (Auszug aus ?Doppelkopf? I/6) Hoffmann: Ich möcht mal was klarstellen! Hacks: Du möchtest mal was klarstellen. Hoffmann: Heute abend, kapito, wenn wir reden da drüben... wenn ich am Direktorentisch zu tun hab... lasst ihr mich mit eurer Partie in Ruh! Luk: Schwül heute, wie? Quendel: Ein beschissener Luftdruck! Hoffmann: Ich bin nicht dein kleiner Bruder, Quendel, auch wenn ich mal ... wenn ich vor tausend Jahren mal bei dir gelernt hab, das ist gewesen, und dein Witze, Franz, die kenn ich auch! Quendel: Ein ganz beschissener Luftdruck! Ali: Die Mücken! Hacks: Mensch, Kinder, wisst ihr noch voriges Jahr? Ali: Voriges Jahr, das war ne prima Nacht! Luk: Glühwürmchen! Quendel: Tanzbeinchen! Hacks: Schönes fettes Eisbein! Quendel: Bloß drei Schlägereien! Hacks: Die Schnäpse süffig! Ali: Die Weiber griffig! Quendel: Und die Rosa weniger erotisch penetrant. Luk: Ja, ich erinnere mich... Hacks: Wie der Hoffmann noch auf dem Teppich war! Hoffmann: So? Ich habs schon vergessen, helft mir mal weiter! (...) Ali: Schon immer.. Hacks: Schon damals Quendel: Hat er den Blick übers Schlachtfeld gehabt! Hacks: Einer muss wachen... Hoffmann: Wenn andere pennen... Luk: Einer muss rennen Hacks: Muss sterzeln und ferzeln Hoffmann: Während alles ringsum spielt und säuft und rülpst und säuft und sitzt und sitzt und festsitzt wie die Steine... Alle: Feldspat, Quarz und Glimmer, es wächst der Durst im Zimmer. Wasserstein, Weinstein, Steinwein, Stein und Bein! Prost! Hacks: Ich aber sage euch, es fällt kein Stein fällt vom Dach.. Quendel: Vom Dachstein.. Hacks: Kein Stein aus der Krone demjenigen, der mit seinen alten Freunden Doppelkopf spielt. Sprecher: Das Stück wird bei seiner Uraufführung im Februar 1968 ein großer Erfolg, auch wenn ältere und eher konservative Kritiker sich darüber erregen, dass es auf der Bühne um Klassenzugehörigkeit geht. Von ?Klassenkampf? ist sogar die empörte Rede. Sprecherin: Und da zu dieser Zeit auf bundesdeutschen Bühnen keine Frau als Dramatikerin das Wort hat, macht sich der ?Spiegel? seinen eigenen Reim auf die schreibende Unbekannte: Zitator: Wenn der Gatte im Büro, die Töchter in der Schule waren, legte sich die Berliner Hausfrau Gerlind Reinshagen, 41, DIN-A 4-Papier aufs Knie oder auf den Couchtisch, griff zum Kugelschreiber und begann zu dichten. Sprecher: Trotz dieses bizarren Einstiegs kommt der Spiegelkritiker allerdings zu dem Schluss, dass der Bühnenerstling der ?zarten Berlinerin? ein frappantes, sprachgewaltiges Stück Theater sei. Sprecherin: Das Erstaunen, dass da eine Frau - Sprecher: noch dazu eine zarte - Sprecherin: wagemutige Stücke mit Männerscherzen und klassenkämpferischer Thematik schreibt, sollte noch eine ganze Weile anhalten, wie sich die ehemalige Suhrkamp-Lektorin Gabriele Neumann erinnert. O-Ton 9 (Neumann) Als ich anfing, bei Suhrkamp, und das war 76, und da waren ja sehr viele berühmte Autoren, auch im Theaterverlag und Sie kennen ja vielleicht noch das Plakat ?Die Suhrkamp-Autoren?, da gabs ja sowieso keine Frau, später wurde, glaube ich, Marie-Luise Fleißer dazugenommen, oder es wurde berichtigt, ja, die großen Männer, auch der Dramatik, sie waren da versammelt, wenn sie nicht beim Verlag der Autoren waren. Es war keine in Sicht. Es gab in Amerika ein paar interessante Frauen, es gab die Duras in Paris, in England gabs die Carol Churchill und auch noch andere, aber in Deutschland wüsste ich auch nicht, wüsste keine, nein. Das war Gerlind, die dann mit ?Doppelkopf? und vor allem später dann mit ?Sonntagskinder? natürlich uns alle, die wir uns irgendwie mit Dramatik beschäftigten, fasziniert, interessiert, abgeschreckt hat, was immer. Also es war ein Ereignis. Sprecher: Für mehr Irritation denn Begeisterung sorgt dann Gerlinds Reinshagens zweites Stück. Sprecherin: Es heißt Leben und Tod der Marilyn Monroe. O-Ton 10 (Leben und Tod der Marilyn Monroe I, Zwischenspiel) Ich bin ganz da. Ganz bei Euch. Mit meinem ganzen Sein. Was ich gebe, gebe ich ganz. (Beifall) Ladies and Gentlemen, die Göttin des Atomzeitalters tanzt. Gleichheit für alle! Freiheit für alle und Brüderlichkeit für alle, und wisst ihr, wo ich am gleichsten bin? (Beifall, Pfiffe) Bis später, Boys. Gute Nacht. Wie gerne nähm ich euch mit nach Haus. Jack! Mickey! Arthur! Die ganze Kompanie, das Regiment.. und dabei hab ich nur so eine kleine Küche zu Haus! (Motorenlärm. Männerstimmen:) Hi, Boys, was ist da aufgegangen? Gib mir Feuer, Baby, Mach mir Schatten, Baby. Zünd mir ein Licht an. Wärme mich, Baby, wer du auch bist. Wer bist du, Baby? Sprecher: Gerlind Reinshagen interessiert sich gar nicht für Marilyn Monroe. Sprecher: Sie zerlegt die Ikone in drei Figuren, damals noch kein übliches Verfahren auf dem Theater: Glamourös die eine, zerbrechlich die zweite, aufreizend die dritte. Sprecherin: Es ist der alte Dreiklang der Mythologie: Die Göttin, das Opfer, die Hure. Das ist universell gedacht und greift weiter aus als die feministischen Diskurse der Zeit. Aber das fällt kaum jemandem auf. Sprecher: Es ist das Jahr 1971, und alle, Studenten, Künstler, Emanzen, Intellektuelle schauen nach Vietnam. Auch Gerlind Reinshagen. Regie: O-Ton 11 beginnt mit Musik. Hier unterlegen Sprecherin: Ihr Stück spiegelt, vielleicht unbeabsichtigt, den deutschen Blick auf das bewunderte und gehasste Amerika. O-Ton 11 (Leben und Tod, VIII) Hey Boys, ich bin gekommen unter der sengenden Sonne Vietnams, über einen Ozean, um euch die Botschaft vom Glück zu bringen, vom neuen Leben. Zuerst kommt der Schlamm und der Dreck und der Durst, dann der Schweiß und das Blut und die Qual (...)(Männerstimmen) (abblenden) Zitator: Vor der Pause, wenn die amerikanische Flagge gehöhnt wird, gibt es noch Gegenwehr im Parkett und einigen Aufruhr. Viele verlassen das Theater. Sprecherin: Schreibt empört der legendäre Theaterpapst Westberlins, Friedrich Luft. Sprecher: Ein internationaler Triumph dagegen wird die nächste dramatische Arbeit, nur drei Jahre später. Es geht darin um eine sterbenskranke Frau im Krankenhaus, Sprecherin: die ein ziemlich buntes Leben hinter sich hat, mit verschiedenen Männern und Berufen. Sprecher: Aber eigentlich ist es ein Spiel mit Klischees und den allergrößten Themen überhaupt. Sprecherin: Ein Spiel vom Sterben. O-Ton 12 (Reinshagen) Ich habs versucht bei ?Himmel und Erde?, dass ich erstmal die Frau in Klischees hab sprechen lassen. Es ist fast ein Monolog und mit zunehmender Einsicht, also wenn man sehr krank ist, fängt man ja vielleicht an, ein bisschen mehr nachzudenken, jedenfalls ich hab die Erfahrung gemacht, und mit zunehmender Einsicht revidiert sie auch ihre Sprache ? es gibt immer weniger Klischees, da geht sie beinahe über sich hinaus. Und das ist auch noch so ein anderes Interesse, dass ich nicht einfach Sprache abbilden will, wie ich sie höre auf der Straße. Ich möchte sie so haben, wie ich sie höre und auch das mit drin haben, was die Leute nicht sagen können, was sie aber unter Garantie fühlen. Das wäre für mich interessant, dass Sprache so einen doppelten Boden kriegt. 13:52 Zitatorin: (Himmel und Erde, 2. Station) XX Zu der Zeit hab ich einen Draht gehabt zu allen Ob dus glaubst oder nicht Ich habe die Gäste (Pause) Geliebt Und die Spiegelscheiben Und die kleinen Engel an den Säulen Die habe ich wirklich (Pause) Geliebt Sofern das nicht idiotisch ist so was wie Spiegel Oder ein Café zu lieben Vaterland hat es geheißen Und ich bin mir nicht klar (...) Ob du imstande bist so eine (Pause) Liebe Zu kapieren So eine (Pause) Verbundenheit zu allem XX Chéri hat Hasso zu mir gesagt Das war mein damaliger Mein Geschäftsführer und so weiter Du bist keine Buffetkraft Chérie Du bist einfach Ein Glück (Lange Pause) Gib mal die Hand Merkst du was Überträgt sich was Nämlich es ist (Pause) Übertragbar Wenn man sich konzentriert Du musst nur wollen Dich nur konzentrieren Und keine ängstlichen Gedanken haben Aber was denn warum denn Lieber Gott (Pause) Es wird ja Wird wieder Werden Irgendwann eines Tages Kommen schon wieder bessere Tage Auch für dich du weißt doch Der Mensch hat viele Möglichkeiten Und wenn die eine oder andere ausfällt Sieh mich an So sind da hundert andere heutzutage Natürlich Du musst dich natürlich zusammenreißen Und entwickeln was du hast Was in dir schlummert Und Vertrauen haben ja Und nicht so zittern mein Gott Du weißt doch Nichts wird so heiß gegessen Und so weiter (Pause) Die letzten werden die ersten sein (Pause) Kein Spatz fällt vom Dach wie der Volksmund sagt Lügen haben kurze Beine (Lange Pause) Ja wie ich sagte Möglichkeiten über Möglichkeiten Aber eine Sekunde Eine Millisekunde nicht aufgepasst Und es hat dich im Griff Du kommst nicht mehr los Das kann ich dir aus Erfahrung sagen Das war exakt den Tag wie die Blondine kam Die zwote Kraft Ich seh sie noch heute (Gerlind Reinshagen, Himmel und Erde, in: Gesammelte Stücke, Suhrkamp 1986, S.187 - 189) Regie: Musik aus Keith Jarrett, The Köln Concert am Ende unterlegen und langsam hochziehen Sprecher: Mit einer Kunstsprache, die sich dem Alltagsidiom entzieht - Sprecherin: und es dennoch genau spiegelt, Sprecher: und auch mit ihrer großen Aufmerksamkeit für das etwas Abseitige, für Figuren, die nicht im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stehen - Sprecherin: wie eben eine Eisverkäuferin, ein Flittchen, eine Patientin - Sprecher: berührt die Dramatikerin einen Nerv. Sprecherin: Einen empfindlichen Nerv, zu einer Zeit, als in der Abkehr von großen Weltentwürfen eine ?Neue Innerlichkeit? erforscht wird. Regie: Musik kurz stehen lassen. Sprecher: Im Jahr 1976 ist der Vietnamkrieg zu Ende. Sprecherin: Die Bundesrepublik bekämpft einen Feind im Innern: die Rote Armee Fraktion, genannt Baader-Meinhof-Bande. Sprecher: Helmut Schmidt, der ehemalige Weltkrieg-II-Offizier, wird als Bundeskanzler bestätigt. Sprecher: und Gerlind Reinshagen wird fünfzig Jahre alt. Zeit vielleicht, sich zu erinnern. Sprecherin: Auf den Gedanken, eine Autobiografie zu schreiben, kommt sie nie. Alles, worüber sie schreibt, hat zwar sehr viel mit dem eigenen Erleben zu tun, Sprechern: aber Zeitgenossenschaft, das ist bei ihr in erster Linie das genaue Zuhören. Was wird geredet und wie? Welches Denken und Fühlen steckt dahinter? Welche Bilder prägen sich ein? Sprecher: Das Ergebnis ist die manchmal fast dokumentarisch anmutende Vielstimmigkeit ihrer Stücke. Sprecherin: Gruppenbilder, gewöhnlich mit Dame. Sprecher: Was an Gesprächen und Momentaufnahmen, Atmosphäre und Begegnungen in der Erinnerung aufbewahrt ist, wird zum Rohmaterial eines Bühnenstücks. Sprecherin: Es heißt ?Sonntagskinder? Sprecher: und spielt in den Jahren 1939 bis 1945 ? aber Zuschauer wie Kritiker stellen automatisch den Bezug zur Gegenwart her. Zitator: Auch weil das Politische auf das Private, das Globale auf das Überschaubare, das Monströse auf das Menschliche reduziert worden ist, stört es unsere bequeme historische Distanz und weist auf ideologische Strukturen der Gegenwart hin, die am historischen Extrembeispiel, im Zustand ihres ?idealen?, das heißt schrecklichen Funktionierens, mit besonderer Deutlichkeit sich zeigten. Sprecherin: Schreibt der Kritiker Helmut Schödel nach der Uraufführung 1976 in der ?ZEIT?. O-Ton 13 (Peymann) Die Geschichte einer Gruppe von jungen Leuten, die familiär aufwachsen, aber in diese Kriegsgeschehnisse einbezogen werden. (...) Es war ein sehr sehr großer Erfolg(...) Für mich ist das das Stück mit dem größten Rahmen, es mischt sich sozusagen das gesellschaftliche, politische Interesse, ja, wenn man so will, das politische Theater von Doppelkopf mit einer Familiengeschichte, die von den Kindern aus erzählt wird. (...) Das war in der Bewertung, auf für mich jetzt rückgeschaut nach so vielen Jahren in diese Zeit, vielleicht war das das große klassische Stück, in das die verschiedenen Ströme der Reinshagen eingehen, das poetische, das familiäre, das weibliche auch und das war für mich, wenn Sie so wollen, der Höhepunkt im dramatischen Werk von Gerlind Reinshagen. Sprecherin: Auf die Fragen der Kinder dieser Sonntagskinder, wie es denn eigentlich gewesen sei unter den Nazis und im Krieg, gibt dieses Stück endlich eine Antwort, die sehr viel konkreter ist als die übliche Auskunft, es sei schrecklich gewesen und man dürfe niemals Brot wegwerfen. Sprecher: Die Mädchen schwärmen für Frontsoldaten wie für Popstars und schreiben ihnen verliebte Briefe. Die Jungs ziehen - mit Stolz - in den Krieg und kommen selten zurück. Frauen, Kinder, Krüppel und Kranke leben in einem ständigen Provisorium, planlos, zukunftslos, mit der frühen Erfahrung von Tod und Verlust, aber auch in einer seltsam anarchischen Kinderwelt, die niemand recht kontrolliert. Zitatorin (Sonntagskinder, II.Teil, 3. Bild) Dieses Kleid, Lona, zufällig fällt es mir in die Hände, wie ich meinen Schrank durchsehe, es kommt mir so seltsam vor, der Saum abgetreten, an den Ärmeln verschwitzt; es riecht auch komisch; wie kann das passieren, wenn es im Schrank hängt? Wo sind Sie gestern gewesen, Lona, bis spät in die Nacht, ich habe die Treppe knarren gehört, auch wenn Sie immer auf Strümpfen gehen, wie war es beim Tanz? Ich gönne jedem ein bisschen Vergnügen, ich bin die letzte, die Ihnen nichts gönnt, aber jetzt ? es sind ja nur noch Alte und Krüppel in der Stadt, Ihr Freund, Herbert Nickel, schreibt jede Woche ? noch schreibt er, er steht bei Woronesch, er hält den Kopf hin, ehrlich gesagt, ich verstehe das nicht, kann mir nicht vorstellen, was Sie sich dachten, als Sie mein bestes Kleid, - eines meiner besten Kleider ? sagen wir: ausliehen...ich hüte es für die Zeit nach dem Krieg, auch wenn ich mir aus Kleidern nichts mehr mache, auch wenn mein Mann nicht wiederkommen sollte, aber er könnte wiederkommen, es sind schon Vermißte wiedergekommen, ich geb mich keinen Illusionen hin, aber ich rechne mit allem, man muss ja rechnen nach allen Seiten, und auch in die Zukunft, man weiß nicht, was kommt, die hundert Punkte auf der Kleiderkarte sind schnell weg; jeder muß heute den Verstand einschalten, darf nicht mehr träumen, muß denken, Lona, denken, um zu überleben. Die Vernunft, das ist es, Lona. (Gerlind Reinshagen, Sonntagskinder, in: Gesammelte Stücke, Suhrkamp 1986, S.307 - 308) Sprecher: Das Stück wird innerhalb kürzester Zeit an 20 deutschen Bühnen gespielt, bald auch verfilmt - und Gerlind Reinshagen erhält als erste Frau den Mühlheimer Dramatikerpreis. Sprecherin: Das Personal der Sonntagskinder wird später noch in vielen Texten Gerlind Reinshagens auftauchen, Sprecher: unter anderen Namen, mimetisch verändert, mit unterschiedlich gesponnenen Lebensläufen, aber doch immer erkennbar. Zunächst in den beiden Stücken, die zusammen mit den Sonntagskindern ihren Dramenzyklus der Erinnerung bilden, Sprecherin: bekannt als ?Deutsche Trilogie?. Zitator: Ihr vorangegangenes Stück Sonntagskinder war ein brauner Flickerlteppich, ?Das Frühlingsfest?, ihr sechstes Stück, ist ein Flickerlteppich mit den Farben der Bundesrepublik. Sprecherin: Bemerkt Georg Hensel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach der Bochumer Uraufführung im Mai 1980. Zitator: (Das Frühlingsfest, Teil 1/VII) Als wir herzogen vor vier Jahren, waren keine Blumen da Als ihr diese Schutthalde mietetet Da war diese Gegend... Sie war irgendwie belebt. Gras und Unkraut wuchsen mächtig Und lebendig auf den Trümmern. Kinder fanden einmal ein lebendiges Handtäschchen, perlengestickt Gottseidank fanden sie nichts anderes, was sie sonst noch hätten finden können, auf diesem Blutacker, fanden sie nicht. Doch dann, eines Morgens, dieses Geräusch. Der erste Bagger. Die Nachbarn begannen Ordnung zu schaffen. Sie sprengten und rammten und walzten platt; Sie stutzten Hecken, verkrüppelten Bäume Sie brachten um, was in Jahren gewachsen war... Und als sie alles abgesägt und umgehauen hatten, und als sie alles abgewürgt und eingeebnet hatten, da kamen Laster mit neuen Steinen, mit neuen Bäumen und sie ließen neue Mauern wachsen, legten neue Gärten an in Windeseile, und alles wuchs und wuchs und wuchs... Doch es war alles tot, die neuen Häuser mit ihrem Kratzputz, ihren Kippfenstern und Zementschindeln waren tot, und die neuen Bäume, die Robinien, und die Coniferen waren tot, und die Blumen waren aus Pappmaché, und das Gras war aus Polyvinylchlorid, und die Erde, die Erde roch nicht mehr nach Erde im Frühling, erstaunlich, die Erde roch nicht mehr. Aber die Leute merkten es nicht. Hier ist gut leben, sagten die Leute, die hat so was Versicherndes, die Wüste, so etwas... Angehaltenes... nichts stirbt mehr, wo alle abgestorben ist, da stirbt nichts mehr, und dafür liebten die Leute die Wüste, und pflegten sie, und wenn sie nicht gestorben sind, und wenn wir nicht... (Gerlind Reinshagen, Frühlingsfest, in: Gesammelte Stücke, Suhrkamp 1986, S.366 - 367) O-Ton 17 (14-16 gestrichen)(Peymann) Ich kann mich noch an das Bühnenbild erinnern, das war so ein verhangener Garten, ein hohler Baum, in dem eine Figur lebte. Es mischte sich in diese Härte, also Doppelkopf und auch Himmel und Erde, da mischte sich plötzlich so ein poetischer Ton ein, starke Lyrik eigentlich, und ich hatte wieder eine tolle Truppe zusammen, Gisela Uhlen, Traugott Buhre und alles was Rang und Namen hatte, hat mitgespielt, ja, das war sehr schön. Ich kann mich an diese Baumlandschaft erinnern, hohes lyrisches Lied, in dieser rhythmischen Sprache, aber diesmal ein ganz anderer Klang. 8:30 (...)Das war ein Ausflug von ihr in eine private, lyrische Sommernachtstraumwelt, ganz anders als diese tödliche Härte des Sterbestücks und ganz anders als das Klassenkämpferische des Stücks Doppelkopf. Sprecher: Zur selben Zeit, als ?Das Frühlingsfest? mit seinem bösen Tableau der Adenauer-Gesellschaft herauskommt, beendet Gerlind Reinshagen ihren ersten Roman. Sprecherin: Wie sie früher das Hörspiel auf seine Möglichkeiten abgeklopft hat, Sprecher: überprüft sie nun die Möglichkeiten des Theaters gegenüber anderen literarischen Formen. O-Ton 18 (Reinshagen) Die Rückbesinnung auf seine Mittel, die einerseits gröber sind und andererseits umfassender. Sie sind zum Beispiel nicht geeignet, wie jetzt zum Beispiel unsere Börse funktioniert, wie die Konzernbildung weltweit funktioniert, deutlich zu machen. Sie sind geeignet zu zeigen, wie einer, der an einem Schwarzen Freitag sein Geld verliert, sich aufhängen geht und welche Bilder ihm dann vielleicht durch den Kopf gehen. Regie: Musik CD Music for imagninary films /11 (Herrmann) Sprecher: Das Kondensat zeitgenössischen Empfindens in Sätzen, die eher unauffälligen Zeitgenossen wie beiläufig aus dem Mund fallen, ist ein Markenzeichen der Dramatikerin Reinshagen - Sprecherin: aber auch der Erzählerin. Denn ihre Romane lenken die Aufmerksamkeit des Publikums auf die persönlichen Utopien Sprecher: und das Scheitern Sprecherin: der so genannten kleinen Leute. O-Ton 19 (Reinshagen) Ich hab die Erfahrung gemacht in der Zeit, in der ich selbst noch gearbeitet habe, alle diese kleineren Firmen, oder ein Büro, das sind tatsächlich abgeschlossene Welten, die oft viel mehr zusammenhängen als Familien, (..) und über die ich selten lese. Das ist eine ganze Schicht, die bei uns in der Literatur nicht behandelt wird. Sprecher: Auch das liegt in der Luft, liegt in der Zeit, Ende der 1970er Jahre. Sprecherin: Da gibt es noch den ?Werkkreis Literatur der Arbeitswelt? und dergleichen, realistische Arbeiterliteratur. Sprecher: Aber, wie so oft, macht Gerlind Reinshagen aus den zirkulierenden Konzepten etwas ganz Eigenes, beobachtet die Literaturwissenschaftlerin Christiane Caemmerer. 0-Ton 20 (Caemmerer) Und natürlich, in der Doppelkopf-Zeit, da gab es diese Idee von: Wie geht es eigentlich den Werktätigen, wie funktioniert Fabrik, wie funktioniert Büro, was müssen wir da dran ändern als Intellektuelle. Sprecherin: Überlegungen, die sich niederschlagen in dem Roman ?Rovinato oder die Seele des Geschäfts?. Zitator: (Rovinato, S. 60) Es kritzelt und kratzelt, es rischelt und raschelt, es ist ein ewiges Geflatter, wie von Vögeln in einer Buchenhecke, dann wieder hört man etwas wie Nagen; doch wer vom langen Flur ins Warenlager kommt, das sich ?drüben im alten Haus? befindet ? weit, weit entfernt vom Tagesgeschehen, schön aus der Welt -, wer hier eintritt, der wird herumschauen und die Augen aufreißen und mit Verwunderung feststellen, dass nichts zu entdecken ist, nichts Lebendiges jedenfalls, keine Seele in dem milchigweißen, zwiespältigen, schläfrig machenden Licht. Denn dies ist kein Licht, das die Dinge verdeutlicht; es vernebelt eher, verwischt die Kontur, man geht wie unter Wasser darin; und erst wenn man sich langsam gewöhnt hat, wird man fähig, in den Gängen etwas auszumachen: eine Art von Riesenfaltern, Riesenmotten vielleicht, graue Geschöpfe, drei wenn man nachzählt; und wenn du nochmal genauer zusiehst, sind es Männer mit Arbeitskitteln. Die umsurren und umbrummen mit Elektrokarren die Regale; ab und zu hängt einer fest irgendwo, unter der Decke, im Gebälk; hier und da flattert einer wild mit den Flügeln, fledermausähnlich, am hellichten Tag. Im Warenlager wirken Peukert, Neske und Morenke. Drei Lageristen, so könnte der Uneingeweihte meinen. Doch das ist so falsch wie vieles Gemeinte. XX In Wahrheit sind sie Blumenhändler. Mit ihrem Kopf, ihrer Seele und irhem Herzen oder jedenfalls dem da innen, was man als solches zu bezeichnen pflegt, mit jdem einzigen Gedanken sind Peukert, Neske und Morenke in ihrem Blumengeschäft, ach nein, in ihrer Blumen-Halle, die sie über kurz oder lang, in Bälde, in allerkürzester Zeit, demnächst zu eröffnen gedenken, vielleicht schon nächsten Monat, wenn Zeit und Umstände es erlauben, wenn sich etwas Geeignetes bietet, wenn es mit den Krediten klappt, also immer in Hochspannung, in fieberhafter Erwartung die drei... und das seit sieben Jahren, sagt die Ruschigk und tippt an die Stirn; das muss ja mal durchbrennen, muss ja mal einen Kurzschluss geben. Aber da brennt nichts. Da knallt nicht einmal was durch. XX Die verrichten ihre Arbeit fehlerlos und zuverlässig, allerdings vollkommen ohne Kopf, so etwa wie die Roboter aus der Orion-Serie, mechanisch, unbeteiligt, mit mathematischer Genauigkeit, dem Lehrling sind sie nicht geheuer. Sie haben das Lager 1a in Schuss, ihre Karteien stimmen exakt, sie sind stets in rastlos flatternder Bewegung; in Wirklichkeit aber sitzen sie unbeweglich, ganz blumenhaft still; sie sitzen und sehen drei Männern zu, die weit dort hinten auf Elektrokarren fahren oder Listen schreiben, die sich nähern oder entfernen, deren Leben ihnen längst vergangen scheint, eine dunkle, seltsame Erinnerung. XX Sie sitzen zwischen Zinnien, Chrysanthemen, zwischen Eimern voller Gartennelken, die noch duften, zwischen Maiglöckchen sitzen und Aschenblumen, zwischen Türkenbundlilien, Camelien, Hibiskus; zwischen Bougainvilleen und Magnolien sitzen sie, sitzen sie... Sitzen Sie? Was für ein Vorwitz, eine Denkfaulheit, das anzunehmen! Die Wahrheit, die absolute, die ganze Wahrheit ist die, dass nur Morenke sitzt und Sträuße bindet. Peukert, der den Verkauf macht, steht. Neske ist mit dem kleinen offenen Lieferwagen unterwegs. XX (Gerlind Reinshagen,Rovinato oder Die Seele des Geschäfts, Suhrkamp 1981, S.60 - 61) Sprecherin: Später schreibt die Kritikerin Barbara Sichtermann: Zitatorin: Gerlind Reinshagen ist eine Meisterin der Vergegenwärtigung versteckter Wirklichkeiten (?) Tote Stumme und Verstockte begabt diese Dichterin mit Sprache, sie holt aus den Kellern des Bewusstseins herauf, was da vergraben und abgelagert wurde, und verwandelt es in erzählten und veranschaulichten Stoff. (?) Ihr Revier liegt unter der Oberfläche der Tagesläufe und sichtbaren Orte, ihre Intuition führt an die Ränder der Wahrnehmung, da wo im Zwielicht Mehrdeutigkeiten vorherrschen, aus denen ab und an überraschende Klarheit hervortritt. Sprecher: Ein äußerst feines Gehör und ausgeprägtes Stilgefühl können also tatsächlich als Elemente von Gesellschaftskritik fungieren ? nicht nur ästhetisch. Sprecherin: Bei Gerlind Reinshagen verhält sich die Zeitgenossenschaft - Sprecher: in der Sprache wie im Denken ? Sprecherin: komplementär zum Autobiografischen. Regie: Musik Mix aus Swing /Jarrett/ Herrmann übereinander geblendet, am Ende wieder Swing Sprecher: Die Liebe Gerlind Reinshagens zum Theater ist nicht erloschen, bis heute nicht. Aber keines der Stücke, die sie in den 1980er Jahren schreibt, stößt auf starke Resonanz. Sprecherin: Weder ?Die Clownin?, uraufgeführt 1986 in Düsseldorf, Sprecher: noch ?Die Feuerblume?, von Werner Schroeter 1988 in Bremen herausgebracht, Sprecherin: und auch nicht ?Tanz, Marie!? der dritte Teil der ?Deutschen Trilogie? aus dem Jahr 1989. Sprecher: Vielleicht liegt es daran, dass das zeitgenössische Theater, so wie es ist, Gerlind Reinshagen auch nicht gefällt. O-Ton 21 (Reinshagen) Die Leute, die nach dem aktuellen Zeitstück schreien, die wollen jetzt möglichst das aktuellste Thema aufgearbeitet haben (...)und sie wollen, dass die Leute innerhalb von zwei Stunden das auch alles genau durchschauen, und sie wollen möglichst auch noch eine Lösung für das Problem, und gegen diese Art von Stücken wehre ich mich. Sprecherin: Und die Art von Stücken, die sie schreibt, passen in keine der aktuellen Schubladen. Sprecher: Zuviel Bildhaftigkeit, zuviel Poesie, findet etwa Claus Peymann. Zitatorin: Statt weiter in die Breite der sozialen Wirklichkeit vorzudringen, in der das sich wandelnde Selbstverständnis von Frauen heute allerorten für Irritation sorgt, begibt sich die Dramatikerin in die Enge individueller Selbsterforschung. Sprecher: Meckert etwa die taz nach der Uraufführung der ?Clownin? 1986. Sprecherin: Die langjährige Wegbegleiterin Gabriele Neumann dagegen plädiert für andere Lesarten, andere Rezeptionsmodelle. O-Ton 22 (Neumann) Ich wundere mich ja selbst oft beim Lesen, oder Kucken, dass ich finde, da ist immer etwas sehr ? Widerständiges; und Kleines im Großen, oder das Große im Kleinen, eher gesagt, und das finde ich toll, wenn man da immer wieder missverstanden wird, weil es auch nicht zu verstehen ist in dem Sinne, man kann ihm nur immer wieder nachgehen, nachsuchen, mitschwingen und irgendwie was Neues über sich erfahren, oder ihre Figuren, die wir ja auch sind. Sprecher: Lange Zeit sind nun keine Theatertexte mehr entstanden. Statt dessen Romane, Erzählungen, Gesänge, Gedichte - Sprecherin: oder wie soll man diese ungeheuer musikalischen Texte nennen, die immer so klingen, als müsste sie jemand vortragen, als schlüge eine unhörbare Trommel den Takt? O-Ton 23 (Caemmerer) Sie hat sich ja nicht wirklich vom Theater-Text zurückgezogen, denn ihre Texte sind ja immer dann gut, wenn es um Dialoge geht. Also ich denke, sie ist immer noch Dramatikerin, auch wenn sie jetzt Prosa schreibt, wobei das auch schon eine stark lyrische Prosa ist. Sprecher: 1989 erscheint der Band ?Zwölf Nächte?, in dem Gerlind Reinshagen ihr dramatisches Personal, Sprecherin: ihre ganz persönliche Sammlung von Archetypen, Sprecher: in kurzen, hoch verdichteten Prosatexten wieder einmal in Nahaufnahmen betrachtet. O-Ton 24 (Reinshagen) General, General, was tun mit einem wie Ihnen, der Sie noch immer diese Rolle spielen wollen, diese leicht angekrachte Figur, jetzt im Frieden längst aus der Mode natürlich; ist schon ein Kreuz mit den alten Mimen; jedesmal wieder der alte Schlurfschritt, als wärs auf der Bühne, pardon, sollt ich sagen, der Stechschritt? Und die angerissene Greisenstimme, in Ihrem Fall: dieses messerscharfe Generalstabsflüstern, wieder und wieder an jedem Ort! Das einmal von Erfolg gekrönte zum tausendsten Mal repetiert. Selbst hier, auf der Bank am Rosenteich heute, die einstmals eindrucksvolle Attitüde, diesen träumerisch entrückten Blick, wie über das Schlachtfeld, wie über die Steppe, repetiert, repetiert, so dass die stahlgrauen Witwen, wenn sie vorübergehn, plötzlich denken, dass sie wieder runde Hüften hätten, sich darin zu wiegen XX Übrigens kein schlechter Spielort, so ein Kurbad, eine heitere und friedliche Kulisse mit einer garantiert echten baltischen Baronin, die hier noch immer die Badefrau macht, die Ihnen sogleich, General, sehr sanft, sehr gefühlvoll, versteht sich, das Moor vom Rücken schrubben wird, für ein paar Groschen Trinkgeld, versteht sich, ihre Brut durch die Läufe der Zeit zu bringen. Dies nebenbei, wir waren beim Blick, übern Teich, übern Wolchow, als schweifte er noch immer über die Kolonnen der Gefangenen, die im Marschieren immer kürzer werden, beim Blick, den Sie, am Ende selber Gefangener, der russischen Armee, in ungewisse Zukunft warfen, tatsächlich auch dort noch, noch immer ein bisschen von oben herab, wenn wer im eignen Kübelwagen sich in Gefangenschaft begibt, von seinem Burschen chauffiert, muss die Augen nicht senken (rechtzeitig nahm man Ihnen und zum Glück die selbstmordträchtige Waffe ab); Blick hin, Blick her übern Wolchow, in die Zukunft, übern Karpfenteich, diesen unverändert tragischen also möchten Sie uns noch immer verkaufen, uns, die wir ihn nach alledem nicht wollen! XX Ich jedenfalls, Herr General a. D., ich will Sie anders, will Sie in der einen Szene, in der ich Sie einmal BLICKLOS sah, in der Sie ? aufs äußerste derangiert - , Ihren Feldherrnblick vergaßen. Denn das Theater, General, will immer das Äußerste, wenn schon nicht die äußerste Größe, so wenigstens Erniedrigung oder die äußerste Lächerlichkeit. Sprecherin: Die Dramatikerin also, Sprecher: die einst kunstvoll und vielstimmig Zeitkritik und Vergangenheit in Szenen gefasst und aus eingeschmolzenen Erinnerungen Bühnenfiguren hat entstehen lassen, Sprecherin: erschafft diese Gestalten mit dem doppelten Wissen der Erinnerung und der Zeitgenossenschaft nun noch einmal neu. XX O-Ton 25 (Caemmerer) Dass das ein Lebensthema ist, das sieht man jetzt. Weil das dann ja immer wieder aufgenommen worden ist und die Figuren letztlich immer weiter entwickelt sind. XX O-Ton 26 (Reinshagen, Zwölf Nächte) General, zurückmarschiert, den Blick, die Figur von damals zu suchen (...), geradewegs zurück in diesen Juli 44, von dem ich nicht weiß, wie das Wetter war, noch das Datum genau, war es der 20. Oder der Tag danach? Hatten wir Regen, kochte die Luft unterm Fachwerk im Städtchen? Doch würde ich auch hundert Jahre leben, blieb mir noch immer unverblasst das Bild, das wir Kinder herumlungernd sahen: ein General auf Heimaturlaub, unbeweglich, im Schaukelstuhl, den sanftgefleckten Hund zu Füßen, die Zeitung auf den Knien, darin die Namen seiner Freunde, die Namen der gesuchten, der gejagten, der an die Wand gestellten Freunde, die ihn übergangen hatten bei der Opfertat; ein Mann, der so beschämt, all seine Kraft verlor, der einen Urlaub lang so sitzt, die Frau deckt ihn am Abend zu, und wieder ab am Morgen, er wird gefüttert löffelweis; wir sahn: er schluckt, nimmt Nahrung an, Halsmuskeln zeigen an, er lebt, erstaunlich, bei einem rundum toten Mann; wir schleichen durch den Garten weg, unheimlich wird das Gras, die Farbe grün im Dämmerlicht... Dies, käm es auf die Bühne, lebensecht, könnt uns die Posen tilgen: Hund, Schaukelstuhl, die schöne Frau, die Orden, Ehrenzeichen, roten Streifen, der starre Mann, der öde Blick, der Held mit der Serviette um den Hals als Lätzchen. Dies hier und heute nachzustellen, General, wärs Heldentat? Und das zu spielen Größe? Sprecher: In welche Schublade diese seltsamen und lang nachhallenden Texte gehören, ist schwer zu sagen. Sprecherin: Ein ironische gebrochenes Heldenepos vielleicht - aber wer schreibt heutzutage noch Epen? Sprecher: Ein Essay über das Theater? Sprecherin: Oder gar ein Entwurf für ein Stück? O-Ton 27 (Neumann) Das kommt mir auch alles vor wie eine Weltbühne, ja, wo die Leute auftreten und wieder verschwinden, aber immer da waren und eigentlich nicht abgehen können (...) weil sie ja wirklich nicht tot sind. Weil sie in der Erinnerung so stark sind. Und die Geschichte nicht abgeschlossen ist. Deswegen bleiben sie, glaube ich, auch noch lange mit uns und der deutschen Geschichte. Weil ich finde Gerlind ist eine durch und durch deutsche Autorin, ja. Regie: Musik (Herrmann) Sprecherin: Gerlind Reinshagens gegenwärtige Pläne kreisen nach wie vor und mehr denn je um das Theater. O-Ton 28 (Reinshagen) 0:24 Alle Welt ist im Moment ziemlich unglücklich übers Theater, niemand sagt, oh, das sind schöne Stücke, da ist mal eins, das fällt raus, da freut man sich, aber jeder sagt, nee, ich geh lieber ins Kino. Und da hab ich mir überlegt, ich möchte gern ein Theaterstück machen, warum, kann ich nicht erklären, aber ich hab mir überlegt, was eigentlich bei mir so hängengeblieben ist, was ich früher eigentlich so toll fand am Theater, was ich mir jetzt auch nochmal wünsche, aber in einer neuen Form. (...) Beim Theater ist für mich die Sprache am wichtigsten; seltsamerweise auch nicht die großen Aussprüche, meinetwegen von Goethe in Faust 2, sondern das, was nicht gesagt wird. Es kommt ein Satz und man erwartet den nächsten und der kommt nicht. Aber die Pause sagt unheimlich viel aus. Das möchte ich wieder beleben, das hab ich eben bei Horvath gefunden, bei Büchner, solche Stücke vermiss ich unglaublich. Sprecher: Und an einem solchen Stück arbeitet sie nun. Sprecherin: Ein Stück mit vielen Pausen, vielen Leerstellen, Sprecher: über die Liebe zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau. Sprecherin: Über die Liebe zur Sprache Sprecher: und das Sprechen als eine Form der Liebe. Sprecherin: Ein Stück mit vielen Mobiltelefonen. Zitator: Eine Stimme ist... Eine Stimme, ja, warten Sie... legen Sie nicht auf! Hören Sie zu Sie... Sie Zuhörerin! Ja, hören Sie endlich einmal richtig zu! Will Ihnen erklären, dass Sies begreifen, was dieses angebliche Nichts von Stimme wirklich ist: Die Menschenstimme nämlich: Eine Un-, Un-, Un-Begreiflichkeit, sage ich Ihnen, nein, eine Erfindung, nein, nein, ein Kunstwerk, möchte ich behaupten, eines der erstaunlichsten überhaupt, im Verlauf der Evolution, aus einem unartikulierten Laut entwickelt, einem Urgebrüll, jawohl, XX passen Sie auf: Von einem Träumer, nein, einem Künstler, nein, einem Verrückten, möchte ich behaupten, über Jahrmillionen zusammengebastelt, durch den Einsatz von simpler Atemluft langsam, langsam vervollständigt, bis hin zu diesem Wunderinstrument, XX das imstande ist... das einem Menschen, wenn es ihn trifft, wenns ihn kalt erwischt, (Pause) plötzlich und unerwartet das Herz umdrehn kann... Nein, nein... Nein, bitte, Unterbrechen Sie mich nicht! Nehmen Sie Ihre Gedanken zusammen! Unterstehen Sie sich, aus dem Fenster zu sehn! Weils nämlich noch immer erstaunlicher wird, die Geschichte immer phantastischer, wenn Sie entdecken, mit welchen Tricks sich diese raffinierte kleine Flüsterstimme, leise, leise, in der Nacht in einen fremden Organismus einschleicht, sich dort regelrecht einnistet, wieviel Tarnungen, Verwandlungen sie sich unterwirft, durch Tunnel, Wendelgänge, Schneckenhäuser quält, um endlich ihr Ziel ? das Hörzentrum des ahnungslosen Nachbarn ? zu erreichen. Unglücklicherweise das meine! Ausgerechnet! XXUnd soll ich Ihnen sagen, wozu? Um es ganz heimlich, hinterhältig zu besetzen, und weiter: über Cochlea, den linken Vorderlappen des Gehirns... mein kostbares Gehirn, Frau Namenlos, sich anzueignen...XX Zitatorin: Können Sie das nochmal sagen? Zitator: Nein. Kann ich nicht. Kein Kunstwerk, wenn es ein echtes ist, lässt sich zweimal auf dieselbe Art erklären. Ich frag mich überhaupt, Frau hinter den sieben Bergen, haben Sie eigentlich zugehört? Und wenn ja, warum? (Gerlind Reinshagen, C?est la vie (Arbeitstitel),noch in Arbeit, noch nicht veröffentlicht) Regie: Musik (Swing wie am Anfang) unterlegen Sprecherin: Das Theater geht weiter. Das auf der Bühne und das Welttheater sowieso. Sprecher: Die Stimme von Gerlind Reinshagen hat die deutsche Nachkriegsrepublik so viele Jahrzehnte begleitet, Sprecherin: auf unterschiedliche Weise, lauter und leiser, dramatisch und poetisch, erzählend und gelegentlich für eine Weile fast stumm. Sprecher: und dann doch wieder deutlich hörbar. Regie: Musik kurz stehen lassen. O-Ton 30 (29 gestrichen)(Peymann) Dass die Gerlind Reinshagen dann in diesem Konzert ein bisschen in den Schatten getreten ist, aber eigentlich doch immer die Substanz, die literarische Substanz am Leben blieb, das ist ihre Kraft - es kann ja passieren, dass in 50 Jahren, wenn wir alle schon längst verfault und vermodert sind, dass man plötzlich sagt, ach, das ist ja eine ganz großartige Autorin gewesen. Was ist denn mit den Theaterleuten los gewesen, was ist mit den Literaturkritikern los gewesen, das ist doch die Stimme, die aus dieser Zeit plötzlich gegen alles eine lyrische Bewältigung doch betrieben hat, das könnte durchaus sein, das gibt es ja (..) dass sie durchaus einen subkutanen Mainstream der Gesellschaft in ihren Bildern gefasst hat. Zitatorin: Wie lang schläft Unglück, eh es aufersteht? An einem hellen Wintersonntag in der geheilten, schön wieder auferbauten Stadt, als ich ? schon ahnungsvoll ? aufsah zu den Giebeln, traf ich sie plötzlich wieder: Hund, Teufel, Knecht, die Fratzen alle, einträchtig beieinander, in neuen Farben jetzt, verjüngt, gelackt, so treuen abgefeimten Blicks, wie nur Geschöpfe guter Hoffnung sind. Ich hörte auch wieder Blechmusik, die Himmel krachend von überhetztem Schall, und fern Geschütze grollen; ich dachte, Zeit stünde still. Mir setzt der Atem aus, das Herz; ich zog die Mütze tiefer ins Gesicht, dass sie mich nicht erkennen, und stürzt davon ? so schnell verließ ich keine Stadt ? und lief und lief und fühlte alter Narbe Schmerz und fürchtete, ich würde wieder jung. (Gerlind Reinshagen, Zwölf Nächte, Suhrkamp 1989, S. 59) 21 3 3