Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 27.12.2007, 19.30 Uhr Geisteswissenschaft und Mathematik An der Wende zweier Wissenschaftsjahre Der Mathematiker und Leiter des Helmholtz ? Zentrums für Kulturtechnik Jochen Brüning im Gespräch mit Peter Kirsten Frage: ?Mathematik ist die Sprache der Natur.? Mit dieser Feststellung hat Forschungsministerin Annette Schavan vor einigen Wochen das ?Jahr der Mathematik 2008? angekündigt. Was heißt das eigentlich? Nicht wenige werden bei diesem Bild, bei dieser Behauptung an die Stimmen der Tiere, an das Rauschen der Blätter im Wald denken. Mathematik als Sprache der Natur war nie unumstritten. In diesem zu Ende gehenden Jahr, im vergangenen Sommer, wurden wir an den Schriftsteller Alfred Döblin, an sein literarisches Werk und an seinen 50. Todestag erinnert. Alfred Döblin hatte sich in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einmal in Diskussionen um Mathematik und Naturwissenschaften eingemischt. In einem kleinen Artikel im Berliner Tageblatt von 1923 schrieb er: ?Die schreckliche Missgeburt, die die Wissenschaftler von heute uns als Natur demonstrieren, hat nichts mit dem zu tun, was wir um uns sehen und wirklich erleben. Niemals kommt die Mathematik an diese Dinge heran. Die mathematische Behandlung der Naturwissenschaften ist ein Irrweg.? Ich erwähne das, weil sich hier ein Sprachmensch so ganz entschieden gegen die Abstraktheit und Unverständlichkeit dieser Art von Sprache ausspricht, die die Mathematik darstellt. Und das ist ja etwas, was es wahrscheinlich heute noch gibt. Ganz nebenbei: Der Sohn Wolfgang Döblin studierte dann wenige Jahre später in der Emigration Mathematik und wurde ein ganz Großer seines Fachs. Vielleicht können wir diesen Gegensatz, diesen Verdruss an der Abstraktheit erhellen, wenn wir etwas mehr über die Sprachwerdung der Mathematik erfahren. Mein Gesprächspartner, Prof. Jochen Brüning, ist Mathematiker und seit 1999 Geschäftsführender Direktor des Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik in Berlin, das an die Humboldt Universität angeschlossen ist. Herr Brüning, ist mit dem Bild ?Mathematik ist die Sprache der Natur? die These erledigt, dass Mathematik auch eine Geisteswissenschaft sein kann? Jochen Brüning: So einfach ist das wahrscheinlich nicht. Ich würde auch gleich gerne diese Aussage etwas relativieren. Ich würde sagen, Mathematik ist die Sprache der Mathematiker. Ob es die Sprache der Natur ist, ist eine eher metaphysische Frage, die vielleicht gar nicht einfach zu entscheiden ist. Es ist sicher richtig ? und das sehen wir Tag für Tag ?, dass die Mathematik ungeheure, immer weiter ausgreifende Anwendungen findet, die unser Alltagsleben bis in die Einzelheiten bestimmen. Davon brauche ich jetzt gar keine Beispiele zu geben. Aber man versteht natürlich auch, was Alfred Döblin sagen wollte. Er wollte einfach sagen: Das Empfinden und Erleben der Natur, wie es, sagen wir mal, einem empfindsamen Menschen entgegen kommt, findet sich in keiner Weise wieder in der Formelsprache, die die Mathematiker nach außen hin gebrauchen, ja, in der sie ihre Wissenschaft niederschreiben. Frage: Vielleicht kommen wir noch darauf zu sprechen. Es ist ja so, dass man die Sprache der Mathematik, wenn ich das richtig gelernt habe aus einem Artikel, den Sie auch geschrieben haben, nicht unbedingt auf die Formelsprache reduzieren muss. Stichwort Sprache: Wie begann das? Wir können vielleicht einen kleinen Exkurs machen. Wir können sicherlich nicht die ganze Geschichte abhandeln. Aber da Ihr Helmholtz-Zentrum ?Zentrum für Kulturtechnik? heißt, würde ich schon gern mal das in den Zusammenhang stellen. Welche alten Kulturtechniken waren es denn, die die Mathematik im Prinzip beförderten, die bei der Entwicklung der Mathematik Pate standen? Jochen Brüning: Ja, man kann das erkennen an der Einteilung der universitären Fächer, die in der mittelalterlichen Universität in das Trivium, den Dreiweg der Sprachwissenschaften sozusagen, Grammatik, Rhetorik und Logik, den vier mathematischen Wissenschaften Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik, gegenübergestellt wurden. Nebenbei bemerkt entstand daraus das Wort ?trivial?, das Mathematiker bekanntlich gerne gebrauchen. Man kann sich fragen, wodurch die vier quadrivialen Wissenschaften eigentlich verbunden sind. Und das, denke ich, ist so, dass sie alle zu gemeinsamen Techniken führen. Und das ist im Wesentlichen die Technik der zweidimensionalen Arbeitsebene, und zwar eine Arbeitsebene, die wieder beschreibbar ist. Da können Sie einmal die Aufzeichnungen der Sonnenuhr abbilden oder abbilden lassen. Sie können geometrische Zeichnungen machen. Sie können mit einem gezeichneten Abakus rechnen. Solche gab es übrigens in sehr vielen Städten, die einfach in die Steine gemeißelt waren. Und schließlich können Sie auch die musikalischen Harmonien geometrisch darstellen. Das war die große Entdeckung des Pythagoras. Frage: Und wo bleibt die Zahl? Jochen Brüning: Ja, die Zahl. Die Zahl ist sozusagen in dem gesamten mathematischen Gefüge, sage ich immer gerne, das Atom, das eigentlich Unreduzierbare - wie Goethe sich einmal sehr schön ausdrückte: ?Es ist etwas von trauriger Gestaltlosigkeit.? Frage: Was war es denn - welche kulturelle Entwicklung hat denn die Bedeutung der Zahl und den Umgang mit ihr vorangetrieben? Sie kam ja nicht aus dem Nichts. Die Zahl und der Umgang mit ihr, das beutet das Rechnen dann schließlich, das muss ja einen Grund gehabt haben. Jochen Brüning: Also der Grund, den wir sozusagen mit Händen greifen können, ist die so genannte Neolithische Revolution, die plötzlich zu systematischem Ackerbau führt, nicht plötzlich, vielleicht über kurz oder lang - damit das Kohlehydrat in einem Maße verfügbar macht, wie das nie vorher der Fall war. Es folgt eine Bevölkerungsexplosion. Und durch diesen Nahrungsüberschuss gelingt es, einen gewissen Teil der Bevölkerung freizustellen von der Sorge um das tägliche Brot ? buchstäblich. Das kann sich eine Jäger- und Sammlerkultur nicht leisten. Die kann vielleicht einen Schamanen ertragen, also mit ernähren, aber nicht eine Gruppe von Spezialisten, die sich z.B. jetzt um Landvermessung, um die Buchführung, wie sie in Babylonien, Mesopotamien seit 3.000 ungefähr, bisschen weiter, überliefert ist - die sich um solche Dinge kümmern und dabei natürlich im Umgang mit diesen Techniken notgedrungen auch protomathematische und vielleicht dann auch wirklich mathematische Verfahren entwickeln. Frage: Und wie ging diese Entwicklung dann weiter, der Übergang von der konkreten Zahl, von dem Atom, wie Sie das ausdrückten, dann zu dem abstrakten Zahlenbegriff? Denken wir z.B. an die Unterteilung in gerade oder ungerade Zahlen oder dann in Primzahlen. Das war ja nicht von vornherein da. Das ist ja durch Entwicklung entstanden, möglicherweise eben dann im Zusammenhang damit, dass sich arbeitsteilige Prozesse ergaben, dass Menschen dann in der Lage waren nachzudenken, möglicherweise dann eben auch über das Abstrakte nachzudenken. Welche Gründe führten zu dieser Hinwendung zur Abstraktion? Jochen Brüning: Ich denke, das ist der eigentliche Sprachprozess. Abstraktion ist nichts, was sich von selbst ergibt. Und sie drängt sich auch in den seltensten Fällen wirklich auf. Das ist der Grund, warum das so schwer ist, Abstraktion zu unterrichten. Denn man muss einen Teil dieser Entwicklung mit vollziehen. Wenn aber Gruppen von eng kooperierenden Mathematikern zusammen sind - und das Schöne ist, so ist es eben heute auch noch, genau so -, dann entzündet sich dieses Interesse. Und in der Kommunikation über solche Probleme entsteht plötzlich etwas Neues, werden die Begriffe geprägt, mit denen man dann hantieren kann. Wenn Sie keinen Begriff dafür haben, z.B. für gerade und ungerade, können Sie auch nicht darüber reden und auch damit nicht rechnen oder abstrakte Schlussfolgerungen ziehen. Also, man nimmt es zum Teil einfach aus dem, was vorkommt. Ich denke, das Gerade und Ungerade könnte aus den traditionellen Prozessionen kommen, Paarprozessionen, die ja in diesen Ackerbaukulturen gang und gäbe sind. Und sie sehen einfach, dass gerade und ungerade ein ganz wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist. Sie brauchen gar nicht zu zählen, wenn sie wissen wollen, ob genauso viele Männer wie Frauen an einem Ort sind, sagen einfach, sie sollen Paare bilden, und dann sehen sie, was übrig bleibt. Frage: Das ist doch sehr nachvollziehbar. Der nächste Schritt dann oder einer der nächsten Schritte dann, die Hinwendung zur Primzahl, die lässt sich dann schon schwerlich aus der Wirklichkeit ableiten. Jochen Brüning: Nicht in demselben Maße. Frage: Aber trotzdem ist sie gefunden worden. Jochen Brüning: Sie ist gefunden worden, untersucht worden. Und ich denke, das liegt daran, dass so eine Gruppe von Leuten interagiert und diese Sprache und damit den gedanklichen Raum schafft, in dem sich so etwas entwickeln kann. Frage: Es gibt so einen sinnfälligen Zusammenhang, Herr Brüning. Wir kennen die beiden Worte ?zählen? und ?erzählen?: Zählen zunächst im Sinne eines Abzählens, wir haben auch schon darüber gesprochen, einer Rangfolge, dann auch im Sinne einer Menge. Und ?erzählen? - die Beschreibung eigentlich einer Kommunikation. Es ist fast so, als würde sich diese Entwicklung, von der wir sprachen, die Anfangsgründe der Mathematik, immer wieder wiederholen bei der Entwicklung eines Kindes, das wahrscheinlich so ähnlich anfängt. Die Prozedur, die beim Kind doch immer wieder abläuft, immer wieder aufs Neue: Sie erzählen etwas, sie erzählen sich untereinander etwas und erzählen ihren Eltern etwas über das Zählen. Ist das ein Bild, das man so vertreten kann? Jochen Brüning: Das ist sicher richtig, abgesehen davon, dass natürlich eben der Prozess einer eigenen mathematischen Sprache bei Kindern nur selten stattfindet. Sie werden sozusagen mit fertigen Kulturtechniken konfrontiert. Und man trainiert sie darauf, diese Kulturtechniken zu lernen, um einfach natürlich auch die Entwicklung abzukürzen. Wenn man alles genetisch machen würde oder phylogenetisch, dann wäre das natürlich einfach viel zu lang. Sie können das aber wahrscheinlich simulieren. Wenn Sie also mehrere begabte Kinder früh zusammenbringen, wird sich so etwas vermutlich entwickeln. Frage: Würden die vielleicht eine eigene Sprache dann finden? Jochen Brüning: Das tun sie auf jeden Fall. Ich mein, man darf damit keine Experimente machen, weil das einfach ein zu starker Eingriff in die Persönlichkeit ist, aber es ist durch Zufall entstanden: Zwillinge, die z.B. bei einer taubstummen Tante aufgewachsen sind, hatten eine perfekte eigene Sprache ? natürlich mit Worten, die niemand kennt. Frage: Sie haben eingangs dieses Bild, diese Behauptung ? Mathematik sei Sprache der Natur ? etwas relativiert. Sie sprechen lieber von der Sprache der Mathematiker. Ich komme noch mal auf einen ganz Großen, auf Galileo Galilei zu sprechen. Der sagte: ?Mathematik, das ist die Grammatik des von Gott verfassten Buches der Natur.? Das klingt ja auch irgendwie erhaben, was der Galileo da geschrieben hat. Die Kehrseite wäre dann die Erinnerung an den Turmbau zu Babel, an Gottes Strafe, dass die verschiedenen Sprachen nun in die Welt kommen ? und vielleicht auch die Sprache der Mathematik, als eine besonders schwierige Sprache. Aber im Ernst: Ist das Bemühen um Kommunikation, das mit dem Erlernen einer Fremdsprache einhergeht, nicht vergleichbar mit dem Eindringen in die Sprache der Mathematik? Läuft hier nicht eigentlich so was ganz Ähnliches ab? Jochen Brüning: Ich denke, dass das so ist ? mit gewissen anderen Regeln. Also, man muss beim Erlernen dieser ja nicht sehr wortreichen Sprache konzentrierter sein. Man muss andere Bilder vielleicht auch im Kopf entwickeln als man das im Rahmen der natürlichen Sprache tut. Aber im Prinzip, denke ich, ist es dasselbe. Es ist ein Prozess, der sozusagen das Individuum, das einzelne Individuum übersteigt. Und das ist ungewöhnlich, auch für Mathematiker, das so zu sehen. Aber viele sind sich dessen doch in merkwürdiger Weise bewusst. Es gibt z.B. einen der bedeutendsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts - Alexander Grothendieck heißt der, sogar in Berlin geboren -, der im Zusammenhang mit der Studentenrevolution 68 in Frankreich sehr aktiv war und da in einem Gespräch mal gefragt wurde, was er tun würde, wenn er auf eine einsame Insel käme ? so nach dem Motto: Welche Bücher nehmen Sie mit etc.? Und dann sagte er, er würde auf jeden Fall sofort aufhören Mathematik zu machen. Und da waren die Fragenden natürlich erstaunt und fragten, wieso? Und da sagte er: Mathematik kann man nicht alleine machen. Und das ist tatsächlich der Fall. So wie bei Hegel, da finden Sie etwas isoliert den merkwürdigen Satz, dass man einen abstrakten Gedanken nicht alleine denken kann. Aber ich glaube, er meint genau dasselbe. Sie brauchen sozusagen die Abstützung durch ein anderes Gehirn, das sagt, ja, könnte ich mir auch vorstellen, oder dann, dass es sogar das Wort, das Sie vorschlagen, selbst benutzt. Frage: Der Alexander Grothendieck hat ja das dann wahr gemacht. Er hat sich von der Mathematik verabschiedet und ist heute verschollen ? könnte man fast sagen. Jochen Brüning: Er lebt irgendwo in der Einsamkeit. Es gibt einige Leute, die wissen, wo er ist, einige wenige. Frage: Vielleicht ist das ein Thema, das man auch in dem Jahr der Mathematik einmal näher verfolgen kann. Es ist eine hochinteressante Biographie. Sie haben aber im Zusammenhang mit der Verständlichkeit in der Sprache auf einen anderen großen Mathematiker verwiesen: Leonhard Euler. Wir wissen von ihm, dass er die größte Zeit seiner aktiven Schaffensperiode in Blindheit, in nahezu Blindheit verbracht hat und trotz dieser Blindheit hervorragende Werke geschaffen hat, verständlich in der Darstellung. Das verweist doch eigentlich darauf, dass ? ich erwähnte es am Anfang ? dass die Mathematik wirklich nicht auf die Formelsprache reduziert werden kann und dass hier, wenn man jetzt mit Blick auf Leonhard Euler dieses Beispiel nimmt und sagt, ja, er konnte das sehr gut, dass die Sprache der Mathematik dann möglicherweise auch von einem gewissen subjektiven Vermögen abhängig ist. Das heißt, sie muss nicht zwangsläufig immer diese hohe Abstraktionsstufe haben. Jochen Brüning: Das sind ziemlich viele Punkte auf einmal, aber sie sind natürlich sehr zentral und wichtig. Ich denke, die Formelsprache, die geschriebene Mathematik, ist in gewisser Weise a posteriori. Da, wo sich Mathematik entwickelt, wo neue Begriffe ertastet werden, dann vorgeschlagen und schließlich akzeptiert werden, ist das Vorgehen eben etwas anders. Na gut, wir Mathematiker benutzen praktisch ausschließlich Stift und Papier oder eine Tafel und Kreide, um sich schneller zu verständigen. Das ist kein Widerspruch zu dem Sprachcharakter. Wenn wir ? also ein scheinbares Gegenbeispiel ? mal ins Feld führen, wenn wir die Euklidischen Elemente nehmen, das berühmteste am längsten existierende mathematische Buch, ? Frage: .. und die erste mathematische Theorie? Jochen Brüning: Ja, und zwar die erste, von der wir heute sagen würden, sie ist wirklich eine vollständige mathematische Theorie, wenn man auch Kleinigkeiten da noch ändern musste. Und wenn wir das Buch nun einfach vorlesen würden, ohne diese Diagramme zu zeigen, die in dem Buch enthalten sind, dann würde das Verständnis sehr gering sein. Mit einem gewissen Training können Sie das verbessern, also, dass Sie sich die Konstruktionen, die da beschrieben werden, vorstellen. Aber in einem beschrifteten Diagramm das zu illustrieren, ist eine sehr effektive Art und Weise, so eine Konstruktion zu kodieren. Die leuchtet unmittelbar ein. Frage: Das ist doch auch etwas, was Sie in Ihrem Helmholtz -Zentrum für Kulturtechnik untersuchen - eben gerade diese Bildhaftigkeit oder das Bild in Verbindung mit dem formalen Text, mit seinem logischen Inhalt zu nehmen und da zu schauen, was wechselwirkt da eigentlich und wie kommt man hier zu einem Verständnis. Jochen Brüning: Wir haben ja verschiedene Kodierungsformen. Also, die sprachliche Kodierung sind akustische Signale. Wir haben auch die Gebärden. Wenn wir beide uns z.B. unterhalten, spielt der Gesichtsausdruck für das Verständnis des Gegenübers auch eine sehr große Rolle. Wir können uns natürlich auch durch Symbole und durch wirkliche Kodes, durch verschlüsselte Kodes verständigen. Worum es aber eigentlich geht, das hat Euler immer sehr schön ausgedrückt, dass man die Sache so darstellen muss, dass das Wesentliche einem unmittelbar ins Auge fällt. Das ist die Kunst. Und dazu sind Bildlichkeit, Diagrammatik, Grammatik und jedes andere Hilfsmittel ? Bewegungen z.B., geeignete Bewegungen - sind durchaus sehr, sehr fördernd. Und da gibt es eine lange Entwicklung natürlich, seit Hunderttausenden von Jahren, und in der Entwicklung immer wieder Übersprünge, die aus einer anderen Technik etwas nehmen, was sich da als gut erwiesen hat. Und die ganze - auch die eigentlich technologische - Entwicklung ist von solchen Zusammenhängen begleitet. Frage: Wir haben vorhin von der Fremdsprache oder von der Ähnlichkeit zur Fremdsprache gesprochen. Gibt?s nicht auch eine gewisse Ähnlichkeit zu einem Sprachraum, den wir mit Lyrik bezeichnen? Jochen Brüning: Den gibt es auch, das ist natürlich dann, sagen wir mal, eine mehr artistische Sprachform. Und die Mathematik in ihren schönsten Äußerungen, wie ich sie als Mathematiker jetzt bezeichnen würde, ist meiner Ansicht nach durchaus mit der Lyrik verwandt. Und es gibt auch Poeten, die das wahrnehmen, anders als Döblin, zum Beispiel Enzensberger, das ist ja doch bekannt, bezieht sich sehr oft auf Mathematik, hat auch mathematische Gedicht geschrieben. Frage: Auch in dem Sinne, dass man natürlich auch hier Regeln kennen muss? Dass man nicht einfach konsumieren kann und insofern also zunächst mal eine Sprache hat, die auch erlernt werden muss. Jochen Brüning: Dem Dichter ist auch nicht jedes Wort erlaubt. Aber man kann am Ende ein Gesetz dafür nicht finden. Und was vielleicht für den Laien dabei schwer verständlich ist, ist, dass Mathematik eben nicht zwangsläufig ist. Sondern ihre Ergebnisse unterliegen logischen Gesetzen, aber der Weg, wie man zu den Ergebnissen kommt, und überhaupt, welche Ergebnisse man auswählt aus der unendlichen Fülle von richtigen oder falschen Sätzen, das ist eine Wahl, die sehr individuell oder sehr gruppenabhängig, sehr sprachabhängig geschieht. Und da gibt es natürlich gelungenere und weniger gelungene. Frage: Wenn diese Mathematik mit ihrer so genannten ?kalten Logik? zu Ergebnissen kommt, die in viel strengerem Sinne als wahr gelten, wie in anderen Wissensbereichen, dann könnte man doch im übertragenen Sinne vielleicht sagen: Die Tiefe mathematischen Denkens, ihre Abstraktheit, auch ihre Schwierigkeit ist der Preis für beständige Wahrheiten. Jochen Brüning: Ja, das ist sicher richtig. Danach muss man sich ja auch mal fragen. Warum lassen die Mathematiker es nicht dabei bewenden, dass sie ein- für allemal eine Sprache mit Worten haben, die so bleiben, wie sie sind, und dann eben leicht erlernbar sind? Es ist eben eine gewaltige Entwicklung in der Mathematik im Gange, die zunimmt mit der Zahl der Mathematiker. Sie ist also lange Zeit sozusagen unter dem Bevölkerungswachstum geblieben in der Rate, aber durch den Buchdruck, also die Erhöhung der Kommunikationsleistung, ist sie überexponentiell angewachsen. Frage: Und wie ist der aktuelle Stand, was die Mathematikstudenten angeht ? aufwärts ? Jochen Brüning: Aufwärts, also weltweit stark wachsend, was eben hohe Anforderungen an die Kommunikationsleistung stellt. Frage: Aber ich habe Sie unterbrochen. Jochen Brüning: Ich wollte sagen: Die Mathematik schleppt sozusagen immer ihr gesamtes Gebäude mit sich, auch wenn man das nicht sieht, auch wenn es Bereiche in dem Gebäude gibt, die für lange Zeit nicht aktuell sind. Die werden aber deswegen nicht falsch. Die liegen da irgendwo und man versucht immer wieder die Grundlagen neu zu bearbeiten. Also, der große Versuch der Mathematikergruppe Bourbaki, die Elements de Mathematique, die Elemente der Mathematik, wie das Buch von Euklid - , das ist ein klarer Rückgriff: Wir machen jetzt alles neu, stellen alles auf eine neue Grundlage. Das ist letzten Endes daran gescheitert - trotz vieler schöner Sachen, die sie gemacht haben - , weil die Mathematik sich zu schnell entwickelt; weil dieser Prozess des Durcharbeitens der ganzen Masse, der ist eigentlich der, der Mathematik schwierig macht. Es sind zu viele Schichten, die Sie beachten müssen - auch dem Mathematiker, der vielleicht in Algebra sehr gut zu Hause ist, dem ist die Entwicklung in der Analysis nicht vertraut in aller Regel. Und wenn er einen Experten trifft, der ihm so richtig mal erzählt, worüber er gerade nachdenkt, dürfte er Schwierigkeiten haben, das zu verstehen. Frage: Sie haben vor zwei Jahren so eine Tagung gehabt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Da ging es um die Mathematisierbarkeit oder Mathematisierung der Natur - in Klammer: Sprache der Natur. Ich hab mir das mal angeschaut. Und da ist ein interessanter Gedanke drin - ich weiß nicht mehr, wer die Frage in den Raum geworfen hat: Wenn man die Mathematik als eine Art kulturelle Evolution auffasst, innerhalb derer dann informationsverarbeitende Systeme entstehen, und man kann dann in diesem Zusammenhang die Sprache der Mathematik als eine Spezialsprache für bestimmte Zwecke auffassen, wenn das also so ist, dann könnte man weiterdenken...das ist etwas, was Sie mit der Entwicklung der Mathematik jetzt bissel angedeutet haben...dann könnte es doch in der Weiterentwicklung eine Sprache geben, die in ihrer Mächtigkeit über die derzeitige Mathematik hinaus geht. Ist das eine Zukunftsperspektive ? Jochen Brüning: Ja, ich bin davon überzeugt. Wenn also keine gravierenden Störungen auftreten, wird das sich zu einer immer stärkeren Sprache entwickeln. Der berühmte John von Neumann, der Erfinder, Erbauer des ersten richtigen Rechners, der aber auch in vielen mathematischen Gebieten zu Hause war, der starb ja relativ früh - mit 55 - an einem Gehirntumor, der wahrscheinlich durch die Beobachtung der Atombombe kam. Und seine letzten Vorlesungen galten dem Gehirn und seiner mathematischen Erfassung, damals natürlich noch ganz anders als heute. Aber er sagte dann am Ende: Wenn wir in der Lage sein werden, eine mathematische Sprache zu finden, die das Gehirn beschreibt, dann haben wir eine ganz andere Mathematik. Das ist genau das, jetzt an einem konkreten Beispiel besprochen, was Sie mit dieser Frage aufwerfen. Ich denke, es gibt sehr, sehr viele Dinge, die wir noch verstehen müssen und deren Verständnis uns sicher wesentlich weiterbringt. Und so ist es auch in der Geschichte der Mathematik gewesen in diesen großen Verzweigungspunkten, wie wir sagen würden. Frage: Bisschen damit hat auch Folgendes zu tun: Man ist ja immer wieder erstaunt darüber, wie es der Mathematik gelingt, aus sich heraus Theorien und mathematische Apparate zu entwerfen, gleichsam vorzufertigen, die erst später von den Naturwissenschaften abgerufen werden - in den Naturwissenschaften erst später zur Anwendung kommen und dort dann ganz einwandfrei zur Problemlösung führen. Großes Beispiel ist Bernhard Riemann, der seine Geometrie entworfen hat, ich glaube, 50 Jahre vor Albert Einstein. Albert Einstein hat sie dann in der Allgemeinen Relativitätstheorie genutzt. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von der ?modellierenden Kraft der Mathematik?. Woher kommt diese Kraft? Jochen Brüning: Ja, das ist eben das Rätsel. Ich meine, wenn man sagt, sie ist die Sprache der Natur, dann postuliert man, dass die Mathematik also sozusagen so ist, wie die Natur. Da haben wir eigentlich letztlich keinen Zugang zu dieser Aussage. Richtig ist natürlich, dass sich die mathematische Sprache und das mathematische Denken an der Natur entwickelt, denn daher kommen die meisten interessanten Probleme. Es tritt dann ein sozusagen ?innerer? Prozess ein. So, wenn wir zählen und wir wollen effektiv zu rechnen lernen und entdecken alle möglichen Teilbarkeitsregeln und sonstiges, müssten wir nicht notwendigerweise auf den Begriff der Primzahl kommen. Und Gauß, der ja auch ein sehr Großer war, hat sich sein ganzes Leben lang mit der Frage beschäftigt, wie die Primzahlen sich verteilen und hat die Primzahlen bis zu einer Million berechnet, immer sehr schnell. Er brauchte ungefähr eine Viertelstunde für tausend Zahlen, um die durchzumustern ? im Kopf. Und jemand hat ihn natürlich immer gefragt, warum machst du das denn eigentlich? Ich meine, das hat doch für die Erklärung der Natur keinen offensichtlichen Nutzen. Und dann sagte er, ?das erfordert die Würde der Wissenschaft?. Das ist ein eigentümliches Spannungsverhältnis zwischen den Anwendungen der Mathematik, die übrigens in der Regel nicht die Mathematiker machen, da muss man auch aufpassen, und den Problemen, die die Mathematiker aus der Natur ziehen, und den Problemen, die sozusagen durch Nebeneinanderstellen und Vergleichen der Begrifflichkeit, sozusagen der Worte, mit denen sie darüber reden sollen, entstehen und mit denen sie die Wissenschaft bilden, die also letzten Endes völlig unabhängig von der Natur unterrichtet werden könnte. Frage: Sie erwähnten, dass die Entwicklung der Mathematik ihre Anregungen aus der Natur bekommt, und Sie sagten dann, von Neumann würde mit Blick auf die Zukunft postulieren, dass es eine ganz neue Mathematik gäbe, wenn man das Gehirn verstanden hätte. Hat er das Gehirn jetzt als Natur betrachtet, als physiologisches Substrat oder hat er dort noch etwas anderes drin gesehen? Jochen Brüning: Ich glaube, er hat einfach danach gefragt, so wie die Neurologen heute, die Neurowissenschaftler: Was sind das für Prozesse, die da ablaufen? Wie ist es möglich, dass wir so schnell erkennen, was für Gegenstände z.B. auf diesem Tisch liegen? Das kann man mit normalen Sortieralgorithmen nicht machen. Wir müssen irgendwelche anderen Algorithmen benutzen, die zu erkennen uns natürlich sozusagen mathematisch extrem nützlich sein sollte. Frage: Da fällt mir das Stichwort ?Parallelrechner? ein. Jochen Brüning: Ja, so was ist es vielleicht, aber ich glaube, es gibt eigentlich noch keine vernünftige Idee dafür, wie sich z.B. ein Gedanke bildet. Das ist schon äußerst verblüffend. 1 27-12 Mathematik-Brüning-EndEnd.doc