Deutschlandradio Kultur Literatur am 30. März 2010 Redakteurin: Dorothea Westphal Quälgeist der Belle Époque Octave Mirbeau, Skandalautor der literarischen Décadence Von Sven Ahnert Reihe : Literatur Titel der Sendung : "Quälgeist der Belle Epoque" Octave Mirbeau, Skandalautor der literarischen Décadence AutorIn: : Sven Ahnert Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 30.03.2010 Regie : Besetzung : Erzähler (Kommentar), Zitator, Sprecherin v.D. (für 2 Zitate) O-Töne und Atmos im V-Speicher Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 [Musik Cheri] Zitator Octave Mirbeau ist der größte französische Schriftsteller unserer Zeit und derjenige, der in Frankreich den Geist des Jahrhunderts am besten repräsentiert. Sprecher Leo Tolstoi [Musik Cheri] Zitator Der Rächer der Entrechteten, der sein Herz den Ärmsten der Armen und den Leidenden dieser Welt geschenkt hat Sprecher Émile Zola [Musik, Cheri] O-Ton 1 Grommes Man kann schon sagen, dass er der Autor der Belle Époque, der Autor der Decadénce und der Autor des Fin de Siecle war. Also für Glücksritter, Finanzbarone und Optimisten hieß das Belle Époque und für Realisten, das ist das Ende vom Ende, das Fin de Siecle, weil schlimmer geht's nicht mehr. Sprecher Wieland Grommes, Übersetzer und Kenner des Werkes von Octave Mirbeau, der mit seinen sozialkritischen und radikalen Romanen wie "Ein Golgatha" die krisenhafte Grundstimmung in der französischen Gesellschaft nach Ende des deutsch-französischen Krieges 1871 eingefangen hat. Wirtschaftliche Rezession, politische Resignation nach der schmachvollen Niederlage gegen den Erbfeind Deutschland bereiteten der Literatur der Dekadenz den Boden. Satanismus, sexuelle Ausschweifung und übersteigerter Ästhetizismus waren Themen dieser Zeit. Zitator Das "Schöne" nun auch in der Gestalt des Anrüchigen, Dekadenten, hat sich von den Werten gelöst, die bisher seine obligaten Begleiter waren: vom "Guten" und vom "Wahren". Sprecher Schreibt der Romanist Roger Bauer in seiner Abhandlung "Die schöne Décadence" .Schöne Décadence scheint zunächst ein Gegensatz, meint aber eine literarisch-ästhetische Bewegung, die sich bewusst gegen bürgerliche Werte und Traditionen auflehnt. Desillusioniert durch einen verlorenen Krieg, aufgeschreckt durch die Erfahrungen mit dem blutigen Ende der Pariser Commune und einer Erstarkung des profitgierigen Bürgertums. "Helden" der Dekadenz-Literatur sind keine einfachen geknechteten Menschen, so wie sie in den Romanen von Emile Zola beschrieben werden, sondern Exzentriker und neurotische Einzelgänger wie der Erz-Dandy Des Esseintes, dem der belgische Dichter Joris Karl Huysmans in seinem Roman "Gegen den Strich" ein Denkmal gesetzt hat, [Zitator] Er kam in den Ruf eines exzentrischen Sonderlings nicht zuletzt dadurch, dass er weiße Samtanzüge und goldverbrämte Westen und als Krawatte im tiefen Ausschnitt des Hemdes einen Strauß Parmaveilchen trug; er gab aufsehenerregende Diners für Schriftsteller, darunter eines im Stil des 18. Jahrhunderts.. In seinem schwarzdrapierten Esszimmer, das auf den Garten ging, von dem aus man die mit schwarzer Kohle bestreuten Alleen und das kleine, von dunklen Basalt umrandete, mit Tinte gefüllte und in einer Gruppe von Zypressen und Pinien stehende Bassin sah, wurde das Essen auf einem schwarzen Tischtuch aufgetragen; Sprecher Dandy-Gestalten wie eben jener berühmte Des Esseintes, aber auch historische Figuren wie der blutrünstige Ritter "Gilles de Rais", Kaiser Caligula oder die grausame Cleopatra wurden regelrecht zelebriert. Zitator Diese Schöne Königin, die sich in den Orgien wälzt, stolzer auf ihre Laster als einst auf ihre Tugenden. Sprecher Gustave Flaubert, selbst kein Vertreter der literarischen Décadence, jallerdings fasziniert von den blutrünstigen Bildern der spätrömischen Antike wie sie der Dichter Theophile Gautier in seinem Roman "Mademoiselle de Maupin" entworfen hat. O-Ton 2 Grommes Ganz im Gegenteil von dem Klischee eines Schriftstellers, der in seiner Stube sitzt und schreibt, wochenlang wie Flaubert an einem Adjektiv feilt oder der wie ein wild gewordener Berserker wie Balzac pausenlos schreibt, um seine grauenhaften Schulden etwas zu vermindern, ist Octave Mirbeau immer ein Mensch, der in der Öffentlichkeit steht. Sprecher Geboren am 16. Februar 1848 in der Region Calvados, wächst Mirbeau in der Provinz auf und erlebt bedrückende Oberschuljahre im Jesuiten- Collège in Vannes, von dem er mit 15 Jahren flieht. Vermutlich war er ein Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen der Patres aus der Anstalt. 1866 beginnt er ein Jurastudium in Paris, das er bald wieder aufgibt. Auf Druck des Vaters nimmt er eine erste Anstellung bei einem Notar im Heimatdorf Rémalard an. Mirbeau erfährt am eigenen Leib die Torturen einer missratenen Erziehung. Zitator Eltern, Erziehung und Staat verüben einen dreifachen Mord an einer Kinderseele, den Mord an tausend Mozarts. O-Ton 3 Grommes Die Jesuiten hatten das Erziehungsmonopol absolut, überall und restlos, also von der Kindererziehung, durch die Kirchen in die Familien bis ins letzte Dorf hinein. Jede Art von Collège wurde von Jesuitenpatres geleitet. In seinem ersten von seinen drei autobiographischen Romanen wie zum Beispiel "Sébastien Roch" beschreibt er eine Kindheit, die durch Geistliche auch sexuell malträtiert wurde. [Musikakzent, La Décade prodigieuse] Sprecher Der Missbrauch Schutzbefohlener ist ein starkes Motiv in vielen Büchern Mirbeaus. In seinem Roman "L'Abbé Jules",der 1888 erscheint, erzählt Mirbeau die Geschichte eines jungen Mannes, der sich zum geistlichen Stand berufen fühlt, doch schon bald Kirche, Religion, Gott und das Keuschheitsgelübde als "Scharlatanerie" erfährt. Auch in seinem Roman "Die 21 Tage eines Neurasthenikers", veröffentlicht 1901, kommen böswillige Patres, Vikare und andere zwielichtige Geistliche nicht zu kurz. Zitat "Nun, dann sagen wir fünf Francs, weil du ein armer Schlucker bist . . . Du gibst mir fünf Francs . . .Dann, bei der Ernte, wirst Du mir einen Scheffel Kartoffeln geben und im September zwölf Pfund Butter . . . Einverstanden? ..." [Musik La Décade Prodigieuse] Zitat "Morin kratzte sich einige Minuten ratlos am Kopf . . ." Und als Draufgabe werdet ihr sie taufen?" "Und als Draufgabe werde ich sie taufen . . .Paßt dir das?" "Das sind ganz schöne Kosten . . ." murmelte Morin . . . , "ganz schöne Kosten . . ." "Nimmst Du das Angebot an?" "Nun gut, nur sind das trotzdem ganz schöne Kosten..." [Musik La Décade Prodigieuse] Zitat Darauf fuhr der Vikar hastig mit seinen Händen über den Kopf des Kindes, tätschelte ihm den Bauch, brabbelte lateinische Worte, fuchtelte seltsame Zeichen in die Luft. "So", sagte er dann, "jetzt ist der Teufel draußen . . . Nun können wir sie taufen . . ." [Musik La Décade Prodigieuse] Sprecher Ähnlich wie Alexandre Dumas oder Eugene Sue war auch Octave Mirbeau ein Vielschreiber, der reißerische Fortsetzungsromane für Zeitungen verfasste. Oft saß er an bis zu zehn Romanen gleichzeitig. Dessen ungeachtet führte Octave Mirbeau als gefürchteter "Revolverjournalist" Zeit seines Lebens einen Feldzug gegen Ausbeutung, Korruption und gegen jede Form der Diskriminierung von Minderheiten. O-Ton 4 Grommes Revolverjournalist auch deshalb, weil er wegen Verleumdungen, Kollegenstreits und um Honorare Duelle gemacht hat. Es ist ständig in Versammlungen, um alles Verbrecherische und Grauenhafte anzuklagen; er hat nur Grauenhaftes und Verbrecherisches in Gesetzen im Staat, in der Regierung, Banken und der Kirche gesehen. War ständig bei Kommittees dabei, die um Menschrechte gekämpft haben, gegen die Todesstrafe, für die Trennung von Kirche und Staat, gegen den Kolonialismus, gegen das Wettrüsten. Man wundert sich: Das sind Sachen, die heute noch vollkommen aktuell sind. Sprecher Aber nicht nur als politischer Kämpfer für die "gute Sache" ist Mirbeaus Name in aller Munde, auch als schillernde Figur des gesellschaftlichen Lebens macht er in den Klatschspalten von sich reden. O-Ton 5 Grommes Seine Frau war ein Skandal in sich, weil sie einerseits in den edelsten Formen der Prostitution gearbeitet hat und andererseits eine Schauspielerin war, die ihn so ungeheuer fasziniert hat; die hat er in einem Shakespeare-Stück gesehen und hat gesagt: Die Frau muss ich heiraten. Das hat er dann geschafft. Das war ein gesellschaftliches Skandalon. Typisch für Mirbeau. [Musik Popaul] O-Ton 6 Grommes Jedes Buch, jeder Roman, der von ihm herausgekommen ist, war genauso provozierend wie seine journalistischen Arbeiten und seine Reden und wurden entsprechend auf die Goldwaage gelegt. Auf jeder dritten Seite auf seinen Büchern gab es etwas, was genau so große Skandale erregt hat wie in seinen vielen Pressestreitartikeln. Sprecher In Deutschland ist Octave Mirbeau vor allem wegen eines Romans bekannt geworden: "Tagebuch einer Kammerzofe" - verfilmt von Luis Bunuel. Jeanne Moreau, die Hauptdarstellerin des Filmes über Octave Mirbeau: [Filmreportage Luis Bunuels Le journal d'une femme de chambre, französicher Originalton mit Spieluhrenmusik] Zitatorin (voice over) Octave Mirbeau war bereits 50 Jahre alt als er seinen Roman "Tagebuch einer Kammerzofe schrieb. Sie müssen wisse, dass Mirbeau ein komischer Vogel war. Er war ein ruheloser Geist, ein Journalist, ein Fischer. Er war sogar mal Landrat und in zahllose Duellaffären verstrickt. Die Jesuiten haben ihn erzogen. Das hatte einen großen Einfluss auf sein Werk. Es überrascht auch nicht, dass sich Luis Bunuel, der Schöpfer kraftvoller und anarchischer Filme, von Mirbeaus Büchern und speziell vom Tagebuch einer Kammerzofe magisch angezogen fühlte. Sprecher Jeanne Morreau spielt in der Verfilmung von Luis Bunuel die Kammerzofe Céléstine, die auf einem Landgut in der französischen Provinz die Nachtseiten des Großbürgertums kennen lernt: Sexuelle Abartigkeiten, blanke Gewalt und Kindstötung spielen sich hier hinter der Fassade bourgeoiser Sittsamkeit ab. Damit reiht sich Mirbeau in die Galerie dekadenter Dichter wie Barbey d Aurevilly oder die Pornografin Rachilde ein, die mit detailgenauen Schauergeschichten über menschliche Perversionen und Abartigkeiten schockieren wollten. In seinem wohl monströsestes Buch, "Der Garten der Qualen", greift er das Thema der schönen Dekadenz spektakulär auf: In einem wunderschönen Garten in China, lässt eine europamüde Engländerin Menschen auf furchtbarste Weise foltern: Die Folter als schöne Kunst betrachtet. [ Zitat Den Priestern, den Soldaten, den Richtern, den Menschen, die Menschen erziehen, führen und regieren, widme ich diese Seiten aus Mord und Blut. Octave Mirbeau O-Ton 7 Grommes Dann kommt "Le Jardin de supplices" sein skandalösestes Werk, wo es um eine europamüde Aristokratin geht, die in China neben einem Gefängnis einen Foltergarten von prachtvollen Fleisch fressenden Pflanzen anlegt und sämtliche Foltermethoden durchführen lässt und sich an schönen Pflanzen, stöhnenden und sterbenden Menschen verlustiert. Zitator "Ach sehen Sie, Mylady! ...Ist es nicht zum Weinen? ... schließlich war ich es, der die Qual der Ratte erfunden hat. Wenn ich nicht der Erfinder, sollen mir die Geister die Leber herausreißen und die Hoden zerfleischen! ... Oh, Mylady, eine ganz außergewöhnliche Qual, das schwöre ich Ihnen ... Sie vereinte alles, Originalität, Kunstgenuss, Psychologie und die Wissenschaft des Schmerzes. Und dazu war sie noch unendlich komisch . . . [Musik recontres galantes] Sprecher Als im Jahr 1901 sein Roman "Die 21 Tage eines Neurasthenikers" Erscheint, ist die Aufregung groß. Liest man die empörten Artikel und Kritiken zu diesem furiosen Stück Endzeit-Pandämonium, denkt man tatsächlich an den Kolportageroman eines Skandalautors. Die über 55 Prosatexte, Glossen und fiktiven Gespräche waren zuvor in anderen Zeitschriften erschienen. Kollegen wie die Sensationsautorin Rachilde spricht vom "Bodensatz aus der Schublade eines Journalisten" . Schauplatz der Handlung ist ein fiktives Thermalbad, das von Neurasthenikern aufgesucht wird. Das damals modische Nervenleiden ist ein typisches Motiv der Dekadenzliteratur und scheint alle Schichten der französischen Gesellschaft heimzusuchen. Mirbeau lässt Figuren aus dem Bürgertum wie Jahrmarktsfiguren auftreten, eine komischer und grotesker als die andere. O-Ton 8 Grommes Dieser Roman führt zur Dekonstruktion des Romans, was Mirbeau immer mehr im Auge hat. Es ist ein Roman, der nur in einem Heilbad spielt und wo ein Erzähler sämtliche Besucher dieser mondänen Kuranstalten Revue passieren lässt. Da kommen Generäle, Nutten, Geistliche und wer immer an irgendwelchen Neurasthenien leiden in so einem Heilbad. Von denen erzählt er dann die Histörchen. Zitator Heute habe ich in den Parkanlagen des Casinos, während das Kurorchester unter dem Pavillon die Semiramis-Ouvertüre spielte - oh, die hüpfende Semiramis-Ouvertüre, die einen wie ein Ohrwurm verfolgt! - , Leute und nochmals Leute kommen und gehen sehen, Gestalten von jeglicher Sorte, die ich kenne oder die ich wieder erkenne, sämtliche Genres von Pariser Berühmtheiten, Monsieur Georges Leygues und seine provinzielle Eleganz, den berühmten Advokaten Monsieur Emilie Ollivier sowie Schauspieler und Dichter und Dentisten und Damen von Welt und Dämchen der Halbwelt, all dies ein bizarrer und trauriger Anblick. Sprecher Die authentischen Berühmtheiten der damaligen Zeitgeschichte tauchen in fiktiver Gestalt wieder auf: Da ist zum Beispiel der naive und bestechliche Provinzpolitiker mit Namen Parsifal. Er heißt wie der Held aus Richard Wagners Oper, die damals in Frankreich verpönt war, wie alles Teutonische. Zitator "Und mit der Politik hast du endgültig Schluß gemacht?" "Mußte ich doch . . . ich hatte Dreck am Stecken . . . Dreck am Stecken . . .verstehst du! Das ist das, was mir am meisten zu schaffen macht...Und doch..." Mit einer komödiantischen Geste deutete er auf seine Taschen: "...hatte ich etwas da drin!..." O-Ton 10 Grommes Für den Naturalismus im Allgemeinen und Mirbeau im Besonderen ist es ganz besonders wichtig, den ganz genauen O-Ton. Wiederzugeben. Wie Jack Kerouac in den " Visions of Cody" zum Beispiel , was nur noch eine Transskription von Tonbandaufzeichnungen ist, von Leuten, die hip und high oder völlig besoffen sind. So versucht Mirbeau auch, die coleur locale zu bringen. Jeder der Menschen, die Mirbeau beschreibt, brüllen und stammeln nur oder sind sie so sprachlos, dass sie nur stammeln können. Das treibt, was das Typographische betrifft, Mirbeau ins Extreme. Sprecher Ob Hure, Bauer oder sadistischer General, alle reden sich scheinbar um den Verstand. Berühmt ist General Archinard, ein regelrechtes Monster des Kolonialismus. O-Ton 11 Grommes In dem Roman "21 Tage eines Neurasthenikers" ist es ein hoch verdienter General, dessen echten Namen Mirbeau erwähnt und nicht etwa sein Pseudonym. Mirbeau besucht den General, so beschreibt es der Erzähler in dem Roman und die Wand ist in einer ziemlich seltsamen Farbe getäfelt. Die ist so rötlich-kupferfarben und der General rühmt dann: Das ist Negerleder. Damit werden die Wände tapeziert. Der General erwähnt dann ganz freudestrahlend: Die beste Art Kolonialpolitik ist nicht, mit den Bewohnern eine bestimmten Kolonie zu verhandeln, sondern sie in Lederwaren und Hundefutter zu verwandeln. Zitator "Wie viele Negerhäute braucht man, Herr General, um ein Zimmer wie dieses zu tapezieren?" "Einhundertneun, ungefähr . . . Die Bevölkerung eines kleinen Dorfes. Aber alles wird ja nicht verwendet, wohlgemerkt . . .An diesen Häuten, vor allen an den Frauenhäuten, gibt es auch feinere, geschmeidigere Stellen, woraus sich Lederwaren für den gehobenen Geschmack herstellen lassen... Luxusartikel...zum Beispiel Portemonnaies...Reisekoffer und Reisenécessaires...und sogar Handschuhe...Handschuhe für Trauerfälle...Ha, ha, ha!" [Musik, Le Boucher] Sprecher Mit zunehmendem Alter zieht sich Mirbeau aus dem öffentlichen Leben mehr und mehr zurück. Er lebt mit wallendem, weißem Bart, äußerlich ein Double seines Verehrers Leo Tolstoi, abgeschieden in seinem pittoresken Fantasiehaus in Triel sur Seine . Auf dem Hof steht eine Edelkarosse aus der Fabrikationsstätten des berühmten Fernand Charron, mit der 1905 durch Belgien, Holland und Deutschland reist. Es hat das Autokennzeichen "628 E8", so auch der Titel seines satirischen Autoreisebuches. Drumherum streunen zahlreiche Hunde, einer davon trägt den Namen Dingo, Held seines letzten großen Romans. O-Ton 12 Grommes Das ist ein sehr realistischer Roman, der unterscheidet sich eigentlich nur sehr durch den Protagonisten: Das ist ein Roman, wo die Hauptperson ein Hund ist - den von Menschen hat er sich ziemlich abgewandt. Das ist ein großer Wauwau, der ungeheuer blutrünstig ist, der darauf dressiert ist sämtliche Menschen anzufallen und zu zerfleischen, die Octave Mirbeau hasst, also Geistliche, Offiziere. Politiker, Bankiers und so weiter und so fort. Sprecher Dingo bereist auch fernere Landstriche, so büchst er z. B. in einer Episode nach Bayern aus, wo er eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Erschöpft und zerzaust kommt er nach Hause zurück und schläft sich ein paar Tage aus. Herrchen Mirbeau hat seine diebische Freude an dem Riesenhund. [Musik Popaul] Sprecher Octave Mirbeau war ein Phänomen seiner Zeit: Trotz oder gerade wegen seiner Polemiken erreichten seine Romane und seine sozialkritischen Theaterstücke hohe Aufgaben. Bis heute gilt er als auflagenstärkster Autor der Belle Époque. . O-Ton 15 Grommes Zum Publikum gehörten einerseits Kolleginnen und Kollegen , die Salons der großen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, vor allen die großen Pornographen wie Catulle Mendès oder Rachilde, diese ungeheuer rätselhaft satanische Frau der französischen Literatur. Die selbst sehr stark pornographisch gearbeitet haben, haben ausgerechnet Mirbeau als miesen Pornographen beschimpft. Das hat natürlich in den Salons Kreise gezogen. Er hat ungeheuer hohe Auflagen und Erfolge gehabt. Man hat sofort über die Bücher geredet. Man muss sich vorstellen, was das Seltsame oder Einmalige an Mirbeau ist: Wenn man noch in den alten Links- und Rechtsmustern urteilt, wird er ein immer linkerer Schriftsteller. Zum Schluß schreibt er nur noch in der Zeitschrift "La Révolte" des Anarchisten Jean Grave. Sprecher Mirbeau setzt sich für Künstler wie Rodin und Monet sowie für Außenseiter wie Van Gogh und Camille Claudel. Er ist einer der ersten Mäzene und Spekulanten, die Bilder von van Gogh für wenig Geld gekauft und später mit großem Gewinn verkauft haben. Er ist der Käufer von van Goghs "Sonnenblumen und Schwertlilien", das er 1891 für 600 Francs erwirbt und 21 Jahre später für 41000 Francs veräußert. O-Ton 16 Grommes In dieser Zeit ist Mirbeau einer der reichsten Schriftsteller, die man sich denken kann, so dass er sich 1905/1906, wo er sich nur noch anarchistisch engagiert, er sich ein Schloß kauft und das damals teuerste Auto (Luxusauto), was das berühmt gewordene Nummernschild 628 E8 hat. So ist auch der Titel seines großen Autoreisebuches. Sprecher Am Steuer seines Autos der Marke Charron braust im Jahr 1905 Octave Mirbeau durch die Beneluxstaaten mit dem Ziel Berlin. Es ist auch eine Reise zum Erzfeind Deutschland, der in diesem Buch nicht schlechter wegkommt als die französischen Landsleute. Zitator Es liegt auf der Hand, dass es für uns Franzosen und Deutsche von großem Vorteil wäre, wenn wir uns auf andere Art als durch Berichte von Spionen kennen lernen würden. Sprecher Mit viel Sarkasmus und keineswegs antideutsch schreibt er seinen Reiseroman 628 E8, der demnächst erstmals auf Deutsch erscheinen wird, als eine Art deutsch-französische Verständigungsgeschichte, die preußischen Größenwahns genauso aufs Korn nimmt, wie französische Unfreundlichkeit an der Grenze. Kaum ist er wieder auf französischen Boden, wird ihm prompt die Windschutzscheibe eingeschmissen. Höhepunkt des Buches ist zweifellos ein Buch in Sodom Berlin. Zitator "Päderasten! Päderasten! ... Alles Päderasten! ... Die höchsten Kreise, die Offiziere, die Minister, die Künstler, die Kammerherrn ... und die Generäle, die Herren Stallmeister und die Botschafter ... alle! ... alle! Ein Skandal jagt den anderen ... ein Prozeß jagt den anderen ... ständig verschwindet jemand von der Bildfläche ... Kolossal! Sprecher Auf den ersten Blick ist Mirbeau eine Art Klatschreporter, der Prüderie und Homophobie der Franzosen befriedigt,., wenn er vom Berliner Hof Über homosexuelle Ausschweifungen berichtet. Geschickt vermischt er hier Tatsachenberichte aus der Berliner Presse mit fiktiven Dialogen zu einem Potpourri über Kolonialismus und bürgerlichen Größenwahn sowohl in Frankreich als auch in Deutschland. Mirbeau: Ein Reisender im Europa des Imperialismus. Zitator "Und wißt ihr, daß sich eine Liga dieser Herren formiert hat mit der Absicht, die Abschaffung von peinlichen Paragraphen aus dem Gesetzbuch zu erwirken, die sie daran hindern, zu ... zu ... na, ihr wißt schon!" Und während er sich abwechselnd die Nase und die Stirn rieb, fing er zum Schaden meiner Wangen und meiner Nase prustend an zu lachen ... "Ja, mein Lieber, eine Liga ... Eine Liga der Mannes- und Päderastenrechte ... eine Liga mit seinen Statuten, seinen Kommissionen, seinen Generalversammlungen ... pff-fff-fff! ... Versammlungen in diskreter Runde, nehme ich an ... Das ist kolossal! Sprecher Sein Reisebuch 628 E 8 ist ein wahrer Fundus für Mirbeaus über die Jahre entwickelte Erzählstrategie. Nicht er kommentiert Zeit und Leute, sondern die klischeehaften Figuren selbst werden zu beredten Zeitzeugen, die ohne Punkt und Komma losschwatzen. Mirbeaus Icherzähler ist ganz im Gegensatz zum berühmten Erz- Décadent Des Esseintes, der lebensmüde im Salonsessel sitzt und die Menschen meidet, ein abenteuerlustiger und empfindsamer Reisereporter. Zitator Jawohl, Freunde, ich komme gerade aus Berlin ... Ihr seid diesmal nicht bis nach Berlin gekommen? ... Fahrt nach Berlin ... fahrt hin ... man muss unbedingt nach Berlin fahren ... man muss es sehen, es wieder sehen ... Das ist ungeheuer ... kolossal! ... wie die Leute dort sagen ... Los, fahrt hin! ..." [Musik Landru] Sprecher Octave Mirbeau war ein politisch engagierter Querkopf und hatte sogar damit Erfolg. Er konnte als Bestsellerautor von seinen Artikeln und Dramen hervorragend leben. Seine Bühnenerfolge machten ihn reich und berüchtigt. Berüchtigt vor allem als Autor des sardonischen "Tagebuches einer Kammerzofe" und des grauenerregenden Folterbuches "Garten der Qualen". Noch zu entdecken ist sein satirisches Reisebuch "628 E8", das ihn nicht als Chronisten der unruhigen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ausweist, sondern als empfindsamen Satiriker, der keine Orte, sondern seine Zeit bereist, geprägt von Kolonialismus, Größenwahn und großbürgerlicher Morbidität. Octave Mirbeau hat dieser Zeit mir aller Drastik den Spiegel vorgehalten. Die letzten Lebensjahre wurde es ruhig um den Quälgeist der Belle Époque, der in alle Wunden seiner Zeit sein satirisches Salz streute. Krank und zurückgezogen hörte er auf zu schreiben. Eine seiner letzten Veröffentlichungen war ein Pamphlet, das sich der weiblichen Prostitution widmet. Es erscheint in Bulgarien. Zitator ... Es gibt ein Sodom-an-der-Spree ... Aber es gibt auch Sodom-am- Main, Sodom-an-der-Oder und Sodom-an-der-Elbe und Sodom-an-der- Weser und Sodom-an-der-Alster und Sodom-am-Rhein ... ha! ha! ... stellen Sie sich vor, mein Lieber, am Rhein!" [Musik Melody] Ende 2