Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 22. Februar 2010, 19.30 Uhr Der leitlinienorientierte Patientenpfad Managed Care und die Standardisierung der medizinischen Versorgung Eine Sendung von Eva Hillebrand Regie: Atmo Atriomed, darauf Ansage: Der leitlinienorientierte Patientenpfad Managed Care und die Standardisierung der medizinischen Versorgung Ein Feature von Eva Hillebrand Sprecher: Das Atrio-Med, ein medizinisches Versorgungszentrum in Hamburg. Auf drei Etagen praktizieren 18 Ärzte aus 11 Fachrichtungen. Eine großzügig geschnittene Wartelounge lädt ein, sich mit Getränken und Snacks zu versorgen und über Internetzugang die Zeit zu verkürzen. Sprecherin: Allerdings: die Lounge öffnet sich nur für Patienten der Technikerkrankenkasse. Die anderen warten im herkömmlichen Ambiente. Tillmann Halbuer, Standortmanager des Atrio-Med in Hamburg. Take 1: Tillmann Halbuer Wenn Patienten wahrnehmen, dass es eine solche Möglichkeit hier im Hause gibt, erläutern wir noch kurz, wie es dazu kommt, nämlich durch eine Kooperation mit der Technikerkrankenkasse. Diejenigen, die an diesem Angebot teilnehmen wollen, müssten sich in diesem Fall an die TK wenden, das heißt wir vermitteln hier keine Versicherungen, sondern beschränken uns auf den rein medizinischen Bereich. Sprecher: Patienten der Technikerkrankenkasse können mit einem Facharzttermin innerhalb von 5 Tagen und einer Wartezeit unter 30 Minuten rechnen. Die medizinischen Dienstleitungen stehen allen Patienten zur Verfügung. Wulf-Dietrich Leber vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen: Take 2: Wulf-Dietrich Leber Der Patient wird heute in der Regel, zumindest wenn es um komplexere Krankheitsbilder geht, nicht mehr von einem einzelnen Arzt behandelt, sondern von einer ganzen Reihe von Ärzten, die Koordination zwischen diesen Arztgruppen kann innerhalb eines medizinischen Versorgungszentrums viel reibungsloser erfolgen, als wenn der Patient durch ganze Stadtviertel oder sogar in andere Regionen muss, um die jeweiligen Facharztgruppen zu besuchen. Die Zusammenarbeit in einem Haus durch direkten Kontakt zwischen den Ärzten und einem umfassenden Angebot für die Versicherten scheint mir der große Vorteil für Versorgungszentren, das betrifft auch die Öffnungszeiten. Sprecherin: So sind die Atrio-Med-Einrichtungen wochentags von 8-20 und samstags von 8-14 Uhr geöffnet. Die Ärzte sind angestellt, Arbeitszeiten und Gehalt sind also vertraglich geregelt. All jenen, die hohe Investitionen in eine neue Praxisniederlassung scheuen oder nur Teilzeit arbeiten möchten, kommen diese Arbeitsverhältnisse sehr entgegen. Take 3: Wulf-Dietrich Leber Nichjt mehr ein Arzt versorgt den Patienten, sondern es gibt Sub-Spezialisierungen schon. Die intensive Zusammenarbeit von verschiedenen medizinischen Fachrichtungen in einem Gesamtkonzept, im Sinne von Patientenpfaden ist eine Art Standardisierung und Industrialisierung des Prozesses. In der Industrie haben wir dann allerdings auch meist ein Unternehmensgesamtkonzept, dass dieses organisiert. Im Krankenhaus gibt es bereits eine solche unternehmerische und kaufmännische Leitung. Im niedergelassenen Bereich fehlt dies bislang noch. Hier sind es doch noch maßgeblich Einzelpersonen, die mit dem Versicherten reden und keine komplexen Betreuungsangebote, wie sie jetzt vielleicht im medizinischen Versorgungszentrum möglich werden. Sprecherin: Neu ist die Idee der medizinischen Versorgungszentren nicht. Funktionierten doch die Polikliniken in der DDR nach einem ähnlichem Konzept: angestellte Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen, Labor- und Röntgenabteilung unter einem Dach. Die meisten ambulanten Patienten wurden so versorgt, denn niedergelassene Ärzte gab es kaum. Nach der Wiedervereinigung wurden die Polikliniken abgewickelt, nur wenige Einrichtungen überlebten als privatwirtschaftlich oder genossenschaftlich geführte Ärztehäuser. Bereits mit den Gesundheitsreformen 2004 und 2007 fand dann die Wende rückwärts statt. Ärzte und andere Leistungserbringer im Gesundheitswesen können - ja sollen - sich nun zu Medizinischen Versorgungszentren zusammenschließen. Im Gegensatz zu den bis dahin üblichen Gemeinschaftspraxen und Ärztehäusern können jetzt auch nicht-ärztliche Leistungserbringer, wie beispielsweise große und auch börsennotierte Klinikbetreiber als Gesellschafter tätig werden. Inzwischen gibt es 1300 medizinische Versorgungszentren, kurz MVZ, deutschlandweit. Take 4: Wulf-Dietrich Leber Dort arbeiten mehr als 6000 Ärzte, wenn dieser Trend anhält wird 2020 das MVZ das Standardmodell in der ambulanten Versorgung sein, das heißt nicht, dass es ausschließlich solche medizinischen Versorgungszentren gibt, aber sie werden unser Bild von der ambulanten Versorgung bestimmen. Sprecher: Noch schreiben diese Zentren keine schwarzen Zahlen. Krankenhäuser indes, die MVZ betreiben, profitieren schon jetzt. Schließlich überweisen die Ärzte, die in den Zentren als Angestellte der Betreiberklinik arbeiten, ihre Patienten bei Bedarf dann in eben diese Klinik. Sprecherin: Auch die Technikerkrankenkasse versucht nun mit ihren Atrio-Med-Zentren in die Standardisierung der Versorgung einzusteigen und in den Großstädten Köln, Hamburg, Leipzig und München Effizienzreserven auszugraben. Dazu braucht die Krankenkasse eine Betreibergesellschaft. In diesem Falle ist es die Health-Care Management GmbH, kurz HCM. Es handelt sich um ein kompliziertes, schwierig zu entwirrendes Unternehmenskonstrukt mit Verbindungen nach Luxemburg und in die Schweiz. Jüngst ins Gerede kam HCM durch die Berliner Filiale. Dort ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Abrechnungsbetrug und die Einrichtung ist inzwischen geschlossen. Regie: Atmo Atrio-Med , darauf Sprecher: In jeder Filiale beschäftigt HCM einen Standortmanager und stellt die Ärzte und das übrige Personal ein. Tillmann Halbuer aus Hamburg ? der seine Tätigkeit dort inzwischen aufgegeben hat. Take 5: Tillmann Halbuer Wir alle als Standortmanager sind Kaufleute und als solche in diese Position gekommen. Jedes MVZ hat eine ärztliche Leitung, sodass der medizinisch- ärztliche Part durch diesen Teil in der Führung eines MVZ vertreten ist. Das ist auch richtig so, weil ich als Kaufmann diesen Laden nicht medizinisch führen kann und ein Mediziner in der Regel auch kein Kaufmann ist, so teilen wir uns diese Aufgaben und das ist in jedem unserer Zentren so. Sprecher: Integrierte Versorgung, so lautet das Konzept, das in den medizinischen Versorgungszentren umgesetzt wird. Die rechtlichen Grundlagen dafür schuf 2004 die damalige rot-grüne Regierung. Die integrierte Versorgung soll die Sektorengrenzen zwischen ambulanter und stationärer medizinischer Behandlung abbauen, die Koordination zwischen Hausarzt, Facharzt und Krankenhaus verbessern und längerfristig die Behandlung eines Patienten einschließlich Rehabilitation und Pflege von Anfang bis Ende managen. Sprecherin: Die Integrierte Versorgung öffnet die Türen für eine von den Krankenversicherungen gesteuerte medizinische Versorgung. Managed Care nennt sich das und stammt aus den USA. Das amerikanische Gesundheitssystem war im Gegensatz zum deutschen Krankenversicherungsmodell Bismarck'scher Prägung schon immer primär betriebswirtschaftlich ausgelegt. Managed Care bedeutet Angebot, Nachfrage und Finanzierung miteinander so zu verknüpfen, dass standardisierte Behandlung zu standardisierten Preisen angeboten werden kann. Sprecher: In Deutschland wird der gleiche Sachverhalt moderater formuliert: Es muss für die Patienten transparent sein, wer welche Leistungen zu welchem Preis und zu welcher Qualität erbringt. Und: keine Rechnung soll mehr ohne den Betriebswirt gemacht werden. Sprecherin: Ob dies den Versicherten unterm Strich eben so nutzen wird, wie den Versicherungen und großen Krankenhausgesellschaften ist in Deutschland eine noch offene Frage. Hagen Kühn, ehemaliger Leiter der Forschungsabteilung Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin, forschte in den USA zum Thema Gesundheitswirtschaft. Er beschreibt den Prozess, der, von Amerika ausgehend, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten das Gesundheitswesen in einen Gesundheitsmarkt transformiert. Take 6:Hagen Kühn Wenn man die Entwicklung der Gesundheitssysteme in den westlichen Industrieländern verstehen will, dann muss man zurückgehen bis in die 80er, 90er-Jahre, da hat in den meisten Industrieländern eine Machtverschiebung stattgefunden und zwar von dem traditionellen Übergewicht der Leistungsanbieter, insbesondere der Ärzte und der Krankenhäuser zu einem allmählichen Übergewicht der Finanzierungsinstitutionen. Sprecher: Kurz gesagt, die Versicherungen begannen damit, die medizinische Versorgung zu steuern. Schritt für Schritt veränderten sich die Kriterien nach denen medizinische Leistungen honoriert werden. Traditionell listeten Krankenhäuser und Ärzte ihre Tätigkeiten und Kosten auf, und wurden von den Krankenkassen entsprechend honoriert. Retrospektive Finanzierung nennt sich das. Take 7: Hagen Kühn Das war natürlich in gewisser Weise die Lizenz zum Geld drucken. Denn je mehr man aufgeschrieben hat, desto mehr Geld hat man bekommen. Und dass das natürlich ein Zustand war, der auf die Dauer nicht in den Himmel wachsen kann, das war selbstverständlich. Sprecherin: Die Lösung schien in der prospektiven Finanzierung zu liegen. Hier wird nicht nach Leistung gezahlt, sondern die zu erwartenden Ausgaben für einzelne Krankheiten werden im Voraus geschätzt und festgesetzt. In Form von Budgets und Pauschalen. Das geht aber nur, wenn die medizinischen Leistungen standardisiert werden. Take 8: Hagen Kühn Das ist aber gar nicht so einfach, weil es sich um personenbezogene Dienstleistungen dreht, die kaum standardisiert waren und zum Teil auch gar nicht standardisierbar sind, und weil die Einzelkosten für einen Patienten und die Gesamtkosten, zum Beispiel das Krankenhaus, die fixen Kosten also ganz schlecht auseinandergehalten werden können hat es also sehr lange gedauert. Vorreiter waren hier die Amerikaner die also alle möglichen Managementmethoden aus der industriellen Fertigung ausprobiert haben und propagiert haben, das wurde dann hier zum Teil übernommen, Sprecher: Schritt für Schritt gelang es, Betriebskosten und medizinische Informationen zusammenzubringen und Einsparpotentiale zu entdecken. Take 9: Hagen Kühn Und erst, wo man wenigstens die Illusion hatte, kalkulieren zu können, das fing eigentlich an in den 80er-Jahren, erst in Amerika mit den großen Krankenhausketten, dass man sozusagen nach dem Mac Donalds Prinzip: wenn man ein Krankenhaus managen kann, dann kann man auch tausend managen, also Krankenhausketten gebildet hat und von dem Moment an war das auf einmal für Anlage suchendes Kapital interessant. Regie: kleine Musik-Zäsur Sprecherin: Auch in Deutschland ist mittlerweile der Teppich für Kapitalgeber ausgerollt. Die privaten Krankenhausmanager heißen hier: Sprecher: Asklepios Kliniken, Rhön Klinikum AG, Helios Kliniken GmbH - um nur die drei größten klinischen Versorgungsketten zu nennen. Sprecherin: Rund ein Drittel der allgemeinen Krankenhäuser in Deutschland werden inzwischen privat betrieben. Tendenz steigend. In den USA kooperieren Anbieter medizinischer Leistungen und Versicherer seit Langem sehr eng miteinander. Take 10: Hagen Kühn Die Versicherungen haben versucht, direkten Einfluss auf die Versorgung zu gewinnen. Das kann man dadurch machen, dass man Versorgungseinrichtungen kauft, das machen die sogenannten HMO's, die Health Maintenance Organisations. Man kann das aber auch genauso machen, dass man die selbständig lässt, aber mit denen Verträge macht. Die Möglichkeit mit jedem Verträge zu machen, aber auch nicht mit jedem Verträge machen zu müssen, hat es diesen Versicherungen eben erlaubt, die Verträge zu diktieren. Sprecher: Noch wird in Deutschland die ambulante Versorgung größtenteils durch die Kollektivverträge zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen -kurz KVen -und den niedergelassenen Ärzten organisiert. Letztere rechnen mit den KV-en entsprechend den geltenden Regelungen zur vertragsärztlichen Vergütung ab. Die KV-en stellen zudem die flächendeckende ambulante und die Notfallversorgung sicher. 2007 öffnete der Gesetzgeber den Versicherungsmarkt für den Vertragswettbewerb. Einkaufsmodell nennt sich das. Einzelne Kassen können mit einzelnen Leistungsanbietern oder mit freiwilligen Zusammenschlüssen mehrerer Anbieter sogenannte Selektivverträge aushandeln. Die kassenärztlichen Vereinigungen werden dabei bewusst außen vor gelassen. Sprecherin: Ein Paradebeispiel für Selektivverträge sind die Hausarztverträge, die die AOK in Baden- Württemberg abgeschlossen hat. Silke Lüder, niedergelassene Allgemeinärztin: Take 11: Silke Lüder: Da gibt es ne direkte Onlineanbindung zwischen der Arztpraxis an die AOK, da wird kontrolliert, ob genau die Rabattmedikamente verordnet werden, mit der die Krankenkasse ein Vertrag hat, und das Geld, was der Arzt bekommt, wird daran gebunden, in welcher Höhe diese Rabattmedikamente verordnet werden. Man soll auch weniger Überweisungen an Fachärzte ausstellen und auch möglichst nicht so viele Krankenhauseinweisungen. Und hier sieht man einfach, dass ein Druck ausgeübt wird, eine Standardisierung, die für die Patienten von Nachteil ist. Sprecher: Die Krankenversicherungen locken die Hausärzte über höhere Pauschalen in die Selektivverträge. Für Patienten, die sich in diese Hausarztverträge einschreiben lassen, entfällt die Praxisgebühr. Die freie Arztwahl der Versicherten wird allerdings aufgehoben. Vom eingeschriebenen Hausarzt dürfen sie sich nur zum eingeschriebenen Facharzt überweisen lassen. Die Sicherstellung der ärztlichen Behandlung im Vertragsbereich geht von der KV über an die AOK. So entsteht eine immer kleinräumigere Versorgungslandschaft. Immer mehr Verträge, differenziert nach immer mehr Regionen und Kassen bedeuten zugleich Zutrittsbarrieren für immer mehr Patienten. Die Trennung der Warteräume im Atrio-Med Versorgungszentrum in Komfortzone und Standard wirkt da wie ein Menetekel. Sprecherin: All diese Verträge wollen verhandelt und vollzogen werden. das bringt neuen Verwaltungsaufwand mit sich, unter dem die Effizienzreserven, die gegebenenfalls durch Selektivverträge gehoben wurden wieder begraben werden. Sprecher: Solche Sorgen haben große Klinikketten eher nicht. Stationäre Einrichtungen, die im Begriff sind, die flächendeckende Versorgung für ganze Regionen zu übernehmen, sind im Rationalisieren geübt und mehr bürokratischer Aufwand bedeutet für sie wohl eher eine logistische Herausforderung. Warum also nicht auch Selektivverträge mit Klinikketten schließen? Eine solche Entwicklung wäre ganz im Sinne von Wulf-Dietrich Leber vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen. Take 12 Wulf-Dietrich Leber: Im Krankenhausbereich besteht bisher die Verpflichtung mit allen Krankenhäusern unabhängig von ihrer Qualität und unabhängig von ihrer Notwendigkeit, Verträge abzuschließen. Hier könnte man sich sehr gut vorstellen, dass bestimmte medizinische Leistungen ausgeschrieben werden und nur ein Teil der Krankenhäuser, die es am besten und am günstigsten könnten, unter Vertrag zu nehmen und dieses wären dann möglicherweise Gewinne, die durch verminderte Prämien an die Versicherten weitergegeben werden können. Sprecher: Prämienminderung für die Versicherten? Der Gesundheitsökonom Hagen Kühn glaubt die Prämienbezieher eher unter Aktionären zu finden, die in den Gesundheitsmarkt investieren. Take 13: Hagen Kühn Wenn ein Krankenhaus oder eine integrierte Gesundheitsversorgung rentabel sein will, dann muss sie sich orientieren heutzutage an der globalen Durchschnittsrendite für angelegtes Kapital. Wenn's das nicht tut, dann ziehen die Investoren ihr Geld ab, der Wert des Unternehmens verfällt und der entsprechende Leistungsanbieter scheidet aus. So, das heißt jetzt dieser Zwang, immer die Durchschnittsrendite mindestens erwirtschaften zu müssen, der muss nun von dem Vorstand bis ans Krankenbett weiter gegeben werden. Und da nehmen eben alle diese Steuerungsinstrumente, die wir in den Krankenhäusern oder Ambulatorien haben, die nehmen jetzt hier die Eigenschaft an, Instrumente zu sein, mit denen am Krankenbett die Durchschnittsrendite erwirtschaftet wird. Sprecherin: Vertreter der Krankenversicherungen, angesprochen auf diese Entwicklung neigen denn auch zur Relativierung. John Hufert, Pressesprecher der Technikerkrankenkasse in Hamburg. Take 14: John Hufert Also grundsätzlich ist es so, dass natürlich bei den Beteiligten im Gesundheitswesen, die eine Leistung erbringen Geld übrigbleibt zum Leben im Sinne eines ganz normalen Einkommens. Bei Klinikketten oder sonstigen Trägern kann es auch sein, dass man dazu Gewinne sagen kann, die dann natürlich mehr oder weniger groß sind, je nach dem, wie gewirtschaftet wird. Alle versuchen aus den Kosten und den Erträgen, die zur Verfügung stehen, entsprechend Gewinne zu machen. Das ist nichts Neues und das gab's schon immer und wird es in verschiedenen Formen der Trägerschaft auch weiterhin geben. Sprecher: In der Tat lebten viele niedergelassene Ärzte jahrzehntelang von ihren Honoraren nicht schlecht. Doch sinkt deren Zahl beständig. Denn die neuen Abrechnungsformen über Pauschalen und Budgets und das zunehmend kennzifferngesteuerte Behandlungsmanagement machen ihnen das Wirtschaften und Behandeln immer schwieriger. Für Klinikketten und medizinische Versorgungszentren mit hohem Rationalisierungspotenzial kommen diese Instrumente hingegen wie gerufen. Wulf-Dietrich Leber macht keinen Hehl daraus, dass ein politischer Wille diese Entwicklung vorantreibt. Take 15: Wulf-Dietrich Leber In der Güterproduktion haben sich arbeitsteilige und standardisierte Prozesse durchgesetzt gegenüber der handwerklichen Produktionsweise, dieses hat erst den industriellen Wohlstand erlaubt, den wir heute haben. Die Zusammenarbeit und die Standardisierung von Prozessen ist, glaub ich, einer der Vorteile von medizinischen Versorgungszentren, dieses kann man als Industrialisierung bezeichnen, es ist aber natürlich auch ein Prozess, den wir in anderen Dienstleistungsbranchen, wie zum Beispiel einem hochkomplexen Bankenwesen erkennen können. Sprecherin: Ein bemerkenswerter Vergleich. Regie: Musik Sprecher: Die Standardisierung dringt ein in alle Bereiche der ärztlichen Behandlung. Die Einführung der internationalen Klassifikation der Krankheiten, kurz ICD, war ein erster tiefer Einschnitt. Diagnosen müssen nun so lange zurechtgestutzt oder erweitert werden, bis eine ICD-Ziffer-ähnliche Formulierung gefunden ist. Auf diesen Codierungen bauen die diagnosebezogenen Fallgruppen auf, die Diagnose Related Groups, kurz DRGs: Patienten werden anhand einer Haupt - und gegebenenfalls behandlungsrelevanten Nebendiagnose so wie der durchgeführten Behandlungsprozesse in Fallgruppen klassifiziert. Diese bezeichnen den für die Behandlung erforderlichen ökonomischen Aufwand. Die klinischen Codierer, ein neuer Berufszweig für approbierte Ärzte, beschäftigen sich mit nichts anderem mehr, als mit der Einordnung der Patienten in Fallgruppen. Sprecherin: Seit Anfang 2009 gilt diese Form der Pauschalierung als verbindlicher Abrechnungsmodus in allen deutschen Krankenhäusern. Inzwischen mehren sich Hinweise auf den sogenannte Drehtüreffekt: Bei komplexen, multimorbiden Krankheiten führen die beabsichtigten Aufenthaltsverkürzungen keineswegs zu Einsparungen, weil die Patienten zur Nach- oder sollte man sagen: Neubehandlung unter einer anderen DRG, also einer anderen Diagnose in die Klinik zurückkehren müssen. Sprecher: Auf die Standardisierung der Diagnosen folgt die Standardisierung der Behandlung anhand von Leitlinien und Pfaden. An denen sich das ärztliche Handeln orientieren soll - und das der Patienten. Take 16: Wulf-Dietrich Leber Nehmen Sie den Fall, dass eine Krebserkrankung erkannt worden ist, dann gibt es inzwischen leitlinienorientierte Patientenpfade, die in der Regel bedeuten, dass der Patient, die Patientin verschiedene Untersuchungen machen muss, von verschiedensten Arztgruppen betreut werden, von rein technischen Leistungen bis hin zur psychologischen Betreuung. Damit hier ein einheitliches abgestimmtes Konzept zustande kommt, braucht man eine fallübergreifende Zusammenarbeit von Ärzten, dieses kann im Sinne von Patientenpfaden erfolgen und muss aber organisiert und einheitlich geleitet werden. Der Patient ist in der Regel nicht in der Lage, diese Koordinationsaufgabe zu übernehmen. Das ist das Konzept von Patientenpfaden, die auf der Basis möglichst von wissenschaftlichen Ergebnissen die optimale Betreuung organisieren. Take 17: Hagen Kühn Leitlinien, clinical pathways, wo also Arbeitsabläufe standardisiert werden, all dieses an sich genommen, hat auch sehr positive Seiten. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass solche clinical pathways tatsächlich verhindern können, dass ganz unterdurchschnittlich und schlecht gearbeitet wird. Das also auch viele Ärzte, die wenig qualifiziert sind, dass die 'ne Orientierung haben, also wie sie sich am besten verhalten. Also ich sage überhaupt nichts ganz abstrakt gegen solche Instrumente, sondern so´n Instrument ist immer nur so gut, wie der Kontext, in dem es eingesetzt wird. Sprecherin: Fallpauschalen und Patientenpfade haben ambivalenten Charakter. Sie sollen Steuerungsinstrumente sein, um Diagnosen zu überprüfen und Doppelarbeit zu vermeiden und als Mittel gegen Korruption und Täuschung dienen. Sie können sich allerdings auch zu Richtlinien einer Mangelverwaltung entwickeln, die mit einem enormen bürokratischen Aufwand Ein- und Ausschlusskriterien für das festlegt, was als behandlungswürdig und bezahlbar gilt und was nicht. Take 18: Hagen Kühn Da gibt es eben diejenigen, die sagen, ja, das ist richtig, das ist ein Gewinn an Rationalität, und auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die große Bedenken haben, ob gesteuerte, ärztliche und pflegerische Versorgung, man könnte auch sagen: Managed Care, ob das der Individualität des Patienten, der Individualität des Krankseins und der Arzt/Patentenbeziehung, gerecht wird. Und im Grunde genommen ist dieser Widerspruch ein sachlicher Widerspruch, weil natürlich jedes System, was so ausgebaut ist und rationale Herrschaft ausüben kann über Prozesse, ist ein System, was standardisiert und was wie eine große Bürokratie, sachlich und rational Entscheidungen fällt. Während auf der anderen Seite ja nun gerade der Anspruch des Bürgers der ist, dass wenn er krank ist, wenn er leidet, Ängste hat, dass gerade seine Person angesehen und angehört wird. Regie: kleine Musik-Zäsur Sprecher: Leitlinien werden nicht nur als Hilfsmittel oder Wegweiser in der Hand des Arztes verstanden, sondern immer mehr als Standard und Vorschrift. Diese Standards wiederum unterliegen einer regelmäßigen Qualitätsüberprüfung. Das Qualitätsmanagement, ein Verfahren aus der Automobilindustrie zur Überprüfung und Optimierung der Fertigungsprozesse von Werkstücken rollt über Krankenhäuser und auch immer mehr über Arztpraxen hinweg. Das birgt die Gefahr, dass die Erfüllung der Leitlinien in der ärztlichen Praxis mehr zählt als die auf den Patienten individuell abgestimmte Behandlung. Insbesondere, wenn die Honorierung der Ärzte davon abhängt. Take 19: Silke Lüder Das bedeutet, dass uns ganz klare Leitlinien vorgeschrieben werden, wie wir die Menschen zu behandeln haben. An einem praktischen Beispiel: Es soll täglich online überprüft werden, wie viel Leute mit Bluthochdruck wir haben, welche Messwerte die haben, und ob wir es zum Beispiel nach einem halben Jahr geschafft haben, die in die vorgeschriebenen Messwerte zu senken. Sprecherin: Silke Lüder, niedergelassene Allgemeinärztin: Take 20: Silke Lüder Ein anderes Beispiel sind die Raucher. Wir sollen übermitteln den Raucherstatus unserer Patienten. Und nach 'ner Weile soll wieder übermittelt werden, wie viele wir dazu bringen konnten, nicht mehr zu rauchen. Das bedeutet dann aber im Endeffekt, man wird als Arzt dafür belohnt, finanziell belohnt, wenn man diese Zielwerte eingehalten hat und man wird bestraft, wenn die Patienten zum Beispiel nicht aufhören zu rauchen. Das bedeutet, dass unkooperative Patienten, die ihre Tabletten nicht nehmen oder die weiter rauchen oder die weiterhin Alkohol trinken uns die Statistik verderben. Und das würde in Zukunft bedeuten, dass es eine Selektion von Patienten in der Arztpraxis gibt. Und diese gesamte Entwicklung ist unärztlich und inhuman. Sprecher: Und untergräbt das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Wer würde sich noch als Raucher outen, wenn jeder vernünftig wirtschaftende Arzt einen überzeugten Raucher als Patienten ablehnen müsste. Wulf-Dietrich Leber schließt eine solche Entwicklung nicht aus. Take 21: Wulf-Dietrich Leber Sie würden vielleicht nicht mehr so bevorzugt behandelt. Autorin: Können Sie das konkreter machen? Wulf-Dietrich Leber Nee ... , das ist ganz schwierig. Sprecherin: Die Krankenversicherungen werden Bonus- und Malussysteme für Patienten und Ärzte einführen und die Behandlung mittels Leitlinien standardisieren. Zudem werden sie verstärkt mit Versorgern im ambulanten und stationären Bereich Selektivverträge abschließen. All diese Initiativen zielen indes darauf ab, Gesundheitskosten zu deckeln. Werden die Versicherten, wenn sie zu Patienten werden, von den erstrebten Einsparungen profitieren? Schließlich geht es um ihre Beiträge und darum, wie diese verwaltet werden. Oder werden sie selbst mitsamt ihren Krankenpflegern zu Verwalteten, zu Effizienzreserven im Rahmen eines Gesundheitsmarktes, der Wachstum generieren soll. Hagen Kühn: Take 22: Hagen Kühn Wir haben also mittlerweile einen Teil von Leistungsanbietern im Gesundheitswesen, die nach privatwirtschaftlichen Renditen streben müssen, weil sie Anlagesphären für Investoren sind. Und das muss man sich klar machen, das ist ja keine Polemik, das ist ein ganz sachlicher Zusammenhang, und es fällt natürlich schwer für viele, dieser Realität in die Augen zu sehen. Deshalb reagieren auch viele so aggressiv, wenn man sie darauf anspricht, aber die Realität ist so. Absage: Der leitlinienorientierte Patientenpfad Managed Care und die Standardisierung der medizinischen Versorgung Ein Feature von Eva Hillebrand Es sprachen: Viola Sauer und Norbert Langer Ton: Inge Görgner Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2010 1