KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 00.05 Titel : "Kopfjäger, Käferfreund, Trophäensammler" Die überraschende Aktualität des Ernst Jünger Autor :Jörg Magenau Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 16.01. 2010 Besetzung : Sprecher :Sprecherin : Sprecher 2 Regie : 0-Ton/Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig Kopfjäger, Käferfreund, Trophäensammler. Die überraschende Aktualität des Jahrhundertphänomens Ernst Jünger Von Jörg Magenau MUSIK: THE DOORS, THE END (bei 0:45 einblenden) This is the end Beautiful friend This is the end My only friend, the end Of our elaborate plans, the end Of everything that stands, the end No safety or surprise, the end I'll never look into your eyes...again (1:38, ausblenden) O-TON 1, ERNST JÜNGER (aus: AUTOR UND AUTORSCHAFT): Der Autor steht neben der Gesellschaft; seine Aufgabe ist nicht sozialer Natur. Es ist für ihn wichtig, dass er seine exzeptionelle Stellung begreift, damit er sich und sein Ansehen nicht in untergeordneten Händeln verbraucht. Es kann vorkommen, dass er sich wohl oder übel damit befassen muss. Dann ist der Misserfolg für ihn günstiger als der Erfolg. SPRECHERIN: Der da spricht, ist 99 Jahre alt. In diesem fortgeschrittenen Alter ist es durchaus möglich, das eigene Verhältnis zur Welt als das eines Außenstehenden zu begreifen. Die irdischen Händel sind ihm zu niedrig, zu banal geworden, um sich darin einzumischen. Er kennt das ja schon lange genug. SPRECHER: Ernst Jünger, im September 1994. Geboren 1895, war er älter als das 20. Jahrhundert, auch wenn sich sein letzter Wunsch nicht erfüllte, das Jahr 2000 noch zu erleben und vom 19. bis ins 21. Jahrhundert zu überdauern. Er starb knapp davor, im Februar 1998, einen Monat vor seinem 103. Geburtstag. SPRECHERIN: Er hat sich und seine Zeit selbst überlebt. Seine Biografie ist so etwas wie geronnene Zeitgeschichte. Deutsche Geschichte. Er ist eine in den Stahlgewittern des 20. Jahrhunderts gehärtete Gestalt. SPRECHER: Und zugleich zielte er immer weit darüber hinaus ins Metaphysische, ins Überzeitliche. Er wollte aus der Geschichte ausbrechen, wollte sie transzendieren. SPRECHERIN: Als unermüdlicher Tagebuchschreiber hat er seine Textspur durch das 20. Jahrhundert gezogen. Er ist mit der Geschichte verschmolzen und hielt sich immer nah am Hitzekern des Geschehens. Nicht nur im 1. Weltkrieg, sondern auch im zweiten, als er sich im durchaus gefährlichen Umfeld der Verschwörer des 20. Juli aufhielt. SPRECHER: Wenn er im Alter auf seine bewegte Jugendzeit, die 20er-Jahre und die Weimarer Republik zurückblickte, dann sprach er von seinem eigenen "Paläozoikum". SPRECHERIN: So fremd erschien ihm dieser junge Mann mit seinem aggressiven nationalistischen Heroismus, der damals noch rechts von den Nazis stand. Er ist sich selbst zum Dinosaurier geworden. SPRECHER: Kurz vor seinem Tod konvertierte er zum Katholizismus. Er starb als - darf man das sagen: - ein zum Humanismus bekehrter Friedensfreund? Passt das zum Bild des ewigen Soldaten, das von ihm vorherrscht? SPRECHERIN: Jedenfalls erlebt der Alte aus Wilflingen eine erstaunliche Renaissance. Das ist allein damit, dass er zwei Kriege miterlebte und beschrieb, nicht zu erklären. O-TON 2, ULRICH RAULFF: Ernst Jünger ist natürlich ein Jahrhundertautor und er ist seinem Jahrhundert auch nichts schuldig geblieben an Weisheit, an Torheit, an Experimentierfreude und Abenteuerlust und und und. Auch an Irrtümern, sicher. SPRECHER: Ulrich Raulff ist Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, wo Teile des riesigen Nachlasses erst mals in einer Ausstellung gezeigt werden: Notizhefte, Tagebücher, Briefe, Utensilien aus dem Jünger-Haus in Wilflingen und natürlich auch Exponate aus seiner Käfersammlung. O-TON 3, ULRICH RAULFF: Zehn Jahre, zwölf Jahre nach seinem Tod hat man das Gefühl, dass Jünger gerade dabei ist, zurückzukehren in die Debatten, zurückzukehren ins literarische Leben. Anzeichen dafür sind die Biografien, die in den letzten Jahren erschienen sind, ist die Edition der Kriegstagebücher, die gerade vorgelegt worden ist, ist so vielerlei Bemühung um Jünger, die zusammentrifft, also diesen Autor zurückholt ins literarische Gespräch, sodass man also gar nicht bis zum Jubiläumsjahr oder zum Gedenkjahr 2014 - 100 Jahre 1. Weltkrieg - warten musste, um Jünger wieder interessant zu machen. MUSIK: ERIC BURDON & THE ANIMALS: WHEN I WAS YOUNG (bei 0:15 einblenden) The rooms were so much colder then My father was a soldier then And times were very hard, when I was young I smoked my first cigarette at ten And for girls, I had a bad yen And I had quite a ball, when I was young When I was young, it was more important Pain more painful, laughter much louder Yeah, when I was young, when I was young (1:18, ausblenden) O-TON 4, ERNST JÜNGER (aus: AUTOR UND AUTORSCHAFT): Der politische Erfolg bringt den Autor entweder in die Lage dessen, der sich im vertrauten Kreis auf seinem Lorbeer ausruht, oder in eine neue Opposition. Sie eben bestätigt, dass er nicht mit dieser oder jener Ordnung inkonform ist, sondern mit der Gesellschaft überhaupt. SPRECHER: Inkonform sein; in Opposition stehen zur Gesellschaft überhaupt - und nicht bloß zu dieser oder jener Partei oder Ideologie oder Ordnung, so hat Ernst Jünger sich gesehen, so wollte er als Dichter gesehen werden: Als einer, der in allen historischen Epochen zwangsläufig zum Außenseiter werden musste. SPRECHERIN: Komfortabel ist diese Position nicht. Oder handelt es sich dabei bloß um die Koketterie eines alten Mannes? Solange einer am Leben ist, ist er Teil der Gesellschaft, auch dann, wenn er sie verachtet. SPRECHER: Und doch ist diese Haltung in ihrer Radikalität bewundernswert. Welcher Autor würde heute noch so sprechen, da Autoren zu Agenten auf dem literarischen Markt geworden sind? SPRECHERIN: So eine Haltung muss man sich leisten können. Jünger hatten mit dem Grafen Stauffenberg, der ihm die Wilflinger Oberförsterei als Wohnhaus zur Verfügung stellte, für die zweite Hälfte seines Lebens einen freundschaftlichen Sponsor. O-TON 5, ERNST JÜNGER (aus: AUTOR UND AUTORSCHAFT): Andererseits kann sein Eingreifen eine ungemeine Wirkung zeitigen. Sein Arm, gerade als der des Außenstehenden, ist länger; das gibt ihm Hebelkraft. Das ideale Verhalten des Autors sollte dem des römischen Diktators ähneln, der an den Pflug zurückkehrt, wenn die Unordnung beseitigt ist. SPRECHERIN: Was für eine schöne, heroische Vorstellung: Der Autor kehrt nach getanem Werk wie ein römischer Diktator an den Pflug zurück. Das ist doch wohl er selbst, Ernst Jünger, auch wenn sein Acker nur der Garten der Wilflinger Oberförsterei gewesen ist, in dem er Blumen züchtete und sich an ihren Blüten erfreute. SPRECHER: Auch war es ihm nicht vergönnt, das, was er für Unordnung hielt, zu beseitigen. Die geschichtliche Welt, deren Abgründe er wie kein anderer deutscher Autor des an Katastrophen so reichen 20. Jahrhunderts durchschritten hat, blieb unübersichtlich. Schlimmer noch: Er musste sich damit abfinden, dass die parlamentarische Demokratie, die er in jungen Jahren in der Weimarer Republik so vehement bekämpft hatte und die für ihn ein Synonym für "Unordnung" gewesen ist, sich etablierte und zu einer unumstrittenen Selbstverständlichkeit wurde. SPRECHERIN: Auch der alte Krieger musste schließlich seinen Frieden mit ihr machen. Er tat es als ein vielfach gebranntes Kind. O-TON 6, ERNST JÜNGER (aus: AUTOR UND AUTORSCHAFT): Soll der Autor zur Galionsfigur gemacht werden, so ist es für ihn am besten, wenn er sich dem mit einem non sum dignus oder mit chinesischer Höflichkeit zu entziehen sucht, besonders auf Schiffen mit leckem Kiel und Ratten unter Deck. Der Anblick einer Blume. Das heißt: die Blume blickt uns an, und zwar mit einer Kraft, die sich auch auf den Blinden überträgt. Wir antworten, indem wir uns in sie vertiefen: durch Anschauung. Das Wesen der Seligkeit besteht nach der christlichen Glaubenslehre in der unmittelbaren und ewigen Anschauung Gottes; dem lässt sich zustimmen, nicht aber der Einschränkung, dass es Grade der Seligkeit gebe, die von den auf Erden erworbenen Verdiensten abhängen. SPRECHERIN: Ganz so leicht sollten wir ihn dann aber doch nicht in den Garten der Seligkeit, in den Anblick der Blumen und die Anschauung Gottes entlassen. Dafür war er zu sehr Mitspieler der Geschichte. Und über seine Verdienste lässt sich streiten. SPRECHER: Er war, fast könnte man sagen: Ein Staatsdichter. In den 50er-Jahren war er mit Bundespräsident Theodor Heuss befreundet, der mehrmals zu ihm nach Wilflingen kam. Im hohen Alter besuchte er zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Staatspräsidenten Francois Mitterrand die Gräber von Verdun. Er stand da als Symbol der Versöhnung, ein wenig steif in seiner historischen Würde. SPRECHERIN: Als hoch dekorierter Held des ersten Weltkriegs - der Kaiser hatte ihm als einem der Letzten und der Jüngsten überhaupt den Orden Pour le Mérite verliehen - gehörte er im Zweiten Weltkrieg zum Stab der Militärführung im besetzten Paris. SRPECHER: Er trug die Uniform der Wehrmacht, war aber auch mit Künstlern wie Cocteau befreundet und besuchte Picasso in dessen Atelier. Seine Tagebücher über die Besatzungszeit werden in Frankreich hoch geschätzt. Sie wurden 1998 sogar in die Edition Pléiade aufgenommen, den französischen literarischen Olymp, in dem aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an deutschsprachigen Autoren ansonsten nur Kafka und Brecht zu finden sind. SPRECHERIN: Das ist schon seltsam. Das Kriegsbuch "Feuer und Blut", dem diese Ehre zu Teil wurde, schickte er 1926 mit einer Widmung "Dem nationalen Führer Adolf Hitler". Von Hitler über Heuss zu Kohl: da wird eine Kontinuität erschreckender Art deutlich. SPRECHER: Auch wenn Jünger seine exterritoriale Stellung als Autor betont, so hat er die Nähe der Mächtigen nicht gescheut. SPRECHERIN: Hitler wollte dem von ihm hoch geschätzten Kriegsautor 1926 in Leipzig einen Besuch abstatten. Er umwarb ihn eine Zeit lang und teilte ihm brieflich mit: SPRECHER 2 (Zitat, Hitler-Brief): Ihre Schriften habe ich alle gelesen. In ihnen lernte ich einen der wenigen starken Gestalter des Fronterlebnisses schätzen. SPRECHER: Zu dem angekündigten Besuch kam es aber nicht; Hitlers Reiseroute verlief anders. Stattdessen machte der Käfersammler Ernst Jünger in seinem Garten eine andere, bräunlich gefärbte Beute, wie er seinem Bruder Friedrich Georg mitteilte: SPRECHER 2 (Brief Ernst Jünger an Friedrich Georg Jünger): Hitler wird in der nächsten Woche durch Leipzig kommen und hat sich bei mir angemeldet. Im Garten auf der tabakartigen Staude in der Nähe der Erdbeeren habe ich einen schönen Buprestes erbeutet. Er ist bräunlich erzfarben, sieh Dich doch bitte nach einigen Dubletten um. SPRECHERIN: Damals, in seiner nationalrevolutionären Sturm- und Drang-Zeit, sah Jünger seine Aufgabe als Autor keineswegs darin, Ordnung zu schaffen, sondern ganz im Gegenteil, sie zu zerstören. Da schrieb er Sätze wie diese: SPRECHER 2 (Zitat, PP, 506f): Die Ordnung ist der gemeinsame Feind, und es gilt, den luftleeren Raum des Gesetzes überhaupt zu durchbrechen, damit Aktion auf Aktion sich zu entfalten und aus den chaotischen Reserven zu speisen vermag. (...) Zerstörung ist das Mittel, das dem Nationalismus dem augenblicklichen Zustande gegenüber allein angemessen erscheint. (...) Wir überlassen die Ansicht, dass es eine Art der Revolution gibt, die zugleich die Ordnung unterstützt, allen Biedermännern. Was hat denn das Elementare mit dem Moralischen zu tun? (...) Weil wir die echten, wahren und unerbittlichen Feinde des Bürgers sind, macht uns seine Verwesung Spaß. Wir aber sind keine Bürger, wir sind Söhne von Kriegen und Bürgerkriegen, und erst wenn dies alles, dieses Schauspiel der im Leeren kreisenden Kreise, hinweggefegt ist, wird sich das entfalten können, was noch an Natur, an Elementarem, an echter Wildheit, an Ursprache, an Fähigkeit zu wirklicher Zeugung mit Blut und Samen in uns steckt. O-TON 7, STEPHAN SCHLAK: Das ist der programmatische Zeitfaden und auch die Linie der frühen Schriften. Und wenn man das über das Jahrhundert nimmt, könnte man mit diesen beiden Begriffen - Zerstörung, Ordnung - die Spannung dieses Denkers oder Dichters und auch Literaten ganz gut fassen. SPRECHER: Der Historiker Stephan Schlak ist ein ausgewiesener Kenner der Werke Ernst Jüngers. Er ist Kurator der Jünger-Ausstellung in Marbach. Am Eingang dieser Ausstellung sind zwei Gegenstände zu sehen, die die Pole Zerstörung und Ordnung versinnbildlichen. Da wird zunächst ein bunter Regenschirm gezeigt, den Jünger für seine subtilen Käferjagden benutzte. Er hielt ihn umgekehrt, wie eine große Schüssel, wenn er das Gebüsch abklopfte, sodass er dann die einzelnen Insekten aus dem Schirm herauslesen konnte. SPRECHERIN: Der Schirm ist ein Instrument des Jagens, des Sammelns und Ordnens. Ordnung ist nicht unbedingt etwas Friedliches. Daneben liegt Jüngers Stahlhelm aus dem ersten Weltkrieg mit zwei Einschusslöchern. Die Kugeln, die den Helm durchschlugen, drangen ihm nur deshalb nicht in den Schädel, weil sie durch das lederne Innenfutter abgelenkt wurden. Im Kriegstagebuch notierte er: SPRECHER 2, Kriegstagebuch, 1.12.1917: Mitten in diesem Taumel wurde ich durch einen furchtbaren Schlag auf den Rücken geworfen. Ich nahm den Stahlhelm ab und erblickte zu meinem Schrecken zwei ziemliche Löcher darin. Ich fasste an den Kopf, ob das Gehirn noch intakt war. Zum Glück nur Blut. SPRECHER: Die Geste des Prüfens - ist das Hirn noch intakt? - ist typisch für Jünger, dessen Kaltblütigkeit als Krieger immer wieder hervorgehoben worden ist. Noch in der direkten Konfrontation mit dem Tod bleibt er ein distanzierter Beobachter seiner selbst. Die Geste hatte ihren guten Grund, denn kurz zuvor sah er, wie es andere um ihn herum erwischte. SPRECHER 2, Kriegstagebuch, 1.12.1917: Der vorderste Mann, Unteroffizier Mevius, bekam einen Treffer, der ihm die halbe Stirn wegriss. Um ein Zurückfluten zu vermeiden, ließ ich eine Barrikade bauen und dieselbe von Unteroffizier Lefelmann mit seiner Gruppe besetzen. Eine Reihe von Leuten, unter anderen der Fahnenjunker Mohrmann und ich legten sich hinter die Berme und schossen nach den vorn auftauchenden Köpfen. Ein Maschinengewehr zwang uns wieder herunter. Ich ließ das Maschinengewehr der Kompanie holen, es gab ein Duell auf 50 m Entfernung. Dabei bekam der Gefreite Motullo einen Kopfschuss, dass ihm sein Gehirn über das Gesicht lief. Er war seltsamerweise noch klar bei Verstande, als ich ihn zurücktragen ließ. MUSIK: ERIC BURDON & THE ANIMALS: WHEN I WAS YOUNG (bei 2:15 einblenden) My faith was so much stronger then. I believed in fellow men. And I was so much older then. When I was young. When I was young. When I was young. When I was young. When I was young. (2:45 langsam ausblenden) SPRECHER: Die Kriegstagebücher, die nun erst mals im Original aus dem Nachlass erschienen sind, bilden das Ausgangsmaterial, aus dem Jünger nach dem Ende des Krieges "In Stahlgewittern" herausdestillierte: eine stilisierte und überhöhte Darstellung des Kampfes. Die Urschrift zeigt einen weniger abgeklärten, weniger kühlen Jünger. Er schreibt in den Gefechtspausen, aber noch erhitzt, gewissermaßen noch voller Adrenalin, und er verheimlicht auch nicht die Lust, die das Töten und Zerstören bereitet. Jäger und Gejagter gleichzeitig sein - das ist der besondere Kick. Es ist eine in ihrer Direktheit schier unerträgliche Lektüre. O-TON 8, STEPHAN SCHLAK: Vielleicht ist uns das 20. Jahrhundert doch nicht so fern gerückt, wie wir gedacht haben in so einem Nassforsch-Sein der ersten Jahre dieses neuen Jahrtausends. Jedenfalls ist fraglos zu konstatieren, dass Themen, von denen wir in der Friedenszeit der Bundesrepublik uns lange weit entfernt wussten, der Krieg, der Terror, zurückgekommen sind, und Jünger als emblematische Gestalt des 20. Jahrhunderts, der dieses 20. Jahrhundert durchlaufen hat von Anfang an auch in den Abgründen und Katastrophen, ist womöglich deshalb eine neue interessante Referenz auf die Fragen und Situationen unserer Zeit. SPRECHERIN: Doch bei aller Rabaukenhaftigkeit, bei aller demonstrativen Coolness, die Jünger zur Schau stellt, ist diesem Text doch vor allem - und entgegen der Intention des Autors - abzulesen, was der Krieg mit einem so jungen Menschen macht. Die Verrohung ist ihm anzumerken. Er denkt nicht darüber nach, dass die Menschen nur noch Material sind für die Maschinerie der Vernichtung. Er wird, je länger der Krieg dauert, immer unsympathischer. SPRECHER: Der Krieg hatte ihn aus der als bedrückend erlebten Schulwelt gerettet, aus engstirniger Bürgerlichkeit und wilhelminischem Duckmäusertum. Jünger ist ja schon 1913, als 18-Jähriger, von zu Hause abgehauen und hat sich bei der französischen Fremdenlegion verdingt. Seine Sehnsucht galt Afrika, den Tropen, der Ferne. Der Vater, ein wohlhabender Apotheker, musste ihn mit allen Mitteln der Diplomatie auslösen und zurückholen. Jünger gehörte nicht zu denen, die mit Hurrah und nationalistischer Begeisterung in den Krieg zogen. Gott, Volk, Vaterland - das interessierte ihn herzlich wenig. Er suchte das Abenteuer. Das, was er "das Elementare" nannte. Der Kampf war für ihn ein Feld der Unmittelbarkeit und, so paradox das klingt, existentieller Freiheit. SPRECHERIN: Die Kriegstagebücher zeigen dabei jedoch, wie sinnlos diese Kämpfe gewesen sind. Erbitterte Gefechte um ein Wäldchen oder einen Graben, wo Menschenleben für ein paar Meter Raumgewinn geopfert wurden. Jünger spricht vom "Verzehr" des Krieges, als ob sich daran nichts ändern ließe, weil es sich gewissermaßen um einen natürlichen Verdauungsvorgang handelt. Die Sinnlosigkeit wird ihm kaum einmal bewusst. Bis er dann in einer Extremsituation einfach nicht mehr kann. Da schlägt eine Granate zwischen seinen Leuten ein und vernichtet die stolze Einheit, die unter seinem Kommando an die vorderste Front marschieren sollte. Wo eben noch die Truppe stand, ist nur noch ein Schlammloch voller zerrissener Körper. Da bricht Leutnant Jünger weinend zusammen. Er erleidet einen Nervenzusammenbruch. Das macht ihn dann doch wieder ein wenig sympathischer. SPRECHER: Solche Momente lassen ahnen, wie schwer es gewesen sein muss, mit diesen traumatisierenden Erfahrungen fertig zu werden. Vielleicht hat Jünger dafür sein ganzes Leben gebraucht, und er musste deshalb so alt werden. Es war ein Transformationsprozess: Vom Krieger und Zerstörer zum Literaten und Bewahrer. Vom Heroismus zum Humanismus. Jünger selbst hat das einmal sehr vornehm formuliert: O-TON 9, ERNST JÜNGER: Es dauert lange, bis man seine Aufgabe erkennt und seinen Stil findet, besonders in unserem Zeitalter. Für mich hat es über zehn Jahre gewährt, bis ich den ersten Weltkrieg verdaut hatte. Das ließe sich auch so ausdrücken, dass der Vater überwunden werden muss, überwunden freilich durch Arbeit, nicht durch Kritik - und immer mit Respekt. Dazu kommt der enorme Anfall an Tatsachen. Sie müssen gemeistert werden. Vor allem in den oberen Stockwerken, in denen der ethische und der musische Mensch zu Hause sind. Das ist wertvoller als jeder technische Fortschritt, und das Gelingen von Kunstwerken ist der Gradmesser dafür, ob die titanische Entwicklung unter Kontrolle gebracht werden kann. SPRECHERIN: Zunächst aber hielt er sich - um in seinem Bild zu bleiben - eindeutig in den unteren Stockwerken auf. Seine Publizistik und die Kriegsbücher aus den 20er-Jahren mit ihrem aggressiven Nationalismus, mit ihrer terroristischen, zerstörerischen Tendenz, sind ein verzweifelter Versuch, der durchlittenen Sinnlosigkeit im Nachhinein doch noch einen Sinn zu verleihen. Jünger deutete die Zerstörung um zur Erneuerung und erklärte den massenhaften Tod zum notwendigen Opfer. SPRECHER: Er hat zunächst nur die Waffen gewechselt, aber nicht die Haltung. Worte statt Gewehrkugeln. Publizistik als Fortsetzung des Kampfes. Was aber neu entstehen sollte, wie die Gesellschaft positiv beschaffen sein sollte, das wusste er nicht so genau anzugeben. Jedenfalls keine Demokratie, sondern ein totalitärer Militärstaat. Er kannte ja nichts anderes als das Heer und dessen Ordnung. Die Demokratie, die den Versailler Vertrag zu verantworten hatte, war in seinen Augen gleichbedeutend mit der Abwicklung der militärischen Strukturen. Deshalb wollte er zerstören, was diese Ordnung bedrohte. O-TON 10, STEPHAN SCHLAK: Der Krieg war einfach die Urkatastrophe am Anfang dieses Jahrhunderts, und Jünger hat sich davon weggeschrieben und hat den Krieg immer in den Knochen buchstäblich gehabt, und hat diese Erfahrung zwar anders immer umschrieben, aber er hat sie präsent gehalten. Und das ist glaube ich auch der Reiz an der Jünger-Lektüre, dass er wie ein Gedächtnis, wie ein Container das ganze 20. Jahrhundert mit sich führt, auch wenn er dann selektiv seine Bücher anders schneidet. Bücher von Jünger, wo es nicht noch dieses leichte Beben von dieser Urkatastrophe gibt, auch wenn er sich ganz verschiedenen, auch artistischen Spielereien später Aphorismenbücher (hingegeben) hat, das Urfeuer dieses Krieges steht immer dahinter. SPRECHER: Die Hartnäckigkeit, mit der da einer bei seinem Thema geblieben ist, ruft die Bewunderung eines anderen Schriftstellers hervor, der mit Ernst Jünger eigentlich sein Leben lang nicht viel anfangen konnte. Nun aber hat Martin Walser zur Eröffnung der Marbacher Jünger-Ausstellung gesprochen und dieses Versäumnis aus zeitbedingten ideologischen Verblendungen heraus zu erklären versucht. Erst heute, selbst schon über 80 Jahre alt, hat Walser sich mit Jünger auseinandergesetzt. O-TON 11, MARTIN WALSER: Wenn man sich jetzt ein bisschen überlegt, diese hundert Jahre Jünger, wo er wirklich an allen Abgründen der Ideologien vorbeigeschrammt ist und mit ungeheuren Tuchfühlungen ausgekommen ist, und trotzdem (...) eine solche Wesensgenauigkeit, eine solche Sprachgenauigkeit, egal ob der über Krieg oder NS oder über Deutschland oder Straßenbahnen [schreibt], der hat also diesen unbedingten Willen auf Genauigkeit. Deswegen auch immer diese neuen, immer noch mal eine Version von dem Buch, es kann ihm nie genau genug sein, und wenn er sich ändert, muss er das wieder schreiben, wie er jetzt zum Krieg ist, jetzt hat er das noch mal herausgebracht, am Anfang war er sich zu naiv, dann war er sich vielleicht sogar zu nationalistisch mal, und dann musste er immer weiter arbeiten, also ein Autor, der so an einer Grunderfahrung seines Lebens arbeiten muss, das ist einer wie kein anderer. Weil unsereiner hat immer ein neues Thema, ein scheinbar neues Thema. SPRECHER: Jünger gilt den einen als großer Anarch, als eiskalter Verächter alles Bürgerlichen und Demokratischen, den anderen als großer Konservativer, als Bewahrer einer untergehenden Welt, als Forschungsreisender und Naturfreund. Beides zugleich zu sein - Anarch und Konservativer -, und diese Spannung ausgehalten zu haben, darin liegt seine besondere Kraft. O-TON 12, ULRICH RAULFF: Er ist antibürgerlich, er ist anarchisch, aber er ist durch die Tatsache, dass er den Krieg a-moralisch beschreibt und kalt beschreibt, ohne das, was er da erlebt und das, was er tut, moralisch zu verurteilen, dadurch ist er natürlich für Linke und Liberale und letzen Endes doch moralisch gefestigte Leser schwer zu konsumieren und schwer erträglich. Bis heute. Wohingegen auf der konservativen oder rechten Seite das eher Akzeptanz gefunden hat. In der zweiten Lebens- und Werkhälfte ist Jünger konservativ in einem naturschützerischen oder in einem ökologischen Sinne. Also einfach durch seine sehr starke, Goethe-nahe Naturverbundenheit. Dass es andererseits auch anarchische Züge bei ihm gegeben hat, die ihn also für nicht unbedingt die Linke akzeptabel gemacht haben, aber attraktiv für junge Leute in der Revolte, wie es sie ja 1968 und folgende wieder gegeben hat, so wie es sie um den 1. Weltkrieg herum gegeben hat, steht auf einem anderen Blatt. O-TON 13, STEPHAN SCHLAK: Es gibt den späten Jünger, den Sammler, der sich in Wilflingen fast eine Höhle des Biedermeiers nimmt und sich darin zurückzieht in diesen Garten, der seine Tagebücher spickt mit auch kulturpessimistischen Sentenzen gegen die Moderne, die er in den 20er, 30er-Jahren noch mit nationaler Aggressivität begrüßt hat, in seiner Mobilmachungsphase, in der er unbedingt modern sein wollte und über diese konservativen Bürger höhnische Spitzen verteilt hat. Der frühe Jünger bis 45 wollte dezidiert nicht konservativ sein, sondern er wollte zerstören. Er wollte Ordnung zerstören. Und wenn der Begriff "Konservativismus" Sinn hat, dann ist er mit dem Begriff der Ordnung verbunden. Und über den Begriff der Ordnung könnte man Jünger glaube ich ganz gut fassen. Den politischen Jünger, der die Ordnung als Kampfbegriff nehmen möchte, der erst einmal alles in Unordnung sehen möchte und dann in einem revolutionären Akt zu einer neuen Ordnung beitragen möchte. Aber dann doch auch den privaten und Literaten Jünger, der einen strengen Werk-Plan hat, der Ordnung über seinem Werk hat, der ein begeisterter Sammler ist, der auch bewahren möchte. Und dieser Zug der Ordnung, den er im ersten Leben herbeischießen möchte, der wird in der Nachkriegszeit doch anders dosiert und gespiegelt. SPRECHERIN: Er war ja auch und vor allem ein Pedant! Man muss sich nur ansehen, mit welcher Akribie er seine Käfersammlung ordnete und jedes Exemplar mit winzigen Schildchen beschriftete. Auch während des ersten Weltkrieges hat er ein Käferbuch geführt, in dem er die einzelnen Fundstücke und Fundorte penibel auflistete. Er hat im Krieg einen Käferschrank gezeichnet, der gewissermaßen sein Ideal der Ordnung abbildet. Darin steckt tatsächlich der Glaube, es müsse ein System geben, mit dem sich die Natur, das Leben, die ganze Welt, erfassen lässt. Er suchte nach einem großen, metaphysischen Zusammenhang, einem kosmischen Plan. Das Tolle an den Käfern ist ja ihre Vergleichbarkeit und Systematisierbarkeit. Die Anordnung in Arten, Unterarten und Abweichungen ist das Modell, das er später auch auf andere Gegenstände anwandte - auch auf das eigene schriftstellerische Schaffen, dem er in der Werkausgabe noch eine gültige Ordnung mit Fassungen letzter Hand mitzugeben versuchte. O-TON 14, STEPHAN SCHLAK: Er legt eine Sammlung an über "Letzte Worte", und versucht fast, dieses kaum zu fassende Existential des Todes noch zu systematisieren und auf Karteikarten zu bannen und aufzuspießen. Es gibt so etwas wie eine Rache des Positivismus im Spätwerk von Jünger. Gewollt oder nicht gewollt drängt die Karteikarte in dieses abenteuerliche Herz wieder vor, und Jünger hat viele Karteikarten in seinem Leben beschrieben und systematisiert. Es sind auch immer so Kämpfe mit sich selbst und Rebellionen gegen sich selbst, jedenfalls die anarchische Seite trifft nur eine Seite bei Jünger. Daneben gibt es eben auch die Karteikarten- und systematische Seite und den Demiurgen, der Ordnung und Sinn schaffen will in der chaotischen Welt, wenn auch nur für sein kleines Reich. SPRECHER: Die Beschäftigung mit Käfern und Pflanzen, die Reisen in ferne Länder, die auch so etwas wie geographische und entomologische Erkundungsfahrten waren, sind zentraler Bestandteil seines Schaffens. Jünger ist vielleicht der letzte Vertreter eines universalistischen Autorenmodells gewesen, dessen berühmteste Vorläufer Goethe und Humboldt gewesen sind. Im 19. Jahrhundert schien ein umfassendes Wissen jenseits einzelner Disziplinen noch möglich; da konnte ein Einzelner sich zutrauen, nicht nur Dichter zu sein, sondern zugleich auch Naturforscher. So gesehen gehört Jünger noch ins 19. Jahrhundert. Von 1923 bis 1925 studierte er in Leipzig Zoologie und hospitierte am Meeresbiologischen Institut Anton Dohrns in Neapel, wo er sich mit der Systematisierung von Tintenfischen befasste. 1965 ging er in einem Gespräch auf den Zusammenhang seiner literarischen und seiner naturwissenschaftlichen Studien ein: O-TON 15, ERNST JÜNGER: Die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften betrachte ich im Wesentlichen als Anschauungskurs und eine der möglichen Annäherungen an die Wunder der Welt. Insofern wirkt sie auch auf den Stil zurück. Dieser Teil meiner Arbeit läuft nebenher. Er bildet aber auch ein Gegengewicht; wo das Objekt in Reichweite ist, kann die Abstraktion nicht überhand nehmen. SRPECHERIN: Die Käfer sind seine Schule der Genauigkeit, der Wahrnehmung und des exakten Beschreibens. Das ist nicht mehr Pedanterie, sondern die Feier der Vielfalt des Lebens und der Schöpfung in einem fast schon religiösen Sinne. Da wird Jünger als ein Vorläufer der Grünen kenntlich. Das ökologische Denken wurzelt auch im Konservatismus und der Technikskepsis, wie er sie in seiner zweiten Lebenshälfte vertat. O-TON 17, ERNST JÜNGER (FORSCHER UND LIEBHABER): Die Einteilung in nützliche und schädliche Tiere gehört zur Ökonomie und hat dort ihre Bedeutung; im ungetrübten Licht dagegen sind alle Geschöpfe bis zum letzten der Verehrung würdig und wunderbar. Das offenbart sich, wenn Wunder an Orten entdeckt werden, wo niemand sie vermutete. MUSIK: MUMFORD AND SONS, AFTER THE STORM (bei 1:55 einblenden) And now I cling to what I knew I saw exactly what was true But oh no more. That's why I hold, That's why I hold with all I have. That's why I hold. And I will die alone and be left there. Well I guess I'll just go home, Oh God knows where. Because death is just so full and mine so small. Well I'm scared of what's behind and what's before. (2:52, ausblenden) SPRECHERIN: Krieger und Anarch, Zerstörer und Ordnungssucher, Käfersammler, Waldgänger, Naturfreund - doch das Bild des Autors Ernst Jünger bliebe unvollständig, wenn wir den Ausflügen ins Naturreich nicht jene Reisen in die Welt der Träume zur Seite stellen würden. In seinen Tagebüchern hält er immer auch Träume fest, und sie haben keinen geringeren Realitätsstatus als die sogenannte Wirklichkeit. SPRECHER: Er hat sein Leben lang immer wieder mit Drogen experimentiert. In seinem Buch "Annäherungen" aus dem Jahr 1970 - also zur Hochzeit der Studentenbewegung - hat er darüber geschrieben. SPRECHERIN: Angefangen hat das mit den üblichen Besäufnissen in der Jugend, in der Schule oder beim "Wandervogel". In der Zeit direkt nach dem ersten Weltkrieg schnüffelte er Äther - da war der Rausch eine Fluchtmöglichkeit. In diese Zeit fällt auch der Konsum von Haschisch aus der väterlichen Apotheke. Später, nach dem zweiten Weltkrieg, experimentierte er zusammen mit seinem Verleger Ernst Klett mit Mescalin und zusammen mit seinem Freund, dem Chemiker und LSD-Erfinder Alfred Hoffmann, eben mit LSD. SPRECHER: Diese Sitzungen hat er auch schriftstellerisch verwertet. So gibt es in dem eher sperrigen Staatsroman "Heliopolis" ein Kapitel, das unter der Überschrift "Die Lorbeernacht" so ein Drogenexperiment schildert. Oder die Erzählung "Besuch auf Godenholm": Da löst sich die Wirklichkeit völlig auf in einer anderen Form der Wahrnehmung. Die Umwandlung gesellschaftlicher Realität in eine visionäre Traumlandschaft ist auch das Prinzip seines berühmten Romans "Auf den Marmorklippen". O-TON 18, ERNST JÜNGER: Für mich sind Träume wichtiger als die oft so belanglosen Vorgänge der Tageswelt. Ich verdanke ihnen viel. Damit kommt man natürlich leicht in den Verdacht der Hinterwäldlerei. Aber wenn ich die Vorderwelten sehe, die angeboten werden, will ich ihn hinnehmen. Das Thema führt indessen weit hinaus, und es gibt da auch Dinge, die mit Vorsicht zu behandeln sind. Dass ich mich mit Malern im allgemeinen besser verstanden habe als mit Schriftstellern, mag daran liegen, dass sie in einer ähnlichen Lage sind. Nur jene Bilder überzeugen, die sie aus ihrem Inneren herausholen. (...) Sehr starke Mächte kann man nur im Traum angehen. Da trifft man dann auch mehr als ihr Erscheinungsbild. Das ist einer der Gründe, aus denen ich "Auf den Marmorklippen" nicht gern als Schlüsselroman gedeutet haben will. Der Gang war gefährlicher und ist es heute noch. SPRECHER: Das ist aber auch einer der Gründe, warum der späte Jünger-Bewunderer Martin Walser weniger den parabelhaften, gegen den Nationalsozialismus gerichteten Roman "Auf den Marmorklippen" bedeutend findet, als das surrealistische, in einzelnen Passagen an Kafka erinnernde "Abenteuerliche Herz", eine teils erzählerische, teils essayistische, teils tagebuchartige Textsammlung, die in zwei verschiedenen Fassungen 1929 und 1938 erschienen ist. Ein Buch der Träume, Alpträume. O-TON 19, MARTIN WALSER: Thomas Mann hat gesagt, die "Marmorklippen", das sei das Buch der zwölf Jahre. Gut, das ist natürlich Thomas Mann, dem liegt das mehr so, ich sage: "Das abenteuerliche Herz" ist das Buch der zwölf Jahre, weil "Das abenteuerliche Herz" ist kein Staatsroman, ist kein Tendenzbuch, so wichtig das gewesen sein mag: Die Intensität dieser poetischen Mittel, die alle möglichen Mittel der deutschen Literatur aufnehmen, da ist so viel Romantik drin, da ist so viel Laurence Sterne drin usw, da zeigt man jetzt - und zwar ist das 1929, gut, aber es wird auch die ganze Zeit über verkauft - da zeigt man: die existieren noch, die lesen das noch, das gibt es noch, das ist das Bewahrte, das ist der allerhöchste Karatgehalt in dieser deutschen Tradition. Und das ist mir natürlich wichtiger als das polemische Buch gegen die blöden Nazis. SPRECHERIN: Die Nähe zu Kafka mag überraschen; und doch ist sie im "Abenteuerlichen Herzen" unübersehbar. Die Traumvisionen enthalten den ganzen Schrecken der Epoche und die Ahnung der nationalsozialistischen Verbrechen. SPRECHER 2: ("Das abenteuerliche Herz"): Violette Endivien Ich trat in ein üppiges Schlemmergeschäft ein, weil eine im Schaufenster ausgestellte, ganz besondere violette Art von Endivien mir aufgefallen war. Es überraschte mich nicht, dass der Verkäufer mir erklärte, die einzige Sorte Fleisch, für die dieses Gericht als Zukost in Frage käme, sei Menschenfleisch - ich hatte das vielmehr schon dunkel vorausgeahnt. Es entspann sich eine lange Unterhaltung über die Art der Zubereitung, dann stiegen wir in die Kühlräume hinab, in denen ich die Menschen, wie Hasen vor dem Laden eines Wildbrethändlers, an den Wänden hängen sah. Der Verkäufer hob besonders hervor, dass ich hier durchweg auf der Jagd erbeutete, und nicht etwa in den Zuchtanstalten reihenweise gemästete Stücke betrachtete: "magerer, aber - ich sage das nicht, um Reklame zu machen - weit aromatischer". Die Hände, Füße und Köpfe waren in besonderen Schüsseln ausgestellt und mit kleinen Preistäfelchen besteckt. Als wir die Treppe wieder hinaufstiegen, machte ich die Bemerkung: "Ich wusste nicht, dass die Zivilisation in dieser Stadt schon so weit fortgeschritten ist" - worauf der Verkäufer einen Augenblick zu stutzen schien, um dann mit einem sehr verbindlichen Lächeln zu quittieren. O-TON 20, MARTIN WALSER: Die Musterbeispiele stammen für mich alle aus dem "Abenteuerlichen Herzen". Die haben einen Genauigkeitsgrad, einen Intensitätsgrad, im Grunde genommen erinnert es mich noch mehr als an gewisse Kafka-Passagen an die Franzosen, an die Moralisten und so weiter, und jetzt, dass er jeden wirklichen Eindruck, der bei ihm zu einem Eindruck wird, wie den, den er da beschreibt in Berlin, wo er durch das Kellerfenster ein Schwungrad rotieren sieht, und wie er dann fasziniert ist, von der sicheren, beherrschten Energie, die da rast, und wenn er sieht, wie hier jede Bewegung wird zur Arbeit, das hat schon was. Und dann sagt er, dann wird er befallen von etwas, das nennt er eine stille Wut, glaube ich, und diese Wut ist gar nichts Negatives, er weiß, diese Wut, die er da in diesem technischen Vorgang sieht, die wird beenden die lieben Landschaften, die Gemütlichkeit, die ganze Biedermeierei, und er hofft, das geht möglichst lange, bis diese Beendigung stattfindet, dass die neuen Werte Zeit haben sich einzurichten. Das hat etwas sehr Versöhnliches. Das ist total radikal und total versöhnlich. Schon nicht schlecht. SPRECHERIN: Jünger sei kein Romanautor, sagt Martin Walser. Dafür packt er zu viel an Wissen und Überzeugungen in seine Texte hinein. Mit den "Marmorklippen" wollte er beweisen, dass das Nazi-Regime böse ist. Die Beweisführung gelingt, aber es geht auf Kosten der erzählerischen Qualität. SPRECHER: Doch wenn er kein Roman-Autor war - was war er dann? O-TON 21, MARTIN WALSER: In jeder Passage konzentrisch, und immer, immer reichend über den verursachenden Eindruck hinaus bis in den fernstmöglichen Horizont der Geschichte. (...) Man merkt, da ist einer da, der vorurteilslos die höchste Feinheit auf den gröbsten Geschichtsaugenblick anwenden kann. SPRECHER: Genauigkeit nimmt Jünger für sich auch in Anspruch, wenn es um den Vorwurf geht, er habe mit seinen Schriften in den 20er-Jahren den Boden für den Nationalsozialismus bereitet. Dabei war er nie Mitglied der NSDAP und hat alle Anwerbeversuche - Goebbels hätte ihn gerne als Reichstagsabgeordneten gewonnen - zurückgewiesen. SPRECHERIN: Für ihn war der Marsch durch die Institutionen der Republik und der Gang ins Parlament, wie die NSDAP das praktizierte, ein Verrat an der nationalen Sache. Er kritisierte die Nazis, aber er kritisierte sie von rechts. Die NSDAP war ihm zu demokratisch! Im NS-Staat sah er die letzte Konsequenz der demokratischen Fehlentwicklung. Das Volk verlangt eben nach einem Führer und nach Autorität. Hinterher wollte Jünger sich darauf zurückziehen, die Erschütterungen der Zeit bloß beschrieben zu haben. Das ist zu billig. SPRECHER: Das "Abenteuerliche Herz" ist formal, sprachlich und inhaltlich alles andere als Naziliteratur. 1933 hat er sich - im Unterschied zu Carl Schmitt oder auch zu Gottfried Benn oder Martin Heidegger - deutlich distanziert. Er musste eine Hausdurchsuchung ertragen, verbrannte belastende Manuskripte und zog sich von Berlin in die Provinz und in die sogenannte "innere Emigration" zurück, erst nach Goslar, dann nach Überlingen und nach Kirchhorst bei Hannover. 1939, als gerade der Krieg begann, einen Roman wie die "Marmorklippen" zu veröffentlichen, war geradezu tollkühn. SPRECHERIN: Und doch darf man ihn nicht so einfach aus der Verantwortung entlassen. All die hässlichen Schriften aus den 20er-Jahren hat er später verdrängt und sie auch nicht in seine Werkausgabe aufgenommen. Seinen "Arbeiter", diese faschistische, technizistische Programmschrift, wollte er nach 1945 mehrfach überarbeiten, ließ es dann aber doch bleiben, obwohl ihm dieses Werk fremd geworden war. O-TON 22, STEPHAN SCHLAK: Wir haben die Ausstellung gemacht in Marbach, und es fiel uns unheimlich schwer, diese rechten Kampfschriften, ein paar davon, in seinem Nachlass zu finden. Wir fanden dann ein paar oben auf dem Dachboden in Wilflingen in seinem Haus, wo das schlechte Gewissen versteckt oder geparkt war, und haben dann das, was wir an Schriften aus dem "Arminius" und wie diese Kampfschriften heißen, in diese feinen Marbacher Vitrinen gelegt. Das war aber sehr, sehr wenig. Erstaunlich wenig, wenn man mal die Bibliographie dieser Schriften aufblättert. Er wollte davon nichts wissen, hat aber gleichzeitig diesen Schriften nie abgeschworen. Man wird bei Jünger nie das finden wie die moralischen Gewissensskrupel. Das hat schon damit zu tun, dass dieser Mensch versucht, Haltung zu wahren im Jahrhundert und sich keiner pietistischen Selbstkritik unterwirft. SPRECHERIN: Er hatte auch nach 1945 seinen Stolz. Er verweigerte den Alliierten Auskunft im Entnazifizierungsverfahren. Solchen Prozessen wollte er sich nicht aussetzen. SPRECHER: Aber auf seine Art hat er sehr wohl Selbstkritik betrieben. Die Friedensschrift, an der er in Paris 1944 arbeitete, ist eine Revision der Positionen des "Arbeiter". Offiziell konnte diese Schrift erst 1949 erscheinen. Bis dahin hatte Jünger nach dem 2. Weltkrieg ein Publikationsverbot in Deutschland. SRPECHERIN: Man hat ihm das fortgesetzte Umschreiben und Bearbeiten seiner Bücher häufig vorgeworfen und darin so eine Art nachträgliche Retuschen gesehen. SPRECHER: Man kann das aber auch positiv wenden und es als fortgesetzte Korrektur eigener Positionen und zunehmende Genauigkeit bewundern. Dass er seine Werke nicht als etwas Auratisches, ein für allemal Fertiges auffasste, sondern als einen unendlichen Prozess, ist jedenfalls eine Haltung, die nicht unbedingt zu einem Konservativen passt. Bei Jünger hat man es immer mit Widersprüchen zu tun. Das macht ihn so interessant. SPRECHERIN: Auch für die erste Werkausgabe in den 60er-Jahren hat er die Texte durchgesehen und revidiert. Die Fassungen der Werkausgabe entsprechen nicht den Erstausgaben. Jünger lässt sich nicht festlegen. Welche Version gilt? Muss man alle Varianten übereinanderlegen? Ist das nicht auch eine Art, sich der Verantwortung zu entziehen? SPRECHER: Dem hat er ganz entschieden widersprochen: O-TON 23, Ernst JÜNGER: Im allgemeinen fand die Sorgfalt, die ich auf die Ausgabe verwendet habe, Zustimmung. Sie kommt doch auch dem Leser zugut. Ihm gegenüber will ich nicht als mein eigener Museumsdirektor auftreten. Eine vom Autor veranstaltete Ausgabe unterschiedet sich gottlob von einer historisch-kritischen. Ich habe es begrüßt, dass ich jeden Satz noch einmal Revue passieren lassen konnte. Das ist kein Novum, denn ich habe manchen meiner Texte vor jeder neuen Auflage revidiert - den meiner Tagebücher aus dem ersten Weltkrieg über zwanzig Mal. Dabei will ich noch von der guten Bemerkung Lichtenbergs absehen, dass der Autor die meisten Auflagen schon vor dem Druck veranstalte. Das heißt nicht, dass ich von den früheren Fassungen abrücke. Sie bleiben bestehen, und der Vergleich macht deutlich, was von der Sprache gefordert wird. MUSIK, JOHNNY CASH; AIN'T NO GRAVE: There ain't no grave can hold my body down When I hear that trumpet sound I'm gonna rise right out of the ground Ain't no grave can hold my body down Well, look way down the river, what do you think I see? I see a band of angels and they're coming after me Ain't no grave can hold my body down There ain't no grave can hold my body down (0:52, ausblenden) SPRECHER: Das große Thema seiner späteren Jahre ist das Verhältnis des Menschen zur Zeit und zur Geschichte. Er wollte das Geheimnis der Zeit und der Vergänglichkeit lösen. So sammelte er Sanduhren und schrieb das viel zu wenig beachtete "Sanduhrbuch", in dem es um Methoden der Zeitmessung und um die Subjektivität des Zeitempfindens geht. SPRECHERIN: Wenn einer so alt wird wie er und die eigene Epoche so lange überlebt, ist es nicht verwunderlich, wenn er zum Metaphysiker wird. SPRECHER: Je älter er wurde, umso mehr Tote umgaben ihn. Die Fotografien seiner toten Freunde standen dicht gedrängt auf dem Fenstersims seines Arbeitszimmers. Er war mit ihnen im Gespräch; sie erschienen in seinen Träumen. Der Tod war für ihn nur eine Wandlung, der Übergang in eine andere Existenzform, vergleichbar einer Raupe, die sich verpuppt, um zum Schmetterling zu werden. SPRECHERIN: Doch aus der Perspektive der Raupen ist diese Transformation nicht zu begreifen. In seinem Buch über Träume gibt es ein Kapitel mit der Überschrift "In Totenhäusern". Das versammelt Träume von Toten, deren Andenken er bewahrt. Die Großmutter, die schon seit Jahrzehnten tot ist, tritt da ebenso auf wie die erste Ehefrau Gretha von Jeinsen, die 1960 gestorben ist. SPRECHER 2: Die Tür zum Schlafzimmer wurde aufgestoßen und zwei vitale Burschen traten ein. Sie boten mir Schnitten an, die mit rotem Kaviar belegt waren. Dann ging ich ins Bad. Dort stand einer der Zuber, in denen Wäsche eingeweicht wird. ZU meinem Entsetzen sah ich Gretha darin liegen; das Wasser reichte ihr über den Mund. Ich riss sie heraus, behandelte sie wie eine Ertrunkene, umarmte sie. Sie begann zu meiner unendlichen Freude zu atmen; ich sagte: "Ich will dich wärmen, komm ins Bett." Sie antwortete: "Komm du zu mir. Dort ist auch der Sohn." SPRECHER: Die Vergänglichkeit der Dinge und vor allem: die Flüchtigkeit alles Schönen ist ein Thema, das Jünger nie losgelassen hat. Da ist er auch als Naturforscher gefragt. Einer seiner schönsten Texte heißt "Das spanische Mondhorn". Das ist eine Käferart, die im Mittelmeerraum vorkommt, ein wunderschönes Tier mit einem mächtigen Horn, das ein wenig an ein Miniatur-Nashorn erinnert. Diesen Käfer fand Jünger in Massen, doch alle waren tot, und er fragt sich, warum die Natur den Aufwand eines jahrelangen Madendaseins betreibt, wenn die Schönheit des fertigen Tieres, die doch das Resultat sein sollte, nur für einen Augenblick, eine einzige Nacht existiert. Verschwendung, Überfluss, wie immer in der Natur, gewiss. Das Bewahren der Art und nicht des Individuums, auch das. Aber Jünger wäre nicht Jünger, wenn er dahinter nicht ein Geheimnis wittern würde. SPRECHER 2: Wo Perlen und Edelsteine mit vollen Händen verschwendet werden, muss großer Reichtum im Hintergrunde sein. Der Anblick lässt vermuten, dass es sich nur um Proben oder Muster handelt, um einen Zins an die Zeit, und dass hier ein Sinn verhüllt ist, der nicht durch Dauer befriedigt und erfüllt. Erfüllung liegt außerhalb der Zeit; sie ist dem Augenblick näher als den Jahrtausenden. (...) Das Larvenleben könnte der Zündschnur gleichen, die sich im Feuerwerk und seiner Glorie erfüllt. SPRECHERIN: Die Vergänglichkeit ist also nicht zu betrauern, sondern zu begrüßen? SPRECHER: Ja. Aber das sagt einer, der über hundert Jahre alt geworden ist. O-TON 25, ERNST JÜNGER: Gewiss betrübt das. Andererseits erheitert es auch. Das Schöne ist vergänglich, und das ist schmerzlich. Doch verweist eben diese Vergänglichkeit auf die ungeheuere Fülle des Seins. Hier kommen wir zur Wissenschaft vom Überfluss zurück. Die Schönheit ist nur das Kleid des Seins, und es ist weniger die Pracht des Kleides, als die Ahnung des Körpers, der darunter zwar nicht zu sehen, jedoch zu ahnen ist. Dem hat auch die Sprache zu dienen. MUSIK, JOHNNY CASH; AIN'T NO GRAVE: (bei 1:00 einblenden) Well, look down yonder Gabriel, put your feet on the land and see But Gabriel don't you blow your trumpet 'til you hear it from me There ain't no grave can hold my body down Ain't no grave can hold my body down ( ... ) Well, meet me mother and father, meet me down the river road And momma you know that I'll be there when I check in my load Ain't no grave can hold my body down There ain't no grave can hold my body down There ain't no grave can hold my body down 29