COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 27.10.2009, 19.30 Uhr Die Poesie des Comics René Goscinny, der Erfinder von Asterix Von Rebecca Partouche Atmo Großstadt geht über in Landatmo Sprecher 1 Paris. 16. Arrondissement. Das ruhigste Viertel der Stadt. Wenn man die Avenue Victor Hugo herunterläuft, wird Paris plötzlich ganz still – verschlafene Alleen, uralte Platanen und einige Galerien. Keine Touristen, keine lärmigen Cafés. Bis auf einige Nannys, die mit teuer gekleideten Kindern spazieren gehen – sind die Straßen fast leer. Hier spielt sich das Leben in den Häusern ab. Hinter den schlichten Fassaden hat sich Frankreichs Elite aus Kultur und Politik zurückgezogen. Auf den Klingelschildern stehen keine Namen. Es kennt sowieso jeder jeden. Wie auf einem Dorf mitten in der Großstadt. Landatmo hoch Sprecher 1 In dem Viertel lebte der Erfinder von Asterix - René Goscinny bis zu seinem Tod. Seine Tochter ist hier geblieben. Gleich am blühenden Jardin de Radenagh bewohnt sie eine ganze Bel etage. Dort hat sie sich mit mir verabredet. Ihr Haus unterscheidet sich kaum von den anderen Häusern. Die Fassade ist unauffällig, klassizistisch. Man kann sich leicht im Eingang irren. Was mir auch passiert. Als ich vor dem falschen Tor stehe, hilft man mir sofort. "Anne Goscinny?" Die Blumenfrau vom Straßenkiosk weist mir den Weg: O-Ton 1 - Interviewerin und Nachbarin (Bitte nicht übersetzen!) Sprecher 1 Um in die Wohnung von Anne Goscinny zu gelangen, muss man zwei verschiedene Zahlencodes eintippen. Hinter dem ersten schweren Eingangstor wartet gleich die zweite gläserne Tür – diesmal mit Sprechanlage. O-Ton 2 – Interviewerin und Butler (Bitte nicht übersetzen!) Stimme durch Sprechanlage. Dann: Türsummer. Tür geht auf. Disney-Musik. Glöckner von Notre-Dame Sprecher 1 Mit der Tür öffnet sich eine Welt wie im Märchen: Marmorsäulen, Samtteppiche, prachtvolle Gärten und – um den Zauber vollständig zu machen... wartet in der Wohnungstür ein Butler in weißer Livree auf mich. Atmo. Teppichgedämpfte Schritte Sprecher 1 "Madame hat sich verspätet" – der Butler führt mich durch einen langen dunklen Flur. Rechts das Modell eines Kreuzfahrtschiffes unter Glas. Ich kenne es aus Büchern. Auf diesem Schiff hat René Goscinny seine Frau Gilberte kennen gelernt. Wir kommen in den "Salon d´amis". Gleich neben der Tür: ein riesiger Stammbaum mit vergilbten Fotos. Ich fühle mich zurückversetzt in die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts: schwere Orientteppiche, dunkle Samtvorhänge und klassische Ölgemälde. O-Ton 3 Anne Goscinny Sprecherin 1 (OV) Es gibt zwei Marie-Laurencin, einen Cross, einen Marquet. Da auch […]. Und viele Gemälde aus der Familie meines Mannes, viele aus meiner Familie. [..] Das Ölgemälde dort stammt von meiner Großmutter. Das Silber gehörte meinen Eltern. Und das da, das ist…der Name entfällt mir (sie bewegt sie auf die Statue zu) Das ist eine Statue von Bourdel […]. Sprecher 1 Meine Gastgeberin ist eben ins Zimmer gekommen. Vor mir steht eine kleine Person: Anne Goscinny hat die Knopfaugen ihres Vaters und seine dunklen Haare. Sie trägt einen Pullover, der viel zu lang ist, und Turnschuhe, mit denen sie auf eines ihrer schönen Sofas klettert – wie ein freches Kind. Das hat ihre Mutter schon immer so gemacht– sagt Anne Goscinny fast entschuldigend. Als wäre sie bei ihren Eltern zu Besuch - und ihr Vater könnte jederzeit ins Zimmer kommen. Aber es ist ja auch die Welt ihres Vaters: seine Gemälde, seine Schreibmaschine, seine Vorliebe für Chopin – selbst das Kindermädchen Mimi hat Anne Goscinny von ihren Eltern geerbt. Atmo Uhrenticken hochziehen – kurz stehen lassen O-Ton 4 Anne Goscinny Sprecherin 1 (OV) Er war jemand, der vom Humor lebte, gleichzeitig hatte er das Aussehen eines kleinen Notars aus der Provinz. Er trug immer einen Dreiteiler, zu jeder Gelegenheit, ja er zog seine Weste noch nicht mal zum Essen aus. Ein ordentliches Erscheinungsbild war ihm wichtig. Er liebte einfach seine gut geschnittenen Anzüge und seine Krawatten. Er war unglaublich elegant. Sprecher 1 Wenn man hier so sitzt, hat man das Gefühl, dass das 20. Jahrhundert nicht stattgefunden hat. Das Mobiliar, die Gemälde, die Musik, ja selbst das Haus: Alles stammt aus dem 19. Jahrhundert. Ausgerechnet der Mann, der mit seinen Comics das 20. Jahrhundert umgekrempelt hat, war im 19. Jahrhundert zu Hause. Goscinny war ein Mann der alten Schule. Pünktlich, diszipliniert, schüchtern. In seinem strengen Gehrock sah er aus wie ein Buchhalter aus einem Roman von Balzac. Weniger wie ein Künstler. O-Ton 5 Anne Goscinny Sprecherin 1 (OV) Als ich klein war und zu Kindergeburtstagen eingeladen wurde, holte mich oft mein Vater ab. Wenn er in der Tür erschien, bildete sich immer eine Traube von Kindern um ihn. Die Jungs und Mädchen wurden richtig wild. Alle wollten zu ihm. Ich aber – die ich nicht so genau wusste, was für einen Beruf mein Vater ausübte – konnte das nicht verstehen. Ich dachte, es liegt daran, dass er so gut aussieht. (sie lacht wie ein kleines Kind). Im Grunde habe ich seine Bücher erst nach seinem Tod entdeckt. Denn seine Alben, die Asterix, die Kleinen Nicks, die waren alle verschlossen in seinem Arbeitszimmer, in einer Bibliothek, an die ich nicht ran durfte, weil sie lauter Originalausgaben enthielt. Musik aus Disneys "Glöckner von Notre Dame" langsam wieder hochziehen Sprecher 1 Die Originalausgaben seiner Comics stehen bei Goscinny gleich neben der prachtvollen Edition der Romane von Victor Hugo. Zu recht. Denn vom großen Romancier hat er das Schreiben gelernt: kräftige Kontraste, bildmächtige Geschichten und große Gefühle. Die blendend schöne Esmeralda neben dem monströsen Quasimodo, der kleine Gavroche im riesengroßen Holzelefanten und der lüsterne Mönch, der am gewaltigen Glockenturm der Kathedrale von Notre-Dame baumelt. Anne Goscinny hält die Verwandtschaft ihres Vaters mit Victor Hugo für unübersehbar: O-Ton 6 Anne Goscinny Sprecherin 1 (OV) Ich hatte schon immer eine große Sympathie für die Tochter von Victor Hugo. Ich will meinen Vater nicht mit Victor Hugo vergleichen und mich nicht mit Adele Hugo, aber... mein Vater war doch so etwas wie der Victor Hugo seines Genres, des Comics. Sprecher 1 Goscinny liebt die märchenhafte Dramatik von Victor Hugo schon als Kind. Und später, als erwachsener Autor, wird er seinen Lehrmeister Hugo immer wieder zitieren. In "Asterix auf Korsika" und "Asterix bei den Belgiern" parodiert Goscinny hemmungslos die Gedichte "L'Expiation" (Die Sühne) und "Les Châtiments" (Die Züchtigungen). Und aus dem tragischen „Waterloo“ wird „Waterzooi“, dünne flämische Fischsuppe. Sprecher 2 Zitat – Victor Hugo – „Les Châtiments“ (pathetisch vorgetragen) Waterloo ! Waterloo ! Waterloo ! morne plaine! D'un côté c'est l'Europe et de l'autre la France. Sprecher 2 Zitat - Asterix - Parodie auf "Les Châtiments" “Ausgerechnet Waterzooi! Waterzooi! Schlappes Essen / In trauricher Terrinne“ Auf der einen Seite herrscht Rom auf der anderen Überschwang. O schauriger Schock! Die Hoffnung der Helden täuschte Teutates. Abend ward’s und heiß und wild der Krieg. Und Cäsar, seht, errang schon fast den Sieg! […] Plötzlich ruft er freudestrahlend aus: „Volfgangamadeus!“ Doch es ist Asterix, o Graus ! Sprecher 2 weiter Zitat Victor Hugo (pathetisch) Il avait l'offensive et presque la victoire; Il tenait Wellington acculé sur un bois. Musik. Pinocchio. „When you wish upon a star“ – instrumental. Sprecher 1 Als Goscinny zehn Jahre ist, trifft er zum ersten Mal auf die Farben und Wunder von Walt Disney. Gemeinsam mit seiner Mutter geht er immer wieder ins Kino,um "Pinocchio“ und “Schneewittchen" zu sehen. Es ist wie eine Offenbarung. Die Bücher von Hugo verwandeln sich in Bilder. Jetzt will Goscinny selber zaubern – wie Disney. Albert Uderzo – Zeichner und Miterfinder von Asterix: O-Ton 7 Uderzo Sprecher 2 (OV) Goscinny träumte davon, bei Disney zu arbeiten. Er sagte immer: "Ich wollte bei Disney arbeiten, nur dass Disney das nicht wusste." So ähnlich hätte ich das auch sagen können. Sprecher 1 Aber Goscinny hat bei Disney keine Chance. Als der 19jährige 1945 nach New York geht und sich bei ihm als Zeichner bewirbt, sind die Stellen alle schon besetzt. 10 Jahre zuvor hat Disney sein Personal vollständig aus europäischen Emigranten rekrutiert. Comicexperte Andreas Platthaus von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: O-Ton 8 (Andreas Platthaus) Bei Disney wollte man keine Starzeichner, sondern worauf es da ankam war, dass man sich in Teams einfinden konnte, und dass man einen kleinen Teil übernahm als Zwischenphasenzeichner im Zeichentrick oder später als Chefanimator. [...] Goscinny hatte Pech. Barks ist in den 30er Jahren ins Studio gekommen und konnte weiß Gott nicht zeichnen. Der ist als Autor genommen worden, weil man erkannte, er hatte eine sehr spezifisch intelligente Art der Herangehensweise, und der wurde nur noch als Autor eingesetzt, nicht mehr als Zeichner. Das hätte Goscinny in den 30er Jahren auch geschafft, denn da hatte man Bedarf an originellen Leuten. In den 40er Jahren hat man das nicht mehr. O-Ton 9 (Ulrich Schröder) An einem Trickfilm arbeiten manchmal 300 - 500 Leute, und an einer einzelnen Figur vielleicht 30 Leute –wenn es Peter Pan ist– und die müssen sie gleich zeichnen, ansonsten ist Peter Pan mal klein, mal groß. Das heißt: Sie kriegen ein Blatt, auf dem gezeigt wird: wie sind die Proportionen, wie sind die Gesichtsausdrücke – damit alles gleich aussieht. Musik: Disney Soundtrack Oliver. „Perfect isn’t easy“ – Bette Midler Sprecher 1 Für Disney-Zeichner Ulrich Schröder verlangt diese Arbeit außerordentlich viel Begabung. Aber Goscinny ist leider nicht besonders gut. Sein erster Comic – die Geschichte des New Yorker Detektivs Dick Dicks - ist das genaue Gegenteil von Disney. Die Zeichnungen sind nicht nur mittelmäßig, es gibt auch keine Hintergründe, keine Gegenstände, ja sie sind nicht Mal in Farbe. Aber der Text ist brillant. Und seine europäischen Zeichnerkollegen lieben seinen Comic. Aber keiner traut sich, Goscinny die Wahrheit zu sagen. Bis er einen Belgier kennen lernt, den es auch nach New York verschlagen hat: Morris, der Erfinder von "Lucky Luke". Der gibt ihm den guten Rat: "Schmeiß den Bleistift weg. Lass das Zeichnen. Und mach, was du kannst: Schreiben." Morris: O-Ton 10 Morris Sprecher 2 (OV) Ich glaube, er hat schnell verstanden, dass es nicht sein wahrer Beruf ist. In der Zeichnung versuchte er immer, den einfachsten Weg zu gehen – er traute sich nicht, komplizierte Dinge zu zeichnen. Sprecher 1 Morris kennt das Problem. Denn bei ihm ist es genau umgekehrt. Er kann wunderbare Actionszenen zeichnen, aber das Schreiben liegt ihm nicht. Der Zeichner bietet Goscinny an, die Dialoge von "Lucky Luke" zu schreiben. Aber der – baut gleich den ganzen Comic um. Als erstes verändert Goscinny den Cowboy: Aus dem bulligen Action-Mann mit dem Riesen-Kinn macht er einen schlaksigen Studenten, der allerdings über fast schon magische Fähigkeiten verfügt: Lucky Luke kann schneller schießen als sein Schatten und mit einem einzigen Schlag die dicksten Männer durch Saloonfenster donnern. Dadurch verkürzen sich die Kampfszenen enorm und es entsteht mehr Platz für Text. Musik. Instrumental. "Poor Lonesome Cowboy" (Pat Woods) hochziehen. Sprecher 1 Goscinny macht seinen Helden zum einsamsten Mann des Wilden Westens, zum legendären "poor lonesome cowboy". Aber damit es nicht ganz so still wird, bekommt Lucky Luke ein Zauberpferd an die Seite gestellt, das genauso begabt ist wie er. Jolly Jumper kann artistisch balancieren, alleine einkaufen, schneller laufen als sein Schatten und sich selbst satteln. Vor allem aber: Es kann denken. Und ist manchmal ganz schön zickig. Mitschnitt 1 Jolly Jumper Lucky Luke: "Nichts ist erholsamer, als ein einsamer Ritt durch die Prärie." - Jolly Jumper: "Ich möchte mal wissen, wie er sich erholen würde mit 80 Kilo im Kreuz?!" Sprecher 1 Den beiden Hochbegabten stellt Goscinny den dümmsten Hund des Wilden Westens zur Seite, Rantanplan – unbesorgt, freundlich, und so dumm, dass er nicht mal seinen eigenen Schatten erkennt. Mitschnitt 2 Rantanplan Joe Dalton: "Jetzt mach aber dass du wegkommst, du krummbeiniger Köter!!" Rantanplan: "Er hat ein gutes Herz und spielt so gern mit mir." Sprecher 1 Goscinny hat den Comic radikalisiert, reduziert und die Figuren pointiert. Aus Lucky Luke ist der einsamste Cowboy geworden, aus Jolly Jumper das genialste Pferd und der Hund …na ja. Nach der Bearbeitung von Goscinny steht kein Stein mehr auf dem anderen. Statt purer Action liegt der Schwerpunkt jetzt auf den Dialogen. Sprecher 2 (Zitat) Morris wollte jemanden, der ihm bei der Abfassung der Dialoge zuarbeitet. Jetzt ist er selbst zum Zuarbeiter geworden. Goscinny übernimmt die ästhetische Kontrolle über Lucky Luke. Er schreibt nicht nur die Dialoge und baut die Charaktere um, er sagt Morris sogar: was er zeichnen soll. Ja, er zeichnet ihm sogar grobe Skizzen vor. Musik kurz hoch O-Ton 11 Morris Sprecher 2 (OV) Er hatte sehr viel Humor …es war oft eine visuelle Form von Humor, und das war's, warum ich mit ihm zusammenarbeiten wollte. Natürlich wusste ich am Anfang nicht, dass ich mit ihm zusammenarbeiten würde bis zu seinem Tod. Sprecher 1 Morris wird der Einfluss von Goscinny allerdings mit der Zeit unheimlich, er tritt auf die Bremse. Der Zeichner sichert sich die alleinigen Rechte und verhindert, dass Goscinnys Name auf dem Titelblatt erscheint. Gleichzeitig sieht er, dass „Lucky Luke“ immer besser und erfolgreicher wird. Vor allem staunt er darüber, wie gut seine eigenen Zeichnungen unter der Regie von Goscinny geworden sind. Jetzt kann der Zeichner sich voll und ganz auf das konzentrieren, was ihm wirklich liegt: üppige, realistische, kinoartige Westernhintergründe, feine Gesichtszeichnungen... und natürlich: richtig gute Actionszenen. Aus den groben Comic-Strips der Anfangszeit wird ein Klassiker der Comicliteratur. Musik. Mit Text: "Poor Lonesome Cowboy" (Pat Woods) Sprecher 1 Mit Goscinnys Hilfe wird aus Morris ein Meisterzeichner, umgekehrt macht der Zeichner Goscinny zum Autor. Morris diszipliniert Goscinnys überbordenden Witz und verbietet ihm die besonders miesen Kalauer. Aber Goscinny liebt alle seine Kalauer. Darum bringt er sie in einem eigens zu diesem Zweck geschaffenen Comic unter: Iznogood ("Is no good" – ist nicht gut). Mit Iznogood hat Goscinny eine reine Kalauer-Sammlung geschrieben – viele Witze, wenig Handlung. Der Comic wird ein Flop. Die Leser wollen Abenteuer, Männerschweiß und fliegende Fäuste. Aber genau das kann der verkopfte Autor nicht liefern. Während andere Zeichner Autorennen fahren und Flugzeuge steuern, macht Goscinny Kreuzfahrten mit seiner alten Mutter. Die Welt der harten Kerle ist ihm erst in den Zeichnungen von Morris begegnet. Mitschnitt 3 Lucky Luke Gangster 1: "Komm Junge, lass mal deine Kanone sehen!" - Gangster 2: "Deine Kanone sehen!" - Zwei Schüsse. - Gangster 2: "Oh, wer ist das?" - Gangster 1: "Wer ist das?" - Mann: "Sie müssen Lucky Luke sein!" Sprecher 1 Morris hat ihm kräftige Westerngeschichten geliefert mit historischem Hintergrund, Pulverdampf und Schlägereien. Die Regeln der knappen, schlagkräftigen und wortkargen Abenteuergeschichten zwingen Goscinny, seine Texte immer schnörkelloser, spannender und direkter zu formulieren. Mitschnitt 4 Lucky Luke. Telegraph: "An Lucky Luke. Stopp. Armer einsamer Cowboy weit weg von zu Hause. Stopp. [...] Benötigen dringend ihre Hilfe. Stopp." Sprecher 1 Goscinny hat seine Lektionen gelernt. Jetzt will er das bewährte Erfolgsrezept wiederholen – unabhängig von Morris. Die Gelegenheit bietet sich, als er auf den Zeichner Uderzo trifft. Uderzo ist ein schlechter Autor, aber einer der besten Zeichner seiner Zeit: Er kann alles zeichnen, was Goscinny nicht kann – Prügeleien, seitenlange Verfolgungsjagden, opulente barocke Hintergründe. Uderzo ist das absolute Gegenstück zu Goscinny. Und damit: der perfekte Partner. Musik aus 50er-Jahre-Historienfilm (z. B. Quo Vadis) Sprecher 1 Uderzo bringt die Fähigkeit mit, das gesamte antike Rom kraftvoll zu entwerfen, das wilde Gallien und die ganze Welt, vom winterlichen Norden, wo die Wikinger leben, bis zu den Wüsten Ägyptens. Goscinnys Beitrag: elegante Geschichten, polierte Dialoge, seine Lateinkenntnisse und tonnenweise Kalauer. Sprecher 1 Uderzo und Goscinny sind die engsten Freunde, aber bei der Arbeit liegen sie sich permanent in den Haaren. Uderzo will Tiere zeichnen, Goscinny kann Tiere nicht ausstehen. Uderzo will einen großen, starken Helden, der ein bisschen aussieht wie er selbst. Goscinny will ihn klein und pfiffig, als sein Spiegelbild. Der eloquente Autor gewinnt wie immer die Diskussion: der kleine Asterix wird Titelheld. Am Zeichentisch aber schafft Uderzo Tatsachen. Er schmuggelt den riesigen Obelix ein, und wenig später – zu Goscinnys´ Entsetzen – einen winzigen, kleinen Hund: Idefix. Mitschnitt 5 - Asterix in Ägypten. Idefix: "Wauwau." – Obelix: "Ich habe grade Wauwau gemacht. Darf man nicht mehr 'Wauwau' machen?" - Asterix: "Du bist doch ein Dickkopf. Lass schon deinen Idefix aus dem Sack." O-Ton 12 Uderzo Sprecher 2 (OV) Es ist natürlich klar, dass Renés starke Persönlichkeit dafür gesorgt hat, dass man viel mehr von ihm als von mir gesprochen hat. Tatsächlich hat er den Geist von Asterix auch wirklich erfunden, dadurch war er für die Leute Asterix, weil er der Vater der Geschichte war – und der dicke Trottel dahinter, das war ich, ich war nur Nebenfigur. Aber es ist mir vollkommen egal, dass ich für Obelix gehalten werde. Ich werde Ihnen sogar etwas gestehen: Ich liebe die Figur mehr als Asterix (...) und auch die Kinder lieben Obelix. Sprecher 1 Das stimmt. Obelix hat dem Comic erst das Herz gegeben. Ohne ihn wäre der ganze Spaß weg. Keine Fressorgien, keine Trotzanfälle, keine tränenreichen Versöhnungen, kein Kuscheln mit Idefix und keine sinnlosen Schlägereien. Musik (drunterlegen) - La Valse D'Amélie (Version Orchestre) – Yann Tiersen Sprecher 1 Wie ein großer, praller Luftballon rollt Obelix durch eine bunte, freundliche Welt, von der keine ernsthaften Gefahren ausgehen. Schon gar nicht – wenn man einen Zaubertrank im Bauch hat. Obwohl die Hefte randvoll sind mit Krieg und Schlägereien – gibt es keinen wirklichen Schmerz. Selbst die Hammerschläge von Obelix sind harmlos. Und das ist das Besondere an Asterix: die Mischung aus Abenteuer und Zärtlichkeit. Bestseller-Autorin Anna Gavalda ist ein großer Fan von Goscinny: O-Ton 13 - Anna Gavalda Sprecherin 2 (OV) Er hat eine große Kraft. Er hat gewusst, wie man Zärtlichkeit sexy macht. In seinen Büchern ist Zärtlichkeit nie lächerlich. Die Figuren zeigen einfach ihre Zärtlichkeit und dadurch will man sie auf beide Wangen küssen und ihnen sagen: "Du gehörst zu meiner Familie.“ Sprecher 1 Nach der eisigen Zeit eines erbarmungslosen Nationalismus entdeckt Goscinny einen skurillen und harmlosen Patriotismus: Schweizer, die ins Käsefondue fallen, Engländer, die die Schlacht um Punkt 17 Uhr verlassen, um warmes Wasser zu trinken.... – in „Asterix“ werden die merkwürdigen Bräuche der europäischen Stämme gefeiert. Und das lieben die Leute. Denn es ist die Zeit, in der die Europäer anfangen, sich gegenseitig zu besuchen… und zu verlieben. „Asterix“ wird zum besten Baedeker aller Zeiten. Mitschnitt 6 Asterix. "Morgen werden wir die Sphinx und die Pyramiden besuchen. Das muss man gesehen haben." – "Was sagt ihr nun?" – "Idefix hierher! Komm her, Idefix! Idefix wirst du wohl? Lass die Sphinx in Ruhe, Idefix!" Sprecher 1 Abenteuer, Exotik und Magie - Asterix verzaubert wie bisher nur Walt Disney. Allerdings ohne die düsteren Seiten von Disney. Comicexperte Andreas Platthaus: Musik. Dunkle Musik aus Fantasia. O-Ton 14 (Andreas Platthaus) Während Disney tatsächlich versucht, an tiefere Sphären zu rühren, nämlich an Urängste – es gibt diese Waldszenerien, es gibt dieses Allein-gelassen-Sein, es gibt den Tod von Bambis Mutter – das sind Dinge, die passieren bei Asterix nicht. Sie werden keinen einzigen Toten bei Asterix finden. Sprecher 1 Was Goscinny entwirft, sind unschuldige, zärtliche Welten, ohne Brutalität, ohne Tod, ohne Abgrund. Musik. Wiederaufnahme Amelie. Yann Tiersen: „Pas si simple“ (Mit Schreibmaschinengeräusch) Sprecher 1 Und mehr noch als Asterix… zeichnet sein Kinderbuch, Le petit Nicolas (Der kleine Nick) – die Welt in den Farben der Idylle. Darin erzählt der Familienmensch Goscinny von einer unbeschwerten Kindheit, von Eltern, die sich wirklich lieben und von Kloppereien mit Freunden, die auch nichts anderes als Liebesbekundungen sind. "Der kleine Nick" ist das persönlichste Buch von Goscinny, vielleicht auch deshalb, weil er seine Kindheit nie hinter sich gelassen hat. Und schon gar nicht seinen kindlichen Hang zu albernen Scherzen: Puderzucker im Aktenkoffer, Telefonstreiche und angesägte Stuhlbeine. Anne Goscinny gibt die Geschichten vom Kleinen Nick heraus. Dafür hat sie extra einen Verlag gegründet. Und weil die Geschichten ihr persönlich so viel bedeuten, hat sie ihn "Imav" genannt – das ist auf Hebräisch die Zusammenziehung von "Mama" und "Papa". O-Ton 15 Anne Goscinny Sprecherin 1 (OV) Der Kleine Nick spielt eine besondere Rolle für mich, weil ich – vielleicht zu Unrecht – immer angenommen habe, dass mein Vater darin viel von sich erzählt, von seiner eigenen Kindheit und von seinen Eltern. Was ich nicht über Asterix, Lucky Luke und Iznogood sagen würde. Atmo. Schulhof. Sprecher 1 Die Welt des kleinen Nick ist auf wenige typische Orte der Kindheit reduziert: Schule und Zuhause, Garten und Fußballplatz. Dazu Papas, die Fußball spielen, Mamas, die Kuchen backen und eine hübsche Lehrerin, in die alle verliebt sind. Die Abenteuer sind nicht dramatischer als Fußbälle in Fensterscheiben, Kätzchen vor Haustüren und ein großes Photo mit der ganzen Klasse… Sprecher 2 Zitat 1 (Der kleine Nick - "Eine Erinnerung fürs Leben") "Gut", hat der Fotograf gesagt, "dann geht mal ganz lieb und artig auf eure Plätze." [...] Wir haben das gemacht und der Fotograf hat unserer Lehrerin erklärt, dass man bei Kindern alles erreichen kann, wenn man nur mit Geduld vorgeht, aber unsere Lehrerin hat schon nicht mehr zugehört, nämlich sie musste uns trennen, denn es ist schon wieder rund gegangen, weil alle auf die Kisten wollten. "Hier ist nur einer groß, und das bin ich und sonst keiner", hat der Franz geschrieen und er hat alle runtergeboxt, die auf die Kisten klettern wollten. Aber Georg wollte unbedingt auch auf die Kiste und Franz hat ihm eins mit der Faust auf das Einmachglas gegeben und da hat er sich ganz schön weh getan, der Franz, und wir haben zu mehreren versuchen müssen, Georgs Kopf aus dem Einmachglas rauszumontieren, welches sich verklemmt hatte, aber wir haben es geschafft. Sprecher 1 Aus der Vielstimmigkeit der Asterix-Geschichten ist eine einzige Kinderstimme geworden, ein langer poetischer Monolog, in dem alles Rhythmus ist und Klang. Selbst die Namen der Kinder: Agnan und Alceste. Eudes, Clotaire und Rufus. Nick-Liebhaber Volker Weidermann von der FAZ am Sonntag: O-Ton 16 (Volker Weidermann) [...] Dieses "dann und dann und dann", das hat er zu einer wunderbaren Konsequenz gebracht und auch so melodisch gemacht. Viele haben gesagt, das sei eine Vorwegnahme des Thomas-Bernhardschen-Stils und das hat schon sehr viel davon. [...] Und dieses Atemlose, was Thomas Bernhard sehr stark hat [...] dieses Prinzip habe ich beim kleinen Nick auch sehr stark empfunden. Dieses Atemlose des Sprechens, das sich beim kleinen Nick nicht durch eine Lungenkrankheit erklärt, sondern durch das aufgeregte Laufen und Weiterrennen, "Wir müssen was erleben, kommt", sie ist die Atemlosigkeit des Kindes. O-Ton 17 Anne Goscinny Sprecherin 1 (OV) Ich glaube, der kleine Nick ist das ewige Kind, das in einer idealen Welt lebt. In einer Welt, in der, wenn die Eltern sich streiten, sie sich niemals scheiden lassen. Einer Welt, in die die Realität nicht einbricht, über das Fernsehen. In der es quasi kein Telefon gibt, keine Nachrichten. Es ist eine Welt, die total von der Außenwelt beschützt ist. [...] Eine in sich geschlossene Welt, die nur aus der Lehrerin, den Freunden und den Eltern besteht. Es ist eine ideale Welt. Es ist – fast eine perfekte Metapher der Kindheit. Sprecher 1 Und zum ersten Mal bei Goscinny – gibt die Sprache den Takt vor, nicht das Bild. Die Zeichnungen von Sempé liegen nur noch wie kleine Tupfer auf den Geschichten – fragile, hingeworfene Impressionen, die die Stimmung der Kindheit aufnehmen. Musik: Chopin leise einblenden Sprecher 1 Am Anfang einer Geschichte steht für Goscinny immer ein Bild. Die Weiten des Westens von Morris, die Historienkulissen von Uderzo oder das zarte kindliche Frankreich Sempés. Erst dann, den Kopf voller Bilder, beginnt er zu schreiben: Bilder... und Worte. Chopin hochziehen. Text-Zitate: Asterix bei den Belgiern (Band 24), von René Goscinny und Albert Uderzo (Ehapa Verlag, Berlin 2009) S. 39-40. Übersetzung aus dem Französischen: Gudrun Penndorf; dt. Textbearbeitung: Adolf Kabatek; französische Originalausgabe: Asterix chez les Belges (Dargaud, Paris 1979) Goscinny - zitiert nach: "Astérix et Cléopatre" (Dargaud Films, Paris 1968) Vertrieb: Citel Video "Eine Erinnerung fürs Leben" aus: René Goscinny, Jean-Jacques Sempé: Der kleine Nick, (Diogenes; Zürich 2001), Übersetzung: Hans Georg Lenzen; S. 12, Zeile 4–20. (französische Originalausgabe: „Le petit nicolas“ (Editions Denoel, Paris 1960) "Les Châtiments" in: Les Châtiments von Victor Hugo(LGF, Paris 1973), S. 18, Zeile 1-2, Zeile 11-12 16