COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 3.8.2008, 0.05 Uhr "Shangri La ist anderswo" Tibetische Literatur aus dem indischen Exil Von Margarete Blümel Atmo 1 Mantra / Mönche Länge: ca. 8 ? 10 Sek., dann bitte unter d. Zitat legen Zitator: Wenn du an der Olympiade in Beijing teilnimmst, dann gewinne eine Medaille für freies Reden. Oder lauf? für die Menschenrechte. Und wirf? einen Speer, um den Hass zu töten. ( Übersetzerin: Margarete Blümel ) Atmo 1 Mantra / Mönche bitte kurz hoch, dann wieder unter d. Zitat legen Zitator: Spring?, um den Graben der Unwissenheit zu überwinden. Tritt? beim Radrennen fest in die Pedale, lass? die Tyrannen weit hinter dir. Schließlich, beim Stabhochsprung ? spring? um die Freiheit. ( Übersetzerin: Margarete Blümel ) Atmo 1 Mantra / Mönche bitte kurz hoch, dann wieder unter d. Zitat legen Zitator: Räum? beim Kugelstoßen den Kommunismus aus der Welt. Und dann schwimm? um das Leben derer, die im Gefängnis sitzen und gefoltert werden. Und ? renn?, lauf? so schnell du irgend kannst zum Lobe Buddhas! ( Übersetzerin: Margarete Blümel ) Atmo 1 Mantra / Mönche bitte hoch, dann unter d. O ? Ton legen O ? Ton 1 Lhobsang Dhargyyey ( junger Exiltibeter ) ? We always organize candle march every night since finish chinese Olympic... and the monks and nuns all participating here.? Sprecher 1 / VO ?Bis zum Ende der Olympiade werden wir uns jeden Abend hier zu einem Kerzenmarsch versammeln. Am vierzehnten März haben wir damit angefangen. Und von Anfang an haben sich auch die Mönche und Nonnen aus den Klöstern daran beteiligt. ? Atmo 1 Mantra / Mönche bitte wieder hoch, dann erneut unter d. O ? Ton legen O ? Ton 2 Lhobsang Dhargyyey ( junger Exiltibeter ) ? I can say that the whole world can know what situation in Tibet ...So we always have a big problem. ? Sprecher 1 / VO ?Die ganze Welt soll erfahren, was in Tibet vor sich geht! Weil uns die Chinesen in unserer Heimat zahlenmäßig völlig überlegen sind, können wir uns nicht gegen sie behaupten. Außerdem halten sie auch in den Gebieten, in denen hauptsächlich Tibeter leben, alle wichtigen Positionen besetzt, egal, ob in der Verwaltung oder in der Politik. So können sie uns immer und überall Schwierigkeiten bereiten! ? Atmo 1 Mantra / Mönche bitte wieder hoch, dann in Kreuzblende verbinden mit Sprecherin 1 / RT: Dharamsala, Bezirkshauptstadt des nordindischen Bundesstaates Himachal Pradesh. Pinien, Rhododendronbüsche und Himalaya ? Eichen klammern sich an den kargen Boden der Hügel ringsumher. Dahinter erhebt sich die Kette des Dhauladar, des ?ewig weißen Kamms?. Über schwindelerregende Haarnadelkurven führt der Weg in den oberen Teil der Stadt, von den Bewohnern ?Little Lhasa? genannt. Einfache, braune Häuser, die mit tibetischen Flaggen und Fotografien des Dalai Lamas geschmückt sind, säumen die Straße. An diesem Abend scheint sich ganz ?Klein?Lhasa? hier versammelt zu haben. Atmo 2 Kerzenmarsch durch Dharamsala / Aufruf / Hintergrundgeräusche Länge: ca. 7 ? 8 Sek., dann bitte unter d. Text legen Sprecherin 1 / RT ( = Rahmentext ): Der Mann, der da im Hintergrund rufe, bitte die Demonstranten darum, sich zu versammeln, sagt Lhobsang Dhargyyey. Der neunzehnjährige Exiltibeter ist vor drei Jahren in Dharamsala angekommen. Sein Berufswunsch: Schriftsteller. Seit ein paar Monaten hilft Lhobsang dabei, den allabendlichen Kerzenmarsch durch den Gebirgsort zu organisieren. Er verteilt auf Papptellern befestigte Kerzen an die westlichen Sympathisanten, an tibetische Laien, Mönche und Nonnen, die friedlich gegen die Vereinnahmung Tibets durch die Chinesen protestieren. In einem auf? und abschwellenden Bittgesang beten die buddhistischen Nonnen und Mönche dafür, dass Tibet seine Freiheit wiedererlangen und dass der Dalai Lama noch lange unter ihnen weilen möge. Atmo 2 Kerzenmarsch durch Dharamsala / Hintergrundgeräusche bitte kurz vorm letzten Satz ( ? Und dass .. solle. ? ) in Kreuzblende verbinden mit Atmo 3 Singsang Mönche u.Nonnen Länge: ca. 7 ? 8 Sek., dann bitte unter Text Sprecherin 1 / RT: Gleich vor dem Tempel, an dem die Teilnehmer kurz halt machen, rückt Lhobsang Dhargyyey eine mobile Bilderwand zurecht - Fotografien mit Abbildungen von Demonstranten aus Tibet: blutüberströmte Körper, Leichen, die von Kugeln durchsiebt sind. Daneben haben Lhobsangs Mitstreiter mit Reißzwecken ein paar Artikel aus chinesischen Zeitungen befestigt. ?Die beste, friedlichste Olympiade aller Zeiten!? lautet eine der ins Englische übersetzten Überschriften. Ergänzt von der Protestnotiz eines Unbekannten in dickem, rotem Filzstift: ?Elende Lügner! Boykottiert die Olympischen Spiele in China!? Atmo 3 Singsang Mönche u. Nonnen bitte kurz hoch, dann wieder unter d. Text legen Sprecherin 1 / RT: Als er vor drei Jahren aus China hierher gekommen sei, so Lhobsang, habe sein englisches Vokabular aus ?Yes? und ?Thank you? bestanden. Das Repertoire, über das er nun verfüge, habe er sich selbst beigebracht. Warum er Schriftsteller werden wolle? Die Antwort des schmalen, wachsam blickenden jungen Mannes kommt ohne Zögern: um alles beschreiben zu können, was ihm bis zum heutigen Tag widerfahren sei ? einschließlich der strapaziösen Flucht nach Indien, über die er in den ersten Monaten nach seiner Ankunft nicht habe reden können. Atmo 3 Singsang Mönche u. Nonnen bitte kurz hoch, dann unter d. O ? Ton legen O ? Ton 3 Lhobsang Dhargyyey ( junger Exiltibeter ) ? We have thirty ? seven people ...want to follow the Dalai Lama?s way. That?s why they come here. ? Sprecher 1 / VO ?Wir waren siebenunddreißig Leute, die beiden Führer mitgerechnet. Es war ein ungeheuer mühsamer Marsch. Wir mussten mehrere Bergketten überqueren und durch reißende Flüsse hindurch! Und es war so kalt, dass ein paar Kinder und ältere Erwachsene auf dem Weg gestorben sind. Wenn die chinesischen Patrouillen Flüchtlinge erwischen, schlagen sie sie und schicken sie zurück. Trotzdem gehen viele meiner Landsleute dieses Wagnis ein. Denn hier erhoffen sie sich eine gute Ausbildung. Außerdem können sie ihre Religion frei ausüben und sind dabei ihrem spirituellen Führer, dem Dalai Lama, nahe. ? Atmo 3 Singsang Mönche u.Nonnen bitte kurz hoch, dann bald unter d. Text weg Sprecherin 1 / RT: Lhobsang Dhargyyeys Enthusiasmus hat etwas sehr Berührendes. Sein Gesicht leuchtet, wenn er vom Dalai Lama spricht. Seine Augen blitzen, die Hände greifen weit aus, wenn die Rede auf sein großes Vorbild, den politischen Aktivisten und Poeten Tenzin Tsundue kommt. Und auf dessen Gedicht ?I am tired ? Ich bin müde?. Musik 1 Tibet. Musikstück Länge: ca. 8 ? 9 Sek., dann bitte unter d. Zitat legen Zitator: Müde bin ich. Der dauernden Rituale und der Kerzenmärsche durch Dharamsala. Ich bin es müde, billige Pullover an schmutzigen Straßenecken zu verkaufen. Satt bin ich?s, in irgendeiner Kneipe von Dharamsala bei Reis und Linsenbrei zu sitzen. Oder die Kühe irgendwo im Süden, in Karnataka, beim Grasen zu beaufsichtigen ? nichts für mich. Ich bin es leid, meine Jeans in einer obskuren Lache durchwaschen zu müssen. Und, mehr als alles andere: Ich habe keine Kraft mehr, für ein Land zu kämpfen, das ich noch nie gesehen habe. ( Übersetzerin: Margarete Blümel ) Musik 1 Tibet. Musikstück bitte hoch, dann unter d. Text legen Sprecherin 1 / RT: Lhobsang Dhargyyey hat Tenzin Tsundue schon ein paar Mal in Dharamsala getroffen. Wenn er gerade da ist. Denn Tsundue ist viel unterwegs. Mal seilt er sich anlässlich einer internationalen Konferenz von einem indischen Luxushotel ab, dann organisiert er in Delhi einen Hungerstreik für die Menschenrechte in Tibet. Oder er nimmt an einem Fußmarsch zur indisch?chinesischen Grenze teil, um gegen die Olympiade in China zu protestieren. Seine in englischer Sprache geschriebenen Gedichte stellt er ins Internet. Manchmal findet sich auch ein kleiner indischer Verlag, der seine Verse druckt. In geringen Auflagen, der finanzielle Ertrag ist nicht der Rede wert. Die meisten tibetischen Literaten im Exil finden gar keinen Verlag. Gewöhnlich druckt ein Freund die Geschichten und Gedichte und bringt sie in Umlauf. Und fast immer geschieht dies in Dharamsala. Musik 1 Tibet. Musikstück bitte hoch, dann in Kreuzblende verbinden mit Atmo 4 Hintergrundgeräusche Dharamsala Länge: ca. 7 ? 8 Sek., dann bitte unter d. Text legen Sprecherin 1 / RT: In ?Upper Dharamsala?, dem oberen Teil der nordindischen Stadt, sind die Inder Gäste. Etwa fünfundachtzig Prozent der Bewohner sind Tibeter. Sie haben diesen Ort zu ihrer Heimat gemacht, um ihrem religiösen Oberhaupt nahe zu sein. Als der aus Tibet geflohene Dalai Lama vor knapp fünfzig Jahren eine vorübergehende Bleibe suchte, bot Indiens damaliger Präsident dem spirituellen Führer den Bergort Dharamsala an. Seitdem leben hier der Dalai Lama und mittlerweile mehr als zehntausend Exiltibeter. Jedes Jahr kommen um die dreitausend weitere Flüchtlinge an. Einige bleiben, andere ziehen weiter, zum Beispiel in den Süden des Landes. Dharamsala ist der Sitz der tibetischen Exilregierung, ein Knotenpunkt für die politischen Aktivitäten der Exilanten und das Zentrum ihrer Literaturszene. Atmo 4 Hintergrundgeräusche Dharamsala bitte hoch, dann bis z. Ende des nächsten Absatzes unterlegen ( ... Anklang findet. ) Sprecherin 1 / RT: Auf dem internationalen Markt konnten sich bisher nur wenige der hiesigen Autoren behaupten. Außer dem Dalai Lama, versteht sich, der mit seiner Autobiografie, mit seinen Zitatensammlungen und Meditationsanleitungen weltweit großen Anklang findet. Ein weiterer Autor, dessen Erzählungen ins Englische und auch ins Deutsche übertragen worden sind, ist Jamyang Norbu. Bevor er vor einigen Jahren nach Amerika übersiedelte, hatte er lange in Dharamsala gelebt. In der von Alice Grünfelder übersetzten Kurzgeschichte ?Das Schweigen? beschreibt Jamyang Norbu das tragische Schicksal des Hirten Nyima. Der junge Mann ist hochgewachsen, stattlich und gut gelitten. Doch er hat einen Makel: Er ist stumm. Dieses Handicap steht ihm im Wege, als er die schöne Pema zur Frau nehmen will. Pema würde Nyima von Herzen gern heiraten, doch ihre Eltern verweigern der Verbindung mit dem stummen Hirten ihr Einverständnis. Musik 2 Tibet. Musikstück Länge: etwa 8 ? 9 Sek., dann bitte unter d. Zitat legen Zitator: Er lief durch die Gassen, hinaus auf den Hauptweg, der durch das Dorf führte, und unter den dicken Filzstiefeln knirschte der noch unberührte Schnee. Er rannte wie ein Besessener, seine Gedanken loderten dunkel, jeder Atemzug schmerzte, sein Atem ging schwer und verwandelte sich augenblicklich in weißen Dunst, sobald er in die kalte Luft entwich. Ziellos rannte er, wie ein verwundetes Tier, bis er zuletzt völlig erschöpft stolperte und hinfiel. In diesem Augenblick schien der Mond durch die aufgerissene Wolkendecke, und Nyima wurde auf einmal gewahr, dass er den Berg betrachtete. Der Gipfel leuchtete unheimlich in diesem kalten, überirdischen Licht, das sich im hellen Glanz des Schnees spiegelte und dadurch noch stärker strahlte. ( Übersetzerin: Alice Grünfelder ) Musik 2 Tibet. Musikstück bitte kurz hochkommen lassen, dann erneut unter d. Zitat legen Zitator: ?Ein Omen?, dachte er. ?Die Botschaft der Schutzgottheit!? Wirre Gedanken gingen ihm durch den Kopf, er befand sich in einem Zustand höchster Erregung. ?Ja, Tengri Lhachen, der Schutzgott, er besitzt die Macht... Er wird mich heilen? Mir eine Stimme verleihen. Und dann wird Pema mir gehören, mir... Ja doch! Zu ihm muss ich hin. ? ( Übersetzerin: Alice Grünfelder ) Musik 2 Tibet. Musikstück bitte hochkommen lassen, dann wieder unter d. Zitat legen Zitator: Er überquerte den Gebirgskamm, der das Dorf von den Bergen trennte, stolperte viele Male und fiel oft hin, als er auf der anderen Seite wieder abstieg. Doch er gönnte sich keine Rast. ?Gib? mir meine Stimme.... Gib? mir meine Stimme... Gib? mir meine Stimme.? Seine Knie gaben unter ihm nach, und er sackte schwer in den Schnee. Seine Finger froren zu Stahlklauen und plötzlich strömte eine Eiseskälte in sein Herz, drang in jede Windung seines Körpers. Seine Augen blickten noch einmal hinaus in die vertraute Finsternis, die ganz still war. Auf einmal spürte er es, wie es hinaufkroch in die Luftröhre. Es kam in die Kehle, blancierte auf seiner Zungenspitze und, wie eine Stromschnelle sich zwischen Felsen einen Weg bahnt, so brach es aus ihm hervor: ?Pema! Pema! Pema!? Und er war frei. ( Übersetzerin: Alice Grünfelder ) Musik 2 Tibet. Musikstück bitte hochkommen lassen, dann unter d. Zitat legen Zitator: Nachdem im nächsten Frühjahr der Schnee geschmolzen war, fanden sie seinen Leichnam. Er war von einer riesigen Schneedecke begraben worden. ( Übersetzerin: Alice Grünfelder ) Musik 2 Tibet. Musikstück bitte kurz hoch, dann verbinden mit Atmo 5 Mönche / Obertongesang ( 1 ) Länge: ca. 8 ? 9 Sek., dann bitte unter d. O ? Ton legen O ? Ton 4 Labhdo ( älterer Mönch ) ? We had a tibetan saying in these good old days ..the internal wall of scriptures will not collapse.? Sprecher 1 / VO ?Ein altes tibetisches Sprichwort sagt: Selbst wenn die Außenwände eines Hauses einstürzen - der innere Wall der heiligen Schriften wird niemals nachgeben.? Atmo 5 Mönche / Obertongesang ( 1 ) kurz hochziehen, danach bitte unter d. Text Sprecherin 1 / RT: Der Mönch Labhdo leitet die Bibliothek in Dharamsala. Sie birgt wertvolle Schriften des tibetischen Buddhismus ? Schriftrollen, Dokumente, Bücher und Manuskripte, welche die Flüchtlinge über die Jahrzehnte hinweg aus Tibet retten konnten. Atmo 5 Mönche / Obertongesang ( 1 ) kurz hochziehen, danach bitte unter d. nächsten O - Ton O ? Ton 5 Labhdo ( älterer Mönch ) ?This library got started in 1970 ... so this is basically an institute for tibetan studies.? Sprecher 1 / VO ?Die Bücherei gibt es seit achtunddreißig Jahren. Jeder, der sich für unsere Kultur interessiert, kann hier seine Kenntnisse des tibetischen Buddhismus vertiefen. Oder auch tibetisch lernen. Wir helfen ausländischen Studenten, die in Tibet- und Buddhismuskunde promovieren wollen, und wir unterstützen Religionswissenschaftler und Tibetologen bei ihren Forschungsprojekten. Eigentlich ist dies mehr ein Institut für Tibetstudien.? Atmo 5 Mönche / Obertongesang ( 1 ) kurz hoch, danach bitte unter d. Text legen Sprecherin 1 / RT: Der Mönch Labhdo ist vielleicht Mitte Fünfzig. Er hat schwere Tränensäcke. Dennoch ? seine Augen sind überaus lebendig und folgen auch der kleinsten Geste des Gegenübers. Sein Schädel ist kahl geschoren. Er trägt ein langes, rostrotes Gewand mit einer dunklen Schärpe um die Mitte. Wenn er zuhört, lehnt er sich in seinem Sessel weit nach vorn. Er könne nachvollziehen, sagt Labhdo, dass die tibetische Jugend hier im Exil ihren eigenen Weg suche ? auch literarisch. Allerdings fände er es sehr viel besser, wenn sich die Jungen erst einmal ihrer Wurzeln besännen. Atmo 5 Mönche / Obertongesang ( 1 ) bitte hoch, dann bald unter d. Text blenden Sprecherin 1 / RT: Zwar hat die weltliche Literatur in Tibet nie eine größere Rolle gespielt. Dafür war die Sakralliteratur in dem vom Buddhismus durchdrungenen Land umso wichtiger. Labhdo und seine Mitstreiter wollen den jungen Tibetern dieses literarische Erbe nahe bringen. Den Mitarbeitern der Bibliothek ist es zu verdanken, dass inzwischen bereits Teilübersetzungen des ?Kanjur?, des Kanons der Lehren Buddhas, ins Englische existieren. Auch die ?Tanjur?, die Kommentare zu den Lehren Buddhas, liegen zum Teil in englischer Übersetzung vor. Traurigerweise, so Labhdo, sprächen immer mehr junge Leute heutzutage besser englisch als tibetisch. O ? Ton 6 Labhdo ( älterer Mönch ) ? The teaching is so important in terms of the subject matter.... It?s a form of meditation, a form of devotion. Total commitment, you see. ? Sprecher 1 / VO ?Die Lehren sind ungeheuer wichtig! Deshalb hat Buddha auch gesagt: ?Du musst einen Text eingehend lesen! Du musst ihn niederschreiben, musst ihn auswendig lernen. Und du musst darüber meditieren!? Diese Texte sind so wertvoll. Und wenn Sie sich die Schriftrollen in der Bücherei einmal anschauen ? alles handgeschrieben! Und nicht etwa mit gewöhnlicher Tinte, nein, in Gold und in schierem Silber! Mit dem besten Material, in schönster Handschrift. Ein Akt völliger Hingabe, eine Meditation! ? Musik 3 Sakralgesang der Mönche Länge: ca. 8 ? 9 Sek., dann bitte unter d. Zitat legen Zitator: Am Anfang nahm ich meinen Meister als Meister. In der Mitte nahm ich die Schriften als Meister. Am Ende nahm ich meinen GEIST als Meister. ( Übersetzer: Matthieu Ricard ) Musik 3 Sakralgesang der Mönche bitte hoch, dann wieder unter Text Sprecherin 1 / RT: Auch Liedtexte wie die des spirituellen Barden Shabkar, der 1781 im Nordwesten Tibets zur Welt kam, habe man den jungen Exiltibetern und angehenden Schriftstellern wieder zugänglich gemacht, sagt der Mönch Labhdo. Die meisten von ihnen seien nach ihrer Flucht arm, ausgehungert und halb erfroren in Indien eingetroffen. Einige träumten nun von literarischen Ehren, von Einladungen ins Ausland und von materiellem Wohlstand. Darüber vergäßen sie aber, welch ein ungeheurer Reichtum in ihrem spirituellen Erbe liege. Musik 3 Sakralgesang der Mönche bitte hoch, dann unter d. Zitat legen Zitator: Nicht Räucherwerk, Blumen und Lichter sind die besten Opfergaben an den Buddha. Die allerschönste Gabe für ihn ist, das Wohl der Wesen zu bewirken. ( Übersetzer: Matthieu Ricard ) Musik 3 Sakralgesang der Mönche bitte hoch, dann unter d. O ? Ton blenden O ? Ton 7 Labhdo ( älterer Mönch ) ? Now we are thrown into that modern world....we also publish books ? science subjects like physics, neuro biology and so on in tibetan language. ? Sprecher 1 / VO ?Da wir aber nun einmal in diese moderne Welt hineingeworfen worden sind... Gibt es irgendein tibetisches Buch über moderne Kunst? Oder eines über Politikwissenschaften, über neuere Aspekte aus den Bereichen Gesundheit und Erziehung? Natürlich nicht, dafür waren wir in Tibet viel zu lange isoliert vom Rest der Welt. Im Exil haben wir uns dann erst einmal darauf konzentriert, unser höchstes Gut, den tibetischen Buddhismus, zu konservieren. Und die jungen Leute reden jetzt davon, eigene literarische Wege beschreiten und etwas ganz Neues schaffen zu wollen, was auch immer damit gemeint sein mag... Ich finde, wir sollten uns erst einmal darauf konzentrieren, uns für die Gegenwart zu rüsten. Deshalb bekommen zum Beispiel unsere Mönche mittlerweile regelmäßig naturwissenschaftlichen Unterricht. Und neuerdings bringen wir tibetische Übersetzungen englischer Bücher heraus, die sich mit Physik und Neurobiologie beschäftigen.? Sprecherin 1 / RT: Mit solchen Parolen stößt der Leiter der ?Library? von Dharamsala bei den weltlichen jungen Tibetern meist auf taube Ohren. Auch wenn es bis dato noch keinem von ihnen gelungen ist, mit einem neotibetischen, ureigenen Schreibstil Furore zu machen, wird darüber doch viel geredet. Im ?Tibetan Pen Club? von Dharamsala zum Beispiel, einer losen Vereinigung von Exilanten, die Gedichte und Erzählungen schreiben. Oder in den vielen Kneipen und in den Billigunterkünften des Städtchens, wo man mit Westlern zusammensitzen und solche Ansinnen diskutieren kann. Religiöse Schriften, Übersetzungen der Lehren Buddhas oder die Liedtexte des Shabkar werden dabei kaum ins Feld geführt. Ein Werk allerdings gibt es, das alle als richtig großen Wurf ansehen, und das ist ?Das Tibetanische Totenbuch?. Atmo 6 Obertongesang tib. Mönche ( 2 ) Länge: etwa 8 ? 10 Sek., dann bitte unter d. Zitat legen Zitator: Das Dämmern der Zornigen Gottheiten vom achten bis zum vierzehnten Tag: Jetzt wird die Art gezeigt, in der die Zornigen Gottheiten dämmern. Weil der Bardo ? der Zwischenzustand ? der Zornigen Gottheiten von Furcht, Schrecken und Erschaudern beeinflusst wird, ist es schwerer, Erkenntnis zu erlangen. Was die gewöhnliche, weltlich gesinnte Menschheit betrifft, was muss man sie überhaupt erwähnen? Weil sie infolge von Furcht, Schrecken und Erschaudern fliehen, stürzen sie in den Abgrund hinunter in die trostlosen Welten und leiden. ( Übersetzerin: Louise Göpfert ? March ) Atmo 6 Obertongesang tib. Mönche ( 2 ) bitte hochziehen, dann erneut unter d. Zitat legen Zitator: Aber der Geringste der Geringen, der an die mystischen Mantrayana ? Lehren glaubt, wird, sobald er die Blut trinkenden Gottheiten erblickt, sie als seine Schutzgottheiten erkennen, und das Treffen wird wie mit menschlichen Bekannten sein. Er wird ihnen vertrauen und, indem er in sie eingeht, Buddhaschaft erreichen. ( Übersetzerin: Louise Göpfert ? March ) Atmo 6 Obertongesang tib. Mönche ( 2 ) bitte hoch, dann wieder unterlegen Sprecherin 1 / RT: Vor mehr als achtzig Jahren sorgte die erste englische Ausgabe des ?Tibetanischen Totenbuches? weltweit für Aufsehen. In alternativen Kreisen wurde die Anleitung zur Sterbevorbereitung und zur Begleitung eines Sterbenden durch die diversen Zwischenstadien des Todes bald zur Standardliteratur. Hippies stellten ihre Ausgabe der buddhistischen Sterbeanleitung im Bücherregal neben Hermann Hesses ?Siddharta? und die Werke von Carlos Castaneda. Religionswissenschaftler und Tibetologen stritten darüber, welche der diversen Übersetzungen dem tibetischen Original am ehesten gerecht werde. In der New Age Szene erfreut sich das Buch noch heute großer Beliebtheit. Zwar gibt es einige Klassiker wie Heinrich Harrers ?Sieben Jahre in Tibet?, eine Beschreibung tibetischer Lebensgewohnheiten und der zu Harrers Zeiten waltenden Landespolitik. Ebenfalls millionenfach verkauft wurde James Hiltons Roman ?Der verlorene Horizont?, in dem sich eine in der Bergwelt Tibets angesiedelte Klostergemeinschaft von den Fesseln der menschlichen Zivilisation befreit hat. Ähnlich wie ?Sieben Jahre in Tibet? wurde diese Vision eines mystischen Shangri ? La erfolgreich verfilmt. Doch als einziger Bestseller von tibetischer Hand darf wohl nur das von Lama Kazi Dawa - Samdup verfasste ?Tibetanische Totenbuch? gelten. Atmo 6 Obertongesang tib. Mönche ( 2 ) bitte wieder hochziehen und hernach unter d. Zitat legen Zitator: Wiederum werden beim Tod jener disziplinhaltenden Äbte und Doktoren metaphysischer Diskurse, wie emsig sie sich auch religiösen Übungen hingegeben haben und wie klug sie auch ? in der Menschenwelt ? in der Darlegung der Lehren gewesen sein mögen, keine phänomenalen Zeichen wie ein Regenbogenschein oder Knochenreliquien kommen. Und dies darum, weil sie, als sie lebten, die mystischen Lehren niemals in ihrem Herzen bewahrt und weil sie verächtlich von ihnen gesprochen haben; und weil sie niemals die Gottheiten der mystischen Lehren durch Einweihung kennen lernten. Wenn diese dann im Bardo, im Zwischenzustand, dämmern, erkennen sie sie nicht. Wenn sie plötzlich sehen, was sie nie zuvor gesehen haben, halten sie es für feindlich. Und weil dadurch ein feindliches Gefühl erzeugt wird, kommen sie deshalb in elende Zustände. ( Übersetzerin: Louise Göpfert ? March ) Atmo 6 Obertongesang tib. Mönche ( 2 ) bitte hoch, dann allmählich unter dem O ? Ton blenden O ? Ton 8 Labhdo ( älterer Mönch ) ? That?s not one of the books that is so profound...you are asked to pay more attention to those things also. That?s part of your life! So you show more interest. ? Sprecher 1 / VO ?Wenn ich ehrlich sein soll ? ?Das Tibetanische Totenbuch? ist nicht besonders gehaltvoll. Es ist ein gutes Buch, aber aus buddhistischer Sicht fehlt es dem Werk doch an Tiefe. Dafür ist es sehr anschaulich, wenn es um die Beschreibung der Beispiele und der Erscheinungen geht, die im Zustand zwischen Leben und Sterben vorkommen. Das Wichtigste ist, dass es den Tod in den Mittelpunkt rückt, eine Tatsache in unserem Leben, die wir gern ignorieren. Und diesem Buch gelingt es, die dafür nötige Aufmerksamkeit zu wecken. ? Atmo 6 Obertongesang tib. Mönche ( 2 ) bitte hoch, dann Kreuzblende mit Atmo 7 Straßenatmo Dharamsala Länge: etwa 6 ? 7 Sek., dann bitte unter d. nachfolg. Text Sprecherin 1 / RT: Labhdos Versuche, die jüngeren Exiltibeter für die tibetische Sakralliteratur zu begeistern, stoßen in Dharamsala auf heftigen Gegenwind. Die vielen Besucher aus dem Westen haben im Laufe der Jahre zum Profil der Gebirgsstadt beigetragen. Und diesen Einflüssen können sich vor allem die jüngeren Tibeter kaum entziehen. Atmo 7 Straßenatmo Dharamsala bitte hoch, dann wieder unter Text Sprecherin 1 / RT: Da sind zum Beispiel die manchmal ziemlich offenherzig gekleideten Westlerinnen, die den jungen Exilanten schöne Augen machen. Nicht wenige gehen für die Dauer ihres Aufenthalts eine Liaison mit einem tibetischen Verehrer ein. Oder ihr männliches Pendant - Franzosen, Israelis, Deutsche und Australier, die hergekommen sind, um vielleicht einen Blick auf den Dalai Lama zu erhaschen. Und die in der einen Hand den ?Lonely Planet??Reiseführer und in der anderen einen Joint halten. Während Althippies aus der New?Age?Szene in den Läden von Dharamsala ein reiches Sortiment an spiritueller Entspannungsmusik, Büchern mit tantrischen Liebespraktiken und Ratgebern für die Instant?Erleuchtung suchen ? und finden. Atmo 7 Straßenatmo Dharamsala bitte hoch, dann bis zum Ende des Textes unterlegen Sprecherin 1 / RT: Wieder andere kommen hierher, weil sie mit den im Exil lebenden Tibetern sympathisieren. Für die meisten Westler hat Tibet inzwischen die Aura des Geheimnisvollen und der Mystik verloren. Shangri?La, der wundersame Ort, an dem die Menschen ohne Technologie, selbstgenügsam und mit sich und ihrer Religion im Reinen leben ? das muss anderswo liegen. Weit weg von Tibet. Und mit Sicherheit auch nicht in Dharamsala. Die Besucher aus dem Westen hinterlassen Unterschriften, Spenden und die Versicherung, sich in der Heimat für eine Veränderung der politischen Lage Tibets einzusetzen. Eine für viele Exilanten ziemlich verwirrende Mischung aus Engagement, Lässigkeit und verwässerter Spiritualität. Kurse für tibetische Medizin, für Yoga oder für den korrekten Gebrauch von Meditationsweihrauch werden offeriert. Auch andere Düfte wabern durch die Gassen: Haschisch und Marihuana werden angeboten. Heroin ist ebenfalls leicht erhältlich. Und von diesem Angebot machen längst nicht mehr nur die Westler sondern auch frustrierte tibetische Jugendliche Gebrauch. Musik 4 Tib. Popmusik Länge: etwa 10 ? 12 Sek., danach bitte unter d. Text legen Sprecherin 1 / RT: All dies und der anhaltende Strom der Flüchtlinge aus Tibet schaffen in Dharamsala viele Probleme. Für die seit längerem hier lebenden Exilanten ist das Tibet, das die Neuankömmlinge beschreiben, ein fremdes Land. Auch sprechen die aus China geflüchteten Tibeter anfangs oft nur bruchstückhaft tibetisch, da in ihrem Alltagsleben das Chinesische dominierte. Die alteingesessenen Tibeter von Dharamsala dagegen haben vor allem ihr Tibetisch untereinander gepflegt, die Jüngeren wollen so schnell wie möglich englisch lernen. Nicht selten bildet nur noch der Dalai Lama den gemeinsamen Nenner für langjährige und neu eingetroffene Exiltibetern. Musik 4 Tib. Popmusik bitte hoch, dann unter d. Zitat legen Zitator: Bringt meinen Dalai Lama um, damit mir nichts mehr bleibt, woran ich noch glauben könnte. Begrabt meinen Kopf schlagt ihn in Stücke oder zieht mir die Kleider vom Leib und kettet mich an. Hier, im Gefängnis, gehört mein Körper euch. Aber meine Überzeugungen behalte ich für mich. Ihr wollt mich töten? Nur zu. Aber macht es kurz und leise. Sorgt dafür, dass kein Atem mehr in mir verbleibt. Oder wollt ihr lieber noch einmal von vorn anfangen? In Ordnung. Züchtigt mich. Indoktriniert mich. Führt mir eure Kommunistentricks vor. Aber lasst mich danach nicht mehr frei. Und: Bringt meinen Dalai Lama um, und ich werde nichts mehr haben, an das ich glauben kann. ( Übersetzerin: Margarete Blümel ) Musik 4 Tib. Popmusik bitte hoch, dann unter d. O ? Ton blenden O ? Ton 9 Lhobsang Dhargyyey ( junger Exiltibeter ) ? Since I came to India I went to school and did history... why they make such a big change in Tibet. ? Sprecher 1 / VO ?Als ich hier in Indien zur Schule ging, hatte ich natürlich auch Geschichtsunterricht. Die Lehrer haben uns klargemacht, dass sich die tibetische und die chinesische Kultur grundlegend voneinander unterscheiden. Das hörte ich zum ersten Mal! Man hatte uns eingebläut, dass Chinesen und Tibeter einer Nation angehören, dass wir gemeinsame Wurzeln haben. Heute bin ich sehr wütend auf die Chinesen, weil sie unser Land völlig auf den Kopf gestellt haben." Sprecherin 1 / RT: Der angehende Schriftsteller Lhobsang Dhargyyey mag das eben gehörte Gedicht seines Vorbilds Tenzin Tsundue. Die darin ausgedrückte Wut und die Ergebenheit gegenüber dem Dalai Lama beseelen auch ihn. Doch während Tenzin Tsundue als Sohn tibetischer Flüchtlinge in Indien geboren ist, kam Lhobsang erst vor drei Jahren nach Dharamsala. Ein großer Unterschied, denn er bringt literarische Traditionen aus der Heimat mit ? ein Erbe, das er vielleicht irgendwann mit den Inspirationen und Ideen anreichern wird, die ihm das indische Exil beschert. Oder: Er wird versuchen, den alten Ballast abzuwerfen, um etwas völlig Neues zu entwickeln. Musik 5 Tib. Musikstück Länge: ca. 10 Sek., danach bitte unter d. Text legen Sprecherin 1/ RT: Über lange Zeit hinweg prägten sakrale Werke, Fabeln und Legenden die tibetische Literatur, darunter das mehr als eine Million Zeilen umfassende Heldenepos von König Gesar, das vor über tausend Jahren entstanden ist. Die tibetische Literatursprache, in der diese Werke verfasst wurden, war ein sehr formelles, mit Symbolen überladenes Sprachgespinst - kaum geeignet, um Alltagsgeschehnisse oder politische Gegebenheiten zu beschreiben. Als China vor etwa dreißig Jahren begann, seine Tibetpolitik zu liberalisieren, gewann die tibetische Literatur einige neue Facetten hinzu. Viele der Autoren schrieben inzwischen zwar in chinesischer Sprache, orientierten sich aber zunehmend an westlichen Vorbildern. So greifen einige Autoren auch heute noch gern auf Elemente aus dem magischen Realismus zurück. Sie verknüpfen etwa die zum Teil bedingungslose Frömmigkeit ihrer Landsleute mit Mythen und Begebenheiten, die in den harschen, entlegenen Regionen Tibets spielen. In diesen Erzählungen verschwimmen die Grenzen zwischen Fantasie und Realität. Oder sie werden völlig aufgehoben. Musik 5 Tib. Musikstück bitte kurz hochziehen, dann wieder unter Text Sprecherin 1 / RT: Wie in der ?Geschichte von Mittwoch? des in Tibet lebenden Schriftstellers Sebo. Sein Protagonist, Mittwoch, war einst ein herzloser Schlachter, doch im Verlauf des Geschehens wird er zu einem Menschen mit einem mitfühlenden Herzen. Er überquert neunundneunzig Flüsse, schläft siebentausendsiebenhundertneunundvierzig Tage ohne Unterbrechung und macht sich schließlich zu einem gegenüberliegenden Berg auf. Der dort in einer Höhle lebende Einsiedler hält Mittwoch für einen Heiligen. Musik 5 Tib. Musikstück bitte wieder hoch, dann unter d. Zitat legen Zitator: Der Einsiedler aber sprach: ?Verehrter Meister, ich bin nur ein einfacher buddhistischer Mönch. Um mich zu befreien von den Sorgen und Beschränkungen der irdischen Welt, kam ich in diese Gegend, in die selten ein Mensch seinen Fuß setzt, um zu meditieren. Jahraus, jahrein rezitierte ich die heiligen Silben, bis meine Zunge so dick war, dass sie nicht mehr in meinen Mund passte. Ich zermarterte mir das Hirn, bis mein Kopf so schwer wurde, dass nicht einmal mein steifer Hals ihn noch zu tragen vermochte. Ich war so eifrig bei der Sache, dass ich sogar vergaß, woher ich komme. Verehrter Meister, liegt meine Heimat im Osten oder im Westen? ? ?Ich weiß es nicht ?, antwortete Mittwoch. ?Weil Zeit und Raum für den Meister bereits jegliche Bedeutung verloren haben?, sagte der Einsiedler. ?Ich habe vergessen, welche Form die Sonne hat. ? Meister, ist die Sonne lang oder eckig? ? ? Sie ist rund ?, sprach Mittwoch. ?Deshalb sind auch Zeit und Raum rund?, folgerte der Einsiedler. ?Doch bis heute habe ich nichts erreicht, daher erdreiste ich mich, den Meister zu bitten, mir zukünftig den buddhistischen Weg zu weisen.? ( Übersetzerin: Beate Rusch ) Musik 5 Tib. Musikstück bitte wieder kurz hoch, dann erneut unter d. Zitat legen Zitator: Mittwoch dachte lange nach, ohne jedoch zu einem Schluss zu kommen. Er konnte ihm nur von seinem eigenen Schicksal und seinen Erlebnissen erzählen. Der Einsiedler hörte ihm zu und fing lauthals an zu lachen. Dann eilte er den Berg hinab und kletterte in einem Atemzug den überhängenden Felsen hinauf. Er sah den unermesslich tiefen Abgrund zu seinen Füßen, zögerte einen Moment lang, sprang schließlich in die Tiefe und war tot. ( Übersetzerin: Beate Rusch ) Musik 5 Tib. Musikstück bitte wieder hoch, dann unter d. O ? Ton blenden O ? Ton 10 Chabdak Lhamo Kyab ( tibet. ) Sprecher 1 / VO ?Ich bin nun seit zehn Jahren in Dharamsala. Vierundvierzig Jahre habe ich in Tibet gelebt, bis ich die Drangsalierungen der Chinesen einfach nicht mehr ertragen konnte. Es wurde nicht gern gesehen, wenn ein Schriftsteller im traditionellen tibetischen Stil schrieb. Eine Weile versuchten ein paar von uns noch, sich trotzdem weiter an den Mythen und den alten religiösen Werken zu orientieren. Doch dann kam die Kulturrevolution. Und fast über Nacht vernichteten die Chinesen alle tibetischen Schriftrollen, Werke und Manuskripte, die sie bekommen konnten.? Sprecherin 1 / RT: Chabdak Lhamo Kyab trägt ein dunkles, zweiteiliges Gewand, das entfernt an einen Tai?Chi?Anzug erinnert. Schlank ist er, der Leiter der tibetischen Dorfschule, zehn Kilometer vor Dharamsala. Er hat schwarzes, langes, zu einem Zopf gebundenes Haar. Und ein offenes, freundliches Gesicht, das sich nun, während er weiterspricht, verdunkelt. O ? Ton 11 Chabdak Lhamo Kyab ( tibet. ) Sprecher 1 / VO ?Ich versuchte, es als Chance zu sehen. Ich machte mir vor, ich könnte einen neuen Schreibstil entwickeln! Und die tibetische Sprache modernisieren, sie wieder mit Leben erfüllen... Das war natürlich völlig aussichtslos. Schon damals haben die Chinesen die geringste Eigenständigkeit der tibetischen Bevölkerung bereits im Keim erstickt. Ich floh also hierher, nach Indien. Und seit ich in Dharamsala bin, arbeite ich daran, unsere Schreibkultur wiederzubeleben. Zusammen mit einer kleinen Gruppe von tibetischen Autoren. Wir arbeiten gemeinsam an unseren Texten, dazu gehört auch aufrichtige Kritik. Aufs Geld kommt es uns dabei nicht an. Viel wichtiger ist es, dass unsere Erzählungen irgendwann über Dharamsala hinaus veröffentlicht werden. Nicht nur in Indien, in der ganzen Welt! ? Sprecherin 1 / RT: In seiner Dorfschule unterrichtet Chabdak Lhamo Kyab das Fach ?Landeskunde Tibets?, und er bringt Kindern und Erwachsenen die tibetische Sprache bei. Außerdem bietet er Seminare für kreatives Schreiben an. Acht Teilnehmer sind in dem derzeit laufenden Kurs. Eine Frau ist nicht darunter. Es gebe überhaupt bisher nur ganz wenige Frauen, die sich im indischen Exil literarisch betätigten, sagt Chabdak. Warum das so sei, habe er auch im Gespräch mit anderen Autoren aus Dharamsala nicht klären können. Dabei gebe es in Tibet durchaus viel gelesene Autorinnen. Wie etwa Tsering Woeser. O ? Ton 12 Chabdak Lhamo Kyab ( tibet. ) Sprecher 1 / VO ?Als ich noch in Tibet lebte, habe ich Tsering Woeser ein paar Mal getroffen. Erst vor kurzem hat die chinesische Regierung ihr Weblog zerstört. Auch ihre Skype?Verbindung ist unterbrochen worden. Damit Woesers kritische Beiträge und Erzählungen nicht mehr nach außen dringen können. Publizieren darf sie ja schon lange nicht mehr... Ich glaube, am meisten haben die Chinesen Woeser ihre Treue zum Dalai Lama verübelt ? mehr noch als ihre Ansichten zur Situation der Tibeter in China. Dabei war Woeser immer schlau genug, ihre Kritik hinter gewissen Symbolen zu verstecken. Wenn sie von der Sonne spricht, meint sie den Dalai Lama. Der Mond steht für den Panchen Lama. Das ist ein hoher spiritueller Lehrer, den wir ebenfalls sehr verehren. Dann kommen in Woesers Geschichten immer wieder Adler vor. Warum? Sie sind ein Symbol der Freiheit, weil sie hoch fliegen und sich frei bewegen können. Ich bin froh, dass ich all das hinter mir gelassen habe. Ich möchte offen aussprechen können, was ich denke und was ich fühle und mich nicht ständig hinter irgendwelchen Symbolen verstecken müssen.? Sprecherin 1 / RT: Mit dem bisherigen Niveau der im Exil entstandenen tibetischen Literatur ist der Lehrer und Dichter nicht zufrieden. Zu viele in einfachstem Englisch verfasste Gedichte, die Enttäuschung, Wut und Entwurzelung ausdrückten. Verständlich, aber von Form und Aufbau her nichts, was den Leser gefangen nehmen könne. Und die Erzählungen, eingeschlossen jene, die in seinen Kursen entstehen? Im Grunde, räumt Chabdak Lhamo Kyab ein, stehe man noch am Anfang. Obwohl es ermutigende Beispiele und Vorbilder gebe. Chabdak fällt dabei als erster der Schriftsteller Jamyang Norbu ein, der, bevor er nach Amerika ging, ein paar Jahre lang sein Nachbar war. Musik 6 Trad. tibet. Musikstück Länge: ca. 9 ? 10 Sek., danach bitte unter d. Zitat legen Zitator: Um Mitternacht hatte er den Bergkamm erklommen. Der beinahe volle Mond hing niedrig am Himmel und sandte nur ein fahles, verstohlenes Licht über das graue, öde Land. Er kauerte dicht am Boden und trat vorsichtig auf der gefrorenen Erde auf, um nur ja keinen Schatten zu werfen. Das Drehvisier an seinem Gewehr klapperte leise, als er losrannte. Dann lehnte er sich wieder an einen dunklen Felsen und schaute hinaus in die Nacht. Er wusste, dass dort irgendwo im Dunkeln die Patrouillen sein mussten, aber er sah sie nicht, sah nur schwankende Schatten im blassen Mondschein. ( Übersetzerin: Alice Grünfelder ) Musik 6 Trad. tibet. Musikstück bitte kurz hoch, dann erneut unter d. Zitat Zitator: Er dachte an die wilden Augen dieser ungeduldigen jungen Soldaten, die in der Dunkelheit funkelten und nur auf eine Bewegung von ihm warteten. Er aber war alt und vollkommen erschöpft. Sein Brustkorb hob und senkte sich nach dem schnellen Lauf, das Atmen tat ihm weh, und warme Schweißtropfen perlten über sein Gesicht, auf dem sich die Niederlage bereits abzeichnete. ( Übersetzerin: Alice Grünfelder ) Musik 6 Trad. tibet. Musikstück bitte kurz hoch, dann wieder unter d. Zitat legen Zitator: In weiter Ferne zogen Saruskraniche vor dem untergehenden Mond vorüber, und ihm fiel eine Geschichte ein, die er als Kind gehört hatte. ?Wusstest du, mein Junge, dass der König der Murmeltiere immer die Kraniche aus den großen Sümpfen zu sich rief, wenn sie in ein neues Land aufbrechen mussten? Und dann kletterte jedes Murmeltier auf einen Kranich, gerade so, wie wir auf ein Pferd steigen, und flog davon, flog in weite Ferne. ? ( Übersetzerin: Alice Grünfelder ) Musik 6 Trad. tibet. Musikstück hochkommen lassen, danach bitte erneut unter d. Zitat legen Zitator: Als die Kugeln in ihn eindrangen, zerfetzten sie Haut und Fleisch, Arterien und Venen, zerschnitten Muskeln, zersplitterten seine Knochen. Und zuletzt rissen sie seinen Rücken auf, die Daunen aus seiner zerfetzten Jacke wirbelten hoch, so dass es aussah, als würde er mitten in einem kleinen Schneesturm aus weißen Federn stehen. Er fiel zu Boden und rollte langsam den Abhang hinunter, bis er unten angekommen war und weit ausgestreckt auf dem Rücken lag, einfach ganz still nur noch dalag. ( Übersetzerin: Alice Grünfelder ) Musik 6 Trad. tibet. Musikstück bitte hoch, danach wieder unter d. Zitat legen Zitator: Er hörte nicht, wie sich ihm knirschend Stiefel näherten, er meinte vielmehr, die Stimme seiner Frau zu vernehmen, die ihn von seinem Feld nach Hause rief. Aber ihr Gesicht entglitt ihm, er konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern. Der Himmel war bereits von einer zarten Morgensonne überzogen, vom Osten kam ein einzelner weißer Kranich weit oben am Himmel herangeflogen. Der alte Mann schaute auf und schloss die Augen. Er wusste, der Kranich war gekommen, ihn zu holen. Er spürte den warmen, metallischen Geschmack von Blut in seinem Mund, doch er schaffte es noch, ein letztes Mantra zu murmeln. ?Om mani padme hum. O du Juwel in der Lotosblüte.? ( Übersetzerin: Alice Grünfelder ) Musik 6 Trad. tibet. Musikstück bitte in Kreuzblende verbinden mit Atmo 8 / Gesang Mönche ? Om mani padme hum ?/ Vogelgezwitscher etc. Länge: ca. 8 ? 10 Sek., dann bitte unter d. Text legen Sprecherin 1 / RT: Am frühen Morgen, wenn die Sinnsucher aus dem Westen noch schlafen und die Andenkenläden noch geschlossen haben, könnte Dharamsala beinahe als ein typisch indischer Gebirgsort durchgehen. Ein paar Esel suchen im Müll nach Essbarem, bevor sie zu ihrer täglichen Arbeitskarawane aufgereiht und mit Säcken voller Baumaterial beladen werden. Noch ist das Städtchen nicht von esoterischer Meditationsmusik und vom Klang der hölzernen Gebetsmühlen erfüllt. Doch in den Tempeln knien bereits die ersten tibetischen Mönche vor den Buddhastatuen, um Avalokiteshvara, den erleuchteten Schutzherrn Tibets, anzurufen. Atmo 8 / Gesang Mönche ? Om mani padme hum ?/ Vogelgezwitscher etc. bitte für eine Weile hochziehen, dann unter d. Text legen Sprecherin 1 / RT: Während die Mönche mit gesenkten Köpfen und aneinander gepressten Handflächen die heiligen Silben murmeln, rüsten sich die Händler vorm Tempel für den Ansturm der Gläubigen. Auf ihren Wachstuchdecken stellen sie riesige Thermoskannen mit tibetischem Buttertee bereit, daneben auf Tabletts angerichtete Momos, mit Fleisch gefüllte Teigtaschen. Atmo 8 / Gesang Mönche ? Om mani padme hum ?/ Vogelgezwitscher etc. bitte wieder kurz hochziehen, dann erneut unter d. Text legen Sprecherin 1 / RT: In einer kleinen Gasse rechts vom Tempel wird gerade eine Jalousie hochgezogen. Atmo 9 ( unter d. weiterlauf. Atmo 8 ) Jalousie wird hochgezogen Sprecherin 1 / RT: Lhasang Tsering, der Besitzer der Buchhandlung ?Bookworm?, ist früh dran. Nicht, weil er um diese Stunde bereits auf Kundschaft hofft, sondern weil er diese Tageszeit gern mag. Und vielleicht, sagt er, kämen ihm bei der Gelegenheit doch noch mal Inspirationen für neue Gedichte. Atmo 8 / Gesang Mönche ? Om mani padme hum ?/ Vogelgezwitscher etc. bitte wieder kurz hochziehen, dann unter d. O ? Ton legen O ? Ton 13 Lhasang Tsering? For myself, it is not as though I have stopped writing .... other hand not just desire, but need for freedom. ? Sprecher 1 / VO ?Ich habe das Schreiben ja nicht völlig aufgegeben. Aber im Moment kann und will ich einfach nichts zu Papier bringen. Das Schicksal Tibets steht auf Messers Schneide. Durch die seltsame Politik, die unsere Exilregierung und unser spiritueller Führer betreiben, spielt man den Chinesen doch in die Hände! Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, ist es uns schuldig, Klarheit in die ganze Angelegenheit zu bringen. Der von ihm propagierte ?mittlere Weg? ist eine Sackgasse. Ein autonomes Tibet, mit innerer Selbstverwaltung, und China soll nur für die Außenpolitik sorgen dürfen?! Die Chinesen werden doch nicht freiwillig auf etwas verzichten, das ihren Zwecken so wunderbar dient! Wir alle hier leben in einem ständigen Konflikt - zwischen unserer Loyalität gegenüber dem Dalai Lama und unserem drängenden Verlangen nach Freiheit.? Atmo 8 / Gesang Mönche ? Om mani padme hum ?/ Vogelgezwitscher etc. bitte kurz hochziehen, dann unter d. Text blenden Sprecherin 1 / RT: Seit mehr als zwei Jahren habe er keine Zeile mehr geschrieben, sagt der siebenundfünfzigjährige Besitzer des ?Bookworm?. Er trägt Jeans, einen dunklen Strickpullover und ist von drahtiger Gestalt. Lhasang Tserings Blick zeugt von Schwermut. Seine Augen lachen nicht mit, wenn er einen Scherz macht. Er lebt seit beinahe dreißig Jahren in Dharamsala; fast genauso lange führt er seinen kleinen Buchladen. Auf einem Areal von vielleicht dreißig Quadratmetern bietet er diverse Bücher des Dalai Lamas an. Außerdem Reiseführer, ein Sortiment populärer indischer Autoren, politische Bücher zur Lage in Tibet, zwei Anthologien seines Freundes Jamyang Norbu und, in einer Ecke, mit der vorderen Seite nach unten, seinen eigenen Gedichtband ?Tomorrow and other poems?. Ich will das Büchlein kaufen. Nein, sagt Lhasang Tsering, diese Gedichte seien nicht gut genug! Solche Verse könne jeder schreiben. Hier, er greift in das Regal mit den Büchern des Dalai Lamas und zieht die Autobiografie ?Freedom in Exile? heraus. Nehmen Sie das hier! Und als er sich nach vorn beugt, lugt auf einmal das Medaillon mit dem Bild des Dalai Lamas aus seinem Wollpullover hervor. Musik 7 Tradit. tibet. Musikstück Länge: etwa 8 ? 10 Sek., danach bitte unter d. Zitat legen Zitator: Für viele Touristen ist Tibet wohl nicht viel mehr als ein exotisches Reiseziel, ein weiterer Stempel im Reisepass. Sie sehen genügend Klöster, um ihre Neugierde zu befriedigen, und genügend bunt gekleidete Pilger, die ihnen jeden Verdacht nehmen. Zum Glück trifft dies aber nicht auf alle Touristen zu. Und genau darin liegt der wahre Nutzen des Tourismus in Tibet. Viele der Tibet?Besucher, die ich kennen lernte, erwähnten, vor ihrer Reise seien sie prochinesisch eingestellt gewesen. Die Situation jedoch, die sie vorfanden, habe zu einem Meinungsumschwung geführt. Ich erinnere mich besonders an einen Norweger, der mir erzählte, er habe die Chinesen für die Ausmerzung der Religion bewundert. Inzwischen aber sei er zwei Mal in Lhasa gewesen und habe gesehen, was dort wirklich geschehe. Er wollte wissen, ob er irgendetwas für mein Volk tun könne. Meine Antwort war dieselbe, die ich allen gebe, die in Tibet waren und mir diese Frage stellen: Das Beste, das sie tun können, ist, so vielen Menschen wie möglich die Wahrheit darüber zu erzählen, was sie gesehen haben. Auf diese Weise erfahren mehr und mehr Menschen auf der Welt von der Tragödie Tibets. ( Übersetzer: Günther Cologna ) Musik 7 Tradit. tibet. Musikstück bitte kurz hochziehen u. dann wieder unter d. Zitat legen Zitator: Ein Gebet, das ich immer spreche, wenn ich viel Kraft und Entschlossenheit benötige, lautet: ?Solange das Weltall besteht, Solange Lebendiges lebt, So lange möchte auch ich bestehen, Um das Elend der Welt zu vertreiben.? ( Übersetzer: Günther Cologna ) Musik 7 Tradit. tibet. Musikstück bitte kurz hochziehen, dann unter d. O ? Ton ausklingen lassen O ? Ton 14 Lhasang Tsering ? If the person of the Dalai Lama is concerned perhaps ..is not the essential requirement. It is reason, logic and understanding. ? Sprecher 1 / VO ?Wenn ein Westler die Kritik hört, die ich gerade eben noch an Seiner Heiligkeit, dem Dalai Lama, geübt habe, hält er das sicher für ein Sakrileg. Im Buddhismus aber wird Kritik sogar gefordert. Ein Buddhist verehrt seinen spirituellen Führer ungemein ? trotzdem fühlt er sich nicht an dessen Ansichten und Vorschläge gebunden. Der Buddhismus ist also kein bedingungsloser Glaube, im Gegenteil: Vernunft und Logik sind gefordert.? Sprecherin 1 / RT: Drei Männer betreten den Buchladen. Zwei Tibeter, ein Westler. Während der vielleicht fünfzigjährige Mann aus dem Westen und der eine Tibeter schweigend den Inhalt der Regale studieren, geht der andere auf Lhasang Tsering zu und berührt ihn an der Schulter. Es ist Thubten Samphel, ein Freund Lhasangs: mittelgroß ? graues Haar, hängende Schultern. Gegen die morgendliche Kälte hat er einen Wollschal umgeschlungen. Lhasang erzählt ihm, dass ich gerade die Autobiografie des Dalai Lamas gekauft habe. Und Thubten Samphel, der hauptberuflich in der tibetischen Exilregierung tätig ist, sagt, dass er vor ein paar Jahren gemeinsam mit einem anderen Autor die Biografie Seiner Heiligkeit für den indischen Markt herausgebracht hat. O ? Ton 15 Thubten Samphel ? We gave the text to the publisher, we .. know howmany books ... you wouldn?t know what a Bodhisattva is, would you? ? Sprecher 1 / VO ?Wir haben dem Herausgeber den Text geliefert, ohne zu wissen, in welcher Auflage das Ganze herauskommt. Das spielte auch überhaupt keine Rolle. Es war eine große Ehre für uns, diese Biografie zu schreiben! Außerdem wollten wir die Institution des Dalai Lamas einmal aus tibetischer Sicht schildern. In westlichen Publikationen wird Seine Heiligkeit ja fast immer als eine Art Gottkönig dargestellt. Gerade so, als sei der Dalai Lama gar nicht Teil dieser Welt! Und damit sind wir bei dem Shangri?La?Image, das man ihm dauernd anhängt. Und wir Tibeter spielen dabei die Glückseligen, die, bevor die Chinesen kamen, angeblich völlig aufgegangen sind in ihrem Streben nach geistigen Werten. Wir haben in dem Buch erklärt, dass Seine Heiligkeit der spirituelle Schutzherr Tibets ist. Ein Bodhisattva des Mitgefühls. Sie wissen vielleicht nicht, was ein Bodhisattva ist, oder? ? Sprecherin 1 / RT: Ein Bodhisattva ist ein erleuchtetes Wesen, das aus Mitgefühl für alle anderen Wesen auf die eigene Erlösung verzichtet. Ein Bodhisattva ist völlig von dem Wunsch durchdrungen, anderen zu dienen. Thubten Samphel nickt. Ja, das sei richtig. Und auch die bisweilen ziemlich rebellischen jungen Leute im Exil respektierten dies. Womöglich sei der Dalai Lama für einige von ihnen sogar der einzige Halt. In einem Land, das zumindest bis heute ihre Duldung nicht infrage stelle, es aber trotzdem gern sähe, wenn das Verhältnis zu China etwas entspannter wäre. Und um die Chinesen nicht noch mehr zu reizen, lege man besonderen Wert darauf, dass die Tibeter keine größeren politischen Aktionen auf indischem Boden durchführen. Dazu die sprachliche Zerrissenheit. Selbst wenn die jungen Leute gewillt seien, ihr Tibetisch im Exil zu perfektionieren. Was könnten sie literarisch mit einer Sprache anfangen, die modernen Inhalten nicht entspricht? O ? Ton 16 Thubten Samphel ? In exile those who write they write mainly in english.. they started literary magazines and wrote books. ? Sprecher 1 / VO ?Die meisten hier im Exil schreiben in englischer Sprache. Vor etlichen Jahren war das anders. Da kamen plötzlich viele junge Autoren aus Tibet hierher und wollten ihre Gefühle und ihre Ansichten auf tibetisch ausdrücken. Sie brachten ein paar Literaturzeitungen heraus und schrieben Bücher.? Sprecherin 1 / RT: Von diesen Literaturzeitungen existiere nur noch eine, die in sehr unregelmäßigen Abständen publiziert werde. Und die Bücher? Diese Bücher, schaltet sich jetzt der andere Tibeter, der mit Thubten hergekommen ist, ein, hätten leider keinen Markt. O ? Ton 17 Dorjee Wangdi D. ? My name is Dorjee Wangdi ... childrens? books .. and then for the schools sometimes. ? Sprecher 1 / VO ?Ich bin Dorjee Wangdi Dewatshang. Ich leite die ?Paljor Publications? in Delhi. Anfangs hat eine Stiftung des Dalai Lamas das Verlagshaus geführt, vor ein paar Jahren habe ich es dann übernommen. Einmal im Jahr geben wir das neueste Sortiment von Büchern heraus, das die sogenannte ?Library? in Dharamsala für uns zusammengestellt hat. Und wir sind der einzige Verlag, der diese Werke dann auch international vertreibt. Wir publizieren Bücher zum tibetischen Buddhismus, tibetische Legenden, politische Landesführer, gesellschaftliche Porträts oder auch Meditationsanleitungen. All diese Bücher sind entweder Übersetzungen von in Tibet ansässigen Autoren oder von tibetischen Literaten, die in Japan oder in den USA leben. Wir veröffentlichen nur englische Titel. Es gibt einfach keinen Markt für Bücher, die in tibetisch verfasst sind. Es sei denn, es handelt sich um ein Kinderbuch oder um ein Werk, das für den Schulgebrauch bestimmt ist.? Sprecherin 1 / RT: Eigentlich ist Dorjee Wangdi Architekt. Das Verlagswesen liegt ihm nicht sonderlich. Außerdem, sagt er mit scherzendem Beiklang aber ernster Miene, könne er nicht einmal die Bücher verlegen, an deren Verbreitung ihm am meisten gelegen sei. O ? Ton 18 Dorjee Wangdi D. ? All the books of H. Holyness unfortunately are published by western publishers ...they were very quick to approach him and we were not as smart as they were, I guess! ? Sprecher 1 / VO ?Alle Bücher Seiner Heiligkeit sind in den Händen westlicher Verleger - Leuten mit einem sehr viel besseren Gespür fürs Geschäft! Sie waren ganz einfach klüger und schneller als wir und haben beizeiten zugegriffen!? Musik 8 Tibet. Musikstück Länge: ca. 8 ? 9 Sek., danach bitte unter d. Zitat legen Zitator: Als ich im Juni 1955 nach Lhasa zurückkam, begrüßte mich wie üblich eine große Menschenmenge. Meine lange Abwesenheit hatte unter den Tibetern viel Kummer hervorgerufen, und so waren sie nun sichtlich erleichtert, den Dalai Lama wieder unter sich zu haben. In Lhasa war alles mehr oder weniger so wie immer, mit der einzigen Ausnahme, dass es jetzt viele Autos und Lastwagen gab und zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt auch Verkehrslärm und Luftverschmutzung. Die Lebensmittelversorgung hatte sich gebessert, und an die Stelle der früheren offenen Zornesbekundungen waren Unmut und passiver Widerstand getreten. ( Übersetzer: Günther Cologna ) Musik 8 Tibet. Musikstück bitte kurz hoch, dann wieder unter d. Zitat legen Zitator: Ich war mir aber dessen bewusst, dass die Welt uns den Rücken gekehrt hatte. Noch schlimmer war, dass unser Nachbar und spiritueller Mentor, Indien, stillschweigend Chinas Ansprüche gegenüber Tibet akzeptiert hatte. Im April 1954 hatte Nehru ein Abkommen zwischen Indien und China unterzeichnet, in dessen Präambel es hieß, dass Indien und China sich auf keinen Fall in die ? internen Angelegenheiten ? des jeweils anderen einmischen würden. Dem Inhalt dieses Abkommens entsprechend war Tibet jedoch ein Teil Chinas. ( Übersetzer: Günther Cologna ) Musik 8 Tibet. Musikstück bitte kurz hochziehen, dann erneut unter d. Zitat legen Zitator: Eine weitere schlechte Nachricht war, dass sich die Chinesen auch in die Tätigkeit der Klöster einmischten und die Bevölkerung gegen die Religion aufhetzten. Mönche und Nonnen wurden brutal schikaniert und öffentlich gedemütigt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Sie wurden gezwungen, an Vernichtungsprogrammen von Insekten, Ratten, Vögeln und verschiedenen Arten von Ungeziefer teilzunehmen, obwohl die Chinesen ganz genau wussten, dass das Töten im Buddhismus verboten ist. Weigerten sie sich, wurden sie geschlagen. ( Übersetzer: Günther Cologna ) Musik 8 Tibet. Musikstück bitte hoch, dann unter d. O- Ton blenden O ? Ton 19 John Powers ? The day before I got to Tibet ...they couldn?t recognize any part of his body. He had been so badly beaten. ? Sprecher 1 / VO ?Einen Tag bevor ich in Lhasa eintraf, hatte ein Tibeter in der Nähe des Potala?Palastes die chinesische Flagge abgenommen. Als er gerade dabei war, anstelle der chinesischen die tibetische Flagge hochzuziehen, stürmten um die vierzig Sicherheitskräfte auf ihn zu und schlugen auf ihn ein. Heutzutage aber schlägt man Tibeter nicht mehr in aller Öffentlichkeit tot. Daher nahmen sie ihn mit aufs Polizeirevier, wo sie ihn im Verlauf von drei Tagen ganz allmählich zu Tode brachten. Danach informierten sie seine Familie. Diese Leute mussten eine horrende Summe zahlen, damit die Polizei ihnen den Leichnam aushändigte. Sie mussten den Beamten glauben, dass es sich wirklich um ihren Angehörigen handelte. Denn man hatte ihn so zugerichtet, dass es nichts mehr an ihm gab, woran sie ihn noch hätten erkennen können.? Sprecherin 1 / RT: Auch John Powers, Tibetologe, Autor und Bekannter des Verlegers Dorjee Wangdi hat seine Gründe, warum er heute Abend am Kerzenmarsch durch Dharamsala teilnehmen wird. Gemeinsam mit Dorjee Wangdi und Thubten Samphel. Mit Mönchen, Nonnen, Laien, westlichen Touristen, die wieder durch die Gassen des Städtchens und am tibetischen Tempel vorbeiziehen werden. Ganz in der Nähe von Lhasang Tserings ?Bookworm?. Atmo 10 Kerzenmarsch durch Dharamsala Länge: ca. 7 ? 8 Sek., danach bitte unter d. Text legen Sprecherin 1 / RT: Jeden Abend schließt Lhasang seinen Buchladen, kurz bevor der Menschenzug naht, ab, befestigt eine Kerze auf einem kleinen Tellerchen und taucht in die wogende Menge und in das Murmeln des allgegenwärtigen Bittgesangs ein. Atmo 10 Kerzenmarsch durch Dharamsala bitte hoch, dann unter d. Text u. unter d. O ? Ton legen Sprecherin 1 / RT: Manchmal trifft er bei dieser Gelegenheit auch den angehenden Autor Lhobsang Dhargyyey. O ? Ton 20 Lhobsang Dhargyyey ( junger Exiltibeter )? Now we are one organizing for the Tibetans in Tibet. ... for their strong and powerful mind for the tibet nation. ? Sprecher 1 / VO ?Auch heute gehen wir wieder auf die Straße. Wir werden nicht aufgeben, denn unsere Brüder und Schwestern in Tibet brauchen uns! Erst letztes Jahr sind wieder mehr als hundertsechzig unserer Landsleute ins Gefängnis gekommen, weil sie ihre Religion ausüben wollten, weil sie schreiben wollten, wonach ihnen der Sinn stand und weil sie sich darüber beschwert haben, dass ihnen nicht einmal ein Minimum an Menschenrechten zugestanden wird. Wir, ihre Brüder und Schwestern im Exil, müssen versuchen, etwas für sie zu tun. Wir müssen sie stärken, um ihnen Kraft zu geben bei ihrem Kampf um unser Land. ? Atmo 10 Kerzenmarsch durch Dharamsala bitte hoch, dann in Kreuzblende verbinden mit Atmo 11 Mönche / Singsang Länge: etwa 7 ? 8 Sek., hernach bitte unter d. Text und unter d. Zitat legen Sprecherin 1 / RT: Lhobsang Dhargyyey hat den Gedichtband Lhasang Tserings für mich mitgebracht: ?Tomorrow and other poems?. Ein Lesezeichen steckt darin. Ich schlage die Seite auf und lese das Gedicht: Zitator: ?In Dharamsala?. Ich bin dem Dalai Lama begegnet als ich in Dharamsala war. Ergreifende Lehren habe ich vernommen aus dem Mund eines tibetischen Lamas. ?Lass? von deinem Selbst ab und empfange Neues Selbst!? Wie könnte ich nun weggehen und die Menschen ihrem Leid überlassen? ( Übersetzerin: Margarete Blümel ) Atmo 11 hoch, dann bitte wieder unter d. Zitat legen Zitator: Meiner Regierung werde ich sagen dass Tibet Uns Alle angeht Nein zu ? Made in China ? werde ich sagen und nochmals Nein zu Beijing und den Olympischen Spielen! ( Übersetzerin: Margarete Blümel ) Atmo 11 hoch, dann bitte wieder unter d. Zitat legen Zitator: Ich weiß werde ich sagen dass Träumen uns nicht weiterbringt dass sie uns brauchen, die Tibeter dich, mich, Sie, jeden Einzelnen von uns damit Tibet endlich frei wird! ( Übersetzerin: Margarete Blümel ) Atmo 11 Mönche bitte wieder hoch / zum Abschluss 39