COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Literatur - 8.1.2008 "Mein wichtigstes Werk ist mein Leben" ? Zum 20. Todestag von Simone de Beauvoir Von Astrid Nettling Sprecherin Zitatorin und Voice-over-Sprecherin O-Ton (1) Wida Schalk-Naderi: Ich habe eine Freundin, die drei Jahre älter ist als ich, und die hat mich schon vor zehn Jahren auf Simone de Beauvoir angesprochen, allerdings muss ich doch sagen, dass außerhalb der Universität sonst niemand in meinem Bekanntenkreis mit Beauvoir konfrontiert wurde, und das ist natürlich schade. Sprecherin: Für mehr als eine Generation junger Frauen war Simone de Beauvoir leuchtendes Vorbild, eine bewunderte Leitfigur, deren Name für etwas stand, wovon die meisten nur zu träumen wagten: für ein authentisches Leben jenseits muffiger Konventionen und bürgerlicher Engen, für ein Leben frei gewählt und selbst gestaltet. Lang ist es her. Doch selbst wenn Leitsterne verblassen, muss das, wofür sie leuchteten noch längst nicht erloschen sein. Musik (Take 1): Claude Debussy, Prélude à l'après-midi d'un faune, Track 1, zusammen mir Zitatorin Zitatorin (Beauvoir): Ich war damals fünfzehneinhalb Jahre alt. Auf einem grauen Granitblock saß ich an den Ufern des Teiches, den ich im Vorjahr in La Grillère entdeckt hatte. Eine Mühle spiegelte sich in dem Wasser, über das die Wolken dahinzogen. Ich las. Die Wolken auf dem Grunde des Teiches nahmen rosa Tönungen an. Ich stand auf und konnte mich doch nicht zum Aufbruch entschließen; ich lehnte mich an die Haselnußhecke, der Abendwind umschmeichelte die Spindelbäume, strich über mich hin, peitschte mich, und ich vertraute mich ganz seiner Süße und seiner Heftigkeit an. Die Haselnußsträucher erhoben raunend ihre Stimmen, und ich verstand ihr Orakel: ich wurde erwartet, erwartet von mir selbst. Musik (Take 1): Claude Debussy, Prélude à l'après-midi d'un faune, Track 1, hochziehen und unter Sprecherin ausblenden Sprecherin: Eine Szene wie aus einem Drehbuch: Simone, die blutjunge Protagonistin an der Schwelle zur Adoleszenz, fühlt sich bereit, in das eigene Leben, das wie eine noch unbekannte, offene und weite Landschaft vor ihr liegt, aufzubrechen. Zitatorin (Beauvoir): Alle Schranken, alle Mauern schienen niederzusinken, die Zukunft war nur Hoffnung und ich rührte bereits an eine Existenz, die ich mir selbst gestalten würde. Mein Leben würde eine schöne Geschichte sein, die in dem Maße zur Wahrheit wurde, wie ich sie mir selbst erzählte. Sprecherin: Schnitt ? Paris, dreiunddreißig Jahre später. Simone de Beauvoir, die berühmte Schriftstellerin, beginnt im Oktober 1956 mit der Geschichte dieses jungen Mädchens, dessen Zukunft längst zu ihrer eigenen Vergangenheit geworden ist, mit den "Mémoires d'une jeune fille rangée", den "Memoiren einer Tochter aus guten Hause". Ihr alter Jugendtraum, dass ihr Leben wie auf dem Band eines gigantischen Magnetophons aufgezeichnet wurde, um es jetzt einfach abspulen zu können, realisiert sich freilich nicht. Schließlich ist das gelebte Leben kein Datenmaterial, das man bei Bedarf aktivieren kann. Gleichwohl schreibt es sich ein. Und lange bevor man überhaupt daran denkt, eine Autobiographie zu verfassen, steckt man in einem auto-bio-graphischen Prozess, ist man mit Haut und Haaren, Leib und Seele in die Geschichte seines eigenen Lebens verstrickt. Für Beauvoir wird diese Geschichte spannender werden als alle erfundenen Geschichten zusammen. In einem Radiointerview aus den frühen Sechzigern, die beiden Folgebände ihrer Memoiren, "La force de l'âge", "In den besten Jahren", "La force des choses", "Der Lauf der Dinge", sind ebenfalls erschienen, erklärt sie ihren Hörern warum: O-Ton (2) Beauvoir: J'aime beaucoup de l'autobiographie et tout ce qui est en somme des documents brutes, memoires, souvenirs, journaux etc. (...) Dans un roman il y a d'abord quelques choses qui me gênent, c'est que rien peut être jamais gratuit. Jamais gratuit. Tandis que dans des souvenirs on raconte les événements comme ils sont passés simplement parce'ils sont passés ? comme ça. Sprecherin (Voice over): Ich liebe Autobiographien sehr und überhaupt alles, was mit unbearbeiteten Dokumenten zu tun hat, Erinnerungen, Andenken, Zeitschriften usw. Es gibt in der genauen, faktischen Wahrheit eine gewisse Qualität, die man in den Romanen nicht finden kann, selbst in den besten, den inspiriertesten und tiefgründigsten Romanen nicht. In den Romanen gibt es Sachen, die mich stören, und zwar zunächst, dass nichts einfach grundlos geschehen kann. Nichts ist unmotiviert, während man in den Erinnerungen die Ereignisse so erzählt, wie sie passiert sind, einfach so, weil sie nun einmal so passiert sind. Sprecherin: Schließlich ist es das Leben selbst, das die besten Geschichten schreibt. Denn die gewisse Qualität ? das unverwechselbare Aroma des Authentischen, das besondere Flair lebensgeschichtlicher Ereignisse, die einmalige Würze von Erfahrungen aus erster Hand, findet man nur dort. Musik (Take 2): Lester Young, Easy Living, Track 6, bei 0'10 einblenden und unter Sprecherin ausblenden Sprecherin: Für Simone, die Tochter aus gutem Hause, die wissenshungrige Intellektuelle und angehende Schriftstellerin, wird Paris der bevorzugte Schauplatz solch gelebten Lebens. Das Paris der Cafés, Nachtbars und Theater, der Künstlerbohème und Intellektuellenszene. Doch es steckt mehr dahinter, selbst wenn Beauvoir und ihr Lebensgefährte Jean-Paul Sartre binnen kurzer Zeit zum Inbegriff der Pariser Szene werden. Schließlich geht es um 'Existenz', so der Leitbegriff der jungen Philosophin, den sie mit Sartre teilt. Das aber besagt, gerade nicht einfach kopfüber in das Leben einzutauchen, es bedeutet vielmehr, den Kopf zu bewahren und einen gewissen Abstand zu halten. Abstand gegenüber einem bloß distanzlos vollzogenen Leben, um zu entdecken, dass die menschliche Existenz ihre eigenen Bedingungen hat. Zitatorin (Beauvoir): Schon in der Kindheit werden Risse offenbar: staunend, sich auflehnend stellt sich das Kind allmählich die Fragen: Warum muß man so handeln? Was würde geschehen, wenn ich anders handeln würde? Wenn es dann älter wird, kommt seine ganze Welt ins Wanken. In gewisser Hinsicht bedeutet der Zusammenbruch der Welt eine Erlösung. Aber wie groß auch die Freude über diese Befreiung sein mag, für den Heranwachsenden ist es doch äußerst verwirrend, sich plötzlich in eine Welt geworfen zu sehen, die nicht mehr von vornherein feststeht, die geschaffen werden muß, einer Freiheit ausgeliefert zu sein, die durch nichts mehr gefesselt ist. Sprecherin: Darin also besteht die eigentliche Herausforderung: Als Mensch zu existieren bedeutet, radikal mit der eigenen Freiheit konfrontiert zu sein. Denn es gibt nichts ? keine göttliche Ordnung, keine natürliche Ordnung, keine Weltordnung ?, in der ich mich wurzelhaft festmachen kann. Radikal ist nur meine Freiheit, mich selbst zu entwerfen und mein Leben auch selbst verantworten zu müssen. Keine geringe Herausforderung. O-Ton (3) Friederike Kuster: Dennoch hat der Gedanke der radikalen Verantwortlichkeit für die eigene Existenz etwas Großartiges und Befreiendes. Wovon ich mich als Subjekt bestimmen lasse, woran ich mich binde, seien es Werte, Überzeugungen, gesellschaftliche Normen, Rollenzuweisungen, alles das verantworte ich hinsichtlich seiner Geltung und Relevanz für mich selbst. Nur ich und sonst niemand. Und dies unausweichlich und unhintergehbar. Ich kann mich auf nichts anderes als auf mich berufen hinsichtlich der Weise, wie ich meine individuelle Existenz lebe und gestalte. Sprecherin: Aus einem Brief an Jean-Paul Sartre vom 27. Juli 1938: Musik (Take 3): Benny Goodman, The man I love, Track 8, unter Zitatorin nach "ganz stark liebe" einblenden und leise stehen lassen Zitatorin (Beauvoir): Liebes kleines Geschöpf, Ich werde keinen sehr langen Brief schreiben, obwohl ich Ihnen eine Menge zu sagen habe, weil ich lieber Samstag mündlich erzählen will. Hier jedoch folgendes: Zunächst, daß ich Sie ganz stark liebe ? ich bin so gerührt, wenn ich daran denke, wie Sie Samstag aus dem Zug steigen werden mit Ihrem Koffer in der Hand und meiner roten Hutschachtel. Sie waren sehr lieb, mir so lange Briefe zu schreiben. Ich hoffe, heute abend noch einen zu bekommen. Etwas äußerst Angenehmes ist mir passiert, das ich mir nicht hätte träumen lassen ? ich habe nämlich vor drei Tagen mit dem kleinen Bost geschlafen, natürlich war ich es, die den Vorschlag machte. Er war unendlich erstaunt, als ich ihm sagte, ich hätte immer schon zärtliche Gefühle für ihn gehabt. Wir verbringen idyllische Tage und leidenschaftliche Nächte. Aber fürchten Sie nicht, daß ich Samstag trübsinnig bin und verwirrt oder mich nicht wohl in meiner Haut fühle. Auf Wiedersehen, liebes kleines Geschöpf ? ich werde Samstag auf dem Bahnsteig sein oder am Buffet. Ich habe Lust, lange Wochen mit Ihnen allein zu verbringen. Ich küsse Sie ganz stark, Ihr Castor. Musik (Take 3): Benny Goodman, The man I love, Track 8, kurz hochziehen und unter Sprecherin ausblenden Sprecherin: Mit Kühnheit und großer Entschlossenheit macht die junge Simone sich daran, ihr Leben in Eigenregie zu führen und ihre Existenz nach eigenen Entwürfen zu gestalten. Mit allen Risiken und Zumutungen, die solches bedeutet. Finanziell, beruflich, gesellschaftlich und ebenso in Herzensangelegenheiten. Den 'Normalgang' der Dinge einfach geschehen zu lassen, hatten sie und Sartre von Anfang an verworfen, d.h. keine einengende Zweiergeschichte, keine gemeinsame Wohnung, keine Ehe, keine Kinder. Ihr Beziehungsmodell wurde legendär, fand viele Bewunderer, etliche Nachahmer, aber ebenso großes Kopfschütteln, Unverständnis. Doch das Leben bietet viele Möglichkeiten, man muss nur so frei sein, sie für sich zu entdecken und Wirklichkeit werden zu lassen. Simone de Beauvoir war so frei. O-Ton (4) Wida Schalk-Naderi: Bereits vor einigen Semestern habe ich in der Bibliothek einige Briefe von Simone de Beauvoir an Sartre gelesen und, da ich auch eine Hausarbeit geschrieben habe, dann auch ihre Biographie. Das war meine erste Konfrontation mit Simone de Beauvoir, und ich war auf der einen Seite schockiert, auf der anderen Seite durch die provokante Art des Schreibens sehr verblüfft, überrascht und erfreut, dass es jemand so auf den Punkt gebracht hat, so wie es Simone de Beauvoir gemacht hat. Sprecherin: Erklärt Wida Schalk-Naderi, Studentin der Philosophie an der Universität Siegen. Denn man muss frei bleiben, frei für das Leben und vor allem ? frei für die eigene Freiheit, um die Gegebenheiten seiner jeweiligen Situation immer wieder in Frage stellen und überschreiten zu können. Nicht jedermanns Sache. ? Friederike Kuster, Privatdozentin für Philosophie an der Universität Siegen: O-Ton (5) Friederike Kuster: Diese radikale existentialistische Freiheit und Verantwortlichkeit des Einzelnen hat natürlich auch etwas Ängstigendes. Der Verdammung zum Frei-Sein, wie Sartre sagt, kann man nicht entrinnen, es gibt aber natürlich vielfältige Formen der Fluchten. Dieses Fliehen vor der Freiheit nennen Sartre und Beauvoir "mauvaise foi" ? Unaufrichtigkeit, d.h. man wird unauthentisch, man leugnet die eigene Verantwortung, verlegt die Gründe für sein Handeln und seine Entscheidung in externe Instanzen. Z.B. in die Herkunft, die Familie, oder, wenn Sie so wollen, in die Gene, oder man lässt sie sich vorgeben von Ideologien oder vorgefassten gesellschaftlichen Rollenangeboten. Musik (Take 5): Eric Satie, Gnossiennes, Track 1, zusammen mit Sprecherin und stehen lassen Sprecherin: Unerschöpflich sind die Möglichkeiten, sich etwas vorzumachen, sich selbst zu belügen, vor seiner Freiheit davonzulaufen und sich dem Lauf der Dinge und seinem jeweiligen Mainstream einfach anzupassen. Ein starker Drang nicht zuletzt in unserer Zeit, in der das ängstliche oder nur bequeme Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit, nach sinnstiftenden Weltanschauungen, Traditionen und beständigen Werten fröhliche Urständ feiert. Doch selbst wenn der Existentialismus als Mode passé ist, seine Einsicht in die conditio humana ist es mitnichten. Zitatorin (Sartre): Der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht. Musik (Take 5): Eric Satie, Gnossiennes, Track 1, unter Sprecherin ausblenden Sprecherin: Hatte Jean-Paul Sartre bündig formuliert. Dass sich diese einfache menschliche Wahrheit in der Geschichte auf eine zwiefache, unterschiedliche Weise entfaltet hat ? für die Frau anders als für den Mann ?, dies wiederum wird Simone de Beauvoir ebenso schlüssig herausstellen. Zitatorin (Beauvoir): Als ich von mir sprechen wollte, merkte ich, daß es sich nicht umgehen ließe, die Lage der Frau zu schildern. Ich erlebte eine Überraschung nach der anderen. Es ist merkwürdig und es ist anregend, mit vierzig Jahren plötzlich einen Aspekt der Welt zu entdecken, der in die Augen springt und den man vorher nicht gesehen hat. Sprecherin: Denn der Schriftstellerin, die bislang drei Romane, ein Theaterstück, einige Essays und Reportagen veröffentlicht hatte, wird mit einem Mal klar, dass, um sich und ihr Leben wirklich auf den Punkt bringen zu können, sie von sich als Frau sprechen muss. Simone de Beauvoir beginnt daraufhin ihr wohl berühmtestes sowie grundlegendes Theoriewerk "Le deuxième sexe", "Das andere Geschlecht". Als es erscheint, verursacht es viel Lärm, Aufregung, Häme, Missverständnisse. Doch die Philosophin bleibt sachlich und gelassen. In einem Interview vom November 1948, dem Erscheinungsjahr von "Le deuxième sexe", erklärt sie: O-Ton (6) Beauvoir: Au debut j'imposais pas du tout de m'occuper jamais de manière spéciale des problemes du féminisme. Pour moi c'est une libre que j'ai ecrit sans aucune inimitié, sans aucune hostilité simplement d'essayer de faire une mise au point. D'essayer de systematiser un peu, d'essayer dégager à travers de tout cela c'est qui est a milieu de la verité et il s'agissait aussi de prendre un point de vue existentialiste, de prendre d'une perspective singulière sur un ensemble des faits. C'est pas du tout essayer de faire quelque chose de nouveau ou d'extraordinaire ou d'étonnant mais bien plutôt quelque chose de vrai. Sprecherin (Voice over): Anfangs hat es mich überhaupt nicht dazu gedrängt, mich jemals besonders mit Problemen des Feminismus zu beschäftigen. Für mich ist es ein Buch, das ich ohne Abneigung, ohne Feindseligkeit geschrieben habe, ich habe bloß versucht, etwas richtigzustellen. Versucht, ein wenig zu systematisieren, versucht, in dem Ganzen etwas Wahres, den wahren Kern, freizulegen, und ebenso wollte ich einen existentialistischen Standpunkt einzunehmen, eine singuläre Perspektive auf eine Gesamtheit von Tatsachen. Es ging überhaupt nicht darum, etwas Neues oder Außergewöhnliches oder Erstaunliches zu tun, sondern vielmehr um Richtigkeit. Sprecherin: Denn erst beim Schreiben wurde ihr wirklich klar, was die beiden Geschlechter trennt, ebenso, dass ihre Verschiedenheiten nicht natur-, sondern kulturbedingt sind. So untersucht sie die einschlägigen Theorien über die Weiblichkeit in der Biologie, in der Psychoanalyse, im historischen Materialismus, beschreibt die tatsächlichen Lebensbedingungen der Frau im Verlauf der Geschichte, setzt sich mit den Mythen über das vermeintliche Wesen der Frau auseinander, wie sie in verschiedenen Religionen, im Aberglauben, in Literatur und Ideologie verbreitet sind, beschäftigt sich mit gängigen Frauenrollen, mit den unterschiedlichen Lebensphasen der Frau und der weiblichen Sexualität. Gut 900 Seiten lang. Zitatorin (Beauvoir): Ich habe die Möglichkeiten untersucht, die diese Welt den Frauen bietet, und die Möglichkeiten, die sie ihnen vorenthält, ihre Begrenzungen, ihr Glück und Unglück, ihre Ausflüchte, ihre Leistungen. O-Ton (7) Wida Schalk-Naderi: Durch die Auseinandersetzung mit Simone de Beauvoirs Geschlechtertheorie habe ich zum ersten Mal wirklich verstanden, wie es historisch zu dieser Entwicklung kommen konnte, und durch dieses Verständnis habe ich auch Frieden gefunden, weil ich in meinem Sein eine grundlegende Feindseligkeit dem männlichen Geschlecht gegenüber entdeckt habe, und die hat sich dann auch in meinem Verhältnis zu Männern ausgedrückt, und wie gesagt, ich verstehe jetzt zum ersten Mal, wie es dazu kommen konnte. Für mich ist Simone de Beauvoir die erste Philosophin, die sich mit den Fragen eingehend und sehr intensiv auseinandergesetzt hat, warum ist es zur Unterdrückung der Frau gekommen und wie kann sich die Frau befreien aus diesem Verhältnis, gibt es überhaupt einen Ausblick für die Frau, und von daher gesehen, ist sie für mich eine herausragende Persönlichkeit. Zitatorin (Beauvoir): Was die Situation der Frau in einzigartiger Weise definiert, ist, daß sie sich ? obwohl wie jeder Mensch eine autonome Freiheit ? in einer Welt entdeckt und wählt, in der die Männer ihr auferlegen, die Rolle des Anderen zu übernehmen. Dieser Streit wird andauern, solange Mann und Frau sich nicht als Gleiche anerkennen. O-Ton (8) Friederike Kuster: Ich denke, in dem Punkt sind die Analysen Beauvoirs auch heute noch sehr treffend. Diese nur schwer gelingende wechselseitige Anerkennung von Mann und Frau wurzelt ganz tief in der traditionell abendländischen Gestalt des Geschlechterverhältnisses. Aus der gesellschaftlich kulturellen Vormachtstellung heraus hat der Mann, so Beauvoir, die Frau als das Andere seiner selbst geschaffen, nämlich als ein Wesen auf der Schnittstelle von kreatürlicher Natur und menschlichem Subjektsein. Die Anerkennung unter Gleichen war immer den Männern vorbehalten. Die Frau ist ein Mittelding zwischen Natur und einem Subjektsein, das ihn nicht auf gleicher Augenhöhe herausfordert. Frauen erringen sich erst in den letzten 50 Jahren einen adäquaten Subjektstatus. Aber das gesellschaftliche Imaginäre, wenn man so will, hat ein großes Beharrungsvermögen und wandelt sich nur sehr langsam. Sprecherin: Der Name Simone de Beauvoirs besitzt also immer noch Leuchtkraft, ihr Werk Gültigkeit über das Verfallsdatum zeitgeistiger Moden hinaus. Schließlich steht jede Generation stets erneut vor der existentiellen Herausforderung, das Leben zu gestalten. Mann und Frau, in Freiheit und Selbstverantwortung, unterwegs zu sich selbst, indem ein jeder und eine jede ihre besondere Ausgangslage berücksichtigt und auf neue Möglichkeiten der Existenz hin überschreitet. O-Ton (9) Friederike Kuster: Es kommt bei Studenten und Studentinnen gleichermaßen gut, ja, ich würde sogar sagen, sehr gut an. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass das Interesse ein akademisches oder historisches ist. Mittlerweile sind ja erfreulicherweise Veranstaltungen zur Gender-Thematik in allen Disziplinen die Regel geworden, d.h. auch, dass die Thematik nicht mehr provozierend wirkt und deshalb auch nicht mehr lächerlich gemacht werden muss. Möglicherweise aber bleibt, das ist meine Erfahrung, den Studierenden die Thematik aber doch noch solange etwas äußerlich, solange sie nicht mit der eigenen konkreten Gestaltung des Geschlechterverhältnisses konfrontiert sind, wie sie unter den Anforderungen der Vermittlung von Arbeitsleben und Familienexistenz virulent wird. Spätestens dann wird auch die heutige, junge Generation erneut den historischen Ballast der Geschlechtergeschichte individuell, konkret und auf hoffentlich kreative Weise bewältigen müssen. Musik (Take 6): Laurie Anderson, Born, never asked, Track 5, bei 0'56 einblenden, bis 1'06 allein und unter O-Ton ausblenden O-Ton (10) Wida Schalk-Naderi: Persönlich habe ich Freiheit und Transzendenz noch vor meiner Zeit als Philosophiestudentin in das Zentrum meines Lebens gestellt und ganz naiv auch ohne jetzt die wahren Bedeutungen dieser Begriffe zu verstehen. Heute würde ich sagen, dass es genau die zwei Elemente sind, also, es ist für mich als Frau wichtig, mich in Freiheit und als Entwurf zu transzendieren in eine Zukunft, so wie das die existentialistische Ethik sieht, darüber hinaus sehe ich als Frau und als deutsche Staatsbürgerin mit persischen Wurzeln für mich, für das Geschlecht der Frauen eine Möglichkeit der Transzendierung im Leben. Zitatorin (Beauvoir): Würden Mann und Frau ihre Situation mit klarsichtiger Bescheidenheit und einem entsprechend authentischen Stolz übernehmen, könnten sie einander als Gleiche anerkennen. Die Tatsache, ein Mensch zu sein, ist unendlich viel wichtiger als alle Einzelheiten, die die Menschen unterscheiden. In beiden Geschlechtern spielt sich das gleiche Drama von Körper und Geist, von Endlichkeit und Transzendenz ab. An beiden nagt die Zeit, auf beide wartet der Tod, beide sind gleichermaßen wesentlich aufeinander angewiesen. Und beide könnten den gleichen Ruhm aus ihrer Freiheit beziehen: wüssten sie diese zu genießen, hätten sie keine Lust mehr, sich um trügerische Vorrechte zu streiten. Sie könnten zur Brüderlichkeit finden. Sprecherin: Derart der zuversichtliche Ausblick am Ende von "Le deuxième sexe" auf eine künftige Welt in "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ? was seit Aufklärung und Französischer Revolution de jure zwar verbrieft, aber de facto noch längst nicht der Fall ist. Zitatorin (Beauvoir): Um in das Geheimnis der Dinge einzudringen, muss man sich ihnen hingeben. Sprecherin: Hatte Simone de Beauvoir im ersten Band ihrer Memoiren geschrieben. Diese Bereitschaft sowie die Lust, sich auf die Dinge und auf das Leben einzulassen, wird sie auch in den Jahren nicht verlieren, in denen sie mehr und mehr zu einer öffentlichen Person, eine gesellschaftliche Institution nachgerade wird ? interessiert an allem, involviert und engagiert in das Geschehen ihrer Zeit. In dem Radiointerview aus den frühen Sechzigern fasst sie zusammen: O-Ton (11) Beauvoir: Le troisième volume de mes mémoires couvre une période qui était extrèmement riche en événements historiques, en événements publiques et pour moi aussi riche en événements privés (...) et une quantité d'opportunités que je n'ai pas eu dans une existence intérieure. Il est bien évident que les choses me plaisaient, m'interessaient mais que peu rien ne modifiait fondamentalment ma manière de penser, ma manière d'être. Sprecherin (Voice over): Der dritte Band meiner Memoiren erstreckt sich über eine Zeitspanne, die äußerst reich an historischen Ereignissen, öffentlichen Ereignissen und auch für mich reich an privaten Ereignissen war. Denn aufgrund der Tatsache, dass ich Schriftstellerin bin, konnte ich eine Menge Reisen machen, hatte ich viele Begegnungen, und es ergaben sich eine Menge günstiger Gelegenheiten, die ich in einer abgeschlossenen Existenz nicht gehabt hätte. Es ist ziemlich offensichtlich, dass die Dinge mir gefielen, mich interessierten, dass jedoch kaum etwas meine Art und Weise zu denken und zu sein veränderte. Sprecherin: Kaum ? aber doch etwas. Denn ihr graut vor dem Alter, die Angst vor dem Sterben quält sie. Immer hat sie mit jugendlichem Schwung in die Zukunft hinein gelebt und gedacht, das Leben als Entwurf verstanden, mit weitem, schier grenzenlosem Horizont und offen für unübersehbare Möglichkeiten. Als sie den dritten Band ihrer Autobiographie "La force des choses", "Der Lauf der Dinge", beendet, ist sie fünfundfünfzig Jahre alt und fühlt mit einem Mal, dass sie an Grenzen stößt. Das Leben hat seinen bestimmten Gang genommen, der Lauf de Dinge ist nicht mehr umkehrbar, der Horizont der Möglichkeiten wird kleiner, und damit schrumpft auch die Freiheit, neue Lebenspläne zu entwerfen. Musik (Take 1): Claude Debussy, Prélude à l'après-midi d'un faune, Track 1, unter Zitatorin bei "Ich sehe" einblenden und stehen lassen Zitatorin (Beauvoir): Früher glitten die Tage ohne Hast dahin, ich war schneller als sie, weil meine Pläne mich fortrissen. Jetzt tragen mich die allzu kurzen Stunden mit verhängten Zügeln meinem Grab entgegen. Die Erinnerungen verblassen, die Mythen zerbröckeln, die Pläne ersticken im Keim. Ich bin da, und die Dinge sind da. Das einzig Neue und Bedeutsame, das mir widerfahren könnte, wäre das Unglück, daß ich Sartre tot daliegen sehe. Manchmal wünsche ich mir, daß das Ende bald kommen möge, um diese Angst zu verkürzen. ? Ich sehe die Haselstrauchhecke noch vor mir, durch die der Wind fuhr, und höre die Versprechungen, mit denen ich mein Herz berauschte, als ich diese Goldmine zu meinen Füßen betrachtete, ein ganzes Leben, das vor mir lag. Sie wurden erfüllt. Aber wenn ich jetzt einen ungläubigen Blick auf dieses leichtgläubige junge Mädchen werfe, entdecke ich voller Bestürzung, wie sehr ich geprellt worden bin. Musik (Take 1): Claude Debussy, Prélude à l'après-midi d'un faune, Track 1, hochziehen und unter Sprecherin ausblenden Sprecherin: Mit diesen Sätzen endet "Der Lauf der Dinge". Doch sind dies keineswegs ihre letzten Worte, denn sie wäre nicht Simone de Beauvoir, wenn sie nicht auch die existentielle Herausforderung des Alterns mit der ihr eigenen Unerschrockenheit und Vitalität angehen würde ? für ihr Leben sowie als Schriftstellerin und Philosophin. Es folgen zwei weitere Bände Autobiographie: "Tout compte fait", "Alles in allem", "La cérémonie des adieux", "Die Zeremonie des Abschieds", worin sie ihre letzten Jahre mit Sartre schildert, und davor 1970 das 500 Seiten starke Buch "Das Alter", "La vieillesse", in dem sie sich wie mit der Geschlechterfrage ebenso umfassend und rückhaltlos mit dem Phänomen des Alters und des Alterns mit all seinen Schrecken, aber auch seinen Möglichkeiten auseinandersetzt ? biologisch, historisch, als Thema von Mythos, Literatur und Philosophie sowie von der gelebten, existentiellen Erfahrung aus. Ein Buch, wie geschrieben für unsere heutige Zeit, in der das Alter individuell und gesellschaftlich einen immer größeren Spielraum einnimmt. Ein grundlegendes Werk, das allerdings noch darauf wartet, so richtig entdeckt und gelesen zu werden. Musik (Take 7): Eric Satie, Gnossiennes, Track 5, zusammen mit Zitatorin und stehen lassen Zitatorin (Beauvoir): Wollen wir vermeiden, daß das Alter zu einer spöttischen Parodie unserer früheren Existenz wird, so gibt es nur eine einzige Lösung, nämlich weiterhin Ziele zu verfolgen, die unserem Leben einen Sinn verleihen. Sprecherin: Bis zum Schluss hat sie danach gelebt. "Mein wichtigstes Werk ist mein Leben", resümiert sie in einem späten Interview. In dieser Übereinstimmung von Werk und Leben liegt wohl auch der Schlüssel für ihre Glaubwürdigkeit wie für ihren Erfolg. Als Simone de Beauvoir am 14. April 1986 stirbt, findet sie ihre letzte Ruhe neben Jean-Paul Sartre, den sie fast auf den Tag genau um sechs Jahre überlebt hat. Musik (Take 7): Eric Satie, Gnossiennes, Track 5, hochziehen und langsam ausblenden 1