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Ich habe den Eindruck, dass ich durchs Leben mit gebundenen Augen gehe, und das macht mich sehr glücklich. O-TON / SARTORIUS 1 ?Ach, wie ich schummele, die Liebhaber durcheinanderbringe - die Lebenden und die Toten, in dieser Taverne, genannt Poesie?. ERZÄHLER Wie stellt man eine Dichterin vor? Nennt man zuerst ihren wirklichen Namen, ihren Mädchennamen, ihren Künstlernamen, ihr Pseudonym? Oder den Namen eines ihrer erfolgreichen Gedichtbände? O-TON / SARTORIUS 2 Immer hat das Frivole mir gefallen: ?Schwarze Strümpfe, rote Fingernägel - Hast du eine Ahnung, wie schwer mir heute dies Gepäck geworden?? Also es gibt eben wirklich diese sehr unkonventionellen, verrückten, leicht surrealistisch angehauchten Bilder. ERZÄHLER Joachim Sartorius, Intendant der Berliner Festspiele, selbst Lyriker und Übersetzer, begegnete Nora Iuga zuerst über die Poesie: O-TON / SARTORIUS 3 Ich hatte ja immer ein bisschen Kontakt zu Rumänien, ich kannte sehr gut Mircea Dinescu, in den frühen neunziger Jahren und natürlich Gellu Naum, der auch hier lange in Berlin gelebt hat und ich hab mich immer erkundigt, ja was gibt es denn noch sonst so in Rumänien, und da fiel immer der Name Nora Iuga. Es gab aber unendlich lange Zeit überhaupt gar keine Übersetzung von ihr oder nur sehr verstreut in Zeitungen. ERZÄHLER Ernest Wichner, Leiter des Literaturhauses Berlin und selbst Lyriker und Übersetzer, begegnete Nora Iuga zum ersten Mal in Bukarest, Anfang der neunziger Jahre. Er eröffnete damals eine Ausstellung im Goethe-Institut in Bukarest. O-TON / WICHNER 1 Und als dann die Eröffnung geschehen war, hab ich gemerkt, dass eben Nora Iuga das war, die Person hinter dem Mikrophon, die dort ihre Übersetzungsdienstleistung verkauft hatte. Das fand ich schon etwas seltsam, weil ich eben wusste, dass Nora Iuga eine bedeutende rumänische Dichterin ist. Ich hatte mir das nicht vorstellen können und es war für mich etwas befremdlich, dass eine solche Dichterin einfach nur einen Vortrag übersetzt. Das war ?94, glaub ich. Und dann, gut, dann war die Bekanntschaft gemacht, und dann hab ich ihre neueren Publikationen bekommen und hab das eine oder andere Gedicht übersetzt, und dann hatte sie sich für ein Stipendium nach Berlin beworben, das sie auch bekommen hat. Und so hat sich dann diese Bekanntschaft zu einer Freundschaft entwickelt und eben mit dem Ergebnis, dass ich dann zwei Gedichtbände von ihr übersetzt habe. MUSIK ERZÄHLER Das ?Mädchen mit den Tausend Falten?: Sie ist Eleonora Almosnino und Nora Iuga; sie ist Gattin und Mutter und Freundin und Dichterin. Wenn es eine Ordnung gäbe, die der Lauf der Jahre in diese Reihenfolge hineinbrächte, dann müsste man sagen: Eleonora Almosnino ist die Frau des rumänischen Dichters George Almosnino und Mutter eines Sohnes. Nora Iuga ist die erste Surrealistin Rumäniens und die letzte Surrealistin Europas. Eleonora Almosnino ist Nora Iuga. O-TON / IUGA 2 (spricht hier Deutsch) Außerdem muss ich hier hinzufügen, dass Nora Iuga eigentlich kein Pseudonym ist, es ist mein Mädchenname, weil mein Vater Joszef Iuga hieß, eigentlich Jyga, er war ein Ungar. Aber weil er sehr große Unannehmlichkeiten hatte in Rumänien um eine Zeit, als er in Temeswar lebte, dann hat er einen anderen Namen genommen, und zwar Iuga statt Jyga, weil Iuga ein rumänischer Name ist. ERZÄHLER Eine griechische Operettensängerin aus Korfu und ein Ingenieur aus München lernten sich im rumänischen Piteschti kennen. Sie gründeten eine Familie und brachten Noras Mutter auf die Welt, die später Balletttänzerin an der Oper werden sollte. Noras Vater war ein ungarischer Violinist ? er spielte an der gleichen Oper, in Bukarest. Namenslaute, Sprachrhythmen, Musik und Tanz prägten Noras Kindheit. ÜBERSETZUNG / O-TON / IUGA 3 Meinen Vater liebte ich so wie jedes Kind seinen Vater liebt, aber unsere Beziehung war nicht besonders innig. Er war viel mit dem Geigespielen beschäftigt, er übte oft, und es gab viel einzustudieren. Wenn ich an meinen Vater denke, erinnere ich mich an die Musik aus dem Nebenzimmer, an die Violinkonzerte von Brahms und Beethoven. Ich erinnere mich nicht an ihn, ich erinnere mich an seine Violine. Meine Mutter verbrachte viel mehr Zeit mit mir, wir waren eher Freundinnen. Sie war sechzehneinhalb als sie mich zur Welt brachte. Der Alterunterschied zwischen uns war nicht so groß, wir spielten praktisch miteinander. Morgens weckte sie mich, indem sie mir Opernarien vorsang, und sie sah so hübsch aus, weil sie sich verkleidete. Sie wickelte sich in Tischtücher, Vorhänge oder Decken und spielte einfach bestimmte Szenen nach. Und sie sang, sie war Margarethe, und sie war Faust, sie konnte aber auch Gilda sein, sie sang einfach alles. So konnte ich mit sieben schon alle möglichen Arien auswendig. STIMME / GEDICHT 1 Was gäbe ich nicht alles, damit Herr Erwin wiederkommt, Damit er die Pension öffnet damit ich in dem Bett mit den gemalten Engeln aufwache Und der gescheckte Kater zu meinen Füßen schnurrt Wie auf einer holländischen Postkarte Was gäbe ich nicht alles könnte ich den Bären sehen wie er aus dem Winterschlaf erwacht Und rot mein Finger der auf dem Klingelknopf drückt in Rotterdam als Mutter und Vater noch jung Und noch niemand gestorben war ERZÄHLER 1936 begann die Familie eine Tournee durch Deutschland, Holland und Belgien; eine Reise, die anderthalb Jahre dauern sollte. Die damals sechsjährige Nora begleitete ihre Mutter in Museen, Kirchen und Burgen, tauchte in die Kühle der Grüfte ein und staunte über die Darstellungen in den Folterkammern. Das Gesehene verfolgte sie in Gedanken und ließ Spukgestalten Wirklichkeit werden: ein leichter Druck des Nachts auf der Decke, Traumfetzen, kindliche Angst. Doch auch der Alltag im Deutschland jener Zeit hinterließ seine Spuren, wenn auch nur in Form eines Fragezeichens: ÜBERSETZUNG / O-TON / IUGA 4 Als ich mit anderen Kindern auf der Straße spielte, liefen ja auch Leute vorbei; ich war niedlich, wie jedes Kind, aber ich hatte Sommersprossen und dunkle Haare. Vielleicht war das etwas Außergewöhnliches, damals, als jene Ideologie in Deutschland begann, Wurzeln zu schlagen. Es gab Leute, die mir in die Wange kniffen und fragten: bist du Jüdin oder bist du Zigeunerin? Das ist mir in Erinnerung geblieben. Ich wusste nicht, was das bedeutete. Von den Kindern hörte ich das Gleiche: Unsere Eltern sagen, dass du Jüdin bist? ERZÄHLER 1937 kehrte die Familie fluchtartig nach Rumänien zurück. Nach mehreren Jahren in Bukarest nahm der Vater ein Engagement in Sibiu an. Nora wurde auf ausdrücklichen Wunsch ihres Vaters auf ein Gymnasium geschickt, auf dem sie Deutsch lernen konnte, da man zu Hause ausschließlich Rumänisch sprach. ÜBERSETZUNG / O-TON / IUGA 5 Damit machte er mir das denkbar größte Geschenk - weil alle meine Errungenschaften der deutschen Sprache zu verdanken sind. Sie war meine stärkste Waffe. Als ich in Schwierigkeiten steckte, jedes Mal, wenn ich einen Arbeitsplatz verlor, kam mir die deutsche Sprache zugute. Mit Übersetzungen zum Beispiel; ich arbeitete beim ?Neuen Weg?, bei ?Volk und Kultur?. Diese Sprache hat mich immer gerettet. Und den literarischen Erfolg der letzten Zeit verdanke ich ebenfalls der deutschen Sprache. ERZÄHLER Ernest Wichner, Nora Iugas Übersetzer: O-TON / WICHNER 2 Als vor zwei Jahren der Band ?Das Mädchen mit den Tausend Falten? erschien, den hat mir Nora Iuga geschickt. Ich hab den aufgeschlagen und ein bisschen drin gelesen, und dann bin ich, das ist ein Zyklus von 100 Prosagedichten, und dann bin ich ganz schnell auf ein Gedicht gestoßen, das mich elektrisiert hat, das war das Gedicht mit der Nummer 64: ?Als es noch Galgen gab, da gab es auch noch einen darüber, stimmt schon; redest du von der Hoffnung? Nein, von dem Vögelchen, das immer einen Stockwerk höher singt und den Lift hinter sich herzieht. Und wenn du die Ziegel in den Schlamm legst, zwingst du den Fuß, draufzutreten, was ziehst du vor? Nun, wenn ich auf die Ziegel achte, sehe ich die Galgen nicht mehr.? Und das fand ich ein dermaßen beklemmendes Gedicht, also da eröffnet sich die ganze barbarische Geschichte des 20. Jahrhunderts, in einem erst mal ganz leicht anmutenden Dialogspiel. ÜBERSETZUNG / O-TON / IUGA 6 Ich wollte schon sehr früh aus dem Deutschen übersetzen, aber der erste richtige Anstoß kam, als ich Nietzsche zu lesen begann, ?Also sprach Zarathustra?. Ich war so verrückt nach Nietzsches Art zu schreiben, dieser poetischen Sprache, in der er dieses Buch geschrieben hat. Ich sagte mir, das musst du übersetzen. Und ich begann, das Buch zu übersetzen, einfach aus Freude, ein Kapitel nach dem anderen. O-TON / WICHNER 3 Nora Iuga hat nun ein gewaltiges Werk an Übersetzungen deutscher Literatur ins Rumänische. Und wenn ich Gedichte von ihr übersetzt habe, wenn ich 10 beisammen hab, dann steck ich die in einen Umschlag und schick sie ihr nach Bukarest und sag ihr, Nora, schau dir das an, so etwa wär das bei mir; vielleicht gefällt dir das eine oder andere nicht auf Deutsch, dann können wir das ja ändern. Wenn ich mehr Freiheiten rausnehme, dann findet sie das meistens ganz gut; nun will ich auch nicht den Charakter ihrer Poesie ändern, ganz im Gegenteil, aber es ist ein anderes Verhältnis, ich kann mich freier bewegen, weil ich weiß, die Autorin kann beurteilen, was ich mache, und sie hat ohnehin das letzte Wort. MUSIK ERZÄHLER Als Schülerin hatte Nora Iuga noch von einer Karriere als Schauspielerin, Tänzerin oder sogar Spionin geträumte; nach dem Abitur entschied sie sich aber dafür, an einem der renommiertesten Bukarester Lyzeen Germanistik zu studieren. ÜBERSETZUNG / O-TON / IUGA 7 Ich habe mein Studium im Herbst 1948 begonnen. Es waren gute Zeiten, und ich war sechzehneinhalb. Es gab einen Club, es gab keine Anwesenheitspflicht, es gab schöne Studentinnen, die Pelzmäntel trugen, und die von ihren Liebhabern in Limousinen abgeholt wurden. Ich werde das nie vergessen! Aber 1949 wurde der Unterricht reformiert. Es gab einen regelrechten Umsturz. Es war grauenvoll! Von der ganzen Freiheit war nichts mehr übrig. Plötzlich gab es eine Anwesenheitspflicht; wir mussten der kommunistischen Jugendorganisation beitreten, man musste immer wieder zu Sitzungen gehen. Vom Lehrplan ganz zu schweigen, es war das reinste Grauen. Es gab nur einen Lichtblick ? ungefähr zwei Jahre lang durften zwei große Professoren weiter unterrichten, Calinescu rumänische Literatur und Vianu Weltliteratur. Da bekamen wir noch ernsthaften Unterricht. Aber die anderen Fächer waren eine Katastrophe. Weil Russisch als Pflichtfach eingeführt wurde, und Wirtschaftspolitik was ganz schrecklich war, weil keiner etwas davon verstand. Und Marxismus. ERZÄHLER Die junge Absolventin wurde in die Provinz geschickt, um Sport zu unterrichten. Es gelang ihr jedoch, in Sibiu eine Stelle als Deutschlehrerin zu bekommen. Sie gewann die Sympathie ihrer Schüler und erzog sie freiheitlich ? zum Schrecken der Inspektoren. Nach nur zwei Jahren wurde ihr fristlos gekündigt. Den nächsten Arbeitsplatz fand Nora Iuga in Bukarest als Redakteurin beim ?Neuen Weg?, einer deutschsprachigen Tageszeitung. Doch auf offene Kritik, die sich an ihren Vorgesetzten richtete, folgte der Rausschmiss. Die nächste Stelle als Bibliographin in der Staatsbibliothek Bukarest versprach mehr Ruhe. STIMME / GEDICHT 2 Was für ein Abenteuer abends Aus deinem Glas zu trinken Und deine Gedanken zu erraten. Was für ein Abenteuer morgens Mit geschlossenen Augen die Fingernägel zu schneiden Samt den Fingern und mit allem drum und dran. ÜBERSETZUNG / O-TON / IUGA 8 Ich schrieb nur für mich, dummes Zeug. Die Ersten mit zwölf - es waren drei miserable Gedichte. Später verliebte ich mich dann in eine Lehrerin; bei mir hängt ja die Lyrik immer mit der Liebe zusammen. Als ich studierte, wollte ich nun unbedingt freie Verse schreiben, aber ich wusste nicht, wie das geht. Ich brauchte unbedingt Regeln. Wie sollte ich einfach so schreiben, ohne Rhythmus, ohne Reim? Letztendlich bin ich ja dahintergekommen. Aber erst viel später, als ich meinen Mann kennenlernte - wir begegneten uns in einem Literaturzirkel. Durch ihn begann ich, ernsthaft zu arbeiten und täglich Lyrik zu schreiben. Wir lasen uns gegenseitig alles vor und übten auch Kritik. So, wie wir voneinander lernten, was Liebe ist, lernten wir auch voneinander, was Poesie ist. Und bei uns zu Hause gab es nichts anderes außer Lyrik und Liebe. ERZÄHLER Nora Iuga war 38 Jahre alt als ihr erster Gedichtband erschien ? es war im Jahr 1968. Ihr Mann, George Almosnino, debutierte zwei Jahre später. Es waren politische Tauwetterjahre in Rumänien, eine Zeit der Freiheit; zum ersten Mal wurden Beckett, Ionesco und Claudel übersetzt, liefen Filme im Kino, die in den sozialistischen Bruderstaaten verboten waren. Es gab einen regen kulturellen Austausch mit dem Ausland. Rumäniens Grenzen waren durchlässig, man durfte sogar in den Westen reisen. Man lebte gut und feierte viel, man schrieb und entdeckte Neuland. Für Nora Iuga waren es die freiesten Jahre ? die Zensur hielt sich im Hintergrund; die Schriftsteller durften das veröffentlichen, was sie schrieben. Nora Iugas erster Lyrikband wurde mit viel Zuspruch aufgenommen. Zum ersten Mal hörte sie ihren Namen in Verbindung mit den rumänischen Surrealisten. ÜBERSETZUNG / O-TON / IUGA 9 Ich kann mir bis heute nicht erklären, was für ein Mensch mein Mann gewesen ist. Er muss ja irgendeine Art von Neid gespürt haben oder Schmerz. Ganz gleich wie sehr man jemanden liebt, es entsteht immer eine Konkurrenzsituation, wenn zwei das Gleiche tun. Unsere Freunde sagten, dass Nino der bessere Dichter sei. Aber Nino war sehr schüchtern und lebte zurückgezogen. Er ging nicht aus, ging nicht in die Kneipe, er hatte keine Freunde, er wurde schlichtweg nicht wahrgenommen. Mein Mann starb, und er war ein großer Lyriker - doch sehr wenige wissen darum. Während ich mehr Raum eingenommen habe, weil ich ein anderes Temperament habe. Er stand praktisch immer in meinem Schatten. Das ist mir bewusst, und es gibt Augenblicke, in denen ich mir das vorwerfe. Aber man kann nichts ändern. Vielleicht sind wir alle auf etwas Bestimmtes eingestellt, auf Erfolg oder Misserfolg, ob wir wahrgenommen werden oder nicht. Es ist grausam, es ist wie ein Fluch. Dem einen gibt man ein schweres Kreuz zum Tragen und dem anderen einen Blumenkranz. STIMME / GEDICHT 3 Wie eine Katze reibe ich mich An allen Stühlen Auf denen du gesessen hast Möchte glauben dass es dich noch gibt Den Schatten deines Beines will ich spüren Wie er meine Stirn berührt. ERZÄHLER Zur klassischen rumänischen Surrealistengeneration aus den Dreißiger und Vierziger Jahren zählen Gherasim Luca, Gellu Naum, Paul Paun, Dolfi Trost und Virgil Teodorescu. Gellu Naum, der auch dem deutschen Publikum bekannt wurde, schrieb in dieser Tradition bis zu seinem Tod vor einigen Jahren. Ernest Wichner, Nora Iugas Übersetzer: O-TON / WICHNER 4 Nora Iuga gehört zu einer späteren Generation von Autoren, die an diese ersten Surrealisten angeknüpft haben, die aber nicht mehr Surrealisten sein wollten, sondern die die Machart der Texte, die Technik, die die Surrealisten entwickelt hatten, übernommen haben. Und ? könnte man neumodisch sagen, so: post-Surrealisten. Sie nannten sich ?Oniriker?, Ende der 60er Jahre, von ?oneiros?, ?Traum?, also Dichter, die einer Traumlogik folgen. Auch das ist nicht sehr streng bei ihr. Es gibt surrealistische Elemente, es gibt so Texte, die eben dieser Traumlogik folgen, und es gibt sehr viel - sagen wir mal - viele Passagen oder viele Stellen in ihren Gedichten, in denen sich eine weibliche Sinnlichkeit ausstellt und bekennt, und eine Ungehaltenheit und Forderungen der Seele und des Leibes aus weiblicher Perspektive benannt werden. Und das kann ich bei Autorinnen ihrer Generation so nicht sehen; und bei Jüngeren, da gibt es die eine oder andere, aber dann sind es schon wieder ihre Schülerinnen, oder sie stehen gewissermaßen unter ihrem Einfluss. Aber das sagt alles und gar nichts, das beschreibt nur die Unmöglichkeit, einen Dichter oder eine Dichterin, in dem Fall, die eine eigene Stimme hat, irgendwie sortieren zu wollen, man kann sie nicht einsortieren. ÜBERSETZUNG / O-TON / IUGA 10 Ich glaube, dass jedes künstlerische Werk dieses Mehr an Lebendigkeit, dieses Aufbrausende braucht, das das Erotische in sich trägt. Das Sexuelle ist ja etwas anderes, es gehört beinah ausschließlich zur körperlichen Lust. Aber das Erotische ist in der Kunst notwendig, und ganz besonders in der Poesie. STIMME / GEDICHT 4 Stimme I Verschreckt haste ich durch den Sommerregen Hinter dem Zaun lauert ein kurzsichtiger Knecht Im geöffneten Koffer (Den ich verbergen will) Ist mein Geschlecht zu sehen gelb und weich wie eine Kamelschnauze Nun schützen mich weder Zigaretten Noch der Surrealismus In meiner Wohnung ein heilloses Durcheinander Und im Spiegel plötzlich ein schlafender Mann. ÜBERSETZUNG / O-TON / IUGA 11 Sowohl der Onirismus als auch der Surrealismus basieren auf ?Écriture Automatique?, auf dem ?automatischen Schreiben?, wodurch die Kraft des Unterbewussten freigesetzt wird. Ich glaube immer noch daran. Aber ich glaube auch, dass es viele Tricks gibt. Ich weiß ja, wie ich schreibe. Beim Schreiben beginne ich auch heute mit Écriture Automatique und lasse es fließen, bis zu einem gewissen Punkt. Sagen wir, dass ich zehn Zeilen schreiben kann, ohne irgendeine Kontrolle auszuüben. Und dann erkenne ich langsam Begriffe in diesen noch chaotischen Zusammenhängen, die aber zu einer Idee führen könnten. Wenn ich diesen Gedankenfaden dann in der Hand habe, schreibe ich mein Gedicht weiter, aber ich folge immer diesem Faden. Und dann gibt es Überraschungen in der Ausdrucksweise. Wenn ich in Deutschland Erfolg habe, dann ist es diesem Überraschungseffekt zu verdanken. Aber den gibt es nicht ganz umsonst. Er enthält eine Botschaft. STIMME / GEDICHT 5 Aber mit den Regenschirmen? Was aber fangen wir mit den Regenschirmen an wenn jeder Gruß uns die Schulter beschmutzt und es auch abends kein Wasser gibt und die Brillenträger ihre Katzen schlagen bis der Wecker klingelt. Den Gottesdienst verrichten Spezialpfarrer die heiligen Geheimnisse unterm Schild um mit einem Spinnennetz in der Rede die unrasierten Knaben zu fangen. Mein Zeigefinger dauert mich er hätte ein paar Schubladen öffnen können doch das Auge am Hinterkopf ist gewachsen und im Keller wimmelt es von Rekruten. Liebster unter meinesgleichen Nummer 1 heute? heute kommst du mir nicht ins Bett denn es regnet und ich will meine Adresse abwaschen und das Blut, das man mir ins Gesicht geschleudert hat. ERZÄHLER 1971 gab es eine rumänische Kulturrevolution, mit der Ceausescu Diktatur und Personenkult offen zeigte. Die Freiheit wurde eingeschränkt, die Zensur verschärft, und im Alltag konnte man bereits die Zeichen des wirtschaftlichen Zerfalls bemerken. Nora Iuga wurde ein Blatt Papier ausgehändigt, auf dem zwanzig Namen zeitgenössischer Schriftsteller standen, darunter ihr eigener. Ab sofort sollte ihr zweiter Lyrikband, der 1970 erschienen war, aus dem Verkehr gezogen und aus den Bibliotheken verbannt werden. Für die Dichterin kam es zum absoluten Publikationsverbot. Eine Zensurkommission, die die Aufgabe hatte, subversive Bücher aufzuspüren, warf der Lyrikerin ?morbiden Erotismus? vor. ÜBERSETZUNG / O-TON / IUGA 12 Ich arbeitete als Lektorin in einem Wissenschaftsverlag und bekam eines Tages einfach so diese Liste ausgehändigt. Ich war sehr stolz auf mich. Ich dachte, ich muss etwas Besonderes sein, wenn man solche Angst vor mir hat. Eine revolutionäre Lyrikerin! Aber später wurde es schrecklich. Nach zwei Jahren begann ich, das Gegenteil zu glauben. Ich dachte, in einem Land wie Rumänien, in dem es nicht gerade vor Genies wimmelt, kann man es sich leisten, mich auf den Index zu setzen! Ich wusste ja nicht, ob man das Verbot wieder aufheben würde. Und ich dachte, ich sei gar nichts wert, wenn man so leicht auf mich verzichten konnte. Ich war nun überzeugt, dass ich nichts wert war. ERZÄHLER Von den zwanzig Schriftstellern, deren Namen auf der Zensurliste standen, verließen einige das Land und gingen ins Exil. Doch die meisten blieben und durften nach drei Jahren wieder veröffentlichen. Nora Iugas Publikationsverbot dauerte am längsten. ÜBERSETZUNG / O-TON / IUGA 13 Anfangs habe ich noch für mich weitergeschrieben. Doch dann hörte ich allmählich damit auf. Nur manchmal, wenn ich ins ?Haus der Schriftsteller? ging, um Freunde zu treffen, dann, nach einem Glas Wodka, zog ich mich ans Tischende zurück und begann, auf Servietten zu schreiben. Zum Glück habe ich sie nicht weggeschmissen. Acht Jahre später, 1978, als das Verbot aufgehoben wurde, rief mich ein Verlag an, und Florin Mugur, ein Lektor, der mich gut kannte, sagte: Nora, bring uns ein Manuskript, jetzt ist es wieder möglich. Und so erschien der dritte Band, er war ja fertig geschrieben, auf diesen Servietten. STIMME / GEDICHT 6 Gedicht Nummer 26 Wenn du mich fressen willst, friss mich. Halt mich neun Monate in deinem Bauch, im Duft von Bohnenkraut und Liebstöckel, in deinen Suppen, doch dann musst du mich wieder ganz machen und im Frühjahr mich als schönen Pilz austreiben, richtig schön, mit weißem Fuß und rotem Hut und selbstverständlich ungenießbar. ÜBERSETZUNG / O-TON / IUGA 14 Ich wollte Rumänien nie verlassen. Ich bin keine Patriotin, auch weil meine Identität auf so vielen Nationalitäten beruht. Aber ich liebe dieses Stück Erde, ich weiß nicht warum. Es hat auch nichts mit der Gesellschaft zu tun, ich bin nicht stolz, dass ich Rumänin bin. Ich habe auch mit der ländlichen Tradition nichts am Hut, ich bin durch und durch ein Kind der Städte. Aber es gibt etwas Besonderes hier, die Luft, das Klima, ich liebe es, wenn die Hitze aufsteigt in Bukarest. MUSIK ERZÄHLER Seit dem Sturz Ceausescus hat Nora Iuga in Rumänien vier Prosabände und fünf Lyrikbände veröffentlicht. In Deutschland erschien 2003 der Band ?Der Autobus mit den Buckligen? und 2007 ?Gefährliche Launen?, ein Buch, das Gedichte aus verschiedenen Schaffensperioden versammelt. Beide Bände wurden von Ernest Wichner ins Deutsche übersetzt. Ebenfalls 2007 wurde Nora Iugas Arbeit als Übersetzerin deutscher Literatur gewürdigt ? mit dem Friedrich-Gundolf-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Joachim Sartorius: O-TON / SARTORIUS 4 Also ich muss sagen, dass ich sie eigentlich auf Anhieb mochte. Ich fand, dass das Gedichte waren, die zum einen voller Energie waren, voller Kraft, also zum Teil sehr unkonventionelle, verrückte Bilder. Aber ich finde, sie hat eine ganz eigene Stimme, sie hat eine unglaubliche, subversive Phantasie, also ich kann eigentlich nur sagen, ich liebe ihre Gedichte, und das hat sich noch mal verstärkt, dadurch, dass wir uns kennenlernen. Es gibt ja eine Schule die sagt, du musst Dichter und Werk streng trennen, und das Werk muss man beurteilen ohne die Person. Aber wenn man sie einmal kennengelernt hat, dann merkt man eigentlich, dass sie selber auch ihre Poesie verkörpert, und das find ich eine phantastische Geschichte. Sie ist in einer Weise so wie ihre Bilder, wie ihre Strophen, wie der Rhythmus ihrer Gedichte und ? ja, Sie merken, ich bin in sie verliebt (lacht)! ÜBERSETZUNG / O-TON / IUGA 15 Das Einzige, was ich noch sagen wollte, ist, auch wenn es merkwürdig klingt, dass ich einfach nicht glauben kann, dass mich dort oben jemand so sehr liebt. Ich hatte ein unglaubliches Schicksal, ich erlebte zwei Diktaturen, die grauenhaft waren, es gab Augenblicke, in denen es sogar um Leben oder Tod ging. Und nach siebzig Jahren beginnt man sein Leben auf einmal ganz neu und erklimmt einige Sprossen auf dieser neuen Leiter, die plötzlich vor einem steht. Wenn andere bereits aufhören, beginne ich mit dem Aufstieg? Ich glaube, dass es etwas jenseits unseres Willens gibt, jenseits unserer Vernunft, etwas, das uns eine Hand reicht, im entscheidenden Augenblick. O-TON / SARTORIUS 5 Also ich kann vielleicht mal, ganz kurz mal was vorlesen, also das ist in einem Gedicht, der Titel heißt ?Au ralenti?: ?Es gibt auf Karten komprimierte Räume, große Häuser gibt es, mit Fenstern, die Übles vorhersagen, wie Masken, alte Grammophone gibt es, mit Trichtern, die kilometerlanges Schweigen verschlucken.? Also das sind für mich Verse, die gleichzeitig sehr poetisch sind, sehr stark sind, ob sie jetzt mit Traum oder Surrealismus zu tun haben ist mir eigentlich völlig egal. Aber sie haben auch eine ganz starke politische Konnotation. Und was mich an Nora Iuga eigentlich so, von außen gesehen, ganz besonders freut, dass sie doch diese unendlich vielen langen, schwierigen und finsteren Jahre sehr, sehr kompromisslos durchlebt hat. Und ich freue mich mit ihr, dass sie jetzt eigentlich so einen späten Triumph hat, und ich möchte, dass jetzt dieses sehr schöne Buch, was da erschienen ist, ?Gefährliche Launen?, dass das jetzt auch einfach von zwanzig Tausend Lesern gekauft wird! MUSIK O-TON / IUGA 16 (spricht Deutsch) Von Anfang? Ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, eine Bauernfrau kocht Rüben, eine Bauernfrau kocht Speck, du oder ich muss weg. Quellen: Alle Gedichte stammen aus dem Band Nora Iuga: ?Gefährliche Launen?, Ausgewählte Gedichte, aus dem Rumänischen übersetzt von Ernest Wichner, Klett-Cotta, Stuttgart, 2007 ?Ach, wie ich schummele? / ?Was gäbe ich nicht alles, damit Herr Erwin wiederkommt? ?64? / ?Was für ein Abenteuer abends? / ?Wie eine Katze reibe ich mich? / ?Stimme I? ?Aber mit den Regenschirmen? / ?26? / ?Au ralenti? insgesamt 84 Gedichtzeilen 10 1