KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 110 Titel der Sendung : Regard Croisé - gekreuzter Blick Literaturaustausch zwischen Deutschland und Frankreich AutorIn: : Irene Binal und Susanne von Schenck unter Mitwirkung von Carmen Lünsmann Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 22.01.2013 Regie : Beate Ziegs Besetzung : Sprecherin 1 (Kommentar) /Sprecherin 2 (OV), Zitator und Sprecher (OV) O-Töne Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Deutschlandradio Kultur Wortspiel: 22. Januar 2013 Redaktion: Dorothea Westphal Autorinnen: Irene Binal, Carmen Lünsmann, Susanne von Schenck Aufnahmeleitung: Technik: "Regard croisé - gekreuzter Blick" Literaturaustausch zwischen Deutschland und Frankreich Anmoderationsvorschlag Was ist los mit dem deutsch-französischen Literaturaustausch? Der einst mächtige Strom zwischen den beiden Ländern scheint zu einem Bächlein verkümmert zu sein. Oder täuscht der erste Eindruck? Funktioniert das literarische Miteinander nach wie vor, wenn auch im Verborgenen? Susanne von Schenck, Carmen Lünsmann und Irene Binal haben sich diesseits und jenseits der Grenze auf Spurensuche begeben und die deutsch-französische Freundschaft neu entdeckt: 50 Jahre nach der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags ist die Literatur nach wie vor eine wichtige Botschafterin zwischen den beiden Ländern. Sprecherin 1 = Autorinnentext Sprecherin 2 = voice over Cécile Waijsbrot, Stéphanie Leroux, Kollegin Zitator = 2 Zitate Sprecher = voice over diverse Einstieg MUSIK, unter den OTs stehen lassen, fade out OT 1 Kundin Französische Literatur - ich hab in letzter Zeit gar nichts gelesen aus der französischen Literatur. Sprecher = voice over OT 2 Antoine Ich habe den Eindruck, es wird nur für französische Bücher geworben. Oder für amerikanische Bücher. Aber nicht für deutsche. OT 3 Kundin Gavalda, genau, von der habe ich mehrere gelesen und dann noch eins mit einem Igel. Aber eigentlich sehr schöne Geschichten, die immer in Großstädten spielen, in Paris meistens. Sprecherin 2 = voice over OT 4 Franz. Kollegin Ich habe Deutsch gelernt und einige Bücher auf Deutsch gelesen, Bertolt Brecht und so, die Klassiker, weniger die zeitgenössische Literatur. Sprecherin 1 Ein lebendiger Austausch sieht anders aus: Irgendetwas scheint seit einigen Jahren zu klemmen im literarischen Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich. Das war nicht immer so: Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde französische Literatur in deutschen Landen hochgeschätzt und regelmäßig neu aufgelegt. Zitator Besonderer Erfolg der Franzosen. Die gesamte neue französische Literatur von Sartre bis Bernanos kommt in Deutschland heraus, die großen Alten wie Gide, Claudel, Bloy werden gleichfalls neu aufgelegt und abgesetzt. Sprecherin 1 schreibt etwa 1951 der Schriftsteller Alfred Andersch in einem Aufsatz über "Ausländische Literatureinflüsse seit 1945". Es war die große Zeit der französischen Literatur in Deutschland. Nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur und den Verwüstungen des Krieges nahmen die Deutschen begierig alles auf, was über den Rhein kam. Zitator Ich war 18, als der Krieg zu Ende war, ... Sprecherin 1 erinnert sich der Schriftsteller Siegfried Lenz. Zitator ... und ich hatte natürlich keine Möglichkeit gehabt, zur Kenntnis zu nehmen, was in der Welt, was in Frankreich, in Amerika und England an Literatur, an Theater, an Kultur möglich war. Und jetzt waren es schon einige ganz große Eindrücke. Ich meine Giraudoux und Sartre. Und dafür waren wir schon bereit, stundenlang anzustehen in den Kammerspielen, die damals wirklich großes, unvergessliches Theater machten. Sprecherin 1 Nach dem Krieg war in Deutschland das Interesse an französischer Literatur groß. Von einem gegenseitigen Austausch konnte man da allerdings noch nicht sprechen. Den habe es, jedenfalls auf Augenhöhe, so die französische Autorin Cécile Wajsbrot, allenfalls zu Beginn des letzten Jahrhunderts gegeben. Sprecherin 2 = voice over OT 6 Cécile Wajsbrot Austausch fand im 20. Jahrhundert schon statt, auch während des ersten Weltkriegs, wenn man an die Pazifisten Romain Rolland und Herman Hesse denkt oder auch an Stefan Zweig. Später, in den 1930er-Jahren, waren es dann André Gide und Thomas Mann. Anschließend hörte das erstmal auf, wie man weiß. Allerdings gab es auch während der Kollaboration Austausch, mit Céline und Drieu de la Rochelle. Nach dem Krieg orientierte sich Deutschland dann viel mehr an Frankreich als umgekehrt. Das ist mit Beginn des 21. Jahrhunderts vorbei, genauer mit dem Mauerfall: Seitdem konzentriert sich Deutschland auf sich selbst und blickt mehr Richtung Osten. Sprecherin 1 Tatsächlich: Die Gegenwartsliteratur aus dem Nachbarland scheint heute nur noch eine Nebenrolle zu spielen. Es sind vor allem angloamerikanische Werke, die den deutschen Buchmarkt beherrschen. MUSIK französisch, bis OT unter Text stehenlassen, dann fade out Sprecherin 1 Und wie sieht es jenseits der Grenze, in Frankreich, aus? Auch dort funktionierte der Literaturfluss aus Deutschland offenbar schon einmal besser. Die Literaturvermittlerin Nicole Bary betrieb in den 1980er-Jahren eine deutsche Buchhandlung in Paris und erinnert sich an die rege Nachfrage nach deutschen Werken. OT 7 Nicole Bary Anfang der 80er-Jahre hatten wir also das Glück, dass kurz davor, in den 70er- Jahren, der neue deutsche Film, wie man das genannt hat, Hochkonjunktur in Frankreich gehabt hat, und auch deutsches Theater. Und durch Film und Theater haben sich mehr Leute also für deutsche Kultur interessiert und auch für deutsche Literatur, weil Leute, die Theaterstücke von Bernhard gesehen hatten, wollten auch die Romane oder die AutoBiografie lesen, oder Leute, die Filme von Wim Wenders gesehen hatten, wussten von der Connection zwischen Wim Wenders und Peter Handke und sind also über diesen Weg zu Peter Handke gekommen. Sprecherin 1 Theater, Film - und Politik: Gerade die deutsche politische Literatur war in Frankreich sehr begehrt, Verleger interessierten sich für die Vorgänge im Nachbarland und brachten sie den französischen Lesern näher. OT 8 Nicole Bary Es kam auch in diesen Jahren dazu, dass die politische Literatur, also die sogenannte politische Literatur der Bundesrepublik in den 70er-Jahren, sogar die politische Lyrik von Fried, auch ein Echo in Frankreich hatte. Das hat kurze Zeit gedauert, aber diese Jahre sind auch die Zeit, wo viele kleinere Verlage sich in Frankreich gegründet haben, die Autoren, die völlig vergessen waren in Frankreich, wieder entweder neu übersetzt haben oder zum ersten Mal übersetzt haben. Sprecherin 1 Goldene Zeiten für die deutschsprachige Literatur in Frankreich: Das kann auch der Direktor des Lyoner Kulturzentrums "Villa Gillet", Guy Walter, bestätigen. Sprecher = voice over OT 9 Guy Walter Als ich ein junger Leser war, also vor einiger Zeit, war die deutschsprachige Literatur in Frankreich sehr angesagt. Es gab die Generation mit Heinrich Böll, Günter Grass und so. Die waren in Frankreich in den 1970er-Jahren sehr wichtig und hatten großen Erfolg, "Die Blechtrommel" und der Film dazu, Texte von Heinrich Böll oder von Günter Grass wurden viel gelesen. Sprecherin 1 Und heute? Fragt man Franzosen nach deutschsprachigen Autoren, so erhält man eine Liste der üblichen Verdächtigen. (Kein Overvioce - im Original stehenlassen!) OT 10 bis 15 Diverse) (Guy Walter) Schnitzler, Stefan Zweig, ich mag Hofmannsthal, Goethe ... (Olivier) Goethe, natürlich ... (Kollegin) Goethe, Bertold Brecht ... (Rémi Guéraud) Stefan Zweig, Goethe immer ... (Stéphanie Leroux) Thomas Mann oder Zweig ... (Jutta Bechstein) Stefan Zweig ist immer noch der Lieblingsautor der Franzosen, also erst kommt mal Zweig, Zweig, Zweig ... Sprecherin 1 Warum ausgerechnet der österreichische Autor Stefan Zweig so beliebt ist? Das können sich auch die Franzosen nicht recht erklären, allenfalls mit Nostalgie, einer idealen Vorstellung vom alten Europa. MUSIK fade in unter der Collage, bis zum ersten OT, dann fade out Sprecherin 1 So scheint die Wahrnehmung deutschsprachiger Literatur in Frankreich vor allem auf Klassik und klassische Moderne fokussiert zu sein. Und umgekehrt? Auch die französische Literatur hat es hierzulande nicht mehr ganz leicht, wie Cécile Wajsbrot festgestellt hat. 1995 kam sie zum ersten Mal von Paris nach Berlin. Fasziniert von der Stadt im Umbruch nahm die Autorin einen Zweitwohnsitz in der Spreemetropole und verfolgt seither die literarischen Entwicklungen in beiden Ländern: Das Interesse für die französische Literatur in Deutschland hat ihrer Meinung nach in den letzten zwei Jahrzehnten stark nachgelassen. Sprecherin 2 = voice over OT 16 Cécile Wajsbrot Früher war es fast wie ein Blankoscheck: Was aus Frankreich kam, war interessant. Jetzt nimmt, abgesehen von den USA und ihrer Sonderrolle, die Literatur aus den östlichen Ländern einen wesentlich größeren Platz in Deutschland ein als die aus Frankreich. Sprecherin 1 Blickt man noch weiter zurück, stellt man fest: 1950 wurden in Deutschland 245 Bücher aus dem Französischen übertragen. Das entsprach immerhin fast 19 Prozent der literarischen Übersetzungen. Seit den 1950er-Jahren sind diese Übersetzungen allerdings rückläufig. Und heute? OT 17 Asholt Eins kann man sagen, dass Frankreich und Deutschland die beiden literarischen Felder haben, in denen am meisten übersetzt wird, insgesamt gesehen ... . Sprecherin 1 sagt Wolfgang Asholt, Romanistikprofessor an der Universität in Osnabrück und Herausgeber der Zeitschrift "Lendemains". ff OT Asholt ... und dass immer noch ein relativ großer Teil deutscher Literatur ins Französische und ein noch größerer Teil französischer Literatur ins Deutsche übersetzt werden. Pro Jahr werden so etwas wie 200 Romane vom Französischen ins Deutsche übersetzt, was wirklich erheblich ist. Sprecherin 1 Erheblich ist es zwar, wird aber in der breiten Bevölkerung kaum wahrgenommen. Denn zum einen sind die Leser, die sich heute für zeitgenössische Literatur aus Frankreich interessieren, spezialisierter - viele bewegen sich im universitären Milieu. Zum anderen geben inzwischen vor allem mittlere und kleine Verlage französische Gegenwartsliteratur in Deutschland heraus. Dabei fehlen die großen Namen aus Frankreich ebenso wie die weltanschaulichen Strömungen, etwa der Existentialismus oder der "nouveau roman". Die Globalisierung des Buchmarkts tut ein Übriges. Agenten, Lektoren und Verleger haben mit einer wachsenden Zahl von Büchern aus aller Welt zu tun. Der in Paris lebende Autor Vincent Message hat vor ein paar Jahren in Berlin beim Bureau du Livre der französischen Botschaft gearbeitet, einer Abteilung, die Übersetzungen aus Frankreich fördert - allerdings mit sinkendem Budget. OT 18 Vincent Message Die französische Gegenwartsliteratur ist jetzt viel interessanter als es der Fall war vor einigen Jahren. Das Problem ist aber, und es ist dasselbe wie in den USA, dass es immer weniger deutsche Verleger gibt, die französisch können. In den USA ist das eine Katastrophe. Da gibt es fast keinen Verleger mehr, der französisch bzw. deutsch kann. In Deutschland ist es nicht so krass, aber es hat auch nachgelassen. Sprecherin 1 Zudem haben es Bücher, die mehr als 200 Seiten umfassen, aufgrund der hohen Übersetzungskosten grundsätzlich schwer - wobei es erfreuliche Ausnahmen gibt. Etwa das kürzlich bei Luchterhand erschienene, mehr als 750 Seiten starke Debüt "Die französische Kunst des Kriegs" von Alexis Jenni. Darin rührt der Autor, der 2011 dafür den Prix Goncourt erhielt, schonungslos an französischen Tabus - von den Kämpfen der Résistance über den Indochina- bis zum Algerienkrieg. Sprecher = voive over OT 19 Jenni In der französischen Vorstellungswelt hat man eine Vorliebe dafür, selbst unnötige Kriege glanzvoll zu führen, auf ritterliche und absurde Weise. Vergleicht man das mit der deutschen Kunst des Krieges, so hat man als Franzose den Eindruck, dass ein Krieg für die Deutschen etwas rein Praktisches ist: Man versucht, es gut zu machen. Für die Franzosen gilt: Es soll vor allem großartig sein Und wenn man scheitert, ist es egal, das ist nicht schlimm, es ist trotzdem schön. MUSIK (unter OT beginnen, fade in, bis 1. OT, dann fade out) Sprecherin 1 Alexis Jenni hat mit seinem Debüt den Sprung über den Rhein geschafft. Auch umgekehrt gibt es immer wieder risikofreudige Übersetzungen, und zwar mehr als man denkt, wie Nicole Bary festgestellt hat. OT 20 Nicole Bary Nach der angloamerikanischen Literatur ist die deutschsprachige Literatur die meistübersetzte in Frankreich. Ich habe das Gefühl, es tut sich was. Was macht man, um diese Literatur zu verbreiten und wie kommt man an das Publikum, wie bringt man das Buch an den Mann? Das ist ein anderes Problem. Sprecherin 1 Die Buchhändler sind also gefragt. Stéphanie Leroux von der Buchhandlung "Decitre" in Lyon kann gleich eine Reihe von Titeln deutschsprachiger Autoren aufzählen, die sich gut verkaufen. Sprecherin 2 = voice over OT 21 Stéphanie Leroux Zum Beispiel Glattauer mit "Gut gegen Nordwind" und "Alle sieben Wellen", das ist für ein größeres Publikum. Dann gibt es die deutschen Autoren, die in den Schulklassen in Frankreich durchgenommen werden, Remarque, "Im Westen nichts Neues" zum Beispiel. Auch "Der Zauberberg" wird oft im Unterricht behandelt, und dann gibt es die neue deutsche Literatur, zum Beispiel "In Zeiten des abnehmenden Lichts", das ist ein Titel, der gerade extrem gut läuft, ich habe ihn gar nicht mehr da. Sprecherin 1 Neben dem Roman von Eugen Ruge, Gewinner des deutschen Buchpreises, gibt es noch einen anderen deutschen Titel, den die Franzosen lieben. Sprecherin 2 = voice over OT 22 Stéphanie Leroux "Der Geschmack von Apfelkernen" von Katharina Hagena, das war im vergangenen Jahr ein großer Erfolg in der Buchhandlung... Sprecherin 1 Verantwortlich dafür ist Stéphane Carrière, Programmleiter beim Verlag "Anne Carrière Editions": Er traf die Entscheidung, Katharina Hagenas Roman über eine junge Frau, die ein altes Haus in Norddeutschland erbt und eine Reise in die Vergangenheit ihrer Familie antritt, zu veröffentlichen - und der Erfolg gab ihm recht: Rund 200.000 mal hat sich das Buch in Frankreich mittlerweile verkauft, die Taschenbuchausgabe nicht mitgerechnet. Ein Erfolg, den sich Stéphane Carrière selbst nicht recht erklären kann. Sprecher = voice over OT 23 Stéphane Carrière Was "Der Geschmack von Apfelkernen" so besonders macht, ist die Tatsache, dass es ein sehr literarischer Text ist, mit einer unglaublich intelligenten Struktur, die man gar nicht unbedingt erklären muss, sondern fühlt. Gleichzeitig ist es die Geschichte einer familiären Spurensuche in der Erinnerung, die aber - und das ist das Ungewöhnliche - ihre Geheimnisse bewahrt. Ich glaube, das Buch hat nicht nur passionierte Leser berührt. Sprecherin 1 Das bestätigt auch Jutta Bechstein. Sie leitet das Goethe-Institut in Bordeaux und hat sich seit Jahrzehnten dem Ziel verschrieben, der deutschen Literatur in Frankreich größere Aufmerksamkeit zu verschaffen. OT 24 Jutta Bechstein Dieses Buch war auf Nummer 12 der Bestsellerlisten in Frankreich, monatelang. Bibliothekare wiederum erzählen mir, dass ihre Leser das mit einer Karte Norddeutschlands auf den Knien lesen, dass sie sich begeistern, also das ist ein universelles Buch, über Kindheit, über Erinnerung, jeder Mensch kann sich darin wiedererkennen. Sprecherin 1 Katharina Hagenas Roman ist in einem kleinen Verlag erschienen. Große Verlage hingegen wie Gallimard schenken der neuen deutschen Literatur nicht mehr so viel Aufmerksamkeit wie früher. Aus einem einfachen Grund, meint Nicole Bary. OT 25 Nicole Bary Gallimard hat einen Fonds, also hat Autoren, und man erwartet, dass Gallimard diesen Fundus immer neu verlegt. Und vielleicht manchmal die Werke neu übersetzen lässt. Ich glaube, das ist auch der Auftrag von einem großen, alten Verlag, aber dieses Problem, also Gleichgewicht zwischen Fundus und Neuigkeiten, haben jüngere Verlage nicht natürlich, weil sie diesen Fundus nicht haben, und sie können wirklich zukunftszugewandt sein. Sprecherin 1 Der deutsche Autor Michael Kleeberg ist da weit weniger nachsichtig. OT 26 Michael Kleeberg Ein Verlag Gallimard wäre es sich schuldig und wäre es der Literatur schuldig, in seinem Programm wenigstens ein Dutzend der wichtigsten deutschen Autoren zu haben und nicht darauf zu schielen, was jetzt ein, zwei Kumpel anbieten oder nach den Bestsellerlisten zu gehen. Und irgendwelchen kleinen Zwei-Leute-Klitschen in der Provinz die deutsche Gegenwartsliteratur zu überlassen. Das ist erbärmlich. Sprecherin 1 Kleine Klitschen? Als solche würde Stéphane Carrière seinen Verlag kaum sehen wollen. Sprecher = voice over OT 27 Stèphane Carrière Heute befassen sich immer mehr kleine Häuser mit ausländischer Literatur. Und da gibt es einfach die Sprachbarriere. In allen kleinen Verlagen sind es die Verlagsleiter, die die Entscheidungen treffen. Wenn man wenig veröffentlicht, verlangt das viel Engagement, und man muss Leute haben, die Deutsch lesen können. Meiner Meinung nach können nur sehr gute Schüler Deutsch als erste Fremdsprache lernen und vielleicht waren die Verlagsleiter eben keine so guten Schüler. MUSIK fade in unter OT Sprecherin 1 Zurück nach Deutschland, in die Buchhandlung "Shakespeare and Company" in Berlin, benannt nach dem berühmten Pariser Vorbild von Sylvia Beach und Adrienne Monnier. Wird hier französische Literatur nachgefragt? Schon lange nicht mehr, sagt Buchhändler Ulrich Haupt. Zwar verkauften sich die französischen Philosophen Jacques Derrida oder Gilles Deleuze eine Zeitlang noch gut, aber inzwischen sei das Interesse abgeflaut. OT 28 Ulrich Haupt Also, wenn ich es verkaufe, dann nur deshalb, weil ich es dem Kunden anbiete, es wird in der Regel nicht nachgefragt. Ich verkaufe zum Beispiel relativ häufig Emanuel Bove, weil ich ihn selbst gelesen habe, weil jetzt gerade ein Erzählungsband von ihm erschienen ist, Aber nur, weil ich es empfehle, nicht weil er nachgefragt wird. Sprecherin 1 Nachgefragt wird etwas anderes. OT 29 Kundin Frauen, Liebe, Sex, ganz klischeehaft. Sprecherin 1 Das erwartet eine Leserin von französischer Literatur - und verletzt damit ungewollt den französischen Stolz, wie Jutta Bechstein erklärt. OT 30 Bechstein Die Franzosen leiden auch, wenn sie hören, dass zum Beispiel Houllebecq viel gelesen wird, dass Catherine Millet durch Deutschland reist mit ihren Büchern, und dass Frankreich eigentlich mehr so auf der Linie Sex rezipiert wird, wo sie sich ja eigentlich als das Land des Geistes ansehen. Also da sind sie schon demoralisiert, wenn sie so etwas hören, ja. Sprecherin 1 Geht es also auch um Klischees? Um Erwartungen, die die jungen französischen Autoren nicht mehr erfüllen können oder wollen? Leichtigkeit, Erotik, Liebe - am liebsten in Paris - das ist ein Erfolgrezept, weiß die in Paris lebende Autorin Anne Weber. OT 31 Anne Weber Also jedenfalls scheint mir, dass die Deutschen diese Klischeevorstellungen von französischer Literatur haben und von Franzosen, da erwarten sie etwas über die Liebe oder über Sexualität, zum Beispiel bei Houellebecq, eventuell auch Skandalträchtiges, Sex, Liebe, ja und eventuell eine gewisse Eleganz oder so was. Eine französische. Sprecherin 1 Ob das auch den Publikumserfolg von einer Autorin wie Marguerite Duras erklärt? Mit ihren autobiographisch geprägten Romanen, vor allem mit "Der Liebhaber" aus dem Jahr 1984, fand sie in Deutschland eine breite Leserschaft. Ebenso Michel Houellebecq, einer der meistgelesenen - und umstrittensten - Autoren, selbst im skandalgewöhnten Frankreich. Sein Roman "Elementarteilchen", 1997 in Frankreich erschienen, wurde in Deutschland von Oskar Röhler verfilmt. Der verlegte den Schauplatz der Romanhandlung allerdings von Paris nach Berlin. Für Michael Kleeberg ist Michel Houellebecq einer der interessantesten französischen Gegenwartsautoren. Aber: OT 32 Michael Kleeberg Ich finde Houellebecq bestimmt relevanter als alle Echenoz' und was es noch so gibt an Mittelbau zusammengerechnet. Aber gut geschrieben, Literatur, ist es nicht, aber hat natürlich seine Bedeutung als Seismograph gewisser gesellschaftlicher Entwicklungen, und der Zynismus ist interessant. Sprecherin 1 Unerträglich sind für den Berliner Schriftsteller hingegen die französischen Gegenwartsautoren, die, wie er sagt, nie über die Stadtgrenze von Paris hinausgekommen sind und im eigenen Saft schmoren. Sie hätten formal und sprachlich so gut wie nichts zu bieten. OT 33 Michael Kleeberg 95 Prozent dessen, was in Frankreich erscheint, schreibt so, als hätte es Marcel Proust nie gegeben, es ist formal vom Anspruch her auf einem Niveau des mittleren 19. Jahrhunderts. Ich glaube, dass die französische Literatur in ihrem Weg über Proust hinaus, der nun wirklich die Benchmark für die französische Literatur des 20. Jahrhunderts ist, nicht weiter gekommen ist als bis zu Claude Simon. MUSIK fade in unter OT Sprecherin 1 Harte Worte von Michael Kleeberg. Und wie sehen das die Franzosen? Haben auch sie ihre festgefahrenen Vorstellungen davon, was deutschsprachige Literatur ist? Ja, meint Jutta Bechstein - und schlimmer noch: Die Klischees sind nicht immer ganz von der Hand zu weisen. OT 34 Jutta Bechstein Die deutsche Literatur gilt als schwerfällig und langatmig. Leider ist es immer noch wahr, man muss es sagen, deutsche Bücher haben meist Längen, die eigentlich vermieden werden müssten. Also für den französischsprachigen Bereich. Ich habe ja viele Verleger interviewt, und da wurde mir ein ganzer Katalog vorgelegt an Vorurteilen: Langatmig, schwerfällig, auf jeder Seite braucht man Fußnoten, um ein deutsches Buch zu verstehen. Und es ist auch das, was noch so begeisterte Leser, also erste Leser, die Bücher beurteilen sollen, sagen: Leider sind wieder so Längen im Buch. Was übrigens Autoren, die Erfolg haben, wie zum Beispiel Julie Zeh und Kehlmann nicht haben, die schreiben eigentlich so ein bisschen auf einem internationalen Niveau. Sprecherin 1 Dazu kommen noch unterschiedliche Lesepräferenzen. Denn nicht alles, was in Deutschland erfolgreich ist, entspricht thematisch dem "gout", dem Geschmack der französischen Leser, erklärt Rémi Guéraud, der in der deutschsprachigen Abteilung der Buchhandlung "Decitre" in Lyon arbeitet. OT 36 Rémi Guéraud Die Deutschen lesen viel mehr Krimis als die Franzosen. Wenn ich im Internet nach neuen Büchern gucke, da sind immer neue Provinzkrimis aus Münster, aus Bayern, aus irgendwo. Die Franzosen lieben mehr Lebensgeschichten, Liebesgeschichten, Geschichten um das Leben einer Person. Sprecherin 1 Rémi Guéraud liest selbst viel aus Deutschland, und zwar im Original. Nicht viele Franzosen können das - zum einen, weil sie nicht ganz zu Unrecht als wenig fremdsprachenbegeistert gelten, zum anderen auch, weil Englisch das Deutsche als erste Fremdsprache immer mehr verdrängt. So müssen Übersetzungen her, aber die entsprechen dem Original eben nicht immer, meint Jutta Bechstein. OT 37 Jutta Bechstein Im Deutschen ist ja oft etwas Minimalistisches sehr gut. Ins Französische kann man das kaum übersetzen. Weil die französische Sprache ist anders. Also der Kundera hat darüber die witzigsten Sachen geschrieben, dass eben die französische Sprache so blumig ist. Oder wenn er einen Brief von seiner Verlegerin bekommt, dann sagt er: Diese Frau liebt mich! Weil sie halt so tolle Höflichkeitsfloskeln hat. Und da sind dann Grenzen. Das ist ganz klar. Sprecherin 1 Aber auch diesbezüglich ist nicht alles so wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Petra Kringel, die Leiterin der deutschen Buchhandlung Marissal in Paris, gibt zwar zu, dass hauptsächlich ältere Franzosen des Deutschen mächtig sind, ... OT 38 Petra Kringel Die ältere Generation, die haben auch die modernen Sprachen gelernt wie eine alte Sprache, wie Griechisch oder Latein, hin- und zurückübersetzen, das heißt, die haben große Kompetenzen der Technik Schreiben und Lesen. Sprecherin 1 ... aber mittlerweile, so meint Petra Kringel, wird das Deutsche auch für jüngere Menschen wieder interessanter. OT 39 Petra Kringel Wir hatten natürlich einen großen Rückgang sagen wir mal in den letzten 10 Jahren, aber es geht, sagen wir, es stabilisiert sich, der Rückgang ist jetzt aufgehalten. Die letzten Statistiken sagen also, dass der Rückgang wenigstens gestoppt ist und dass es vielleicht langsam wieder aufwärts geht. MUSIK, fade out beim OT Sprecherin 1 Wie steht es also nun um den deutsch-französischen Literaturaustausch? Sind die gegenwärtigen Schwierigkeiten nur eine vorübergehende Zeiterscheinung? Jutta Bechstein glaubt fest daran, dass die deutsche Literatur in Frankreich nach wie vor ihren Stellenwert hat - schon allein deshalb, weil in der französischen Kultur eine unauslöschliche Liebe zum Buch verankert ist. OT 40 Bechstein Es ist einfach eine Hochachtung vor dem, der denkt und der schreibt, es ist ein Land des Geistes, muss man sagen. Zum Beispiel, wenn wir Schriftsteller in der Residenz haben, also wenn sie schon zum Bäcker gehen, dann ist der voller Hochachtung: Ah, Monsieur l'ecrivain! Der Schriftsteller, das veredelt ihm den ganzen Tag, wenn der kommt, ja? Oder man sieht in der Metro, die Leute lesen alle. Oder französische Politiker, ganz anders als vielleicht in Deutschland, schreiben Romane, eröffnen gerne Bibliotheken oder irgendwelche evennements mit Büchern, sprechen gerne über Bücher, über Literatur, das ist einfach verankert in der französischen Kultur, würde ich sagen. Sprecherin 1 Was allerdings nicht heißen soll, dass Schriftsteller in Frankreich automatisch reich werden - ganz im Gegenteil: Die meisten haben einen Brotberuf, nur sehr wenige können sich den Luxus leisten, ganz vom Schreiben zu leben. Aber auch wenn die Literatur in Frankreich möglicherweise stärker verankert ist als in Deutschland befürchtet Lektor Delf Schmidt nicht, dass französische Autoren hierzulande in Vergessenheit geraten könnten. OT 41 Delf Schmidt Es ist alles da, und ist alles auf Deutsch lesbar und genau in dem gleichen Umfang. Meine These: wie in den fünfziger Jahren. Sprecherin 1 Delf Schmidt hofft vor allem darauf, dass die deutsche Literatur sich bei der französischen Anregungen und neue Ideen holen kann. OT 42 Delf Schmidt Es geht ja darum: welche Wirksamkeit könnte die Übersetzung beispielsweise solcher Titel wie Enard haben mit seinem grandiosen Roman "Zone", eine Geschichte der politischen Bewegung rund ums Mittelmeer, war auf der Shortlist des Preises "Haus der Kulturen" und ist hier wunderbar rezipiert worden von der Kritik, von den Lesern. Das ist ja das Entscheidende: wie wirkt es auf die deutschen Autoren? Haben wir da auch mal wieder was von solchen Versuchen von Welthaltigkeit, von großen Themen gegen Belanglosigkeiten. Das verspreche ich mir schon von solchen Titeln wie von Sansal, Litell, Enard, tutti quanti, dass es diese Wirkung hat, dass man sich in der deutschen Literatur darauf besinnt. Sprecherin 1 Literatur als Vermittlerin, als Brücke zwischen zwei gegensätzlichen Nachbarn? Natürlich, meint Stéphanie Leroux. OT 43 Stéphanie Leroux (frz. stehenlassen) Evidement, c'est fait que pour ca, la literature. MUSIK unter Text einsetzen lassen Sprecherin 1 Und diese Funktion hat sie noch heute, wenn auch vielleicht weniger offensichtlich - davon sind jedenfalls sowohl Jutta Bechstein als auch Vincent Message und Guy Walter überzeugt. OT 44 Bechstein Die Leute, die ein deutsches Buch lesen, wollen wirklich etwas über Deutschland erfahren. Und auf europäischer Ebene, wir wollen uns besser kennenlernen. OT 45 Message Weil das auch zum Verständnis zwischen den beiden Völkern, was die EU Krise angeht, eine positive Rolle spielen könnte. Sprecher = voice over OT 46 Guy Walter Durch die Globalisierung ist der Austausch der Kulturen zu einem marktwirtschaftlichen Austausch geworden, es ist kein intellektueller Austausch mehr. Man müsste diesen Kreislauf wieder in Gang bringen, den Austausch der Kenntnisse, der Ideen und der Debatten. Das heißt, wir brauchen Intellektuelle und Schriftsteller, die von einem Land ins andere reisen. Sprecherin 1 Aber wie kann man diese Art des Austausches stärker ankurbeln? Mit Veranstaltungen, Lesereisen, Podiumsdiskussionen? Ja, auch damit - aber noch wichtiger ist etwas anderes. Jutta Bechstein zitiert dafür den Berliner Verleger Klaus Wagenbach. OT 47 Bechstein Wie der Klaus Wagenbach mal gesagt hat, der in einer ähnlichen Situation interviewt wurde, sagte er: Ich kann nur sagen, Autoren schreibt gute Bücher! MUSIK hochziehen und fade out 1 DLR - Literatur: Regard Croisé