KULTUR UND GESELLSCHAFT Titel der Sendung : Balzac in Boston. Amerikanische TV-Serien machen dem klassischen Gesellschaftsroman Konkurrenz Autoren : Katja Huber und Christian Schiffer Redakteur : Kolja Mensing Sendetermin : 29. April 2012 / 0.05 Besetzung : Eva Meckbach, Karim Cherif, Wilfried Hochholdinger Regie : Roman Neumann Technik : Lutz Pahl Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 ZSP The Wire: fuck-Szene / SPR 2 Es ist wohl die berühmteste Szene der amerikanischen Fernsehserie "The Wire"- 38 mal hintereinander das Wort "Fuck". ZSP The Sopranos: "Therapy is like taking a shit." Dr. Melfi: "I would compare it with child birth!" Tony: "It's like taking a shit, believe me." SPR 2 Mafiaboss Tony Soprano kann Dr. Melfis Analogie "Therapieprozess = Geburts-Vorgang" nichts abgewinnen. Er bevorzugt den Vergleich: It's like taking a shit. ZSP Breaking bad SPR 2 Ex-Chemie-Lehrer, Krebspatient und Crystal Meth-Hersteller Walt White, der in Breaking Bad alle Grenzen des guten Geschmacks und Gewissens überschreitet. SPR 1 Die Helden und Antihelden des amerikanischen Unterhaltungsfernsehens stecken tief in der Krise. Vom amerikanischen Unterhaltungsfernsehen selbst kann man das keineswegs behaupten. Im Gegenteil: Lange Zeit hatte es bei Intellektuellen einen schweren Stand. Serien wie "Bonanza", "Dallas" oder "Denver Clan" schienen nicht mehr zu sein als das Spiegelbild einer weitgehend kulturlosen Gesellschaft. Ein Beispiel: Als ernstzunehmende Literatin lehnte Joyce Carol Oates bis in die 1980er Jahre den Besitz eines Fernsehgeräts komplett ab. 1985 änderte sich das schlagartig: Oates bezeichnete in ihrer Rezension "Warum Hill Street Blues unwiderstehlich ist" die US- amerikanische Polizei-Serie als Forum für zeitgenössische provokative Themen von moralischer Komplexität" und sprach von Dickens 'scher Authentizität. ZSP Paefgen: Titel-O-Ton Ich glaube, das ist bei mir ganz genau so gewesen. Als ich vor fast genau drei Jahren von einem Freund vor den Fernsehapparat gesetzt worden bin, und der mir quasi angeordnet hat, jetzt "the Wire" zu gucken: "Das musst du sehen" Und ich bin überhaupt nicht fernsehaffin sozialisiert worden. Ich habe lange Zeit ohne Fernsehapparat gelebt und ich war erst 13 oder 14, als meine Eltern einen angeschafft haben, und ich habe immer eher gelesen und bin ins Kino gegangen, aber bin nicht vom Fernsehen erzogen worden, sowohl was Aufklärung betrifft, als auch Unterhaltung, das war nicht mein Medium. Und "The Wire !" hat einfach alles gesprengt und hat sowohl angeknüpft an das, was ich vom Lesen kannte als vom Kino, und hat gleichzeitig eben was ganz Neues geschaffen. Und das war 2009. SPR1 Heute sitzen die ehemaligen Kritiker des Genres gebannt vor dem Fernseher, wenn die neuen Folgen von "Mad Men" oder "The Wire" ausgestrahlt werden. Sie schreiben sogar Aufsätze und ganze Bücher über die neuen Serien, die über den Atlantik nach Europa kommen und zur Primetime auch in die deutschen Wohnzimmer gespült werden. SPR2 Diedrich Diederichsen, The Sopranos, diaphanes booklet, März 2012. Elisabeth K. Paefgen: "Me an' my lonesome." Subjektive Perspektiven in Fernsehserien des 21. Jahrhunderts", 2012 Sean O'Sullivan: Space Ships and Time Machines. Mad Men and the Serial Condition, in: Mad Men. Dream Come true TV. Simon Rothöhler. The West Wing, diaphanes booklet 2012, Elisabeth K. Paefgen. Mad Men - sad men and women: eine Studie in Traurigkeiten. Uwe Durst, Herausgeber: Wie sind die Sopranos gemacht? Erscheint 2012 Daniel Eschkötter, The Wire, diaphanes booklet, März 2012, SPR1 Fernsehserien gelten als das Erzählformat unserer Zeit. Dem Ausstrahlungsbeginn neuer Staffeln wird entgegengefiebert, wie früher dem neuen Album einer angesagten Band. Ganze Portale im Netz widmen sich Fernsehserien, dort werden dann News ausgetauscht, Episodenführer angelegt und mit allen Finessen über die Handlung von Mad Men & co. diskutiert. Damit dabei nichts verraten wird, erscheint dort vor wichtigen Informationen ein so genannter Spoileralarm, damit jeder Serienfan weiß, wo er aufhören muss zu lesen. Genau dasselbe passiert in dieser Sendung. ZSP Alarm SPR2 Hören Sie diesen Alarm, wissen Sie, dass sie jetzt besser nicht weiter zuhören sollten. Am besten studieren Sie schon mal die Fluchtwege, üben das Ohren zuhalten und prägen sich die genaue Position Ihres Radios ein, falls sie es schnell leise drehen müssen. Ganz wichtig: Geraten Sie nicht in Panik! SPR1 Balzac in Boston Amerikanische TV-Serien machen dem klassischen Gesellschaftsroman Konkurrenz Eine Sendung von Christian Schiffer und Katja Huber ZSP Hagen: Wie kam es zu den Qualitätsserien 1 Es ist eine Geschichte des Mediums Fernsehen die Serie, aber übrigens auch eine Geschichte des Mediums Kinofilm. Bloß da ist es sozusagen vergessen, weil es in den Frühzeiten des Kinos bis etwa in die 40er Jahre durchaus sehr viele Serials und Serien gab. SPR2 Dr. Wolfgang Hagen, Medienwissenschaftler und Professor für Rhetorik an der Leuphania Universität Lüneburg. Unter anderem hält er Seminare zu Fernsehserien ab. ZSP Hagen: Wie kam es zu den Qualitätsserien 2 Das Fernsehen hat sich in den 90er Jahren immer weiter ausdifferenziert. Vor allem in Amerika in Bezug auf die Kanäle. Das große Lagerfeuer, dass es in den 60er und 70er und auch am Anfang in den 50ern war und von McLuhan so beschrieben wird, dass wir alle um den gleichen Fernsehkanal herumsitzen und dadurch eine große Gemeinschaft eines globalen Dorfes bilden, das ist vorbei. In Amerika hat nur noch ein Prozent der Fernsehprogramme mehr als ein Prozent Quote. Das heißt es gibt eine ungeheure Differenzierung der Programmangebote, und im Zuge dieses Differenzierungsprozesses entstand die Möglichkeit, über Kabelabonnements ein Geschäftsfeld zu eröffnen, das viel Geld in Fernsehproduktionen hinein gespült und viel Geld erwirtschaftet hat, um Fernsehproduktionen wieder qualitativ hochwertig zu machen. In Amerika sind die Fernsehproduktionen, egal was man sich anschaut, ob es reine Fernsehfilme waren oder eben auch die frühen Serien, eigentlich sehr mickrig gewesen in den 70er Jahren. Und erst Mitte der 80er Jahre sind die ersten qualitätsvollen Serien entstanden, das heißt mit Drehbüchern, die wirklich hohe Ansprüche stellen. Und im Zuge dieser Ausdifferenzierung haben wir einen kleinen Zweig des amerikanischen Fernsehens, in dem wir diese hochqualitativen literarisch, drehbuchtechnisch und filmisch innovativen Serien haben. ZSP/OV David Simon: O-Ton Kriminalität 1 Ich kam zur Baltimore Sun, da war ich 22 Jahre alt war. Dort habe ich vor allem über Kriminalität geschrieben und langsam habe ich dann angefangen, darüber nachzudenken, über was ich da eigentlich berichte. SPR2 David Simon: Journalist, Schriftsteller, Drehbuchautor und Produzent amerikanischer Serien wie "The Wire" oder "Treme". ZSP/OV David Simon: O-Ton Kriminalität 2 Ich hab über hundert Drogenmorde im Jahr berichtet. Wobei "berichten" schon zu viel ist, in der Regel waren es nur zwei Zeilen, die in der Zeitung dazu abgedruckt wurden. Ich lerne dabei viel über den Drogenhandel. Drogenhandel ist natürlich schlimm und kriminell, aber irgendwann habe ich mich dann gefragt, warum hier eigentlich nichts vorangeht. Das Problem wird immer schlimmer, es gibt immer mehr Drogenecken und das alles, obwohl wir eine Menge Geld ausgeben. Irgendwann stellt man dann fest, dass es an gesellschaftlichen Strukturen liegt, an der Wirtschaft, an der Arbeitslosigkeit. Der ganze Krieg gegen die Drogen ist zu einem großen Geschäft geworden. Genauer: Zu einem großen Verlustgeschäft, weil die Gesellschaft hier sehr viel Geld verliert. Andererseits leben sehr viele Firmen und halbstaatliche Konzerne davon, dass wir hier die meisten Gefängnisinsassen in der Geschichte der Menschheit haben, sogar im Vergleich zu totalitären Staaten. Das ist doch die eigentliche Geschichte! SPR1 David Simon steht in der Tradition des engagierten amerikanischen Journalismus, er will nicht einfach nur aufschreiben, was passiert, er will Zusammenhänge aufzeigen, den Dingen auf den Grund gehen. Simon ist ein penibler Rechercheur, er wälzt stundenlang Akten und verbringt ein Jahr unter Drogendealern, um die Szene besser verstehen zu können. Genauso geht er auch vor, als er nach 13 Jahren die Baltimore Sun verlässt, anfängt Bücher zu schreiben und nach der Jahrtausendwende beginnt, an der Serie "The Wire" zu arbeiten, eine Polizeiserie, in der ein Ermittlerteam versucht den lokalen Drogenboss hinter Schloss und Riegel zu bekommen. Simon und sein Team lesen Kriminalstatistiken, soziologische Abhandlungen und natürlich Akten, sie laden Lehrer, Gewerkschafter und Polizisten ein, und versuchen so eine möglichst realistische Sichtweise auf Ursachen gesellschaftlicher Probleme zu bekommen. David Simon wird heute verglichen mit Upton Sinclair, der Anfang des 20.Jahrhunderts in Romanen eindringlich die Situation der amerikanischen Unterschicht schilderte. Oder mit Charles Dickens, auch er ein Journalist, der ebenfalls mit dem Serienformat experimentierte, in Form von Serienromanen. Und natürlich mit Honoré de Balzac, Schöpfer literarischer Sittengemälde über das Frankreich der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. SPR2 Doch mit wem David Simon nun am ehesten Gemeinsamkeiten hat, darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen: ZSP Paefgen: ROMAN ANKNÜPFUNG Ich würde das gar nicht mit Dickens vergleichen, ich würde das mit dem Roman des 20. Jahrhunderts vergleichen, mit modernen Erzählformen, die auch vor den Kopf stoßen und nicht mehr erklären und vermitteln, sondern eben auch setzen und auch darauf setzen, dass der Zuschauer mitdenkt und mitarbeitet. Es wird sehr elliptisch erzählt, und man versteht einfach lange Zeit viele Sachen nicht, wie das beim modernen Erzählen der Fall ist. Von der Form her würde ich es aber viel mehr mit Romanen von Beckett oder Joyce vergleichen oder Berlin Alexanderplatz, mit Romanen, die im 20. Jahrhundert ganz neue Erzähltechniken ausprobieren. Gerade The Wire ist eine Serie, die viele Techniken des epischen schriftlichen Erzählens nachmacht. Also Charaktere werden überhaupt nicht eingeführt, sondern sind einfach da, und man weiß lange Zeit überhaupt nicht, wer das ist. SPR2 Dr. phil. Elisabeth Paefgen, Film- und Literaturwissenschaftlerin. Erste amerikanische Qualitäts-Serie: 2009, The Wire. Gibt inzwischen Seminare zu TV-Serien, mag Gilmore Girls genauso wie Dexter und Big Bang Theory und hat The Wire, Sopranos, Mad Men und West Wing mehrfach gesehen. ZSP PAEFGEN ROMANANKNÜPFUNG 2 Ereignisse werden überhaupt nicht angekündigt und vorbereitet, sondern passieren einfach und man weiß überhaupt nicht den Zusammenhang und man kann den erst lange Zeit später rekonstruieren. Figuren treten lange Zeit auf. Wo man denkt, die sind ganz unwichtig und dann werden sie Hauptfiguren und umgekehrt. ZSP/OV Richard Beck 1: Fernsehen & Roman 19. Jh. Es gibt einige Ähnlichkeiten zwischen der Art, wie Fernsehen heute funktioniert und wie der Roman früher funktioniert hat. Besonders was die Ausstrahlung und Veröffentlichung betrifft. SPR2 Richard Beck, amerikanischer Essayist und Autor des Artikels "Die Schatzinsel. Wie amerikanische Serien Kunststatus erreicht haben" Als Autor des New Yorker Essay-magazins "n+1" schreibt Beck über feministische Musikkritikerinnen genauso wie über Amerikas Reaktion auf Osama bin Ladens Tod, über HipHop und die Grammys. Richard Becks Themenspektrum ist vielfältig und sein Kalender kennt keine weißen Flecken. Er findet trotzdem Zeit für ein Interview, 8 Uhr Morgens New Yorker Zeit. ZSP/OV Richard Beck 2: Fernsehen & Roman 19 Jh. Ein sinnvoller Vergleich wäre Fernsehen heute mit dem Roman des 19. Jahrhunderts, wo Romane von Dickens und Balzac und anderen berühmten Romanciers oft als Serie erschienen: Kapitel für Kapitel, im monatlichen, wöchentlichen oder täglichem Rhythmus. Da besteht also eine sehr große Ähnlichkeit zum heutigen Fernsehen: Dort wird eine Folge pro Woche ausgestrahlt, und erst, wenn eine Staffel zu Ende ist, kannst du sie als gesamte Staffel auf DVD kaufen. Das bringt eine weitere Parallele mit sich, nämlich wie Zuschauer über Fernsehserien sprechen und wie Leser über den Roman gesprochen haben. Es gibt die Ähnlichkeit, dass das Publikum durch Feedback einen Einfluss auf den Text, bzw. die Serie hat. Ein wirklich wesentlicher Unterschied zwischen Roman und Fernsehserie ist der enorme Geldbetrag für die Produktion einer Fernsehserie. Einen Roman kann man auch nebenher oder nachts schreiben. Alles, was man braucht, ist ein Brotjob, man kann seinen Roman ganz alleine schreiben und ihn veröffentlichen, ohne groß Geld in die Sache zu investieren. Fürs Fernsehen brauchst du eine ganze Crew, Autoren, Schauspieler, eine enorme finanzielle Investition, und das setzt der Experimentierfreude im Fernsehen im Gegensatz zum Roman natürlich gewisse Grenzen. [Kapitel 2: Form & Inhalt] ZSP Mad Men: Fernseher SPR1 So wie Don Draper aus Mad Men Ende der 50er Jahre eifersüchtig ist auf das Fernsehgerät seiner Geliebten Midge, so muss das "klassische" Fernsehen heute die Konkurrenz der DVD fürchten. Die amerikanischen Qualitätsserien basieren zwar auf dem Medium Fernsehen, haben sich dank der DVD aber auch davon emanzipiert. Heute schmücken kunstvoll gestaltete DVD-Boxen das heimische Bücherregal. Die Zuschauer wollen sich nicht vorschreiben lassen, wie lange sie auf die nächste Episode oder die nächste Staffel warten müssen. Dadurch individualisiert sich auch der Konsum: Ein neu gestarteter Kinofilm gibt am Tresen noch ein gutes Gesprächsthema her, bei Serien ist das anders: Denn erstens hat jeder seine eigene Lieblingsserie und gibt es mal eine Übereinstimmung, steckt jeder in einer anderen Staffel fest oder hat bestimmte Folgen noch vor sich. Aber das Fernsehen passt sich den veränderten Sehgewohnheiten an: Ende März zeigte RTL2 die hochgelobte HBO-Fantasy-Serie "Game of Thrones" an einem Wochenende, immer drei bis vier Folgen hintereinander, nachts sogar werbefrei. Eventprogrammierung nennt man das, in diesem Fall ein großer Erfolg mit überdurchschnittlichen Quoten. SPR 2: Das Aufkommen der DVD hat Fernsehen verändert und auch die Art wie auf der Mattscheibe erzählt wird, sagt Wolfgang Hagen: ZSP Hagen: Wie wichtig ist DVD / Multilinearität Hier hat Form und Inhalt einen starken Zusammenhang. Man spricht von zwei großen Strukturgruppen, nach denen die Serien drehbuchtechnisch organisiert sind. Es gibt Serien, die sind "Plotdriven", sie werden von Geschehnissen bestimmt wie zum Beispiel "24". Das ist im Grunde immer dieselbe Geschichte, aber hochspannend und kompliziert bis Jack Bauer dann den bösen Feind erlegt hat. Und es gibt Serien, die sind "charakterdriven". Die haben eigentlich keinen besonderen Plot. So wie Mad Men. Da geht es darum, dass da Anzeigen in allen möglichen Medien verkauft werden. Aber die Akteure entwickeln sich im Laufe der Serien sehr stark. Beides ist, wenn es episch erzählt werden kann, wie eben in diesen Serien, hochdifferenziert und multilinear, und das betrifft sowohl den Plot als auch die Charakterentwicklung. Das ist eine Sache, die im Kopf des Rezipienten passiert. Das spielt es auch keine große Rolle, ob man eine Woche Zeit hat sich zu überlegen, wie es mit Mad Men weitergeht oder ob man nur eine Stunde oder eine halbe Stunde Zeit hat, weil man vielleicht eine Pause zwischen dem Episodenkonsum am Wochenende macht. Es passieren diese Verschlingungen der Charakterentwicklungslinien oder der spannungsreichen Multidimensionalen Ereignislinien und die bilden damit eine Erschließung von Realität und Wirklichkeitsbeziehungen, die natürlich viel realistischer sein kann als in einem Film, der nur zwei Stunden geht. Wenn man viele Entwicklungslinien spinnen kann, sei es was die Charakter-Entwicklung betrifft, sei es was die Geschehnis-Entwicklung betrifft, kann man natürlich viel erschließen, viele Möglichkeiten an Erfahrungen, an Neuem, an Überraschungen dem Zuschauer geben. Das ist auch ein Stück Welterschließung. Und auch so eine klassische Serie wie "The Wire" oder die Nachfolgeserie von "The Wire" "Treme", die um New Orleans nach dem Hurrikane geht, ist eine unglaubliche realistische Darstellung, die aber total fiktional operiert. SPR1 Noch vor drei Jahren waren "The Sopranos" für Film- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Paefgen "auch nur eine dieser Ami-Fernsehserien". Seit ihrer Serien-Initiation mit The Wire 2009 hat Paefgen allerdings aufgeholt, und zwar gewaltig. In ihrem Regal stehen: SPR2 The Sopranos (mehrfach) Six Feet Under Mad Men (mehrfach) Breaking Bad The West Wing (mehrfach) Lost Seinfeld Frasier Friends Arrested Development The Big Bang Theory The L-Word Nip/Tuck Damages Glee (die beiden ersten Staffeln) Dexter (die beiden ersten Staffeln) Boston Legal Gilmore Girls SPR1 Und Elisabeth Paefgen guckt nicht nur, was und wann sie kann, sie schreibt auch über das, was sie guckt und gibt Seminare an der Freien Universität Berlin, zum Beispiel mit dem Filmwissenschaftler Sean O' Sullivan. ZSP Paefgen: DVD Sean O' Sullivan sagt ja, und das ist vielleicht nicht zufällig, dass Sopranos mit der Einführung der DVD quasi das erste Mal ausgestrahlt und überhaupt auch konzipiert worden ist. Er sagt, Sopranos sei ein Tsunami gewesen in der amerikanischen Fernsehgeschichte. Das habe ich damals noch nicht so verfolgt, 1999, aber Anfang der Nullerjahre wurde die DVD ja dann verbreitet eingeführt, und das sagt David Simon auch in einigen Kommentaren zu Episoden von "The Wire",, dass sie darauf setzen, dass die Leute die es noch mal gucken. Und dass sie den Hintergrund auch gestalten. Dass ganz viele Dinge auch im Hintergrund passieren. Und man kann den Hintergrund erst beim zweiten und dritten Mal sehen. Ich finde eigentlich, dass "The Wire" eine ziemliche Herausforderung an die Zuschauer stellt, das ist was für die DVD, die hat dem Ganzen noch mal einen unheimlichen Auftrieb gegeben, weil Rewatchibility etwas ist, was diese Serien anstreben. Im Wochenformat geht das verloren, man muss das in seinem Tempo schauen können. Und das haben die Macher dann zunehmend während dieser Nullerjahre auch im Auge gehabt, dass das mit den DVDs noch mal eine neue Stufe des Verkaufs gibt. Jetzt gibt es ja inzwischen auch so richtige Liebhaberboxen, von Seinfeld gibt es eine Box mit dem Coffeetablebook, die kostet 600 Euro. Das sind schon richtige Sammlerstücke. Und auch von Deadwood habe ich eine gehabt. Da war dann ein Brettspiel dabei, das man ausziehen konnte. Und da hat Jason Mittell, ein amerikanischer Filmwissenschaftler, einmal einen Aufsatz geschrieben über die Gestaltung der Boxen, dass das eigentlich wie Goethe in Leder ist, und dass damit auch noch mal eine andere Bindung an die Serien entstehen, dass die nicht einfach so nüchtern im Regal stehen. (KURZE MUSIK) SPR1 Schön verpackt, kombiniert mit allen möglichen Gimmicks und bester Freund des Serienkonsumenten: Die Darreichungsform DVD garantiert den individuellen Genuss der Lieblingsserie zu jeder Tages- und Nachtzeit. Worin aber bestehen die Rezepte der neuen amerikanischen Serien, die Fans derart süchtig machen, dass sie sich außer Stande fühlen, eine ganze Woche oder auch nur einen Tag auf die nächste Dosis zu warten? Bis heute bekennen sich viele Serienjunkies zur Einstiegsdroge " Sopranos". Zwar hatte HBO schon vor Sopranos mit "The Oz" erfolgreich eine hochwertige Serie an den Start gebracht, aber mit dem 10. Januar 1999 begann in der Geschichte des US-amerikanischen Unterhaltungsfernsehen eine neue Zeitrechnung. Bei den Sopranos wurden HBO-Abonnenten mit Ideen, Regelbrüchen und Provokationen konfrontiert, die sie so noch nicht gesehen hatten. Die Geschichte um Mafiaboss Tony Soprano und seine biologische Familie, seine Family, die Mafia, und nicht zuletzt um seine Psychotherapeutin Dr. Melfi, erstreckt sich über sechs Staffeln mit insgesamt 86 Episoden und wurde mit 21 Emmys und fünf Golden Globes ausgezeichnet. In acht Jahren Sendezeit mussten und durften sich die Zuschauer an ein Fernsehen gewöhnen, das plötzlich nicht mehr nur einen Spannungsbogen hatte, eine Haupt- und eine Nebenhandlung, sondern gleich vier oder fünf Handlungsstränge. Sopranos führte Ereignisse ein, die wie Schlüsselszenen wirkten, Figuren, die wie tragende Charaktere daher kamen, dann aber über mehrere Monate oder Jahre völlig aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verschwanden. Einige von ihnen tauchten nie wieder auf oder aber kehrten, längst vergessen, mit besonders großem Knall zurück. ZSP: DAVID CHASE, UNÜBERSETZT: wollte nie Fernsehen machen (in Sopranos DVD,-Box 2. Staffel, Interview mit Peter Bogdanovich) , DARÜBER SPR2 Der Sopranos-Erfinder David Chase. SPR1 Fernsehen hat ihn nie sonderlich interessiert. Viel lieber hat er sich Fellini und Godart angeschaut, die Nouvelle Vague studiert und alles, was er dabei gelernt hat, in die Sopranos integriert. Die Hauptimpulse für eine Wende im US-Amerikanischen Unterhaltungsfernsehen boten also der Europäische Film der 60er und 70er Jahre, nicht der klassische oder moderne Roman. Sopranos vertraute darauf, dass Zuschauer denken können, und Ritualbrüche, wie zum Beispiel die berüchtigte FINAL-Scene der Serie verkraften. ZSP Beck Sopranos 1 OV Erst mal muss ich sagen, alle, die Angst haben, das Ende von Sopranos zu erfahren, sollten jetzt nicht zuhören. ZSP AKUSTISCHER AKZENT, SIRENE, WARNTUTEN SPR2 Achtung, Achtung, dies ist ein Warnhinweis. Folgender O-Ton erhält verräterische Inhalte. Sollten Sie zur Spezies des Rezipienten gehören, die den Spannungsbogen einer Fernsehserie für relevant halten, wechseln Sie das Medium, den Radiosender, das Zimmer, halten Sie sie sich die Ohren zu, ganz egal, aber: Tun sie etwas! Drei ... Zwei ... Eins ... Weghören. ZSP Serienausschnitt: Sopranos Ende ZSP/OV Beck Sopranos 2: Die Sopranos haben diese sehr berühmte Schlussszene, über die sich die Zuschauer noch Monate nach der Ausstrahlung gestritten haben, in der Tony und seine Familie in einem Diner sitzen und gemeinsam essen. Die Szene ist unheimlich stilisiert und irgendwie sehr seltsam. Und weil es nach dieser Folge keine neue Episode mehr gibt, gab es unglaubliche Spekulationen, ob Tony getötet werden wird. Also: Sie sitzen in dem Diner, und da gibt es diesen Mann an der Bar, der eine "Members Only" Jacke trägt. Er steht auf, geht aufs Klo und die Kamera folgt ihm bedeutungsschwanger, und man fragt sich natürlich: Ist das der Mann, der Tony umbringen wird? Dann betreibt die Familie noch ein bisschen Smalltalk, dann öffnet sich die Vordertür, man hört ein leises "kling", Tony blickt auf, und die gesamte Serie stoppt völlig unvermittelt. Eine ganze Menge von Leuten hat das als Tony Sopranos Tod interpretiert. Sie sagen: Oh, der Man in der Members- Only-Jacke ist aus dem Klo gekommen und hat Tony erschossen. Und David Chase hat niemals ausdrücklich gesagt, dass es genau so ist, aber er hat diese Interpretation auch niemals angefochten. Also nach dieser Logik endet die Show in dem Moment, in dem Tony stirbt, und die Serie wurde wirklich um diesen einen Hauptcharakter herum organisiert, und zwar in einer Weise wie wir das aus keiner anderen Fernsehserie kennen. SPR1 Das Licht geht also aus, in der wohl berühmtesten Sopranos-Szene und die Serie ist beendet, einfach so. Das Pling der Diner-Tür, dann schwarzer Bildschirm und ein grabesstiller Abspann ohne Musik. Und das nach acht Jahren Sendezeit, sechs Staffeln und 86 Episode! Aber gerade dieses Ende kann durchaus auch Tonys Eintritt in die Ewigkeit bedeuten. Ob er nun nach oder trotz finaler Finsternis auf dem Bildschirm in der Vorstellung der Zuschauer weiter leben darf, macht für diese einen gewaltigen Unterschied aus. Kaum eine Serien-Szene ist in Blogs und Foren so heftig kommentiert und diskutiert wie die Final Scene der Sopranos: Und hier zeigt sich nun die erstaunliche Kreativität, der Erfindungsreichtum aber auch die Sehnsucht der Fans: Tonys Gespräche mit seinem Schwager übers Sterben, eine Angelpartie, Nahtoderfahrungen einzelner Charaktere: In allen sechs Staffeln finden sich beziehungsweise findet der Zuschauer Hinweise aufs Serien-Ende. Ob Tony dieses nun überlebt oder eben nicht, entscheidet letztendlich der Zuschauer - jeder einzelne für sich. ZSP Paefgen: Adressierung an Zuschauer Das wird überhaupt in all diesen Arbeiten sehr betont zu den Serien, dass die in einer unglaublichen Kommunikation mit dem Zuschauer stehen. Und das macht es natürlich auch mit Dickens vergleichbar. Dickens hat ja auch reagiert, auf Lesermeldungen. Und das machen die heute ja noch viel schneller durchs Internet und die Blogs. Und ich glaube, die Zäsuren haben Aufweckfunktion für den Zuschauer, sich da nicht irgendwie sicher zu fühlen und nicht, sich heimisch zu fühlen und sich gebettet zu fühlen. Aber sie sind eine Adressierung an den Zuschauer. SPR1 Die Mystery-Serie "Lost" zeigte beispielhaft, wie man die Fans mit einbeziehen kann. Die Schauspieler und Drehbuchautoren stellten sich den Fragen, die Produzenten wendeten sich regelmäßig mit einem Podcast an die Öffentlichkeit und erläuterten aktuelle Folgen. Die Fans wiederum sezierten Folge für Folge, entwickelten wilde Theorien und inspirierten so wiederum die Drehbuchschreiber. MUSIK(AKZENT) [Kapitel 3: Leitthemen & Motive]] ZSP Serienausschnitt Karussell: ZUSP PAEFGEN LYRIK 2 Und dann gibt es auch wieder in Bild, und dann gibt es wieder nichts. Dann ist die Leinwand weiß. Und dann gibt es wieder ein Bild, und dann ist die Leinwand wieder weiß: Etwas, nichts, etwas, nichts, etwas. Ja. Und deutet diese ganze Szene wieder als Hinweis daraufhin wie Mad Men gemacht ist. Das ist eine verkleinerte Form dessen, was für die ganze Serie gilt. Und ein Kollege bricht dann in Tränen aus, weil die Bilder so anrührend sind, aber er tut es erst, als die Leinwand weiß ist. Erst dann geht er aus dem Raum. Also im Nichts geht er aus dem Raum. Das ist eigentlich nur ein Hinweis darauf, wie unglaublich hoch reflektiert die Serien gemacht sind. SPR2 Mad Men, eine der populärsten Serien überhaupt, läuft im werbefinanzierten Fernsehen. SPR1 Auch HBO, dem Pay-TV-Kanal, der für seine selbst produzierten Serien berühmt geworden ist, wurde Mad Men angeboten, doch HBO winkte ab. Ein fataler Fehler, wie man jetzt weiß. Auch weil es selten gelungen ist so elegant Schleichwerbung zu platzieren, wie hier, wo sich alles um die New Yorker Werbebranche der 60er Jahre dreht. ZSP Mad Men: Ist toastet SPR1 Mit einem Dickens-, Tolstoi- oder Dostojewsi-Roman wurde Mad Men bislang aber nicht verglichen. Anders als "The Wire" von David Simon. Seit Jahren ist in den Feuilletons, wenn es um die neuen amerikanischen Serien geht, die Rede vom "Roman der Gegenwart". SPR2 David Simon selbst kann mit solchen Vergleichen eher wenig anfangen: ZSP/OV David Simon: Roman der Gegenwart neu Die besten Serien kommen einem Roman manchmal sehr nahe. Das ist aber trotzdem eher selten der Fall und keineswegs die Regel. Ich glaube, die Spitze des amerikanischen Fernsehens beginnt langsam mit langen Erzählformen zu experimentieren. Aber ein Roman ist immer noch ein Roman. Allerdings: Wenn ich mich hinsetze und Argumente für einen anspruchsvollen Roman über die Situation der USA zur Jahrtausendwende sammle, dann gibt es Gemeinsamkeiten. Das läuft dann nicht anders ab, als damals in den Schreibstuben und in unseren Köpfen, als wir "The Wire" geplant haben. Ich behaupte nicht, dass wir einen großen amerikanischen Roman geschrieben und ihn dann ins Fernsehen gebracht haben. Natürlich haben viele Leute sehr nette Sachen über "The Wire" gesagt, aber das einzige, was ich sagen kann, ist, dass wir genauso ambitioniert waren wie ein Schriftsteller, der zu demselben Thema einen Roman schreibt. SPR2: Richard Beck: ZSP/OV Beck: Emile Zola Ich finde, dass man Simon mit Emile Zola vergleichen kann, weil beide ein ähnliches Weltbild haben, während bei Dickens wirklich die Charaktere das Buch bestimmen. Ihre Individualität treibt die Handlung voran und lässt Dinge geschehen. Bei Zola ist es eher das große abstrakte soziale Milieu, von dem die Charaktere sich einfach nicht befreien können. Und so funktioniert die Welt auch aus Simons Sicht. Er hat in Interviews wieder und wieder behauptet, dass er The Wire als eine Art Baltimorer Neuauflage einer großen griechischen Tragödie versteht. SPR2: ... und Elisabeth Paefgen: ZSP Paefgen: Mythos 1 Also "The Wire" hat einen mythischen Hintergrund, der absolut unrealistisch ist. Also Omar ist absolut mythische Figur, die da über fünf Staffeln hinweg durch den Kugelhagel schreitet und wie Siegfried unverwundbar ist. Es gibt auch noch andere mythische Anklänge in "The Wire" ZSP AKUSTISCHER AKZENT, SIRENE, WARNTUTEN SPR2 Achtung, Achtung, dies ist ein zuschauerfreundlicher Warnhinweis. Sollten Sie The Wire noch nicht oder nur bis zum Ende der zweiten Staffel kennen und Wert auf Charakterentwicklung legen, lesen Sie sich bitte jetzt den Wikipedia-Artikel zur Quantenphysik durch, gehen Sie Angeln oder treffen Sie eine Verabredung mit ihrem schlimmsten Feind. Aber lassen sie sich auf keinen Fall auf die Ausführungen dieser Verräterin ein. Drei .. Zwei ... Eins... Weghören! ZSP PAEFGEN MYTHOS 2 Es gibt auch noch andere mythische Anklänge, die aber diese Serie auch dauerhaft und über diese Zeiterscheinungen hinaus haltbar machen: Zum Beispiel der Tod von Stringer Bell am Ende von drei. ZSP Serienausschnitt: TOD von STRINGER BELL ZSP PAEFGEN MYTHOS 3 Der liegt aufgebahrt. Da muss er extra noch mal herkommen der Schauspieler damit er tot am Anfang von 3/13 auf der Bühne liegt. Das war in der griechischen Tragödie nicht anders, da mussten die Toten auf die Bühne gefahren werden. Das ist wirklich ein großer Tod, der einem Mörder und Drogendealer zu Teil wird. Da wird nicht gewertet, Es wird nicht geurteilt, sondern mit diesem mythischen Anklang wird das eingeordnet in eine lange Tradition von Erzählen. Auch diese Begegnung zwischen Brother Mouzone und Omar, das ist wie bei Parzival, ja, da treffen sich zwei, die ein gemeinsames Ziel verfolgen. Brother Mouzone kommt von außen, von New York, das ist eine sehr unheimliche Figur, die da reinplatzt in diese Szenerie, die beiden sind auch eigentlich Kontrahenten, Brother Mouzone und Omar, und dann gibt es eben eine sehr unheimliche Begegnung in einer Allee, als die beiden aufeinander zuschreiten und man denkt, jetzt stirbt Omar, es gibt Kugelhagel. ZSP Serienausschnitt BEGEGNUNG BROTHER Mouzone und Omar ZSP PAEFGEN MYTHOS 4 Und dann handeln sie einen Deal aus, wie sie gemeinsam Stringer Bell umbringen. Das ist eine sehr große Überraschung. Man rechnet mit etwas ganz anderem. Und da verbünden sich eben zwei Feinde, weil sie sehr stark sind. Das knüpft wirklich an mythische Erzählstrukturen an. SPR1 Die Mafiaserie "The Sopranos", das Polizeidrama "The Wire!". Die Werbewelt der späten 50er und 60er Jahre in "Mad Men," die morbiden Lebenswelten der Bestatter-Familie in "Six Feet Under". - So unterschiedlich Handlungsorte und Inhalte US-amerikanischer "Shows" auch sein mögen - zentraler gemeinsamer Gegenstand ist "die Arbeit". SPR2 Mafiaboss Tony Soprano mag kein Workaholic im klassischen Sinne sein, als er sich allerdings gezwungen sieht, sich für einige Zeit aus dem Geschäft zurück zu ziehen, bricht eine Welt für ihn zusammen. Lieutenant Cedric Daniels aus "The Wire" muss seiner Gattin immer wieder Rechenschaft ablegen, dafür, dass er all seine Energie in seine frustrierende Polizeiarbeit steckt. Detective Shakima "Kima" Greggs ist selbst nach einer lebensbedrohlichen Verletzung und nach überstandenem Koma nicht bereit, auf Dauer einen sicheren Schreibtischjob zu übernehmen und arbeitet gegen den Willen ihrer schwangeren Lebensgefährtin wieder in der Mordkommission. Don Draper aus Mad Men mag ein miserabler Ehemann und Familienvater, ein Geheimniskrämer und Betrüger sein, in der Werbewelt an der Madison Avenue brilliert er. SPR1 Ein Großteil der neuen amerikanischen Serien also bietet keine hedonistischen Ausflüge in elysische Fantasiewelten. Im Gegenteil: Sie zeigen ihre Helden oder vielmehr Anti-Helden in tiefsten Lebenskrisen, ausgelöst durch Krankheit, finanzielle Schwierigkeiten, Midlife-Crisis oder die Erkenntnis: der Mensch ist sterblich und das Leben vor dem Tod in unserer modernen Welt kein Zuckerschlecken. Krise und kein Ende - auch der deutschsprachige Markt scheint den gebeutelten Serienheld für zielgruppenrelevant zu halten und macht aus Episoden-Originaltiteln wie "The Sopranos" ein "Tony in der Krise". Die Breaking Bad Episode "ABQ" trägt in der deutschen Version den wenig subtilen Titel "Krisen". Bezeichend ist, wie und womit sich ein Großteil der modernen Seriencharaktere aus der Krise zu katapultieren versucht. Arbeit hat einen enorm hohen Stellenwert. ZSP Beck: Arbeit Es hat mit einigen Dingen zu tun. Erstens damit, wie sich das Verhältnis von Freizeit, Familienzeit und Arbeit in den letzten 30 Jahren verändert hat, also in dem Zeitraum, in dem sich die großen Fernsehserien entwickelt haben und in den USA ist die durchschnittliche Arbeitszeit einfach extrem gestiegen. Arbeit ist zum zentralen Teil des Lebens geworden, der eben auch sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Und wenn man darüber nachdenkt, wie Menschen heute Fernsehserien konsumieren, kommt man schnell darauf, dass sie etwas sind, das man sich zuhause anschaut, abends, nachdem man aus der Arbeit kommt. Da herrscht dieser Rhythmus: Man geht zur Arbeit, müht sich soundso viele Stunden ab, und danach geht man nachhause und hat Freizeit, in der man sich tatsächlich eine dieser Serien anschaut, die von Arbeit handeln. Anstatt sich auf biologische oder auf Kernfamilien zu konzentrieren, nehmen sich all diese Serien nämlich Strukturen des Arbeitslebens vor und re-imaginieren sie als etwas, das einige der Charakteristika aufweist, wie es wäre, in einer Familie zu sein. Das ist auch ein Grund warum ich die Sopranos so mag. Da wird das nämlich viel besser verstanden als in anderen Serien, bzw. es wird bewusster damit umgegangen. Die Serie baut ja auch auf dem Witz auf, dass Tony Soprano seine eigene biologische Familie hat, und gleichzeitig wird seine Arbeitsstelle, also die Mafia, auch immer als die Familie bezeichnet. Und all diese Witze drehen sich darum, welche Familie wichtiger ist, welche er mehr schätzt, und welche ihm mehr bietet. MUSIK Woke up this Morning ("Sopranos" Kreditsong) ZSP/OV David Simon: Quote Ich hatte erst mal nur Erfolg bei den Kritikern. Und "The Wire" war im Nachhinein finanziell erfolgreich wegen den DVDs und den Downloads. Mich hat die Quote nie interessiert. Als die Serie ausgestrahlt wurde und ich schlechte Quoten hatte, hatte ich einfach nur Angst, dass ich The Wire nicht beenden könnte. Das entscheidende ist: In dem Moment, in dem ich über Quoten nachdenke oder mich nach der Masse richte, war es das. Alles, was mir wichtig ist, spielt dann keine Rolle mehr. Ich würde mich dann fragen, warum ich das überhaupt mache. Es geht ja nicht um Quoten oder Preise und den ganzen Kram. Es geht um die Frage: Welche Geschichte will ich erzählen? Wenn ich das aufgebe und stattdessen darüber nachdenke, was sich verkauft, bin ich erledigt. SPR1 David Simon verabscheut Quoten, doch die Manager bei HBO und anderen Sendern können sie nicht einfach ignorieren. Immer wieder wird auch bei prestigeträchtigen Serien vorzeitig der Stecker gezogen. Für die schmutzige, hyperrealistische Western-Serie "Deadwood" war zum Beispiel nach drei Staffeln Schluss, da nützte auch alles Flehen und Betteln der Fans nicht. Doch Quote ist nicht alles. Genau wie bei "The Wire" kann das Geld am Ende auch dann noch hereinkommen, wenn im regulären Fernsehprogramm niemand eingeschaltet hat. ZSP Hagen: Verwertungsstufen 1 Ich denke schon, dass die Qualitätsserien, mit denen wir es hier zu tun haben, etwas sind, dass sich an einen ganz speziellen Markt richtet, auch wenn er nicht klein ist, richtet. SPR2 Der Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen: ZSP Hagen: Verwertungsstufen 2 Die Abonnements von HBO sind nicht höher als drei, vier oder fünf Millionen. Das heißt, das erste Publikum, das diese Serien sieht ist relativ klein im Vergleich zum amerikanischen Markt. Dann kommt eine hochpreisliche Auswertungsphase in der Lizenzen verkauft werden an viele Stationen in der Welt. Dort haben die Serien auch so sechs, sieben, acht Prozent Marktanteil, nie viel mehr. Und dann kommt wieder eine hochpreisliche Auswertungsphase und das ist die DVD. So wird dann die letzte Phase eingeläutet, die mittlerweile am weiteste Verbreitung findet und damit kann noch einmal sehr viel Geld verdient werden. Die Auswertung läuft also insgesamt gar nicht mehr im Fernsehen. Ich würde auch insgesamt sagen, dass sich hier ein Fernsehformat eindeutig wiederfindet, dass sich aber in anderen Verwertungszweigen und anderen Übertragungswegen forterbt. SPR1 Mut zum Experiment: In den USA kommt das vor. Und hierzulande? Gute deutsche Serien lassen sich an einer Hand abzählen: Kriminaldauerdienst, Im Angesichts des Verbrechens, Stromberg, Türkisch für Anfänger, Doctors Diary. Ein paar von ihnen haben Preise gewonnen, fast alle bei mauer Quote. Aber immerhin: Es gibt sie. SPR2 Doch es sollte noch viel mehr davon geben, findet Christine Otto. Sie sitzt im Vorstand des Verbandes Deutscher Drehbuchautoren und hat an diversen deutschen Serien und Soaps mitgearbeitet. ZSP Otto: Inspiration Wenn wir von beeinflussen reden, müssen wir zwischen Inspiration und Adaption unterscheiden. Wenn wir zur Adaption gucken, sind relativ oft Versuche amerikanische Formate nachzumachen zum Scheitern verurteilt. Ich habe oft in Teams gesteckt, und das war recht frustrierend zu sehen, dass wir weder die Mittel noch die Zeit noch das Geld haben, solche großartigen Formate zu erzählen, wie es sie in Amerika gibt. Der Zuschauer denkt genauso, der sagt: ich gucke lieber das amerikanische Original als die deutsche Adaption. Was aber absolut nicht heißt, dass wir hier in Deutschland nicht unglaublich gut erzählen könnten. Jeder kreative Mensch lässt sich von der globalen Welt inspirieren und natürlich auch Drehbuchautoren. Worauf es da meiner Meinung nach ankommt, ist die Fähigkeit, etwas einmaliges und authentisches zu erzählen und zu schaffen. Damit meine ich jetzt nicht, vier Hausfrauen aus der Wisteria-Lane an die Außenalster zu verfrachten und zu sagen "Jetzt haben wir auch so ein Format". Ich meine das Neue. Eine neue ungewöhnliche überraschende Idee zu kreieren und dann nach Amerika zu schauen und zu sagen: Es geht doch! Man kann mutig erzählen und wir können das auch. SPR1 Dabei adaptiert auch HBO selbst fleißig. "In Treatment", eine Serie, die fast nur aus Gespräche beim Psychiater besteht, kommt ursprünglich aus Israel. Und auch die Thriller-Serie "Homeland" die auf dem Kanal "Showtime" läuft und bei der letzten Golden Globe Verleihung abräumte, hat ein israelisches Vorbild. Vielleicht schafft ja irgendwann einmal ein deutsches Serienkonzept den Sprung über den großen Teich. Die großen DVD-Boxen in unseren Bücherregalen werden aber immer vor allem amerikanischen Serienstoff enthalten. SPR2: Wolfgang Hagen: ZSP Hagen: Würde das auch in Deutschland gehen Es ist einfach eine ökonomische Frage. Von irgendwas muss man Leben. Und wenn Sie sich die Writers Guild-Seiten anschauen, wo die ganzen gewerkschaftlichen Fragen der Drehbuchschreiber verhandelt werden, dann ist Ihnen klar: Das ist eine Kultur mit zehntausenden von Menschen, gewachsen über 70 oder 80 Jahren. Das ist nicht zu transferieren. Das kann man nirgendwo hin importieren. Das ist letztlich die Folge des riesigen Erfolges des Studiosystems der 30er und 40er Jahre. Damals haben die Amerikaner angefangen 90 Millionen in der Woche ins Kino zu holen, praktisch die Hälfte ihrer Bevölkerung war wenigstens einmal in der Woche im Kino. Das hat es so nirgendwo auf der Welt so gegeben. Die Amerikaner sind mit der Kino-Kultur verwachsen und heute sind sie mit einer Kultur von hochwertigen Seien verwachsen. Allerdings geht es nicht nur über "The Wire", Deadwood", "Mad Men", "Treme" oder "24", wenn man sich die Listen von Serien anschaut, die es in Amerika gibt, dann sind das hunderte und aberhunderte von Serien, die niemals nach Europa kommen, weil sie erstens so die Qualität nicht haben, zweitens einen Plot haben, der hier nicht funktionieren würde. Also, es gibt sozusagen nur die Spitze des Eisberges, die wir in Europa sehen. Ich würde sagen 60 % der amerikanischen Serien sehen wir nicht und würden wir nur sehen, wenn wir dort leben würden. SPR1 Lang ist die Liste von Serien, die in den USA gefeiert, hierzulande aber nicht gezeigt werden. Dazu gehört die preisgekrönte Serie "Homeland" genauso, wie David Simons "Treme". Die Sucht nach amerikanischen Serien, sie wird befriedigt durch DVD-Importe, speziellen Computerprogrammen, mit denen man Serien auf amerikanischen Internetseiten sehen kann und natürlich auch durch Internetpiraterie. Die neuen Serien sind längst zu einem globalen Gesprächsthema geworden, jenseits aller nationaler Grenzen. Und trotzdem haben sie immer ein unumstrittenes geographisches Zentrum: SPR2 "The Wire" ist eine Liebeserklärung an Baltimore, das wegen seiner vielen Morde auch Bodymore genannt wird und mittlerweile sogar "The Wire"-Bus-Touren anbietet. "Mad Men" setzt New york ein Denkmal, "Treme" New Orleans, "Sopranos" New Jersey, "Dexter" Miami. ZSP O-Ton Otto: Deutschland Derrick Also ich bringe jetzt mal ein ganz altbackenes Beispiel. Ich bin selber aufgewachsen mit Derrick. Mein Vater hat das dieses Format geliebt. Und ich was später sehr erstaunt, wenn ich auf Reisen durch Europa gesehen habe, in wie vielen Ländern Derrick geguckt wird. Das ist ein altbackenes Beispiel, aber da haben die Macher alles richtig gemacht. Derrick ist unglaublich deutsch, es ist gut erzählt, es gibt gute Charaktere und Fälle. Derrick schaute man auf der ganzen Welt, es ist authentisch, es ist klug und es ist handwerklich gut gemacht. Und ich glaube, dass es sich lohnen würde, nach solchen Stoffen zu suchen, auch wenn es nicht unbedingt wieder Ermittlergeschichten sein müssen. Man muss mit Mut und außergewöhnlichen Blickwinkeln an die Sache rangehen. Und solche Formate hätten Erfolg, sowohl in Deutschland als auch im Ausland, wenn die Zuschauer dann erkennen: das gibt es nur bei uns, das spiegelt unsere Kultur unser Selbstverständnis und unser Handwerk wieder. ZSP AKUSTISCHER AKZENT, SIRENE, WARNTUTEN SPR3 Achtung, Achtung, dies ist ein Warnhinweis. Der soeben gehörte O-Ton war der letzte dieser Sendung. Sollten Sie zu den Zuschauern und Zuhörern gehören, die ein abruptes und offenes Ende nicht verkraften, handeln Sie jetzt bitte tapfer und schalten Sie nach dem Count-Down unverzüglich das Radio aus. Nutzen Sie dann die Stille und die wenigen verbleibenden Sekunden und denken Sie sich einen Alternativ-Schluss, ein Happy End oder eine Fortsetzung aus. Bewahren Sie sich und uns vor dem Nichts, und vergessen Sie dabei nicht: Irgendwie geht's immer weiter. Zehn...Neun...Acht...Sieben...Sechs...Fünf...Vier... Drei ... Zwei ... Eins ... ZSP KNOPF DRÜCKEN UND RAUSCHEN (ca. 8 Sekunden) ENDE 1