Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 14. August 2010 ? 11.05 ? 12.00 Uhr Die grüne Plage ? Algen vor der Bretagne mit Reportagen von Bettina Kaps Redakteurin am Mikrophon: Katrin Michaelsen Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar ? Ein Umweltschützer schlägt Alarm: "Ich will, dass das Rathaus den Leuten sagt: auf diesem Strand gilt ein Badeverbot, weil er verschmutzt ist. Aber sie schreiben nur: Der Wasserlauf ist gefährlich. Früher war das hier ein Familienstrand, die Kinder konnten baden, weil sich das Wasser so weit zurückzieht. Heute geht das nicht mehr wegen der grünen Algen." Und ein Unternehmer sorgt sich ums Image: "Ich finde, um die Algen wird viel zu viel Aufheben gemacht. Das wirft ein schlechtes Licht auf unsere Region. Wir haben hier seit 40 Jahren grüne Algen, damals waren es genauso viele und sie wurden nicht aufgesammelt. Trotzdem gab es so gut wie keine Unfälle. Die Leute wissen doch alle, dass man nicht durch den Algenteppich laufen oder in den Felsen klettern sollte, wo es gefährlich sein kann." Die grüne Plage. Algen vor der Bretagne. Gesichter Europas mit Reportagen von Bettina Kaps ? am Mikrofon ist Katrin Michaelsen. Grüne Strände in der Bretagne. Jeden Sommer das gleiche Bild. Am nordwestlichen Zipfel Frankreichs breitet sich eine stinkende Algenschicht aus, eine schleimige Masse klebt an Strand und Felsen, an manchen Küstenabschnitten über mehrere Kilometer. "Meeressalat" sagen die Bretonen. Sie leben seit Jahrzehnten mit dem Algenteppich. Wenn er frisch an den Strand gespült wird, ist er ungefährlich. Wenn aber die grünen Algen verwesen, dann können ihre Ausdünstungen lebensbedrohlich sein. Dass die Alge mehr ist als ein ästhetisches Problem, dass sie giftig ist und damit eine Gefahr, davor warnen Umweltschützer wie André Ollivro schon lange. Und sie zeigen mit dem Finger auf die Landwirte der Bretagne, die auf Massentierhaltung und Massenproduktion setzen. Nirgendwo sonst in Frankreich werden so viele Schweine gezüchtet, nirgendwo sonst werden die Felder so intensiv bearbeitet. Nitrate in der Gülle, Stickstoffe im Dünger. Alles gelangt ins Grundwasser, in die Flüsse, damit ins Meer und sorgt dafür, dass die Algen wuchern. Für André Ollivro ein unerträglicher Zustand. REPORTAGE 1 Es ist Ebbe. Das Meer zieht sich aus der Bucht zurück. Am Horizont zeichnen sich Muschelbänke als dunkle Schatten ab. Die Wolken hängen tief über dem Strand und der Wind peitscht den Nieselregen landeinwärts. André Ollivro stapft unbekümmert durch den nassen Sand. In der Bucht von Saint Brieuc kennt er jeden Winkel. "Mit einer Fläche von 3.000 Hektar ist es die viertgrößte Bucht der Welt. Zum Vergleich: Die Bucht von Saint Michel ist nur 300 Hektar groß. Hier münden vier Flüsse in den Ärmelkanal. Sie alle transportieren, aufgrund der intensiven Landwirtschaft, besonders viel Phosphat und Nitrat, also Nährstoffe für die Algen. In dieser riesigen Bucht gibt es keine starken Strömungen wie im Atlantik. Zum Ufer hin wird sie so flach, dass sich das Wasser schnell erwärmt. Das alles sind Faktoren, die das Algenwachstum begünstigen." Ollivro zieht den Reißverschluss seiner rosaroten Windjacke hoch und geht auf die Felsen zu, die das Wasser jetzt freigegeben hat. Der 65-Jährige ist mittelgroß und stämmig. In seinen grauen Haaren zaust der Wind, über die Gläser seiner Metallbrille rinnen Regentropfen. Die letzten Wochen waren ungewöhnlich trocken. Dadurch haben sich die Algen langsamer vermehrt. Doch jetzt, im Regen, sind sie überall, und der Strand beginnt grünlich zu schimmern. Die Wasserlachen rund um die Felsen sind bereits saftig grün: auf und zwischen den Steinen haben sich Algen gesammelt. 50 Prozent aller Grünalgen, die in der Bretagne angeschwemmt werden, setzen sich in der Bucht von Saint Brieuc ab, sagt Ollivro. Das kann gefährlich werden. "Wenn die Grünalgen nicht beseitigt werden wie hier, häufen sie sich an, trocknen, und bilden eine hermetische weiße Kruste. Die unteren Algen zersetzen sich und entwickeln giftige Gase. Vor zwei Jahren sind in diesen Felsen zwei Hunde verendet. Und manchmal setzen Hundebesitzer hier einen Wurf Welpen aus, um sie loszuwerden. Auf diese Weise bin ich zu meinem Hund gekommen." Er zeigt auf einen großen Mischling mit schwarzem Zottelfell, der kreuz und quer über den Strand rennt. Ollivro hat ihn Kristall genannt. Weil er dafür kämpft, dass das Wasser in der Bucht wieder kristallklar wird. Ollivro wurde wenige Kilometer entfernt in Saint Brieuc geboren. Er geht zum Ufer zurück. In der Sackgasse, die zum Strand von La Granville führt, steht ein Fachwerkhaus mit Veranda. Dort, sagt er, hatte eine seiner Tanten in den 30er-Jahren ein Hotel mit Restaurant geführt. Damals ein idealer Standort. Heute ist es ein Wohnhaus. Und am Strand roch es bislang jeden Sommer nach faulen Eiern, da kann sich kein Restaurant halten. André Ollivro hat als Junge hier oft im Meer gebadet. Heute steht am Strand von La Granville ein großes Schild mit der Aufschrift: Baden verboten. "Ich will, dass das Rathaus den Leuten sagt: auf diesem Strand gilt ein Badeverbot, weil er verschmutzt ist. Aber sie schreiben nur: Der Wasserlauf ist gefährlich. Diesen kleinen Fluss hat es immer gegeben, und das Baden war nicht verboten. Früher war das hier ein Familienstrand, die Kinder konnten baden, weil sich das Wasser so weit zurückzieht. Heute geht das nicht mehr wegen der grünen Algen." Für Ausbildung und Arbeit zog Ollivro nach der Schule fort. Zuletzt arbeitete er in Paris, als Techniker beim Gaskonzern "Gaz de France". Vor rund zehn Jahren kehrte er als Frührentner in das Küsten-Departement Côtes d´Armor zurück. "40 Jahre lang war ich weg. Als ich wieder hier lebte, habe ich meine Geschwister gefragt: Was passiert da eigentlich? Niemand hatte eine Antwort. Dabei lebten sie Tag für Tag mit der katastrophalen Verschandelung der Meeresufer." Ollivro nimmt den rot-weiß markierten Küstenwanderpfad, steigt bis zum Hochufer, schlägt sich durch eine Hecke aus Nadelbäumen, betritt ein kleines Grundstück mit einem grünen Holzhaus. Das ist sein Wochenendsitz, von hier oben kann er die ganze Bucht sehen. Als ihn seine Kinder und Enkel hier nicht mehr besuchen wollten, weil es ihnen zu sehr stank, beschloss er, den Verein "Halte aux marées vertes" zu gründen. Der Name ist Programm: Ollivro will "die grüne Flut aufhalten". Und den Strand seiner Kindheit wieder finden. "Die erste Aktion des Vereins bestand darin, alle zuständigen Behörden aufzusuchen, um zu begreifen, wie sie das Problem analysieren. Da haben wir kapiert, dass alle genau wussten, warum die Algen gedeihen, aber niemand Maßnahmen ergreifen wollte, um das zu bekämpfen." Ollivro sperrt auf, geht in die Hütte, nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank. "Hier, im Departement Côtes d´Armor, gibt es 600 Schweine pro Quadratkilometer. Nimmt man die ganze Bretagne, so kommt man auf 500 Schweine pro Quadratkilometer. Zehnmal mehr als in ganz Frankreich, wo im Durchschnitt 50 Schweine pro Quadratkilometer gehalten werden. Wir sind hier, an der westlichen Spitze von Europa. Es ist die Gegend mit den meisten tierischen Ausscheidungen." Ollivro kramt in einem Stapel Zeitungen, sucht die Artikel, die über die Aktionen seines Umweltschutzvereins berichten. Findet sie nicht. Erzählt: Er und seine Mitstreiter haben die stinkenden Algen in Plastik eingetütet und bei einem Empfang zum Nationalfeiertag verteilt. Für eine Demonstration haben sie eine große Nixe gebastelt, die aus dem Algensalat auftaucht. Spott und Humor ? ihm sind alle Mittel recht, die das Thema in die Medien bringen und das Gesetz des Schweigens brechen können. Letztes Jahr, kurz vor der Ferienzeit, trat André Ollivro in einer beliebten Reisesendung im Fernsehen auf. Er ließ sich auf dem Strand interviewen ? mit Gasmaske. Eine Provokation, die wirkte. "Nach der Sendung waren sogar einige Mitglieder des Vereins aufgebracht und sagten: André, du gehst zu weit! Ich bekam Briefe mit Todesanzeigen, die Gendarmen sagten, das seien Morddrohungen. Eines Morgens war mein Haustor mit zwei riesigen runden Strohballen zugesperrt. Und meine Frau hat seither in ihrem Trödelladen so gut wie keine Kunden mehr. Aber ich kämpfe weiter, weil es Ergebnisse gibt!" "Halte aux Marées Vertes" ist zusammen mit anderen Umweltschutzvereinen vor Gericht gezogen und hat den französischen Staat verklagt, weil er die europäischen Vorschriften zur Wasserqualität missachtet. Mit Erfolg: Letztes Jahr, im Dezember, wurde der Staat verurteilt. Manchmal hat er die Hoffnung, sagt André Ollivro, die Bretagne stehe jetzt an einem Wendepunkt. Er zieht ein grünes Faltblatt aus der Jackentasche. "Seit vier Jahren verkündige ich, dass die grünen Algen giftig sind. Aber man glaubte mir nicht. Viele Leute sagten: das ist ein Pariser, ein Rentner, der uns Lektionen erteilen will. Letztes Jahr hat Chantal Jouanno, die Umweltstaatssekretärin, Analysen in Auftrag gegeben, die das bestätigen, und die Regierung hat jetzt diese Broschüre gedruckt. Sie informiert die Menschen, dass es auf den Stränden gefährlich sein kann. Mit einer Notrufnummer, die auf allen europäischen Handys funktioniert. Das ist ein verdammter Sieg. Als ich dieses Papier gesehen habe, sind mir die Tränen gekommen. Ich bin froh, dass ich etwas erreicht habe!" Auch François-René de Chateaubriand zog es immer wieder in die Bretagne zurück. Zu seiner Geburtsstadt Saint Malo, zu den Schauplätzen seiner Kindheit und seiner Jugend. Chateaubriand war ein Reisender des 18. und 19. Jahrhunderts, als Politiker und Diplomat zu Gast in vielen Städten Europas, Amerikas und Afrikas. Er war Augenzeuge der französischen Revolution. Ein Wanderer zwischen den Welten. Aber auch ein Schriftsteller mit Sinn fürs Theatralische: Als letzte Ruhestätte wählte Chateaubriand einen Platz an der bretonischen Küste aus, einen Felsen im Meer, auf der Insel Grand Bé, in Sichtweite seiner Geburtstadt Saint Malo. Seine AutoBiografie, seine "Erinnerungen von jenseits des Grabes" sind nicht nur eine persönliche Bilanz der großen politischen Umbrüche Frankreichs, sie sind auch Zeugnis seiner Kindheit und eine große Liebeserklärung an die Bretagne. LITERATUR 1 Der Frühling ist in der Bretagne milder als in der Umgebung von Paris, es blüht alles dort schon drei Wochen früher. Die Vögel, die ihn ankündigen, die Schwalbe, der Pirol, der Kuckuck, die Wachtel und die Nachtigall, stellen sich zusammen mit den Winden ein, die in den Buchten der armorikanischen Halbinsel zu Hause sind. Die Erde bedeckt sich mit Margeriten, Stiefmütterchen, gelben und weißen Narzissen, Hyazinthen, Hahnenfuß und Anemonen. ( ... ) Die Hecken, von einer Fülle von Erdbeeren, Himbeeren und Veilchen umwachsen, sind mit Weißdorn, Geißblatt und Brombeersträuchern geziert, an deren braunen, gebogenen Schößlingen Blätter und herrliche Früchte sprießen. Alles wimmelt von Bienen und Vögeln; ihre Schwärme und Nester bringen die Kinder auf Schritt und Tritt zum Stehenbleiben. Lange Zeit galt die Bretagne als das Armenhaus Frankreichs. Doch in den 1960er und 70er-Jahren lockten die Subventionen der EU, und die Regierung in Paris drängte die Landwirte dazu, immer mehr und immer billiger zu produzieren. Vorgaben, die bretonische Bauern besser erfüllten, als ihre Kollegen im übrigen Frankreich. Heute stammen 60 Prozent aller französischen Schweine aus der Bretagne, 45 Prozent des Geflügels und 28 Prozent aller Milchkühe. Die traditionelle Landwirtschaft ist der wichtigste Wirtschaftsfaktor der Region mit hunderttausenden Arbeitsplätzen. Nun aber verlangt Frankreichs Regierung ein Umsteuern in der Landwirtschaft, die Betriebe sollen umweltverträglicher werden, und damit ihren Teil dazu beitragen, die Algenplage zu bekämpfen. 134 Millionen Euro lässt sich die Regierung ihren sogenannten Anti-Algen-Plan kosten, mit dem sie die Strände der Bretagne von der grünen Schicht befreien will. Auf Sanktionen gegen die Landwirte wurde dabei verzichtet, dennoch bereiten die strengen Vorgaben Kopfzerbrechen. Mehr noch! Jean-Jacques René und seine Frau Dominique sehen sich in ihrer Existenz bedroht. REPORTAGE 2 Bäume und Büsche zu beiden Seiten der Zufahrt verbergen den Hof des Schweinezüchters Jean-Jacques René. Am Ende des Weges steht der Besucher dann plötzlich vor einem stattlichen Bauernhaus aus braunem Naturstein. Türen und Fenster sind mit Granit eingefasst. Der rechteckige Hof ist akkurat bepflanzt: kurz geschorener Rasen, rot blühende Rosen, Hängebirke, ein Gartenteich. Im Schatten einer großen Palme steht eine Gartenliege. Von Schweinezucht keine Spur. Jean-Jacques René - 55 Jahre alt, groß, glatt rasiert, dunkelgraues Haar, Bürstenschnitt ? steht im Hausflur und zieht feste Schuhe an. Er seufzt. Die Nacht war kurz, sagt er. Die Sitzung der Landwirtschaftskammer wollte kein Ende nehmen. Auch diesmal wurde wieder über Umweltschutz gesprochen. "Es belastet die Landwirte. Es belastet sie sehr, dass sie dauernd stigmatisiert werden, vor allem wir Schweinezüchter. Bevor wir die Zeitung aufschlagen, wissen wir schon, was drin steht. Man zeigt auf uns mit dem ausgestreckten Finger und überwacht uns als ob wir hässliche kleine Entchen wären ... Alles was wir tun wird kontrolliert." René schnürt die schwarzen Arbeitsschuhe, geht ins Freie, hinters Haus. Dort sieht es nicht mehr aus wie im Ferienkatalog: Neben grauen Wirtschaftsgebäuden ragen Futtersilos in den Himmel, weiter hinten stehen große runde Güllesilo. Eine eigene geschotterte Zufahrt verbindet diesen Teil des Hofes mit der Landstraße. Hier rollen regelmäßig Lastwagen. Eine Frau im blauen Overall trägt einen Futtereimer über den Hof. Dominique René, 50 Jahre alt, ist mädchenhaft schmal. Ein Kopftuch, das sie im Nacken geknotet hat, schützt die blondierten Haare. Im Schweinekoben macht sich ein Arbeiter mit dem Hochdruckreiniger zu schaffen, er ist nur halbtags angestellt. Jean-Jacques und Dominique René halten 200 Säue, die etwa 4.000 Ferkel im Jahr werfen. Die jungen Schweine mästen sie fünf Monate, dann kommen sie zum Schlachter. Füttern, Reinigen ? alles ist automatisiert, so schaffen sie die Arbeit fast zu Zweit. Mit ihrer Zucht, sagt René, und es klingt stolz, können sie den Fleischbedarf von 8.000 Menschen decken. "In dieser Gegend der Bretagne sind wir ein mittelgroßer Betrieb. Wir haben auch Ackerland gepachtet, immerhin 70 Hektar. Das ist ein Trumpf, weil es hier auf engem Raum so viele Bauern gibt. Und das ist unser Problem. Die Bretagne eignet sich nicht zum Getreideanbau. Um zu überleben, mussten wir Bauern die intensive Schweine- und Geflügelzucht einführen, die nicht vom Ackerboden abhängig sind. Wir haben viele landwirtschaftliche Betriebe auf engstem Raum, und ganz besonders hier, in der Bucht von Saint Brieuc." Auf seinen Äckern baut René Mais, Hafer, Gerste und Getreide an, das er als Schweinefutter verwendet, dort verteilt er auch die Jauche ? doch die Fläche ist zu klein. Sie wirft zu wenig Futter ab, René muss zusätzlich Soja aus Brasilien einführen. Und er ist gezwungen, die überschüssige Gülle chemisch aufzubereiten. Denn die Gülle ist zum Problem geworden, sagt er, und betritt den Stall. "Wenn man mehr als 140 Säue hält, muss man einen Teil der Jauche behandeln. Aber in einem Betrieb mit 200 Säuen wie bei uns rechnet sich das nicht. Trotzdem sind wir jetzt gezwungen, einen Teil der Gülle von einer mobilen Gülleaufbereitungsanlage reinigen zu lassen." Das kostet ihn 10.000 Euro im Jahr. René öffnet die Tür zum Abferkelbereich: Zehn Muttersäue sind in kleine Buchten gesperrt, sie stehen oder liegen auf einem Rost, durch den Urin und Kot abfließen. In zwei Buchten tummeln sich schon Ferkel. Rosige Frischlinge, die unter der Wärmelampe liegen oder an der Mutter säugen. Jean-Jacques René streicht einer Sau über die Zitzen, damit sie sich hinlegt. "Wir müssen die Tiere jetzt in Ruhe lassen, denn die Sau da vorne wird gleich abferkeln. Wir haben zwei Säle mit insgesamt 25 Säuen, die heute, morgen und übermorgen werfen, am Freitag ist es vorbei." René weiß genau, dass sich die Schweinezucht in der Bretagne gründlich ändern muss. Das Wassereinzugsgebiet der Bucht von Saint Brieuc ist mit Stickstoff durchtränkt. Vor zehn Jahren hatten die Flüsse hier einen Nitratgehalt von über 80 Milligramm pro Liter. Damals haben die Umweltverbände geklagt. Der Europäische Gerichtshof gab ihnen Recht, Frankreich wurde verurteilt. 50 mg Nitrat pro Liter Wasser, das ist die Qualitätsnorm, die in der EU nicht überschritten werden darf. Für saubere Strände ist auch das noch zu viel. Er und seine Kollegen, betont René, hätten seither große Anstrengungen unternommen, um die Umwelt zu schonen. Heute seien sie fast auf 50 Milligramm Nitrat pro Liter heruntergekommen. Er geht ins Freie, zeigt auf die drei Güllesilos. Sie sind so hoch, dass man nicht hineinschauen kann, das Größte fast über 1.000 Kubikmeter, so viel wie ein Schwimmbad. "Früher konnten wir unsere Gülle nur zwei Monate lagern. Wir waren gezwungen, die Gruben vor dem Winter zu leeren, der Stickstoff konnte also nicht von den Pflanzen aufgenommen werden und wurde fortgespült. Jetzt können wir 10 Monate Jauche lagern. So können wir genau dann düngen, wenn die Pflanzen es brauchen. Wir haben jetzt einen Puffer." Die Bauern haben auch Grasstreifen gepflanzt, die das Sickerwasser filtern, bevor es in die Bäche rinnt. Aber die französische Regierung hat jetzt einen ehrgeizigen Plan zum Kampf gegen die Grünalgen entworfen. Darin heißt es, der Nitrat-Gehalt in den Flüssen solle auf 10 Milligramm gesenkt werden. Völlig unmöglich, sagt René, und verschränkt die Arme vor der Brust. Auch Dominique empfindet die immer schärferen Vorschriften zum Umweltschutz als Zwang. Und als regelrechte Bedrohung. "Wir sind wütend. Wir arbeiten so gut wie wir können. Aber man lässt uns keine Zeit, ständig zwingen sie uns neue Regeln auf, Praktiken, die wir finanziell nicht meistern können. Ich habe Angst um die Zukunft der Familienbetriebe. Die werden durch diese ganzen Umweltschutzauflagen getötet. Wir sehen, dass viele Schweinezüchter jetzt umstrukturieren, um ihre Ausgaben zu amortisieren. Viele erhöhen ihren Bestand auf 400 oder 600 Zuchtsäue. Wenn das die Landwirtschaft von morgen ist, dann sollen sie uns bitte schön sofort sagen, dass es für uns keinen Platz mehr gibt." LITERATUR 2 Noch heute bewahrt das Land Merkmale seiner früheren Gestalt; von baumbestandenen Gräben durchzogen, gleicht es aus der Ferne einem Wald und erinnert an England. Hier waren die Feen zu Hause, und man wird sehen, dass ich hier in der Tat meiner Sylphide begegnet bin. Enge Täler werden von kleinen, nicht schiffbaren Flüssen bewässert. Diese Täler sind durch Heideland und Stechpalmengebüsch voneinander getrennt. An den Küsten reihen sich Leucht- und Wachtürme, Hünengräber, Bauwerke aus der Römerzeit, mittelalterliche Schloßruinen und Kirchtürme aus der Renaissance, und all das ist vom Meer umschlossen. Plinius nennt die Bretagne eine Halbinsel, die den Ozean betrachtet. Die grünen Algen kommen jedes Jahr. Sobald es Sommer wird und das schon seit Jahrzehnten. Die betroffenen Städte und Gemeinden haben sich daran gewöhnt, mit der Plage zu leben. Und lange haben sie nicht darüber gesprochen, aus Furcht, die Touristen zu verschrecken. Doch seit letztem Jahr ist alles anders, seit dem Unfall mit dem Pferd, das durch die giftigen Algendämpfe am Strand von St-Michel-en-Grève starb. Seitdem herrscht an der bretonischen Küste Alarmstimmung. Und Bürgermeister und Gemeindevertreter fahren eine Strategie, die für diesen Sommer heißt "saubere Strände ? egal was es kostet". REPORTAGE 3 Bewaldete Hügel säumen die Bucht von Saint-Michel-en-Grève. Die Sonne scheint und der Strand ist saftig grün. Das Meer hat Algen angeschwemmt. Es riecht frisch. Zwischen ein paar Felsbrocken ist ein Betonrohr zu sehen, daraus sprudelt Wasser auf den Strand. Hier wird ein Bach unter der Uferstraße hindurch zum Meer geleitet. Jean-Claude Lamandé, stellvertretender Bürgermeister und Vizepräsident des Gemeindeverbunds Lannion-Trégor, schaut prüfend ins klare Wasser. Genau hier, in diesem harmlosen Wasserlauf, ist vergangenen Sommer ein Unfall passiert, über den die Menschen bis heute reden. "An dieser Stelle ist das Pferd gestürzt. Letztes Jahr war der Grund noch tiefer ausgespült als jetzt, und wahrscheinlich ist das Tier mit den Hufen seiner Hinterbeine da im Sand in eine eingekapselte Blase voller Schwefelwasserstoff getreten. Das war wirklich totales Pech." Sir Glitter, ein ausgemustertes Rennpferd, war sofort tot, der Reiter bewusstlos. Der junge Mann konnte im Krankenhaus gerettet werden. Die Regierung ließ die Grünalge daraufhin analysieren. Resultat: Wenn eine große Algenmenge verwest, entsteht hochgiftiger Schwefelwasserstoff. Dieses Gas kann das Nervensystem angreifen und Bewusstlosigkeit oder Lungenödeme auslösen. Jean-Claude Lamandé ? Mitte 60, schütteres Haar, hoch geknöpftes blaues Karohemd, beige Stoffhose ? schüttelt den Kopf. Er versteht bis heute nicht, warum der Reiter sein erhitztes Pferd nach einem langen Ritt über den Strand ausgerechnet hier, durch diesen tiefen Bach gehen ließ, wo es bis zur Kruppe eingesunken ist. "Hier können wir die Algen nicht aufsammeln, weil das Loch mindestens zwei Meter tief ist. Mit solch einem Unfall haben wir nicht gerechnet! Aber in Zukunft sind wir sehr vorsichtig. Es könnte ja passieren, dass ein Kind seinen Eltern mal kurz wegläuft. Wir werden Warnschilder aufstellen, die Menschen informieren. Und vor allem: die Algen überall da, wo es geht, sammeln, sammeln, sammeln ... " Als Verantwortlicher des Gemeindeverbunds ist Lamandé für die Wasserqualität von vier kleinen Städten rund um die Bucht verantwortlich. Als stellvertretender Bürgermeister weiß er genau, dass die bretonischen Dörfer vom Tourismus leben. Die Feriengäste sollen sich hier vollkommen sicher fühlen, sagt er. Lamandé geht aufs Meer zu, das sich langsam aus der Bucht zurückzieht und immer mehr Sand freigibt. Vor einem Stück glitschigem Algenteppich bleibt er stehen. Lamandé nimmt eine Alge in die Hand, zieht das Blatt auseinander: Es ist groß wie seine Hand, hauchdünn, lässt sich aber nicht so leicht zerreißen. "Ich betone: die Grünalgen sind völlig ungefährlich, wenn sie im Wasser schwimmen oder hellgrün am Strand liegen wie jetzt hier vor uns. Sie merken ja: sie stinken nicht, und sie verbreiten keinen Schwefelwasserstoff. Trotzdem sammeln wir sie in diesem Sommer gründlicher auf als je zuvor. Es sind mehr Traktoren, mehr Laster unterwegs. Außerdem lassen wir die Felsen jetzt per Hand von Algen säubern, das ist neu." Der Strand von Saint-Michel-en-Grève reicht bis an die Dorfkirche mit der hohen Friedhofsmauer. Er ist flach und sandig - ideal zum Sonnen, Plantschen und Spielen. An diesem Nachmittag sind keine Urlauber zu sehen. Stattdessen ist ein gelber Frontlader am Werk. Unermüdlich fährt er vor und zurück, vor, zurück, schiebt den salatgrünen Algenbrei zu kleinen Haufen zusammen. Der Traktorfahrer hält an, begrüßt Lamandé. Die Beiden kennen sich gut. Es ist jetzt schon der neunte Sommer, in dem Gilles Efflam die Bucht reinigt. Im Frühjahr hat der Kleinunternehmer dafür acht neue Mitarbeiter eingestellt. Allein heute hat er bereits 24 LKW-Ladungen mit jeweils 15 Kubikmeter Algen abtransportiert. "Letztes Jahr waren die Auflagen anders: da kamen die Maschinen erst zum Einsatz, wenn die Algen am Strand eine 10 bis 20 Zentimeter hohe Schicht gebildet hatten. Da wurde uns gesagt, wir sollten die Springflut abwarten, sollten das Meer die Arbeit machen lassen. Das war dann Glückssache: Entweder nahm das Meer die Algen zurück, oder aber es schwemmte neue Algen an." Efflam schiebt die Sonnenrille auf den kahl rasierten Schädel. Ein LKW-Fahrer, der in einem anderen Dorf an der bretonischen Küste Algen abtransportiert hatte, ist letzten Sommer am Herzinfarkt gestorben. Die Familie hat jetzt geklagt. Sie ist überzeugt, dass er das erste menschliche Todesopfer der Algen ist. Efflam verzieht das Gesicht: Dieser Mann, sagt er, hätte genauso beim Pilzesammeln sterben können. Für sich und seine Angestellten macht er sich überhaupt keine Sorgen. Trotzdem sind sie jetzt alle mit Masken und Warnmessgeräten ausgerüstet, so will es eine neue Vorschrift. "Ich finde, um die Algen wird viel zu viel Aufheben gemacht. Das wirft ein schlechtes Licht auf unsere Region. Wir haben hier seit 40 Jahren grüne Algen, damals waren es genauso viele und sie wurden nicht aufgesammelt. Trotzdem gab es so gut wie keine Unfälle. Die Leute wissen doch alle, dass man nicht durch den Algenteppich laufen oder in den Felsen klettern sollte, wo es gefährlich sein kann. Heute könnte man meinen, jeder, der mit den Algen in Kontakt kommt, wird bald sterben. Der kleinste Zwischenfall wird mit den Algen in Verbindung gebracht!" Deshalb lässt der Gemeindeverbund den Strand jetzt auch am Wochenende und an Feiertagen säubern. Und das, obwohl die Kosten explodieren. Efflam zeigt in die Ferne, wo ein zweiter Traktor am Werk ist. Letztes Jahr sammelten er und seine Leute hier 25.000 Kubikmeter Algen auf. Durch das verstärkte Sammeln werden sie dieses Jahr voraussichtlich 35.000 Kubikmeter zusammentragen. Nach dem Tod des Pferdes war sogar der Premierminister Francois Fillon aus Paris nach Saint-Michel-en-Grève gekommen. Er versprach damals, die Regierung werde die Kosten der Reinigung übernehmen. Und erklärte diese Bucht zum Pilotprojekt: seit kurzem wird hier experimentiert, ob es sinnvoll ist, die Algen mit Schiffen bereits im Meer aufzusammeln. Ein teurer Versuch, sagt Jean-Claude Lamandé. "Davon bezahlt der Staat jetzt tatsächlich den größten Teil. Aber uns wird die Algenbeseitigung hier am Strand dieses Jahr eine Million 400.000 Euro kosten, und davon will der Staat nur 300.000 Euro übernehmen. Das bedeutet, auf unseren Gemeindeverbund mit seinen 55.000 Einwohnern kommt eine kolossale Summe zu. Das können wir nicht schultern, unmöglich! Deshalb wollen wir den Staat verklagen. Wir sind hier Opfer, die Bucht gehört dem Staat. Er muss seine Verantwortung wahrnehmen." Lamandé zeigt zum Frontlader, der die Algenberge jetzt in einen Lastwagen schaufelt. Der LKW transportiert den Algenbrei aufs Land, wo er als Dünger verteilt wird. Die Techniker des Gemeindeverbunds suchen täglich neue Äcker, um die Algen loszuwerden. Aber der Boden darf höchsten alle fünf Jahre mit den Algen gedüngt werden, mehr verträgt er nicht. Um neue Felder zu finden, müssen die Laster inzwischen schon 30 Kilometer weit fahren. Lamandé beteuert, dass dabei alles mit rechten Dingen zugeht. "Die Verteilung wird von A bis Z kontrolliert. Wir wissen exakt, wo die Algen abgeladen werden, wir haben einen parzellengenauen Düngungsplan, alles ist reglementiert, es gibt kein Risiko. Manchmal wird gesagt, mit den Algen werde die Umweltverschmutzung auf den Feldern neu verteilt und sie fließe in die Flüsse zurück. Dieser Vorwurf ist absolut falsch." LITERATUR 3 Zwischen dem Meer und dem Land erstrecken sich Dünen, die verschwimmende Grenze zwischen den beiden Elementen. Die Feldlerche fliegt hier neben der Meerschnepfe her; und nur durch einen Steinwurf voneinander entfernt durchfurchen der Pflug und das Boot Land und Wasser. Der Seemann und der Hirte leihen einander ihre Sprache: "Die Wellen bilden Schäfchen", sagt der Seemann, und der Hirt spricht von den "Fluten von Schafen". Unterschiedlich gefärbter Sand, verschiedenartige Muschelbänke, Seetang und silbriger Schaum zeichnen den gelben oder grünen Saum der Getreidefelder nach. An der Spitze der bretonischen Halbinsel Penlan liegt das Zentrum zur Erforschung und Nutzung der Algen ? kurz CEVA genannt. Nur eine Mauer aus Naturstein trennt den Hof von der Küste. Ausgerechnet hier wachsen keine Grünalgen, denn die Meeresströmungen sind zu stark. Die Forscher des CEVA wollen neue Wege gehen, wollen herausfinden, ob die Grünalge nicht doch zu etwas nutze ist, wie viele andere Algenarten, die für Medizin, Kosmetik oder für die Ernährung wertvoll sind. Der Wissenschaftler Jean-François Sassi glaubt an das Potential der grünen Alge. Er ist dabei nachzuweisen, dass sie mehr ist, als nur ein gefährliches Ärgernis. REPORTAGE 4 Zu viel Sonne ist nicht gut. Deshalb macht Jean-François Sassi jetzt Schatten. Der Chemiker - 41 Jahre alt, groß und schlaksig, das türkise Polohemd hängt über der Jeans - nimmt einen Holzdeckel und schiebt ihn zur Hälfte über einen hüfthohen Bottich mit blubberndem Salzwasser. Ein Dutzend dieser großen runden Metallbecken sind im Hof der Versuchsanlage aufgestellt. In allen treibt die grüne Alge. Das Wachstum der "Ulva Armoricana" und wie sie sich vermehrt wird hier in allen Einzelheiten erforscht, sagt Sassi. "Dazu reichern wir das Meerwasser mal mehr, mal weniger mit Nährstoffen an und spielen mit der Sonneneinstrahlung. Wir wollen herausfinden, wie die verschiedenen Parameter den Algenwuchs beeinflussen. Schauen Sie: In diesem Becken haben wir eine Alge, die in Meerwasser schwimmt, das nicht angereichert ist. Sie ist blassgrün, also nicht gerade in Form. Daneben steht ein Becken, dem wir Nährsalze zugesetzt haben. Die Alge dort ist in bester Gesundheit, sie vermehrt sich schnell." Die Versuchsreihe im Hof des CEVA verfolgt ein konkretes Ziel: Sie soll Informationen liefern, die für das Algensammeln im Meer nützlich sind. Falls die Schiffe die Ulva Armoricana zum falschen Zeitpunkt auffischen, kann das nämlich genau das Gegenteil von dem bewirken, was erreicht werden soll. "Die Algen wachsen extrem schnell. Wenn man sie im Meer auslichtet, dringt mehr Licht zu ihnen. Wir nehmen an, dass sie dann noch schneller nachwachsen. Ähnlich wie frisch gemähter Rasen. Wir haben jetzt aber herausgefunden, dass ganz intensive Sonneneinstrahlung die Alge stresst und ihr Wachstum mindert." Jean-François Sassi geht in einen weiß gekachelten Raum. Auf dem Boden stehen Plastikwannen voll grüner Algen. Solche Proben werden alle zwei Wochen an 20 verschiedenen Stränden der Bretagne von Lorient über Douarnenez bis Hillion entnommen. Ein Techniker steht am Waschbecken. Er spült die Algen unter Meerwasser ab, legt sie in eine Salatschleuder, dreht die Kurbel. Die einzelnen Proben werden anschließend getrocknet, zu Pulver verarbeitet und im Labor analysiert. "Wir messen den Gehalt an Stickstoff und Phosphor. So erfahren wir, ob die Alge in ihrem Gewebe Vorräte gespeichert hat, die es ihr erlauben, den Winter gut zu überstehen. Wir ermitteln auch, bei welchen Nitratwerten im Wasser das Algenwachstum zurückgeht. Wir können dann Leitlinien formulieren und sagen: Wenn das Algenwachstum gestoppt werden soll, darf der Nitratgehalt bei diesem Fluss höchstens 10 Milligramm pro Liter betragen, bei jenem Fluss sind schon 2 Milligramm die Höchstgrenze. Das hat Folgen für die Düngungspläne der Landwirte." Die grüne Alge ist keine Pflanzenpest, sondern an der bretonischen Küste heimisch, erklärt der Forscher. Aber ihr übermäßiges Wachstum ist unnatürlich und nicht nur für Menschen gefährlich: Wenn sie wuchert, erstickt die grüne Alge andere Meerespflanzen und vernichtet den Lebensraum verschiedener Meerestiere. "Wir haben das Phänomen begriffen: die Algenplage wird von menschlichen Aktivitäten und insbesondere von der intensiven Land- und Viehwirtschaft ausgelöst. In der Bretagne fließt das Wasser sehr schnell ins Meer. So erklärt sich, dass nicht nur die Böden, sondern auch das Meer gedüngt wird. Hier gibt es viele geschlossene Buchten mit wenig Strömung ? das begünstigt das Algenwachstum." Inzwischen denken die Forscher des CEVA einen Schritt weiter: sie suchen Möglichkeiten, wie die grüne Alge industriell genutzt werden kann. Der Chemiker geht in die kleine Eingangshalle des Forschungszentrums. Zwischen der Empfangstheke und einer Sitzecke steht eine Vitrine mit verschiedenen Objekten. Er nimmt ein längliches Plastikteil heraus. Zuerst, sagt Sassi, wurde hier experimentiert, ob sich die grüne Alge zur Herstellung von Plastik eignet, wie es zum Beispiel in der Autoindustrie eingesetzt wird. Das hat funktioniert. Der Wissenschaftler streicht mit dem Zeigefinger über das braune Stück Plastik: Ein Drittel der Masse besteht aus Algen, das hat die Eigenschaften des Plastiks nicht beeinträchtigt, sagt er. Aber es gibt ein Problem: Bei der Fabrikation müssen die Algen in trockenen Puder verwandelt werden, dazu braucht man sehr viel Energie. "Deshalb haben wir uns jetzt Wirtschaftszweigen zugewandt, die mit Wasser arbeiten, wie die Papier- und Kartonindustrie. Die aufgesammelten Algen müssen schnell verarbeitet werden, bevor sie faulen. Wir müssen also Firmen suchen, die hier in der Bretagne angesiedelt sind. Deshalb sind wir mit Leuten in Kontakt getreten, die Eierschachteln und Pflanztöpfchen herstellen." Jean-Francois Sassi holt mehrere Pflanztöpfchen aus der Vitrine: Einige sind rustikal, einzelne Strohfasern sind sichtbar. Sie bestehen aus einem Gemisch von Algen und Flachsstroh, der in der Bretagne angebaut wird. Andere sehen wie klassische Torftöpfe aus, bestehen aber zu einem Drittel oder sogar zur Hälfte aus Algen. Und genau das verleiht ihnen einen eindeutigen Marktvorteil, sagt der Chemiker. "Bei den Pflanztöpfen sind die Nährstoffe in den Algen ein Plus. Die Algen besitzen auch Wachstumshormone. Manche Kulturen, insbesondere bestimmte Bäume, benötigen solchen Dünger. Der Pflanztopf zersetzt sich, dabei geben die Algen ihre Nährstoffe an die Pflanze ab. Falls sich diese Töpfe verkaufen, kann auf diese Weise immerhin ein Drittel aller Grünalgen beseitigt werden, die in der Bucht von Saint Brieuc anfallen." Die Töpfchen können jetzt jederzeit auf den Markt kommen. Wann genau, das bestimmen die Firmen, die mit dem "Zentrum zur Erforschung und Nutzung der Algen" zusammenarbeiten. Vielversprechend erscheint Sassi auch die Verwendung der Algen im Tierfutter: für Hühner, Zuchtfische und Schalentiere wäre die Ulva Armoricana eine gesunde Beigabe. "Es gelingt uns, Absatzmärkte zu finden. Die Herausforderung besteht darin, dass wir keine neue Aktivität schaffen wollen, sondern Branchen zuarbeiten, die Rohstoffe brauchen." Firmen also, für die es wirtschaftlich rentabel ist, die Algen zu verwerten. Oberstes Ziel ist, dass die Kommunen entlastet werden, sagt Jean-Francois Sassi. Sie müssen für das Sammeln und Entsorgen der Algen Hunderttausende von Euro bezahlen. Da wäre es eine ungeheure Erleichterung, wenn die gefährliche Alge mit einem Mal zum begehrten Rohstoff würde. LITERATUR 4 Das Wunderbarste in der Bretagne ist der Mond, wenn er über dem Lande aufgeht oder im Meer versinkt. Von Gott zum Beherrscher des Dunkels bestimmt, hat der Mond gleich der Sonne seine Wolken, seinen Nebel, seine Strahlen und seine Schatten. Aber er geht nicht, wie diese, einsam unter, sondern begleitet von einem Schwarm von Sternen. Je tiefer er an meiner heimatlichen Küste am Horizont herabsinkt, desto größer wird das Schweigen, das er dem Meere mitteilt; bald berührt er den Horizont, durchschneidet ihn, zeigt nur noch die Hälfte seines Antlitzes, entschläft, neigt sich und verschwindet endlich in der weichen Schwellung der Wogen. Die Sterne, die ihrem Herrscher am nächsten sind, scheinen einen Augenblick auf dem Kamm der Wellen stillzustehen, ehe sie ihm nachsinken. Kaum aber ist der Mond untergegangen, zerreißt ein vom Meer herkommender Windstoß die Sternbilder, so wie man nach einem Fest die Lichter löscht. Es gibt eine Postkarte, eine fiktive aus dem Jahr 2050. Sie zeigt die bretonische Küste. Jedoch liegen statt Menschen Schweine am Strand. Ein Horror-Szenario, entworfen von Umweltschützern. Diese Schuldzuweisung geht den traditionellen Landwirten gegen den Strich. Sie haben keine Lust, die Sündenböcke zu sein, die alleinigen Verantwortlichen für Wasserverschmutzung und Algenwachstum. Denn jahrelang haben sie genau das getan, was die französische Regierung von ihnen verlangt hat. Viel und billig zu produzieren. Und solange die Regierung keine Prioritäten setzt, ob ihr der Schutz der traditionellen Landwirtschaft wichtiger ist oder der Schutz der Umwelt, solange tun sich auch die bretonischen Bauern schwer, andere Wege zu gehen. Nur knapp zehn Prozent haben auf nachhaltige oder biologische Landwirtschaft umgestellt. Einer von ihnen ist der Milchbauer Joseph Cabaret. REPORTAGE 5 Zwei niedrige Häuser aus grauem Granit. Eine Glyzinie wuchert über die Scheune, daneben steht der Kuhstall mit der Melkmaschine. Der Windfang vor dem Wohnhaus ist bunt bemalt mit Giraffen, Elefanten, Fabeltieren. Und einem Slogan: "Ja zum Leben, nein zu gentechnisch veränderten Organismen". Joseph Cabaret stellt den Traktor ab, geht in die Wohnküche, stellt die Kaffeemaschine an und setzt sich an den Tisch mit der gelben Wachstuchdecke. Hier hat er schon als Kind gefrühstückt. "Ich bin die vierte Generation auf diesem Bauernhof. Mein Vater hat die Produktion bis in die 60er-Jahre ganz allmählich gesteigert, dann kam die Grüne Revolution. Wir waren sechs Geschwister und sollten in die höhere Schule gehen, dafür mussten wir ins Internat, und das war teuer. Also musste der Hof mehr abwerfen. Alle Mittel, die es dazu gab, hat mein Vater eingesetzt." Die Cabarets halten Milchkühe. 1978, damals ist er 21 Jahre alt, steigt Joseph in den Betrieb ein. Mit sechs Hektar Land ist der Hof recht klein, aber die Cabarets wollen sich nicht vergrößern, sie setzen ganz auf Massenproduktion. Um 45 Kühe zu ernähren, steigern sie den Ertrag der Felder. Der Jungbauer begeistert sich für die fiebrige Jagd nach immer höheren Gewinnen. "Das hatte etwas Lustiges, es war ein Spiel. Man probiert etwas aus, es funktioniert, man kann mehr und noch mehr erwirtschaften ... Ich fand es aufregend. Die Folgen sieht man recht schnell ? vorausgesetzt, man macht die Augen auf." Cabaret streicht sich über den dichten Vollbart. Inzwischen ist er 52, hat blond und grau meliertes Haar, eine hohe Stirn mit breiten Falten, die ihm etwas Freundlich-gemütliches verleihen. Sonntags, erzählt er, gehen er und seine Frau oft am Meer spazieren, die Bucht von Hillion ist nur drei Kilometer entfernt. "Da sehe ich die Grünalgen. Jeden Sommer wachsen dort hunderte Tonnen von Algen, es stinkt fürchterlich. In der Bucht werden auch Muscheln gezüchtet, denen die Algen schaden. Die Landwirtschaft wird deshalb seit Langem heftig angegriffen, die Bauernlobby hat immer Front dagegen gemacht. Aber mich hat der Vorwurf getroffen. Ich habe mich für meinen Beruf geschämt und gedacht: ich muss etwas ändern. Nur was?" Der Landwirt trinkt einen letzten Schluck Kaffee, dann steht er auf, zieht eine braune Jacke über und geht ins Freie. Jenseits der Landstraße, die zum Hof führt, liegen seine Felder, sie steigen zum Horizont sanft an. Cabaret hat sich inzwischen vergrößert, er besitzt heute 30 Hektar Ackerboden, die er überwiegend als Weide nutzt. Früher baute er Futtermais, Kohl, Rüben und schnell wachsendes Gras an. "Wenn der Mais geerntet war, haben wir Pflanzenvernichtungsmittel gespritzt. Sofort danach, am nächsten Morgen schon, haben wir Gras gepflanzt, und kräftig gedüngt, eher zu viel als zu wenig. Anschließend haben wir wieder Roundup benutzt, und beim Kohl mussten wir zweimal Unkrautvernichter einsetzen. Außerdem Dünger und Insektenvernichtungsmittel. Jetzt lassen wir die Weide fünf Jahre lang stehen und brauchen in dieser Zeit weder Dünger noch Pestizide. Was für ein Gewinn für die Umwelt!" Cabaret geht durchs Gras. Heute vertraut er der Natur. Akzeptiert, dass seine Wiese blasser ist als früher und nicht mehr ganz so ertragreich. Obwohl das allem widerspricht, was er gelernt hatte. Deshalb ist der Umstieg von der intensiven zur nachhaltigen Landwirtschaft auch so schwer. Cabaret sucht lange nach den rechten Worten, um seine innere Gespaltenheit zu beschreiben. "Da ist ein Riss in mir. Die Wunde vernarbt zwar, aber sie verheilt nie. Meine erste Reaktion ist immer noch die des intensiven Landwirts. Wenn ich ein Weizenfeld sehe, das ganz dunkelgrün ist, fast schwarz, denke ich spontan: Was für eine schöne Parzelle. Und erst danach sage ich mir: Dieser Bauer hat großen Mist gebaut. Ich verstehe also, dass es für die Landwirte extrem schwierig ist, das Produktionsmodell zu wechseln. Gesetze und Vorschriften reichen bei Weitem nicht aus, um die Gewohnheiten zu ändern. Aber die verantwortlichen Politiker und Funktionäre haben nicht begriffen, dass die Bauern an die Hand genommen werden müssen." Er selbst musste seinen Beruf regelrecht neu erlernen, sagt Cabaret. Musste bescheidener werden. Seine Frau stammt nicht aus einer Bauernfamilie und hat daher einen freieren Blick. Ohne ihre Ermutigung hätte er es vielleicht gar nicht geschafft. Als erste von Beiden trat Suzanne einem Verein für autonome und nachhaltige Landwirtschaft bei. Das war der Wendepunkt. Cabaret geht zum Stall, öffnet das Gatter, treibt die Kühe auf die Straße. 50 schwarz-weiß gescheckte Holstein-Rinder ziehen vorbei. Früher, als Intensivbauer ließ er seine 45 Kühe die meiste Zeit im Stall und fütterte sie mit Nahrung aus dem Silo. Heute hält er fünf Kühe mehr und hat auch mehr Land, das die Rinder reihum abweiden. Die einzelne Kuh gibt jetzt etwas weniger Milch als früher, deshalb hat er die Herde auch vergrößert. Unterm Strich verdient er genauso viel wie zuvor. Immerhin spart er beim Kauf von Düngemitteln und Pestiziden, außerdem gibt es Subventionen für den nachhaltigen Anbau von Weiden. Zufrieden schaut er zu, wie sich die Kühe langsam auf der Weide verteilen. Heute schämt er sich nicht mehr, ist wieder stolz auf seine Arbeit. Die nachhaltige Produktionsweise hat ihn von vielen Zwängen befreit, sagt er. Das wünscht er auch den Kollegen. "Um die Umweltprobleme zu meistern, schaffen wir jetzt eine Gesellschaft, wo es immer mehr Regeln und Überwachung gibt. Ein echter Teufelskreis: Vorschrift, Kontrolle, Vorschrift, Kontrolle ... Das bewirkt Frustrationen. Die Landwirte verbinden den Umweltschutz mit der Vorstellung vom Polizisten. Dabei sollte Umweltschutz als etwas Positives betrachtet werden. Ich kämpfe dafür, dass man einen Rahmen schafft, innerhalb dessen ein jeder seinen Beruf frei ausüben kann." Die grüne Plage - Das waren Gesichter Europas über Algen vor der Bretagne. Mit Reportagen von Bettina Kaps. Die Musik hat Babette Michel ausgewählt. Die Literaturauszüge entnahmen wir dem Buch von François-René de Chateaubriand "Erinnerungen von jenseits des Grabes". Sie wurden gelesen von Bernt Hahn. Am Mikrophon war Katrin Michaelsen. ------ 25