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DEUTSCHLANRADIO KULTUR Forschung und Gesellschaft vom 5.8.2010 - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Redaktion: René Aguigah Der erfundene Muslim Wie die Sozialwissenschaften die Debatte um den Islam in Deutschland beobachten - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Autor: Rolf Cantzen Erzähler (Kommentare und Überleitungen) Zitator (Zitate) Zitatorin (Zitate und Informationen) Im O-Ton: Prof. Dr. Iman Attia, Alice Salomon Hochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik Berlin Prof. Dr. Birgit Rommelspacher (emeritiert) Prof. Dr. Reinhard Schulze, Universität Basel Yasemin Shoman, Zentrum für Antisemitismusforschung, Berlin Musik: Golden Brass Summit CD 1 Kap. Wlodek: Black Powder (Musik: Golden Brass Summit CD 1, Take 1. Ab Anfang, bei 0.09 aus.) (hier und im Folgenden akustisch absetzen.) Zitator: Durch Deutschland zieht immer wieder der große Schädelverteiler. Der hat allerhand Nasen in seiner Tasche und verschiedenfarbige Haut Damit trennt er den Freund vom Feind und den Bräutigam von der Braut. Denn er schreit aus auf dem Land und in der Stadt: Es kommt an auf den Schädel, den ein Mensch hat. (Musik: Golden Brass Summit CD 1, Take 1. Ab 0.08, bei 0.09 aus - sehr kurz.) Erzähler: Bertolt Brecht - das "Gräuelmärchen" von den "Rundköpfen und Spitzköpfen". (Musik: Golden Brass Summit CD 1, Take 1. Ab 0.08, bei 0.09 aus - sehr kurz.) Zitator: ... Islamistin, Terroristin, Schlampe ... Erzähler: Mit dieser Beleidigung begann es auf einem Spielplatz in Dresden. Die Polizei wurde gerufen, befragte Zeugen und protokollierte deren Aussagen. Während des Beleidigungsprozesses bekundete der Täter, Alex W., er unterscheide Menschen nach ihrer "Rasse" und meinte, solche Leute könne man nicht beleidigen, da sie keine richtigen Menschen seien. Dann - Zitat: Zitator: Seit dem 11. September haben solche Monster kein Recht, in Deutschland zu sein. (Iman Attia gesprochen: Imän Attia) Erzähler: Der Sachverhalt: Nach der Beleidigung der in Deutschland lebenden ägyptischen Apothekerin Marwa El-Sherbini auf einem Spielplatz in Dresden, kommt es zu einem Beleidigungsprozess. Der Täter, Alex W. wird zu einer geringen Geldstrafe verurteilt. Die Staatsanwaltschaft geht unter anderem wegen der oben zitierten Äußerungen in Berufung. Am 1. Juli 2009 kommt es zur Verhandlung. Die Beleidigte ist Zeugin. Alex W. ersticht sie im Gerichtssaal mit 18 Messerstichen. Der ägyptische Ehemann der Zeugin will ihr helfen, wird zunächst vom Täter mit Messerstichen verletzt, dann von einem Polizisten angeschossen, da er ihn für den Täter hielt. Marwa El-Sherbini ist tot, ihr Mann lebensgefährlich verletzt. Die anschließenden Medienreaktionen wurden von Iman Attia und Yasemin Shooman analysiert - im Jahrbuch für Islamophobieforschung 2010. O-Ton 13: Prof. Dr. Iman Attia Bei den verschiedenen Artikeln, die wir da analysiert haben, wird sehr schön deutlich, wie bestimmte Informationen herangezogen oder ausgeblendet werden, wie Informationen, gleiche Informationen unterschiedlich gedeutet werden können, je nachdem mit welcher Perspektive oder aus welcher Perspektive heraus die Artikel geschrieben sind. Erzähler: So Iman Attia. Sie ist Professorin an der "Alice Salomon Hochschule" in Berlin. Die Online-Ausgaben der Zeitungen berichten bereits am Tag des Mordes, die Druckausgaben an den darauf folgenden Tagen. In fast allen Berichten wird der Täter beschrieben als ein ... Zitatorin: ... in Perm geborener, arbeitsloser Russlanddeutscher Erzähler: ... oder als ... Zitatorin: ... gebürtiger Russe ... als arbeitsloser Lagerarbeiter. Erzähler: So "Der Spiegel", "Die Welt", "FAZ", "Tagesspiegel", die "Süddeutsche Zeitung" und andere. Diese Formulierungen suggerieren, der Täter gehöre nicht zur Gemeinschaft der Deutschen, sei kein richtiger Deutscher, außerdem arbeitslos und randständig. Zudem verweisen Berichte auf psychiatrische Gutachten, die zu erstellen sein würden, und - später - auf vorangegangene psychiatrische Behandlungen des Täters in Russland. Vom Opfer heißt es zunächst mehrfach, es sei ... Zitatorin: ... islamischer Abstammung. Erzähler: Das heißt: Diese Beschreibung verortet die in Deutschland lebende ägyptische Apothekerin in der Fremde. Wobei ihre biologische Herkunft fest mit einer anderen Kultur oder Religion verknüpft wird: "Abstammung" ist ein biologischer, "islamisch" ein religiöser Begriff. O-Ton 14: Prof. Dr. Iman Attia Es wird gerungen um eine binäre Konstruktion zwischen "wir" und "sie" und es irritiert dabei, das das Opfer, das eigentlich als kopfuchtragende Muslima, die aus Ägypten kommt, das die Anderen hätte repräsentieren müssen, in dem Fall - und das wird immer wieder betont - gebildet und hübsch und sportlich und so weiter, also integriert, eher ein Teil von "uns" sein müsste, das aber eigentlich gar nicht passt, weil sie als Muslima nicht hierher gehören kann und gleichzeitig der Täter auch sowohl gleichzeitig in das "wir" aber auch in "die anderen" als Russlanddeutscher - das ist ganz klar, gehört er nun als Russlanddeutscher zu den Deutschen oder als Russlanddeutscher zu den Russen - hier wurde versucht über den Rechtsextremismus ihn zu einem "die Anderen" zu machen, aber auch das war strittig bis zuletzt, ob er organisiert ist oder nicht, wie sehr das in diesem Zusammenhang steht, also die Tat in den rechtsextremen Kontext steht. Es wurde also sehr stark gerungen um dieses "Wir und die Anderen". Zitatorin: Die Bluttat könnte ein ausländerfeindliches Motiv haben ... Erzähler: ... so vorsichtig formuliert es die Sächsische Zeitung - obwohl schon im selben Artikel von den rassistischen Beschimpfungen des Täters berichtet wird. Die "Frankfurter Rundschau" schreibt: Zitatorin: Ursache für die Bluttat ... war Ausländerhass. O-Ton 15: Prof. Dr. Iman Attia Es wurde teilweise von Ausländerfeindlichkeit gesprochen. Das von Anfang an antimuslimische Motiv ist vielen Zeitungen schwer gefallen es als solches zu benennen, weil sich ja die Presselandschaft eher geeinigt hatte darauf, Muslime als Täter und nicht als Opfer darzustellen und hier war nun eine klare Umstellung der Sichtweise notwendig. Erzähler: Triftigere Bezeichnungen wie "Islamfeindlichkeit" oder "Islamophobie" finden sich seltener, etwa in der Tageszeitung "taz" oder im "Tagesspiegel". O-Ton 16: Prof. Dr. Iman Attia Es wurde mit Bezeichnungen teilweise in ein und demselben Artikel sehr unterschiedlich umgegangen und es war deutlich zu merken, dass da noch keine Übung ist, dass nicht klar war, worum es hier eigentlich geht und dass die Sichtweise auf den Fall viele Journalisten und Journalistinnen offensichtlich überfordert hat, wie das benannt werden soll. Erzähler: Verwirrung stiftete nicht zuletzt der gemeinsame Kondolenzbesuch der Generalsekretäre der Juden und der Muslime. Beide betonten: Zitator: Wir wollen ein Zeichen setzen gegen die Islamophobie ... Erzähler: Das war es, was die Öffentlichkeit irritierte. Vertreter von Juden wie von Muslimen verwiesen darauf, dass die Tat, so Iman Attia ... O-Ton 17: Prof. Dr. Iman Attia ... auf dem Hintergrund eines religiös begründetem Rassismus geschehen ist und dass da durchaus auch zumindest Anknüpfungspunkte mit dem Antisemitismus hergestellt worden sind. Erzähler: Der "Tagesspiegel" schrieb nach dem Kondolenzbesuch: Zitatorin: Islamophobie ist kein Phantom. Erzähler: Und an anderer Stelle hieß es in derselben Zeitung: Zitatorin: Vielleicht schaut man da weg, weil das Hinschauen zu viele populäre Dogmen Lügen strafen würde. Erzähler: Interviews und Zitate mit Hinweisen auf antimuslimische Einstellungen in der deutschen Gesellschaft häufen sich, werden aber von Kommentatoren relativiert und zurückgewiesen. Spätestens mit den Demonstrationen im ägyptischen Alexandrien anlässlich der Trauerfeierlichkeiten der Ermordeten am 6. Juli 2009 scheinen die Irritationen beendet: Zitatorin: Mord von Dresden empört die arabische Welt. Erzähler: Nun ist die klare Trennung von "wir" und "sie" wieder in Kraft: dort "die arabische" oder "islamische Welt", hier die "westliche Welt". Zitatorin: Wir wollen Vergeltung ... Erzähler: ... zitiert die "Süddeutsche" ... Zitatorin: Islamisten fordern Vergeltung für Mord im Gericht ... Erzähler: ... so die "Welt" und so weiter. O-Ton 18: Prof. Dr. Iman Attia Die islamische Welt als die irrationale, die emotionale, die außer Rand und Band, die man beschwichtigen muss, der man mit aufklärerischen Informationen helfen muss, doch bei Vernunft zu bleiben und zur Vernunft zu kommen - teilweise sind da auch ganz eindeutige Formulierungen in der Presse zu finden - sowohl von Journalisten/Journalistinnen als auch politische Äußerungen zitierend und "das Eigene" wird schon als sehr rational, vernünftig, sachlich, objektiv dargestellt. Erzähler: In der Wochenzeitung "Die Zeit" ist anlässlich des Mordprozesses am 28. Oktober zu lesen: Zitatorin: Unser von Vernunft und Humanität geleitetes Strafrecht ... ist der islamischen Welt mit einigem Geschick vielleicht noch verständlich zu machen. Erzähler: Neben der Konstruktion des Gegensatzes von "uns" und der "islamischen Welt", neben dieser Dichotomie, ist die Betonung der eigenen Überlegenheit, der eigene Dominanzanspruch spürbar. (Musik: Golden Brass Summit CD 1, Take 1. Ab 0.05, bei 0.09 aus.) (wie oben durch Hall und leichtes Echo absetzen.) Zitator: Der eine Stamm, der mit dem runden Kopf ist mit der Scholl' von Anbeginn verwachsen. Der andere, am spitzen Kopf erkennbar, Ist fremdes Element, hat sich ins Land gedrängt. (Musik: Golden Brass Summit CD 1, Take 1. Ab 0.08, bei 0.09 aus - sehr kurz.) Erzähler: Was in der Presse nur in Andeutungen zu beobachten ist, kursiert im Internet ganz offen. Das islamkritische Internetforum "Politically Incorrect" - kurz PI - reagierte ebenfalls auf den Mord. "PI" gehört zu den am meisten frequentierten Seiten des deutschsprachigen Internets überhaupt. Täglich besuchen 50 bis 70 Tausend User die Seiten. Wie in den großen deutschen Zeitungen wird der Mord in den Kommentarforen von "PI" zwar meistens verurteilt, aber sogleich relativiert. Ein exemplarisches Zitat: Zitatorin: Jeden Tag werden (Deutsche) Opfer muslimischer Rassisten. Erzähler: Wie in den Printmedien dominiert auch hier die Diskussion über die Rache der islamischen Welt. O-Ton 1: Yasemin Shooman Generell kann man sagen, dass die Kommunikation im Internet anderen oder geringeren Kontrollmechanismen unterliegt als die öffentliche Kommunikation in etablierten Medien. Und im Prinzip kann man das Internet also damit als eine zweite Öffentlichkeit bezeichnen, wo also Ansichten häufig eben zugespitzter und offener vorgetragen werden als das im etablierten Diskurs der Fall ist. Insofern kann man eine gewisse Radikalisierung von Diskursen beobachten, die sozusagen bestimmte Stereotype dann in Reinform präsentieren. Und wenn man dann zurückgeht und sich den etablierten Diskurs anschaut, findet man Fragmente dieser geschlossenen radikalisierten Diskurse wieder. Erzähler: Yasemin Shooman arbeitet am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Sie forscht - so auch der Titel eines Aufsatzes - zur "Islamfeindschaft im World Wide Web". Sie konzentrierte sich auf "PI", da hier - durch die Anonymität geschützt und zugespitzt - weit verbreitete Stereotypen und Klischees erkennbar werden. Anlass für diese "Islamkritik" waren die Mordanschläge in New York und in anderen Ländern; das allgemeine Erstarken des extremistischen Islamismus. Über die zweifellos notwendige Kritik am Islamismus hinaus aber wird grob pauschalisiert. Es häufen sich Formulierungen wie: Zitatorin: Es gibt keine moderaten Muslime! Der Islam ist keine Vorstufe. Der Islam ist der Terrorismus. Erzähler: ... ein Motto von "PI", also "Politically Incorrect" lautet: Zitatorin : Islamophob - und stolz darauf. Erzähler: Ihre Leitlinien formulieren die Betreiber so: Zitatorin: Gegen den Mainstream, gegen die Islamisierung, Proamerikanisch und -israelisch, für Grundgesetz und Menschenrechte. O-Ton 2: Yasemin Shooman (O-Ton kürzen!) Es gibt so eine Art Inszenierung, .. ein Andocken, eine Selbstpräsentation als Vorkämpfer für Menschenrechte, Meinungsfreiheit also letztendlich für .. die europäische Zivilisation und so weiter und dann wird über dieses Konstrukt eines europäisch-christlich-jüdischen - es wird immer dieses jüdische mit betont - als Alibifunktion - christlich-jüdisches Abendland wird letztlich Exklusion betrieben: Jetzt können wir gemeinsam gegen Muslime sein. Erzähler: Die Strategie von "PI" ist schlicht und effektiv: Die eigenen pauschalisierenden Angriffe auf Muslime werden als Widerstand oder Notwehr deklariert. Die Losung "Nie wieder", die sich einst auf Holocaust, Judenvernichtung und Nationalsozialismus bezog, wird hier auf die angebliche Islamisierung Europas übertragen. Künftige Opfer werden in den Juden und in der westlich- demokratischen Welt gesehen. Antisemitismusexperten nennen das Konstruktion einer "Opfergemeinschaft". Diese besteht nun in einem jüdisch-christlich-westlichen "Wir", das vom Gegenkonstrukt "Muslim" abgegrenzt wird. Deutlich wird die Polarisierung an PI-Kommentaren wie diesen: Zitatorin: Man muss den Leuten klarmachen: die Menschenrechte gelten NUR im westlichen Kulturkreis. ... der Gott des Islams steht dem Gott der Bibel diametral entgegen. Erzähler: Allen Mitgliedern der mit "Islam" etikettierten Gruppe wird ein bestimmtes Verhalten zugeschrieben: Muslime seien fanatisch, undemokratisch, intolerant, homophob, prügelten ihre Frauen - und dieses Konglomerat wird zu so etwas wie einem unveränderlichen "Wesen" des Islam zurecht konstruiert. Sozialwissenschaftler nennen das "Essentialisierung". Damit einher geht eine klare Hierarchisierung: "Die Anderen" seien minderwertig. "Wir", also der Westen, die Christen, die Demokraten, seien überlegen. O-Ton 4: Prof. Dr. Iman Attia Also: Die Anderen sind anders, die können dem nicht entrinnen. Und: Sie sind schlechter als wir und wir müssen ihnen helfen da raus zu kommen oder wir müssen sie vernichten ... Erzähler: Ihren Forschungsschwerpunkt nennt Iman Attia "antimuslimischer Rassismus". O-Ton 5: Prof. Dr. Iman Attia Einmal Muslim, immer Muslim - auch diejenigen, die sich vom Islam distanzieren, die desinteressiert an Religion sind, die möglicherweise säkular sind, werden qua Geburt, qua Name, qua Zuordnung, qua Äußerlichkeiten mit dem Islam identifiziert und können dem eigentlich nicht entrinnen. Das ist ein wesentlicher Aspekt im Rassismus ... Erzähler: Gemeint ist ein weit gefasster Rassismusbegriff: ein Rassimus, der auf eine biologische Definition von "Rasse" verzichtet und der die "Kultur" - in diesem Falle den Islam - als wesentliches Unterscheidungsmerkmal benutzt, um "die" Muslime als homogene Gruppe zu konstruieren - und zwar, um sich aus der Position des vermeintlich Überlegenen aufzuwerten. Doch neben diesem Begriff des antimuslimischen Rassismus kursieren in den Sozialwissenschaften auch andere: Zitatorin: Islamfeindlichkeit, Muslimfeindschaft, Islamophobie ... Erzähler: ... oder - meistens in anderen Kontexten - Zitatorin: ... islamophober Populismus, postkolonialer Rassismus ... Erzähler: Die Diskussion um die Bezeichnung des Forschungsgegenstandes steht noch am Anfang. Die Übereinstimmungen in den Analysen sind größer als die Differenzen. (Musik: Golden Brass Summit CD 1, Take 1. Ab 0.05, bei 0.09 aus.) (wie oben akustisch absetzen.) Zitator: Der eine Stamm, der mit dem runden Kopf ist mit der Scholl' von Anbeginn verwachsen. Der andere, am spitzen Kopf erkennbar, Ist fremdes Element, hat sich ins Land gedrängt. (Musik: Golden Brass Summit CD 1, Take 1. Ab 0.08, bei 0.09 aus - sehr kurz.) Erzähler: Die Kennzeichnung des "Anderen", mit Hilfe einer Religion, dem Islam", wertet auch die Religion auf, die als eigene konstruiert wird, also die christliche. O-Ton 9: Iman Attia Einen wesentlichen Aspekt, den wir heute haben, ist die Selbstdefinition als religiös, dass die Leitkultur, das Grundgesetz - alle diese neueren Diskurse - dass die sehr stark christlich aufgeladen werden, dass plötzlich Religion wieder eine sehr viel stärkere Rolle spielt als das vorher der Fall war, weswegen der Islam als Gegenbild auch wieder stärker in den Vordergrund tritt. Erzähler: Obwohl der Westen bis vor kurzem noch dachte, vollends säkularisiert zu sein, scheint sich die überkommene christlich- islamische Konfrontation wiederzubeleben - und zwar, indem das christliche Abendland zum Gegenmodell wird. Diese Gegenbildkonstruktionen hat der amerikanisch- palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said bereits 1978 analysiert. "Orientalismus": So nannte Said den Umstand, dass die Werke von Künstlern, Philosophen, Wissenschaftlern, Musikern, Schriftstellern oder Reisenden aus dem Westen den Orient erst kulturell konstruieren - als das Andere, als das Gegenbild des Westens. Zitator: Der Orientalismus sollte als ein Zeichen europäisch-atlantischer Macht über den Orient verstanden werden ... Erzähler: Der Orientalismus besteht nicht aus objektiven Informationen, sondern hier geht es um ein kompliziertes Geflecht von Interessen, von Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata. Was der Orientalismus weiß, ist nicht zu lösen von Gefühlen, von Ängsten, Hoffnungen und Sehnsüchten. Dieses Wissen ist nicht zuletzt ein Versuch, sich in der Welt einzurichten, sich in ihr zu orientieren, sie zu beherrschen. Auch wenn Edward Saids Hauptwerk viele Detail-Einwände auf sich gezogen hat - seine zentrale Kritik am Orientalismus wird von heutigen Sozialwissenschaftlern bestätigt: O-Ton 10: Prof. Dr. Reinhard Schulze Heute spielt er eine Rolle darin, zu erklären warum die muslimische Welt oder die orientalische Welt - wenn wir es plakativ sagen wollen - aus einer Art Gemeinschaftsmodell der Welt ausgeschlossen wird, warum also dem Orient immer eine spezifische Rolle zugewiesen wird, so dass man so Konstrukte aufbauen kann: .. Europa gegen den Islam, so dass man immer solche Dichotomien hat, die sich gegenseitig zu erklären scheinen. Erzähler: Reinhard Schulze, Professor für Islamwissenschaften an der Universität Bern, stellt in seinem Aufsatz "Orientalis. Zum Diskurs zwischen Orient und Okzident" fest: Die Rede über den islamischen Orient trat an die Stelle des Feindbilds "Kommunismus", als der Eiserne Vorhang Ende der 1980er Jahre fiel: O-Ton 11: Prof. Dr. Reinhard Schulze Das ist erstaunlich, wie schnell das gegangen ist. Wenn man sich die Literatur noch Mitte der 80er Jahre anschaut, da taucht der Islam und das Islamismusproblem praktisch gar nicht auf. Ab dem Moment, wo der Ostblock nicht mehr als die Gegenmacht Europas oder der westlichen Welt anzusehen war, in dem Moment tritt auch realpolitisch der Islam als eine Gegenmacht gegenüber dem Westen auf. Das ist dann genau im Irakkrieg passiert, im ersten Irakkrieg passiert, nach der Besetzung von Kuwait, wo zum ersten Mal diese Auseinandersetzungen sehr stark geführt worden sind bis hin zu der Vorstellung, Saddam Hussein, der Muslim, geht mit dem Dolch dem Westen direkt persönlich an die Gurgel. Also da war das Feindbild sofort da und erstaunlich ist, wie unproblematisch die ganzen Konstrukte über das Feindbild Ostblock auf das Feindbild Islam gelungen sind, dass das innerhalb von einem Jahr - auch von den Medien - mehr oder weniger geschluckt worden ist. Zitator: Gewalttätig, despotisch, antidemokratisch, antiindividualistisch, unberechenbar ... Erzähler: ... diese identitätsstiftenden Zuweisungen an "die anderen" konnten weitgehend übernommen werden. Erzähler: Der Feind im Innern. Im Kalten Krieg waren es Kommunisten, die Staat und Gesellschaft zersetzten. Der Feind wurde damals politisch definiert, heute kulturell: . O-Ton 12: Prof. Dr. Reinhard Schulze Das ist genau das Problem, das wir heute erleben, dass der Islam zur Kultur gemacht wird und damit tritt der Islam in den Ordnungsbegriff "Kultur" ein und dient als Klassifikator. Das heißt, nicht die reale Religiosität eines Muslims steht im Vordergrund, sondern seine Zugehörigkeit zu einem kulturellen Raum namens Islam. Damit kann also das Individuum, das vielleicht gar nicht gläubig ist, zugeordnet werden, auch wenn sie oder er diese Zuordnung gar nicht teilt. Erzähler: So wurden im Laufe der Einwanderungsgeschichte in Deutschland aus den ökonomisch definierten "Gastarbeitern" zunächst die staatsbürgerschaftsrechtlich definierten "Ausländer"; aus den Ausländern die innenpolitisch definierten "Migranten"; und aus Migranten schließlich die kulturell- religiös, also über den Islam definierten "Muslime". In den Alltagsdiskursen werden ihnen bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben. Diese wiederum prägen Wahrnehmungen, Wissen, Fühlen und nicht zuletzt das Verständnis der Probleme, die "wir" mit "den Anderen" haben. (Musik: Golden Brass Summit CD 1, Take 1. Ab 0.03 bei 0.08 aus.) Zitator 1: An allem Elend dieses Landes trägt Spitzkopf Allein die Schuld. Ihn musst du drum bekämpfen. Wie aber kennst du ihn heraus? Am Kopf! (Musik: Golden Brass Summit CD 1, Take 1. Ab 0.08, bei 0.09 aus - sehr kurz.) Erzähler: ... nicht am Kopf, einem biologischen Merkmal, erkennt man sie, wie in Brechts Gräuelmärchen, sondern am Kopftuch, einem kulturell-religiösen Merkmal. Zitatorin: Nahezu alle haben zwischen ihrem vierten und dreizehnten Lebensjahr regelmäßig Koranschulen besucht - dort, so sagen sie, hätten sie ihren Glauben gefunden und gefestigt. Sie trügen ihr Kopftuch gern ... Erzähler: So schreibt die Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek. Tatsächlich aber, so Kelek weiter, würden viele Mädchen in Koranschulen manipuliert oder von ihren "islamischen" Vätern zum Kopftuch gezwungen. Islamkritikerinnen wie Necla Kelek erzielen mit ihren teils autobiografischen Büchern und ihren Innenansichten aus Migrantencommunities hohe Auflagen. O-Ton 19: Prof. Dr. Birgit Rommelspacher Ich denke, dass die eine sehr prominente Stellung haben. Ihre Bücher werden gelesen, sie werden geehrt, sie sind in den Medien präsent, sie waren Mitglieder in der Islamkonferenz. Ich denke, was das besondere bei ihnen ausmacht, ist, dass sie als Muslima besonders authentisch sind. Das heißt, man kann nachvollziehen an ihrer Biografie, wie sie sich aus "dem" Islam - das sage ich jetzt in Anführungsstrichen - aus Unterdrückungsverhältnissen, aus Not, aus Bedrängnis hin zu einer freien emanzipierten Frau entwickelt haben. Und das ist dann natürlich ein besonders überzeugendes Beispiel, die mit ihrer eigenen Biografie für den Gegensatz unterdrückerischer Islam und freier Westen steht. Erzähler: Die Sozialpsychologin Professor Birgit Rommelspacher - Expertin für Multikulturalität und Geschlechterstudien - analysierte die Bücher von Necla Kelek in ihrem Aufsatz "Islamkritik und antimuslimische Positionen - am Beispiel von Necla Kelek und Seyran Ates." Die Bücher von Necla Kelek schildern sehr kritisch und eindringlich an Einzelfällen das Leben in der sogenannten muslimischen Parallelgesellschaft, wenden sich gegen die deutschen "Islamversteher" und Gutmenschen und machen auf die ihrer Meinung nach weit verbreitete "Integrationsunwilligkeit" der Einwanderer aus der Türkei aufmerksam. Diese Motive wiederholen sich in ihren Büchern. Im Jahre 2005 erschien "Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens", 2006 folgte das Buch "Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkischen Mannes" und schließlich 2010 "Himmelsreise. Mein Streit mit den Wächtern des Islam". Kelek räumt ein, dass es auch gelungene Anpassungen an die deutsche Mehrheitsgesellschaft gebe, doch diese bestehe darin, dass die Herkunftskultur aufgegeben werde. Zitatorin: Während der Islam eine autoritäre Religion ist ... die der Gläubige zu begreifen und der er sich zu unterwerfen hat, fordert Jesus die Menschen auf, "an sich zu glauben" ... Erzähler: So heißt es etwa in Keleks Buch "Die verlorenen Söhne" - das Birgit Rommelspacher so kommentiert: O-Ton 20: Prof. Dr. Birgit Rommelspacher Dieser Dualismus in gut und böse, oben - unten, so einfach ist die Konstruktion im Grunde genommen. Necla Kelek argumentiert ja in besonderer Weise damit, dass Islam eine Religion der Unterwerfung, der Unterdrückung, der Gewalt sei, während - sie formuliert das an einer Stelle ja auch so - während das Christentum eben die Religion der Nächstenliebe und der Demokratie und Gleichheit. Erzähler: An anderer Stelle schreibt Kelek: Zitatorin: (Ihre) Gefangenschaft verdankt die Frau dem muslimischen Männerbild. Denn der Mann hat ein Recht auf Sex, wann immer er will. Er muss nicht lernen, seinen Sexualtrieb zu beherrschen, sondern, im Gegenteil ... Dadurch ist jede Frau, die er sieht, potentiell eine Sexualpartnerin, erst recht, wenn sie ihre Reize zeigt. Erzähler: Auch dies ist ein im Orient-Diskurs gängiges Motiv, neben dem Motiv der Grausamkeit, Irrationalität und Gewalttätigkeit: Der Islam als Ursache von Sexismus und Patriarchat. Kelek beginnt ihr Buch "Die verlorenen Söhne" bezeichnenderweise mit der Schilderung einer Folterszene aus dem klischeeüberladenen Film "Lawrence von Arabien". Dies alles erzählt Kelek eingebettet in ihre eigene Emanzipationsgeschichte ... O-Ton 22: Prof. Dr. Birgit Rommelspacher ... solche Erlösungsgeschichten, die schmeicheln natürlich unglaublich dem Selbstwertempfinden und den Selbstbild westlicher christlich sozialisierter Europäer und diese Apotheose des Westens durch die eigene Biografie - überzeugender kann man es eigentlich gar nicht darstellen. Erzähler: Dessen ungeachtet stilisiert sich Kelek - wie das Internetforum PI - als politisch unkorrekte Tabubrecherin, die sich dem angeblichen multikulturellen Mainstream widersetzt. O-Ton 24: Prof. Dr. Birgit Rommelspacher Sie nimmt Phänomene wie zum Beispiel Gewalt in Familien oder Jugendkriminalität oder das Thema Bildungsdefizite von Einwanderungskindern nimmt sie und schreibt sie dem Islam zu. Das heißt, wenn wir das zugeschrieben haben, ist das wie ein Stoppschild. Wir wissen jetzt woher das kommt, also brauchen wir nicht weiter nachzudenken. Erzähler: Kelek konstruiert einen Gegensatz - wir und die anderen, der Westen und die Muslime -; sie homogenisiert die Muslime als Gruppe und schreibt dieser bestimmte Eigenschaften zu. Und alles bestätigt den Dominanzanspruch des "wir" gegenüber den minderwertigen "Anderen". Ein letztes Zitat aus ihrem Buch "Die verlorenen Söhne": Zitatorin: Europa ... von Aufklärung und Vernunft, von Freiheits- und Emanzipationskämpfen zusammengewachsene Gemeinschaft, die ... eine bestimmte Sichtweise vom Wesen des Menschen, von Gesellschaft und Welt teilt. Mit einem islamischen Welt- und Menschenbild ... hat diese nicht viel gemein - in den grundlegenden Prinzipien sind beide unvereinbar. O-Ton 25: Prof. Dr. Birgit Rommelspacher Was ein Kernstück der antimuslimischen Argumentation ist, ist die Idee, dass die Muslime hier demnächst die Gesellschaft übernehmen, dass die Sharia demnächst hier herrscht ... Trenner, Musik Zitatorin: ... was wir heute als Islam erfahren und beschreiben, (kann) als besondere kulturspezifische Konstruktion ... erfasst werden. Erzähler: Diese Einsicht formulierte Necla Kelek 2002 in ihrer wenig beachteten sozialwissenschaftlichen Dissertation "Islam im Alltag". Erfolgreicher ist sie allerdings mit der Bestätigung antimuslimischer Diskurse in ihren Sachbüchern. Aus der Position der intimen Kennerin der rückständigen "anderen" Kultur, stellt sie diese der "westlichen" Demokratie mit ihren Freiheitsrechten entgegen - Zuschreibungen, die auch in der Presse-Berichterstattung über den Mordfall Marwa El-Sherbini vorgenommen wurden oder in islamfeindlichen Internetforen wie "Politically Incorrect". Problematisch ist dies nicht nur deshalb, weil damit Kritik am vermeintlich überlegenen "Eigenen" erschwert wird, problematisch ist dies auch, weil diese Zuschreibungen den Selbstbeschreibungen radikaler Islamisten zum Verwechseln ähneln: Die islamische Religion sei unvereinbar mit Demokratie und individueller Freiheit, heißt es hier wie dort. So stabilisieren sich die Konstruktion von "Wir" und "die Anderen" gegenseitig. (Musik: Golden Brass Summit CD 1, Take 1. Ab 0.03 bei 0.08 aus.) Zitator 1: Am spitzen Kopf erkennst du ihn! Von heut an nicht mehr Zwist und Habsucht! Jetzt gegen euren Feind, den Spitzkopf. (Musik: Golden Brass Summit CD 1, Take 1. Ab 0.06, bei 0.09 aus.) 3