Manuskript Kultur und Gesellschaft Reihe : Literatur Titel der Sendung : Illusionen des Reisens Die Literatur und das neue Allerweltsgefühl von Autor/in : Katrin Schumacher Redakteur/in : Barbara Wahlster Sendung : 27.5.2008 Regie : Beatrix Ackers Besetzung : Sprecherin/=Autorin Zitator Zitatorin Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 ATMO 1 - Tropennacht, Zikaden etc., dazu aufblenden MUSIK 1 Somjit Dasgupta Zitatorin (Berg, Die Fahrt, 44) So heiß war es, dass der Körper fror, weil er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. Nacht und 30 Grad. Zitator (Neudecker, Nirgendwo sonst, 7) Hoch über seinem Kopf hört er den Ventilator. Das Geräusch schält sich in sein Bewusstsein. Träge rotierende Blätter in dickflüssiger Luft, angeschoben vom Dröhnen des Generators im Hinterhof. Zitatorin (Berg, Die Fahrt, 163) Es hatte geregnet und die feuchte Luft roch nach etwas, das frisch war und zum Essen geeignet. Sprecherin Protagonisten, die an fremde Orte geschickt werden. Sie scheinen mehr zu erleben als im trauten Heim. Fremde Gerüche, Farben, Geräusche verfeinern die Sinne. Fremde Körper sind zu besehen. Zu erfühlen. Luftfeuchtigkeit, extreme Temperaturen. Sie versetzen in unruhige Zustände. Zitatorin (Henkel, die Anderen, 103) Wenn die Schatten verschwanden, habe ich mir ein T-Shirt über die Augen gelegt und noch ein paar Stunden geschlafen, in denen ich tief atmen konnte und die nur aufhörten, weil es irgendwann zu heiß wurde, weil die Sonne durch den Stoff am Fenster auf mich brannte, bis ich den Kopf hob und nichts anderes übrig blieb, als aufzustehen. Langsam ATMO 2 Straße in Indien drunter, Garküche Sprecherin Aufstehen und durch einen fremden Schauplatz wandeln. Eine fremde Außenwelt mit der Innenwelt abstimmen. Justierungsprozesse zwischen dem Ich und dem Anderen. Zitator (Neudecker, Nirgendwo sonst, 48) Er war auf der anderen Seite des niedrigen Plastiktisches, verfolgte Sines Gespräche über die Bewegungen ihres Mundes. Es war zu laut: das Scheppern und Brutzeln aus der offenen Küche hinter ihr, junge Mädchen, die in brodelnden Töpfen rührten, aufzischende Gewürzschwaden, Kurkuma, Tamarinde, Kreuzkümmel vielleicht, die rufenden, lachenden Leute. Zu ihren Füßen neugeborene Kätzchen, von denen eines noch geburtsblind gegen Sines Knöchel torkelte. Atmo kurz aufblenden Zitator (Neudecker, Nirgendwo sonst, 50) Der Gestank der geplatzten Durianfrüchte trieb sie weiter, in eine angrenzende Gasse hinein, vorbei an Männern in bunten Röcken, die auf kleinen, grün-verwaschenen Plastikschemeln kauerten, Tee aus Schalen schlürften. Die Gebäude waren hier höher, als er erwartet hatte, blätternde Farbe an abgeschabten Hauswänden. 1 O-Ton Neudecker (1) Ich mag erschütterte Figuren, ich mag Figuren die durchlässig sind oder durchlässig werden - und das kann ich denen natürlich leichter entlocken, wenn ich sie in ein fremdes Land und in eine Situation treibe, mit der sie in ihrem normalen Alltagstrott niemals konfrontiert würden. Sprecherin Die Schriftstellerin Christiane Neudecker: Sie hat ihn nach Birma geschickt, ihren deutschen Protagonisten, er ist ein Rucksacktourist mit DDR-Vergangenheit und ohne Namen. Ein typischer Backpacker, der sich durch Birma schlagen muss, unterwegs, um in der Welt des abgeschotteten Militärstaates eine Frau wieder zu finden, die ihn eben erst verlassen hat. Ohne Telefon, ohne Internet, in einem Land, dessen Fläche zweimal so groß ist wie die Deutschlands. Atmo wieder hoch, dazu ATMO 3 Regen Zitator (Neudecker, Nirgendwo sonst, 50) Die Straße ist Wasser geworden. In seinen Sandalen balanciert er am Wasserrand entlang, links, rechts, alles eins, ertrunkene Wege. Sucht sich Stege über Pfützen, erspäht sich Steinplatten, aufragende Überreste abschüssiger Bordsteinkanten, bis eine Hauswand ihn einfängt. Die Unsicherheit, mit der seine Fußsohlen nach den Unebenheiten auf dem Grund spüren. Dann ein Stechen als sich unter Wasser der spitze Gegenstand in seine Haut bohrt, der Schreck. Denkt an die Spritzen des Hausarztes, Tetanus war dabei gewesen, muss dabei gewesen sein. Eine Scherbe, der Schnitt nicht tief, aber das Wasser, diese Drecksbrühe, wer weiß, was da alles ... Sprecherin Allein im Birmesischen Regen. Doch: Christiane Neudeckers reisende Hauptfigur ist nicht ganz allein. Auch in anderen Romanen der Gegenwartsliteratur wird außerordentlich viel und gerne gereist. Reisende Protagonisten, reisende Autoren. So unterschiedlich wie Martin Mosebach, Katja Henkel, Sibylle Berg, Alex Capus, Cees Nooteboom, Daniel Kehlmann oder Christiane Neudecker. 2 O-Ton Neudecker (2) Es ist tatsächlich so, das mich Reisen sehr inspiriert, und ich glaube Reisen treibt einen ja auch immer an die Grenzen in irgendeiner Form und setzt auch Gedanken frei, die man normalerweise nicht hat und bildet auch meistens Extremzustände und das ist was, das mich für die Figuren auch wieder interessiert, die ich dann beschreibe oder von denen ich erzähle. Hier bereits langsam drunter legen: ATMO 4 Hafen 3 O-Ton Neudecker (3) Generell glaube ich ist Reisen schon sehr eng mit Literatur verknüpft, es setzt einfach Kräfte frei und das ist glaube ich das Spannende für die Literatur, dass die Protagonisten in einen Pool geworfen werden an Reizen, an Konfrontationen, an Alpträumen manchmal, an Begegnungen natürlich, das ist das was mich fast am meisten fasziniert an der Verknüpfung von Literatur und Reise - ohne dass man eben dann zu Reiseliteratur wird. Sprecherin Das literarische Spiel mit dem reisenden Protagonisten ist nicht neu. Der britische Adel schickte im 18. Jahrhundert seine Sprösslinge zur Kulturerfahrung durch Europa, die berühmte Grand Tour entstand, im Mittelpunkt die Stätten der Antike. Und so war der Sehnsuchtsort der Klassiker wie der Romantiker das Mittelmeer vor Italien und Griechenland. Der Orient zog Schriftsteller wie Gerard de Nerval oder Gustave Flaubert an. Karl May ließ Winnetou und Old Shatterhand in der Neuen Welt aufeinander treffen. Und selbst die berühmteste Reise im Zeitraffer, "in 80 Tagen um die Welt", bot Platz für die Wahrnehmung des Fremden. ---- hier evtl. kürzen ----- Zitator (Verne, In 80 Tagen um die Welt) Es war sieben Uhr Vormittags, als Phileas Fogg, Mrs. Aouda und Passepartout den amerikanischen Continent betraten - sofern man den schwimmenden Quai, wo sie ausstiegen, so nennen darf. Diese Quais, welche mit der Fluth steigen und fallen, erleichtern das Laden und Abladen der Schiffe. Da legen sich die Klipper aller Größen vor, die Dampfer aller Nationalitäten. Sprecherin 1873 schickte Jules Verne den Diener Passepartout an der Seite seines Herren Phileas Fogg in einer Tour de force um den Globus. Spektakulär: das Sammeln der Eindrücke mit jedem Reisekilometer, der Leser mitgenommen auf einen sinnlichen Parcours. Zitator (Verne, In 80 Tagen um die Welt) Sowie Herr Fogg ausgestiegen war, erkundigte er sich nach der Abfahrt des nächsten Bahnzuges nach New-York. Da dieses erst um sechs Uhr Abends war, so hatte er einen vollen Tag auf die Hauptstadt Kaliforniens zu verwenden. Er ließ für sich und Mrs. Aouda einen Wagen kommen, auf dessen Bock Passepartout Platz nahm; und das Fuhrwerk rollte, um drei Dollars den Cours, zum International-Hotel. Als Passepartout beim International-Hotel anlangte, kam es ihm vor, als sei er nicht aus England herausgekommen. Im Erdgeschoß nun befand sich ein ungeheurer Schenkplatz, worin Jedermann unentgeltlich bedient wurde. Getrocknetes Fleisch, Austernsuppe, Zwieback und Chester wurden ausgetheilt, ohne dass der Gast die Börse zu ziehen hatte; er brauchte nur den Trunk zu bezahlen, Ale, Porter oder Xeres, wenn er Lust dazu hatte. Das kam dem Passepartout sehr amerikanisch vor. ----- hier evtl. wieder einsteigen ---- Sprecherin Eine Form der Weltwahrnehmung, die heute kaum mehr erstaunt. Denn wir alle reisen schnell, nehmen schnell Eindrücke auf: London - New York in siebeneinhalb Stunden. Die Affinität zur Fremde, die in der Literatur seit jeher besteht sie, hat [allerdings] in Zeiten der globalen Verfügbarkeit eine neue Qualität erreicht. Das Reisen in hoher Geschwindigkeit ist nicht mehr exotisch, sondern unser Alltag, die Reflektion darüber sowohl in der Literatur als auch in der Philosophie zur Notwendigkeit geworden - sagt der Leipziger Philosoph Volker Caysa: MUSIK 2 unterlegen - Trentemöller: Chameleon 4 O-Ton Caysa (1) Das Reisen ist eben dadurch gekennzeichnet, dass wir in einer Dromokratie leben also in einer Geschwindigkeitsgesellschaft. Und die beschleunigt sich enorm. Und dadurch wird eigentlich in der immer schnelleren Raumerschließung meine Wahrnehmung ja streng genommen zerstört. Ich fresse den Raum ja regelrecht. Und so denkt der Autofahrer ja auch irgendwann, wenn er am Tag 500 Kilometer gefahren ist - schaff ich heute noch 100. Und dann ist der Ehrgeiz ja auch da. Und das ist doch keine Raumwahrnehmung und keine Raumerschließung. Das ist doch Raum fressen. Das heißt unsere Hochgeschwindigkeitsmaschinen legen einfach nahe, dass wir glauben, den Raum zu erschließen: Wir durchhasten ihn bestenfalls. Sprecherin Reisen in einer Welt, in der sich die Raumwahrnehmung verändert hat. Schon der Philosoph Paul Virilio hat jene "Dromokratie" ausgerufen, die Volker Caysa zitiert - dromo vom griechischen Wort dromos, es heißt soviel wie "Lauf" oder "Bewegung". Während des Semesters ist Volker Caysa selbst in ständiger Bewegung - als Lehrender in Leipzig und im polnischen Lodz, als Familienvater in der Nähe von Mainz. Einen Großteil seiner Arbeit erledigt er, während Züge ihn von A nach B bringen. 5 O-Ton Caysa (2) Man kann wunderbar auch schwierigste Literatur auf Reisen lesen, man kann sich da auch völlig gegen die Umwelt abschotten. // Ich glaube auch, dass mir das Reisen viel sinnlich-leibliche Erfahrung eingebracht hat und auch Kultur vergleichend, die man nicht im Denken machen kann. Aber es ist natürlich eine Strapaze und es wirkt sich dann auch leiblich aus, die Leiblichkeit des strapaziösen Reisens wirkt sich auch auf das Denken aus. Man muss dann schon überlegen, wie man bestimmte Rauschzustände, die beim Reisen sich einstellen, wie man damit umgehen kann, wie man schnell wieder fit wird. Das sind alles Probleme, die sich auch auf Philosophen auswirken. 6 O-Ton Neudecker (4) Ich finde man schafft mehr, wenn man sich in Bewegung befindet. Tatsächlich. Also wenn man so sitzt und sitzt und sitzt dann vergeht auch gerne mal eine Stunde oder zwei Stunden und dann hat man hinterher ein Wort gefunden, das man wieder ausgestrichen hat. Und ich hab die Erfahrung gemacht, dass wenn ich mich ohnehin in Bewegung befinde, ich einen viel größeren Fokus habe und konzentrierter arbeite. Sprecherin Christiane Neudecker, Jahrgang 1974, reist viel. Als Regisseurin arbeitet sie mit einer Theatergruppe, die viele internationale Aufträge hat. Sie spürt im eigenen Berufsleben, dass die Welt logistisch zunehmend leichter zu bewältigen ist. Dass die Distanzen verschwinden. Reisezeiten kürzer werden. Dass das Reisen scheinbar einfach wird. 7 O-Ton Neudecker (5) Ich glaube schon, dass sich die Wahrnehmung verändert hat und auch die Wahrnehmung des Reisens und der Möglichkeiten, die man hat natürlich. Früher hat man Reisen sehr viel aufwändiger geplant und jetzt kann man sehr viel leichter sich von allem lossagen, von heute auf morgen seinen Koffer packen oder seinen Rucksack packen und sich auf die Reise begeben - Sprecherin Die Welt als ein schnell erreichbarer, gemeinsamer Erfahrungsraum? In ihrem Roman "Nirgendwo sonst" spielt Christiane Neudecker mit dieser Illusion. Die dänische Touristin Sine trifft in Birma auf den Protagonisten, den ostdeutschen Backpacker, der ihrer Meinung nach prädestiniert wäre, den Bewohnern des Militärstaates revolutionären Impetus zu liefern. Das, so denkt die Dänin, hat doch in der DDR auch gewirkt, wieso also nicht in Birma? Die politische Floskel "think global" dringt in die Gefühlswelt der Protagonisten ein, aus dem Denken der globalen Welt wird ein "feel global", ein Gefühl der Gemeinschaft über alle Sprach- und Ländergrenzen hinweg. Zitator (Neudecker, Nirgendwo sonst, 258) Er gräbt seine Finger in das Schwellenholz. Löst mit den Nägeln Spreißel aus den Brettern. Weiß, dass er jetzt nach der Folter fragen sollte, von der er gelesen hat. Nach der Verschleppung von Frauen, dem Rauschgifthandel, Export von Rohopium, Vergewaltigungen im Karen-Staat, verschwindenden Menschen. Ist das alles wahr, müsste er fragen. Gibt es etwas, das ich tun kann. Stattdessen spürt er, wie sich etwas in ihm verkrampft. Sprecherin Denn: für die Revolution hat er eigentlich keine Zeit. Der Protagonist ist mit seinen eigenen Befindlichkeiten beschäftigt: die Freundin, die zuhause in Berlin im Koma liegt und mit der er eigentlich jene Reise nach Birma unternehmen wollte. 8 O-Ton Neudecker (6) Man kann vor sich nicht fliehen, und manche Figuren versuchen das aber, und letztendlich auf eine Art und Weise auch der Protagonist jetzt in "Nirgendwo sonst" - aber da ist man immer zum Scheitern verurteilt. Persönliche Meinung ... Ich hab mich auf die Reisen immer mitgenommen, ich hab nie versucht mich zuhause zu lassen, aber ich habe es oft beobachtet auch bei Freunden, dieses "Ach ich brauch mal eine Auszeit und ich sortier mir dann alles aus der Ferne" - ich glaub da nicht dran. ATMO 5 unterlegen: Wellenrauschen 9 O-Ton Caysa (3) Wofür steht denn das Reisen oder der Urlaub, das ist im Grunde ja eine Auszeit erstmal vom Alltag. Man lebt in einer anderen Zeit. Und das war früher im 20. Jahrhundert für die Masse der Menschen eine besondere Zeit. Dadurch dass sich nun die Freizeit gewaltig ausgedehnt hat, kann man sich auch diese Auszeiten immer öfters erlauben. Das heißt, es erfolgt eine Industrialisierung, Serialisierung des Reisens, das Reisen wird selbst zur Industrie. Und damit unterliegt es allen Bedingungen der Industrie, dass die Produkte auch alle immer besser, immer schneller, serieller hergestellt werden können. Und das legt sich dann um auf die Verkehrsmittel - so dass dann aber die Frage besteht: wovon unterschiedet sich dann das Reisen in ein anderes Land noch von meinem Alltag in dem Land, aus dem ich komme? Ich habe eher den Eindruck, dass die Menschen aufgrund der Industrialisierung des Reisens immer nur mehr dieselben Erlebnisse an anderen Orten suchen, die sie zuhause eigentlich auch haben könnten. Atmo kurz aufblenden 10 O-Ton Henkel (1) Die Auswanderer, die ich bisher getroffen habe, muss ich leider wirklich sagen - auch wenn ich das selber total schade finde, weil es mir jegliche Illusion raubt - aber die Auswanderer, die ich bisher kennen gelernt habe, sind alle nicht besonders glücklich. Weil sie ihr Ich mitgenommen haben und weil es natürlich nicht hilft, einfach in der Sonne zu sein und alles wird gut. Sprecherin Die Hamburger Schriftstellerin Katja Henkel kennt sich aus mit dem Aussteigerleben - aus der Beobachterperspektive. Ihr vierter Roman "Die Anderen" spielt nicht nur in Goa, sie hat ihn auch dort geschrieben. Drei Winter lang hat sie die Indien-Reisenden dort studiert; Backpacker-Psychogramme, die sie für ihren Roman um die unsympathische Protagonistin Romy benutzt hat. 11 O-Ton Henkel (2) Für Romy hatte ich schon auch eine Gestalt mir ausgesucht, die tatsächlich auch in diesem kleinen Strandkosmos war, die ich beobachtet habe, aber die ich nicht kannte - also da ist natürlich viel reininterpretiert und von mir hinein geschrieben worden - aber diese äußerlichen Beobachtungen habe ich schon gemacht, also die Frau, diese etwas tragische Frau gab es schon ... Sprecherin Der Roman beginnt mit Romys Ankunft im vermeintlichen Paradies - ein Drink in einer Strandhütte, und das Geschehen nimmt seinen Lauf. Romy trifft Jack, den sonnengegerbten Mittelpunkt der Aussteigerkolonie, etwas in die Jahre gekommen, aber immer noch recht attraktiv. Jack vermietet Romy eine Strandhütte und stellt ihr die Anderen vor. Eine bunte Strandgemeinde: Althippies und Neuhippies aus aller Welt, die Mantras murmeln und dem Sonnenuntergang entgegen meditieren, alle auf der Suche nach ihrer Mitte oder nach dem nächsten Drink. Zitatorin (Henkel, Die Anderen) Der Typ neben Jack machte mir wortlos Platz, er setzte sich neben eine Frau, die im Lotussitz in ihren Plastikstuhl gequetscht war. Sie starrte in den Sonnenball. Alle blickten in diese eine Richtung, also tat ich es auch. Mir war ein wenig langweilig inmitten dieses Schweigens. Aber wie ich später festgestellt habe, handelte es sich um ein allabendliches Ritual. Den Sonnenuntergang zu verpassen kam einer kleinen Katastrophe gleich. 12 O-Ton Henkel (3) Es war schon manchmal interessant zu beobachten, dass die Deutschen dann ja eigentlich diesen indischen Strandabschnitt komplett für sich beansprucht haben, ihn übernommen haben, also nicht nur die Deutschen, es gibt da ja wirklich Enklaven, es gibt die Italiener, dort sind die Holländer und da sind die Deutschen und die finden sich dann so zusammen - und leben so ihr Leben als würden die Inder eigentlich gar nicht dazu gehören. Das war dann immer ganz interessant. Und die Inder machen dann ja in gewisser Weise mit, weil sie auch als Strandverkäufer, Strandmasseure oder auch wie man irgendwie Geld verdienen kann, natürlich davon profitieren - aber was die dann in Wahrheit denken, wenn sie dann abends in ihrem Dorf zuhause sind und um den Esstisch sitzen - ich möchte es gar nicht wissen. Sprecherin Romy wird nach Hause fahren ohne überhaupt irgend etwas erfahren zu haben. Weder über sich noch über das Land, in das sie gereist ist. MUSIK 3 unterlegen: Justine Electra: Calimba Song (Gesang rausgeschnitten) Ausschnitt "Hotel Very Welcome", 00:42 "Hello? - I have a problem, I missed my Connection flight to Shanghai this afternoon. It was Washington - Bangkok, Bangkok - Shanghai ... - You missed the flight? - Mhm - And your ticket? - Well, my ticket is invalid now - Ok, tell me your family name - S, T, - S for Singapore? - Yes - T for Thailand? - Yea, E - E for England? - Yes. I for Italy - I, Italy - F for Falkland Islands - Hä?? Filmausschnitt langsam ausblenden und darüber: Sprecherin "Hotel Very Welcome? - so heißt das Filmdebüt der jungen Berliner Regisseurin Sonja Heiss. Fünf Menschen zwischen 20 und 30 suchen sich zwischen Bangkok, Goa und Puna selbst: meditierend in einem Ashram, auf dem Kamel in der Wüste, bei Technoparties am Strand oder in vermüllten, anonymen Hotelzimmern. Zwischen Dokumentarfilmcharakter und Spielfilmästhetik entspinnen sich Geschichten zwischen den Rucksacktouristen und Einheimischen. Motor des ganzen Geschehens ist das Pendeln zwischen Verstehen wollen und Missverständnissen. Ausschnitt "Hotel Very Welcome", 03:45 "I am looking for the bus to Jaisalmer? Jaisalmer? - Direct no bus! - What? - Go Ajmer then Jaisalmer - Direct no bus? - What? Kashmir? - Ajmer! - Kashmir, that's where the violence! - Ajmer - Ajmer! Sprecherin Die Suche nach dem richtigen Bus. Das Finden verdauungsfreundlichen Essens. Allein das Erreichen des Lichtschalters in einem fremden Hotelzimmer ohne auf Insekten zu treten: die Orientierung im Ausland besteht aus kleinen körperlichen Herausforderungen. Und das Scheitern an ihnen ist ein amüsanter Anblick in "Hotel Very Welcome". Musik kurz hoch Sprecherin Doch die eigentliche Spannung des Filmes besteht darin, dass er ganz augenfällig eine Tendenz aufnimmt, die auch in der gegenwärtigen Literatur zu beobachten ist: das Hinterfragen der globalen Gemeinschaft. In vierzehn Stunden von Frankfurt nach Goa. Die jederzeit erreichbare und bezahlbare Ferne. Da geraten Maßstäbe aus dem Blick. Auch wenn ich mich dem jungen indischen Teeverkäufer näher fühle als meinem Nachbarn zuhause - diese Begegnung ist eine pure Illusion an einem künstlichen Ort namens Reiseziel. Volker Caysa: 13 O-Ton Caysa (4) Das Reisen führt aufgrund der Globalisierung eigentlich dazu, dass wir immer mehr nicht in andere Länder reisen, in andere Kulturen reisen, sondern dass wir unsere andere Kultur immer schon mitbringen. Oder uns im Grunde auch dort suchen. So dass das Andere gar nicht mehr als Anderes erlebt wird. Man sucht höchstens das Exotische, ansonsten möchte man genießen. Der Versuch, sich auf das andere wirklich einzulassen, auf die Sprache, auf die andere Kultur, wird durch die Industrialisierung des Reisens immer mehr zurückgenommen. Musik kurz hoch 14 O-Ton Caysa (5) Tourismus versucht bestimmte Klischees zu erfüllen, denn Tourismus ist wesentlich ein Geschäft was über Klischees läuft, über Wunscherfüllung läuft - Illusionen vom Anderen, aber das Andere soll nicht mehr das ganz Andere sein. Denn das würde ja erfordern, dass man sich da wirklich drauf einlassen will. Sprecherin Für jeden Aussteiger das passende Angebot, dazu die Garantie für ein weltweites Zuhausegefühl. Alles unter Kontrolle, suggeriert uns der Tourismus, die Welt ist bereit, ausgebucht zu werden. Zitator (Houellebecq, Plattform, 32f.) Mein Entschluss stand schnell fest: eine Rundreise; allerdings habe ich ziemlich lange gezögert zwischen "Rum und Salsa" [ ... ] und "Tropic Thai" [ ... ]. Tatsächlich reizte mich Thailand mehr; aber Kuba hat den Vorteil, dass es eines der letzten kommunistischen Länder ist und in dieser Form vermutlich nicht mehr lange bestehen wird, also der Aspekt des baldigen Untergangs eines Regimes, ein gewisser politischer Exotismus usw. Schließlich habe ich mich für Thailand entschieden. Sprecherin Was bei Christiane Neudecker und Katja Henkel noch in durchdachter Geschichte und zaghafter Kritik daherkommt und durchaus noch einen emphatischen Begriff der Reise mit sich trägt, was bei "Hotel Very Welcome" zum Amüsement auf Kosten des Backpackers wird, das liest sich bei dem Franzosen Michel Houellebecq als zynische Satire. Sein Held, der auch Michel heißt, flieht mithilfe einer Pauschalreise aus dem tristen Pariser Winterwetter nach Thailand, findet dort das Erwartete: käuflichen Sex, scharf gewürzte Speisen, Anschluss an andere Reisende, All-inclusive. Houellebecq zitiert den französischen Soziologen Rachid Amirou: Zitator (Houellebecq, Plattform, 42) Im großen und ganzen ist der Tourismus auf seiner Suche nach Sinn mit der spielerischen Geselligkeit, die er begünstigt, und den Bildern, die er hervorbringt, ein abgestuftes, kodiertes, angstfreies Erkenntnissystem der Außenwelt und der Andersartigkeit. 15 O-Ton Caysa (6) Gerade die großen Touristik-Unternehmen müssen Wünsche und Sehnsüchte in anderen Ländern befriedigen, die wir uns aber hier von diesen anderen Ländern machen - die Idee vom Traumstrand entwickeln wir hier in Deutschland. Und dann suchen wir uns das entsprechende Bild dazu. Und wenn nun der entsprechende Strand nicht zu finden ist, dann muss man überlegen wie man das nachinszeniert. MUSIK 4 Duke Kamoku: "Hawaii calls" unterlegen Zitator (Houellebecq, Plattform, 46f.) Kurz nach dem Payab Ferry Pier bog das Boot nach rechts in den Klong Samsen ein, und schon waren wir in einer anderen Welt. Das Leben hatte sich hier seit dem letzten Jahrhundert kaum verändert. Pfahlbauten aus Teakholz säumten den Kanal; Wäsche trocknete unter den Vordächern. Frauen kamen ans Fenster, um zuzusehen, wie wir vorbeifuhren; andere hielten mitten beim Wäschewaschen inne. Sprecherin Michel schildert seine Reiseeindrücke. Bilder, die wir bis ins Detail aus Fernsehdokumentationen kennen. Im Roman werden sie als Erfahrungen deklariert. Zitator (Houellebecq, Plattform, 46) Kinder badeten, prustend zwischen den Pfählen, sie winkten uns lebhaft zu. Die Vegetation war allgegenwärtig; unsere Piroge bahnte sich einen Weg durch einen dichten Teppich aus Seerosen und Lotusblumen, überall herrschte ein intensives, sprühendes Leben. Jeder Flecken Erde, Luft oder Wasser schien sogleich von Schmetterlingen, Eidechsen oder Karpfen in Beschlag genommen zu werden. Sprecherin Eine Kulisse, die beruhigt und gleichzeitig irritiert. Denn vielleicht sehen wir doch bloß fern und der Protagonist erzählt von einem anderen Ort, an dem er nie war, den auch er nur aus dem Fernsehen kennt. Zu glatt beschreibt die Hauptfigur ihr Erleben der Exotik, es sind deutlich Klischees, die er anführt. Ein unheimlicher Effekt stellt sich daraufhin ein: Denn der Tourismus mit all seinen Bildern entlarvt sich hier sukzessive als selbstreferenzielles System. Die Bilder, die wir uns medial vom anderen Ort bereits gemacht haben, werden nur noch einmal bestätigt. MUSIK 1 Somjit Dasgupta aufblenden / zäsurierend Sprecherin Der Roman "Die Fahrt" von Sibylle Berg lässt sich auf einen ähnlichen Feldversuch ein: auf die Befragung der transnationalen Gemeinschaft. Ihre Protagonisten, die Helena, Peter, Maria, Miki oder Frank heißen, schickt die Schriftstellerin auf Reisen um, je nachdem, Glück oder Zufriedenheit oder auch Abenteuer und Liebe zu finden. Tel Aviv, Los Angeles, Bangkok, Bombay oder Kirgisien sind die Reiseziele. In 80 kurzen Episoden zappen wir uns mit den Romanfiguren durch die Welt, begleitet von einer gnadenlosen Autorin. 16 O-Ton Berg (1) Warum erwachsene Menschen irgendwohin fahren hab ich nicht richtig verstanden - also im Buch ist es klar, da geht's um eine Suche, es geht darum: sind wir irgendwo mehr glücklich, passiert irgendwo was? Das sind ja so ereignislose Daseinsgeschichten, die hoffen, irgendwo wartet was Dolles auf sie. Und ich glaube ein bisschen reisen Menschen dadurch, weil sie denken woanders ist es schöner, woanders fühlen sie sich mehr, woanders fühlen sie intensiver, es ist immer eine sehr egoistische Sache, die sich selten einlöst. Musik darunter wieder hochziehen Zitatorin (Sibylle Berg, Die Fahrt, 26f.) Helena hatte außer Brasilien fast alle Länder bereist, über die ein Lonely Planet existierte. Sie hatte gelächelt, wenn die Einheimischen sie beschimpften, wenn sie sagten, du hässliches Stück weiße Wurst, hatte sie genickt, die Hände vor die Brust gefaltet und sich mit den wenigen Sätzen, die sie vorher aus Reiseführern gelernt hatte, demütig bedankt. Helena hatte den Vorsatz, wenn sie unterwegs war, zu leben wie die Eingeborenen, also hatte sie in Hängematten auf afrikanischen Flussschiffen geschlafen, in Lehmhütten in der Wüste und in Indien in den billigsten Herbergen. Sie hatte alle erhältlichen Infektionskrankheiten bekommen und sich nicht viel Freunde gemacht, denn wozu sollten Touristen gut sein, die kein Geld ausgaben. Sprecherin: Auch wenn Helena die Protagonistin ist, die am wenigsten Geld für ihre Reise ausgibt - Fakt ist, dass das weltweite Zuhausegefühl kostet. Nicht zuletzt ist der Tourismus die drittgrößte Wirtschaftskraft der Welt. Auch das hinterfragt Sibylle Berg in ihrem Episodenroman. 17 O-Ton Berg (2) Die Idee war, ich weiß nicht ob mir das so geglückt ist, war natürlich wieder `ne streng erzieherische Maßnahme und eigentlich wollte ich sagen: es liegt schon in unserer Macht, Zufriedenheit zu erlangen, ganz einfach indem wir herausfinden was wir wirklich wollen! Indem wir eben nicht denken: hier Neckermann fährt schön zu Palmen, da fahren wir mit, sondern irgendwie wirklich herauszufinden: Was sind meine Bedürfnisse? Den Luxus können wir uns gönnen, wenn man halbwegs intelligent in der westlichen Welt lebt. Das ist natürlich mühsam: Da ist Reisen einfacher. Musik aufblenden und dann darüber den Text legen: Sprecherin Zeit also, skeptisch zu werden angesichts der Illusion des Reisens. Die Literatur ist es bereits. Und sieht - wie der Philosoph Alain de Botton, der über die Kunst des Reisens schreibt - eine Parallele zu einer anderen Maschinerie der Wünsche. Zitator (Alain de Botton, Kunst des Reisens) Es gibt zwei große romantische Fantasien darüber, was uns glücklich machen kann: die erste betrifft die Liebe, die zweite das Reisen. Auch wenn wir zwölf verheerende Urlaube hinter uns haben und fünfzehn gescheiterte Liebesaffären, wir werden immer noch daran glauben, dabei glücklich zu werden. Musik noch einmal kurz aufblenden, langsam abblenden und darauf die Abmoderation 3