Deutschlandrundfahrt "Terra incognita" Eine Reise durch das ehemalige Fürstentum Anhalt Von Susanne Arlt Sendung: 04. Februar 2012, 15.05h Ton: Inge Görgner Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt wer- den Atmo Autofahrt unterlegen O-Ton Eduard Prinz von Anhalt: Wir haben das anhaltische Vorland verlassen und fahren jetzt gen Osten, eigentlich entlang der Strecke, die meine Vorfahren genommen haben, um ihr Reich zu erobern. Autorin: Eduard Prinz von Anhalt, Chef des Hauses Askanien. An diesem ver- regneten Januarmorgen reist der 70-jährige in das Land seiner Vor- fahren. Eine Region, vor 800 Jahren gegründet, die heute kaum noch jemand kennt. Kennmusik Deutschlandrundfahrt Sprecher vom Dienst: Terra incognita Reise durch das ehemalige Fürstentum Anhalt Eine Deutschlandrundfahrt von Susanne Arlt Musik 1 Fanfarenklänge Atmo Kleinlaster kommt an ... Gucken Sie, der schöne Herr von Anhalt vorn mit dem roten Schal. Ja ... Auto fährt vor Autorin: Der Hofstaat nimmt den Prinzen in Empfang - möchte man meinen. Doch es sind der demokratisch gewählte CDU-Bürgermeister von Bal- lenstedt, die Kulturbeauftragte, der Museumsleiter, die Leiterin des Schlosses, Fotografen und Journalisten, die Eduard Prinz von Anhalt freundlich zuwinken. Azmo Prinz steigt aus ... Hallo ... Hallo, herzlich Willkommen in Ballenstedt, ja Dankeschön Herr Bürgermeister Autorin: Der Prinz, ein stattlicher Mann, weißes gelocktes Haar, Lachfältchen um die blaue Augen, erhebt sich behände vom Beifahrersitz, steigt die Stufen des Kleintransporters hinab, lächelt, schüttelt Hände, schaut sich um. Das schmucke Barockschloss war einst sein Zuhau- se. Es thront auf einem Berg, umgeben von mächtigen Eichen und Kastanien. Der Blick fällt hinab in die Stadt, eine Allee lenkt den Blick ins Zentrum. In Ballenstedt begann vor 800 Jahren die Herrschaft der Anhaltiner, inzwischen hat ihr Volk, das sind die Anhalter, das Regie- ren übernommen. Atmo Schön Sie wieder hier begrüßen zu können ... ja. Und ich freue mich hier etwas mitbringen zu können. Für das Anhalt-800-Jahr in Ballenstedt. ... Umso herzlicher Willkommen, .... Ja in der Wiege Anhalts. Autorin: Der Prinz läuft zur Rückseite des Transporters, öffnet zuerst die rech- te, dann die linke Wagentür. Die Mitbringsel liegen auf dem Boden des Transportes. Gut eingepackt in durchsichtiger Noppenfolie Atmo Jetzt werden wir erst einmal die Schätze auspacken ... Bilder aus dem Auto holen, Autotür zuschlagen Autorin: Die Schätze sind fünf alte Ölgemälde. Insgesamt dreizehn von einst 5.500 wurden der Familie von Anhalt vor ein paar Jahren zurückge- geben. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs waren seine Eltern enteignet worden. Die meisten Bilder verschwanden und verstaubten jahrzehntelang in sowjetischen oder ostdeutschen Depots. Über ihre Rückkehr in die Heimat freut sich vor allem der Prinz - und die Foto- grafen der Lokalzeitungen. Dem Prinzen scheint das Blitzlichtgewitter zu gefallen. Er lächelt sein charmantestes Lächeln. Atmo Herr von Anhalt, würden Sie noch einmal gucken ... Knipsen ... Danke ... bitte noch mal hier Herr von Anhalt ... Knipsen Autorin: Wenn im April die Wanderausstellung 800 Jahre Anhalt im Ballen- stedter Schloss gezeigt wird, werden die Gemälde im Weißen Saal hängen, erzählt er. Das größte, noch eingepackte Porträt zeigt Chris- tian den Ersten. Der anhaltinische Heerführer der Protestanten hat zu Beginn des 30-jährigen Krieges die aussichtslose Schlacht am Wei- ßen Berg bei Prag verloren. Atmo Knipsen .... Bilder rausholen ... darf ich Ihnen gleich das mal überrei- chen zu treuen Händen? Hier das ist der Alexius, .... und ja irgendwann eines Tages kann man vielleicht mal alle dreizehn hier ausstellen. Aber das kann man außerhalb des 800-Jahres auch machen ... ja, Anhalt hört ja danach nicht auf zu existieren. ... Im Gegenteil, es geht ja erst richtig los jetzt. Lachen. Mischen mit Atmo Treppe im Schloss hochsteigen ... Autorin: Der Bürgermeister, die Schlossleiterin, der Museumsleiter, alle pa- cken mit an und tragen die Ölgemälde vorsichtig hoch in den ersten Stock. Die Stadt Ballenstedt hat das Barockschloss in den 90er Jah- ren sanieren lassen. Jetzt erstrahlt es wieder in seinem typisch zu- rückhaltend-anhaltinischem Gelb. Rote Läufer weisen den Weg über den ersten Stock in den Weißen Saal. Atmo Saal Eduard Prinz von Anhalt: Tja das war so mein Revier hier. Dieser Teil des Schlosses war ja Familienwohnsitz, die andere waren dann mehr so für repräsen- tative Aufgaben. Und hier bin ich wie ein Jungterrorist mit mei- nem Tretauto immer durch gedonnert und habe alle übern Hau- fen gefahren. Das war mein großer Spaß. Autorin: Der weiße Saal im Südflügel des Schlosses wurde früher für Empfän- ge oder Bälle genutzt. Heute steht er ziemlich leer. Nur der imposante Kamin erinnert noch an mondänere Zeiten. Eduard Prinz von Anhalt: Weil das ist ja das Traurige, ist alles leer, die Schlösser, die wur- den alle ausgeleert 1945. Das Schöne ist, wenn dann wieder Mo- biliar und die Touristen kommen und sich dran freuen. Aber Sie sehen, wie das zerschnitten wurde. Atmo Bilder aus der Folie packen Autorin: Aus der Noppenfolie befreit, lehnen die ersten drei Gemälde an der Wand gegenüber vom Kamin. Der Prinz zeigt auf das Porträt eines Kindes. Mit seinem pausbäckigen Gesicht lächelt Erbprinz Alexander Carl den Betrachter neugierig an. Die alten Ölfarben glänzen auch noch 200 Jahren später in einem satten Schwarz, Weiß und Rot. Al- lerdings steckt das Bild in keinem Rahmen, sondern ist auf frische, weiße Leinwand aufgeklebt. Nachdem die Familie von Anhalt enteig- net wurde, brachten die sowjetischen Besatzer die meisten Bilder in das Feudalmuseum in Halle. Die Landschaftsbilder von Ballenstedt wanderten unberührt in die Depots. Die Porträts der Adeligen aber schnitt man grobschlächtig aus dem Rahmen, zerstückelte sie je nach Größe in mehrere Teile und schrieb auf die Rückseite: Volkseigen- tum. O-Ton Prinz von Anhalt: Ja, war ne ideologische Tat. Wobei man ja von einem Museums- menschen ja eigentlich erwarten sollte, dass denen das egal ist. Und wir haben auch einen Lukas Cranach, der so zerschnitten wurde also das ist schade. Okay, wir sind enteignet worden, es wurde Volkseigentum, aber man geht doch nicht, das Volk geht doch nicht mit dem Volkseigentum so um. Mir unverständlich. Autorin: Mir auch, sagt Bettina Fügemann leise. Als junge Frau saß die Kul- turamtsleiterin mit am runden Tisch in Ballenstedt. Sie kann sich noch gut daran erinnern, als der Prinz mit seiner Familie im Januar 1990 nach Ballenstedt kam. Jahrzehntelang hatte man ihm die Einreise in das Land seiner Ahnen verweigert. Als er an den Ort seiner Kindheit zurückkehrte, hatten viele Ballenstedter zwiespältige Gefühle. Auf der einen Seite genoss die Familie von Anhalt zwar jahrhundertlang einen guten Ruf in Ballenstedt. Aber manche Ballenstedter hatten inzwi- schen Land gepachtet, das einst der Fürstenfamilie gehörte, andere hatten ein Haus darauf gebaut. Der Prinz aber machte schnell klar: Auch wenn er seine Ländereien vom Staat zurückhaben wolle, werde er niemanden von dort vertreiben, erinnert sich Bettina Függemann: O-Ton Bettina Fügemann: Eduard von Anhalt kam mit seiner Familie, sehr bescheiden, sehr freundlich. Die Menschen kamen und wollten endlich diesen Mann sehen, der so mit Ballenstedt verbunden ist. Und dessen Vater, Joachim Ernst, sehr sehr große Anerkennung gefunden hat. Aber danach, ganz kurze Zeit später, kam Frederic von An- halt. Machte uns hier alle sehr nervös. Kam in einer Galauniform, ein Pferd musste besorgt werden und er ritt dann hier die Auf- fahrt zum Schlosse hinauf und der gemischte Chor sang ein Lied für diesen ... Prinzen. Ja es war schon Boulevard. Autorin: Die älteste Schwester von Eduard hatte gegen den Bürgerlichen Hans-Robert Lichtenberg adoptiert. Der Sohn eines Polizeibeamten aus dem Ruhrgebiet durfte den Familiennamen annehmen und nennt sich seither Frédéric Prinz von Anhalt. In den Illustrierten erscheint sein Konterfei immer wieder. Entweder, weil er Krach mit seiner ver- mutlich 25 Jahre älteren Gattin, der Hollywood-Aktrice Zsa Zsa Gabor hat, oder weil er weitere Bürgerliche adoptiert. Sehr zum Leidwesen der echten Prinzen, sagt Bettina Függemann. MUSIK I O-Ton Bettina Fügemann: Albrecht der Bär, 1100 bis 1170, hat fünf Söhne. Und man könnte fast sagen, er war ein guter Vater. Denn er hat allen Söhnen das Gleiche geben wollen und er hat jedem Sohn ein Landstück, eine Grafschaft geschenkt. Und das genau ist das Problem des Lan- des Anhalt. Weil es nämlich jetzt zerfallen ist und nicht mehr die- ses große Land darstellt, wie es zu Albrecht des Bärzeiten gewe- sen ist. Autorin: Wohl darum findet Anhalt in deutschen Geschichtsbüchern heutzuta- ge kaum eine Erwähnung. Dabei ist die Grafschaft eine der ältesten Gebiete Deutschlands. Von seiner Burg aus zog Albrecht mit seinen Rittern gen Osten, bekehrte die heidnischen Slawen oder vertrieb sie, eroberte schließlich Brandenburg. Er galt als Wegbereiter ins deut- sche Ostland. Aus Albrecht von Ballenstedt wurde 1157 Albrecht von Brandenburg. Sein Enkel gründete das heutige Neukölln. Darum trägt Berlin in seinem Stadtwappen den Bären. Das Erbe Albrechts mach- ten sich allerdings auch die Nationalsozialisten zu Eigen, sagt die Bal- lenstedter Kulturamtsleiterin Bettina Fügemann. Schließlich hatte er den slawischen Osten heim in das Heilige Römische Reich geführt. Heinrich Himmler ließ die Grablegung des alten Herrschers in der Bal- lenstedter Schlosskirche zur Weihestätte umbauen. Zeitgleich wurde auf dem großen Ziegenberg direkt gegenüber des Schlosses eine der größten nationalpolitischen Erziehungsanstalten errichten. Jeder Jun- ge, der dort zur Schule ging, musste vor Albrechts Grabstätte dem Führer die Treue bis in den Tod schwören. Auch Hitlers Lieblingsneffe Heinrich soll hier gestanden haben. Heute versperrt ein schweres Git- tertor den Zugang. O-Ton Bettina Fügemann: Wir befinden uns hier in der Niklauskapelle, der ehemaligen ro- manischen Kirche. Wir stehen hier vor einem Gitter. Und dieses Gitter und alles was sie hier sehen, das ist geschaffen worden, um die Jungmannen zu weihen. Übrigens war Heinrich Himmler nicht nur einmal hier in Ballenstedt, um diese jungen Menschen, diese Jungs im Grunde genommen, für den Erziehungsdienst vorzubereiten. Autorin: Eduards Vater, Joachim-Ernst von Anhalt, konnte sich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr gegen die Nazis wehren. Die hatten ihn längst kalt gestellt, ihn all seiner Ämter enthoben, die er noch als Her- zog innehatte. Atmo Türglocke, eintreten Autorin: Blumenparadies Vielahn. Klaus Vielahn, um die 40, steht hinter der Theke, bekommt einen kleinen Schreck als er den Kunden erblickt. Eduard Prinz von Anhalt lüftet seinen Hut, sagt freundlich guten Tag. An der provisorischen Grabstätte seines Vaters Joachim-Ernst möch- te er gerne einen Blumenstrauß ablegen, sagt er. Heute ist der 11. Januar, der Geburtstag seines Vaters. Atmo Ach du meine Güte, also was Haltbares könnte ich Ihnen empfehlen. Wenn man Rosen wachst, so, das geht jetzt aber nicht auf gleich. Das dauert, das dauert, so sie wollen das gleich ... Autorin: Eduard nickt, zeigt auf eine Vase, in der ein Strauß dunkelroter Rosen steckt. Atmo Ja ich würde sagen, es sollten ein paar rote Rosen, das kommt ja vom Sohn, da drüben sind welche zum Beispiel, die Dunkelroten. ...So Sie erzählen, ich höre zu, ... Autorin: In Gedenken an seinen Vater und anlässlich des 800-jährigen Anhalt- jubiläums möchte er gerne, dass jede Woche ein Strauß frischer Ro- sen am Grabstein liegt. Ob er sich darum kümmern könne, fragt der Prinz den Floristen und legt einen 100-Euro-Geldschein auf den Tisch. Klaus Viehlan nickt verständnisvoll, während er den Blumen- strauß bindet. Den Auftrag nimmt er gerne an. In der Lokalausgabe hat er an diesem Morgen gelesen, dass der Prinz fünf Ölgemälde ins Schloss zurückgebracht hat. O-Ton Klaus Viehlan: Ja selbstverständlich, ich verfolge das, ich sage mal, das ist was Schönes für Ballenstedt. Autorin: Früher waren die Fürsten die größten Arbeitgeber der Region. Wer weiß, vielleicht würde sich der eine oder andere über eine neue Re- gentschaft freuen. So wie die meisten Kommunen in Sachsen-Anhalt ist auch Ballenstedt hoch verschuldet. Atmo Rascheln ... Und jetzt vielleicht noch ein bisschen Grün dazu. ... Wir wol- len nichts Friedhofmäßiges? ... Nein, nix friedhofmäßiges, einfach ein Vereh- rerstrauß des Sohnes Atmo Turmfalke Autorin: Eine halbe Stunde später steckt der Blumenstrauß hinter dem metal- lenen Kreuz, dass an einem imposanten Findling befestigt ist. Der Stein steht auf dem Schlossplatz, einen Meter sechzig hoch und ei- nen Meter sechzig tief in die Erde gerammt. In diesem Fels liegt die Asche meines Vaters, sagt Eduard von Anhalt und verbessert sich dann: Es ist eigentlich nur eine Handvoll Erde aus Buchenwald. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs hatte die sowjetische Militärführung das ehemalige Konzentrationslager der Deutschen zu einem Spezial- lager umfunktioniert. Unter den Internierten waren NS-Verbrecher, Funktionäre der NSDAP, Mitglieder der Hitlerjugend, aber auch eine Vielzahl von Menschen, die infolge von Denunziation und willkürlicher Festnahme in das Lager gekommen waren. Darunter ist auch mein Vater gewesen, sagt Eduard. Er verstarb dort 1947. Erst sechs Jahre später sollte die Familie von diesem Verlust erfahren. Dabei sei sein Vater gar kein Nazi gewesen, betont der Prinz. Als die Nationalsozia- listen Anfang der 30er Jahre seinen Ahnen Albrecht den Bären für ih- re ideologischen Expansionspläne gen Osten einspannen wollten, soll er Joseph Goebbels forsch geantwortet haben. O-Ton Eduard Prinz von Anhalt: Dr. Goebbels, glauben Sie denn, dass Ihr kleiner österreichischer Gefreiter mehr Erfolg haben wird in der Eroberung Osteuropas als Napoleon der große Feldherr. Und das war eigentlich der Ausschlag, anschließend hatten sie ihn furchtbar auf den Kieker. Und wie oft bei den Nationalsozialisten, hat er, sobald sie an der Macht waren, auch persönliche Rache an ihm geübt. Ihn prak- tisch kalt gestellt, ihn aus seiner Stiftung heraus geworfen. Und im Krieg 1939 ist er dann nach Ballenstedt in den Arrest gesetzt worden. Autorin: Als er später einen engen Mitarbeiter Heinrich Himmlers aus dem Schloss warf, ihn regelrecht hinaus schoss, stand zwei Tage später die Gestapo vor der Tür. Sie brachten ihn in das Konzentrationslager Dachau in Beugehaft. Sechs Wochen lang war er dort interniert, wur- de frühzeitig entlassen, da er an einer Lungenentzündung erkrankt war. Als er zu uns zurückkehrte, war er ein kranker Mann, erinnert sich Eduard von Anhalt. Seelisch und körperlich. O-Ton Eduard Prinz von Anhalt: Das ist schon sehr tragisch, er hatte zumindest Zivilcourage. Aber solche Fälle sind durchs Raster gefallen. Aber nicht in Russland, in Russland hat man das erkannt. In Russland hat man ihn rehabilitiert, in Russland hat man gesagt, man sollte sein Eigentum zurückgeben. Aber daran hat sich die deutsche Regierung nicht gehalten. Autorin: Die Familie wurde nach dem Krieg enteignet und bekam 1990 von ihrem früheren Eigentum kaum etwas zurück. Im Dezember 1945 konnte die Mutter mit ihren fünf Kindern in den Westen fliehen. Russi- sche Kommandeure, die auf unserem Schloss wohnten, haben uns bei der Flucht geholfen, erinnert sich Eduard von Anhalt, der damals vier Jahre alt war. Im Gegensatz zu den Angehörigen der sowjeti- schen Geheimpolizei hatten die russischen Kommandeure das Land Anhalt in guter Erinnerung. Schließlich war Zarin Katharina die Große eine geborene von Anhalt-Zerbst. MUSIK II Atmo Gang zur Burg Anhalt Autorin: Der Weg hinauf zum Erbe der Ahnen ist beschwerlich. Die Burg An- halt liegt 150 Meter über dem Selketal. Oder besser gesagt: die Reste der Burg. Die matte Wintersonne taucht die bergige Landschaft in ge- dämpftes Licht. Eduard Prinz von Anhalt läuft zwischen Eichen und Buchen einen Pfad hinauf, den vielleicht auch seine Vorfahren vor über 800 Jahren genommen haben. Der Ort sei ihm irgendwie ver- traut, erzählt der 70-jährige auf dem Weg nach oben. Vertraut auf ei- ne Art, die er nicht so richtig definieren könne. Vielleicht sei es das Gefühl, dass seine Altvorderen hier gewesen seien. Atmo Laufen über Äste und Wurzeln Autorin: Die Strecke führt durch dichtes Unterholz, 150 Höhenmeter hinauf, dann über einen schmalen Waldweg. O-Ton Eduard Prinz von Anhalt: 270 Grad fällt das tief ab und ist strategisch wunderbar sicher. Aber diese 30 oder 40 Meter, die da Zugang ermöglichen. Die wa- ren letztendlich tödlich für die Burg Anhalt. Autorin: Albrecht der Bär ließ die mittelalterliche Festung 1140 erneut errich- ten. Kurz zuvor war sie von den Rittern des Markgrafen Konrad von Meißen und des Erzbischofs Conrad von Magdeburg in Schutt und Asche geschossen worden. Atmo Musik instrumental unterlegen Autorin: Von der Burg Anhalt aus trieb der Stammesvater der Askanier die deutsche Ostkolonisation voran. Eigentlich hätte Albrecht der Bär über die Sachsen herrschen sollen. Doch die erkannten seine Her- zogswürde nicht an, weil er auch schwäbische Vorfahren hatte. Nach nur vier Jahren musste er sein Zepter Heinrich dem Löwen überlas- sen. Sein anderes politisches Ziel verfolgte Albrecht dagegen erfolg- reicher: die Rückeroberung der östlichen Gebiete, unter anderem der Mark Brandenburg, die an die heidnischen Slawen verloren gegangen war. Albrecht begann, die neu eroberten Gebiete zu kolonisieren und zu christianisieren, indem er flämische und holländische Siedler an- warb. Durch seine Reichstreue und die Rückeroberung der Mark Brandenburg genoss Albrecht hohes Ansehen bei Friedrich dem I. Der Kaiser, besser bekannt als Barbarossa, verlieh ihm darum die Erzkämmererwürde und wertete damit das Geschlecht der Askanier auf. Und so sind unter dem ehrgeizigen Albrecht die Askanier zu ei- nem der bedeutendsten Herrscherhäuser des mitteldeutschen Rau- mes aufgestiegen. Atmo Musik instrumental Ende mischen mit Atmo Falken Autorin: Endlich tauchen die ersten Ruinereste auf. Das Fundament der Burg wurde aus Grauwacke erbaut, einem Harzer Granitstein. Nur noch die Wurzel der alten Eichen, Eiben und Buchen halten das spröde Ge- mäuer zusammen. An manchen Baumstämmen hängen weiße Schil- der. Sie erklären dem Besucher, an welchem Ort er in der Burg gera- de steht: Pallas, Kellerräume, Wohnbauten. Wohin man auch blickt, überall nur noch Ruinenreste aus längst vergangenen Zeiten. Und doch lässt sich erahnen, wie groß diese mittelalterliche Festung einst war. Atmo Vogelgezwitscher O-Ton Eduard Prinz von Anhalt: Ja wenn ich hier stehe, fühle ich mich auch froh und munter und sage, wow, diese Ruine hat diesem Land den Namen gegeben, was jetzt 800 Jahre alt wird. Kann man stolz drauf sein, sagen, habt ihr gut gemacht! Autorin: Im Westen geht langsam die Sonne unter. Der blassrote Ball ver- schmilzt mit der gegenüberliegenden Bergkuppe, verschwindet dann ganz und gar. MUSIK III Atmo Auto einsteigen, Motor anlassen, losfahren Autorin: So wie einst seine Vorfahren will sich Eduard Prinz von Anhalt auf eine Reise Richtung Osten begeben. Von Ballenstedt aus, der Wiege Anhalts, will er über Zerbst ins Gartenreich Wörlitz fahren. Das Ther- mometer zeigt zwei Grad Celsius. Es nieselt, der Himmel grässlich grau. Die Fahrt im Pkw führt über asphaltierte Bundesstraßen und holprige Landstraßen. Landschaften rasen vorbei. Erst bergige, dann geschwungene, schließlich flache, weite Landschaften. Atmo Autofahrt weiter unterlegen O-Ton Eduard Prinz von Anhalt: Wir haben das anhaltische Vorland verlassen und fahren jetzt gen Osten, eigentlich entlang der Strecke, die meine Vorfahren genommen haben, um ihr Reich zu erobern. Über Saale und Elbe bis ins Brandenburgische. Aber jetzt sind wir erst einmal auf ei- ner Strecke, die Kornkammer Anhalts wenn man so will. Ein ganz ansprechendes Land, aber sehr flach. Keine Wälder, weil natür- lich, wenn der Boden sehr wertvoll ist, dann hat man keine Wäl- der gepflanzt. Sondern hier wächst alles, was zur Ernährung der Bevölkerung notwendig ist und war. Autorin: Anhalt ist ein Land mit vielen Gesichtern. Doch kaum jemand kennt heute noch die Region zwischen dem Harz im Westen und der Stadt Dessau im Osten. Anhalt ist Terra incognita sozusagen. Entspre- chend enttäuschend fiel darum auch eine Umfrage des sachsen- anhaltischen Wirtschaftsministeriums aus. Die Magdeburger hatten im vergangenen Jahr ein Beratungsunternehmen aus der Tourismus- branche damit beauftragt, das Imagepotenzial von Anhalt zu eruieren. Über 40 Prozent der befragten Bundesbürger konnten schon allein mit dem Begriff rein gar nichts anfangen. Und diejenigen, die dann doch etwas damit assoziierten, kamen auf den Freistaat Sachsen. Dabei liegt Anhalt doch mitten in Sachsen-Anhalt, betont der Prinz und seufzt leise. Atmo Autofahrt ... Navistimme: Nach 300 Metern rechts abbiegen. Dem Stra- ßenverlauf weiter folgen ... Autorin: Inzwischen hat der Prinz Bernburg hinter sich gelassen, passiert auf dem Weg nach Zerbst die Kreisstadt Köthen. Seine Vorfahren haben die slawische Siedlung zu einer schmucken Residenzstadt gemacht. Doch von dem Charme vergangener Tage hat Köthen seit dem zwei- ten Weltkrieg viel eingebüsst. Im Krieg wurde das Köthener Schloss bombardiert. Aber auch in diesem ehemaligen Residenzstädtchen haben weltbekannte Menschen gelebt und gearbeitet. Johann Sebas- tian Bach soll hier seine glücklichsten Jahre verlebt haben. Mit Leo- pold Fürst von Anhalt-Köthen war er eng befreundet und komponierte an dessen Hof die Brandenburgischen Konzerte. Erst nach dessen Tod ging er mit seiner Familie nach Leipzig. Samuel Hahnemann, Begründer, Entwickler und Verfechter der modernen Homöopathie, konnte sich und seine Lehre erst in Köthen so richtig entfalten. Und wie so oft in der damaligen Zeit, lag es am anhaltinischen Herzog. Ferdinand von Anhalt-Köthen gab Hahnemann das Privileg, dass ihm in 20 Städten zuvor verwehrt wurde. In Köthen durfte er seine ho- möopathischen Arzneimittel selber herstellen. Dieses Recht besaßen zu dieser Zeit eigentlich nur Apotheker. Statt ihr Geld in prestigeträch- tige Schlösser zu investieren, investierten die Fürsten und Herzöge von Anhalt lieber in kreative, geistreiche Menschen. O-Ton Eduard Prinz von Anhalt: Es war wirklich so, dass also auch das Fürstenhaus sich nicht riesen Palazzos und sich immer wieder profilieren musste, son- der dass sehr sehr viel in der Bevölkerung geblieben ist. Und das glaube ich, ist das Geheimnis, dass so ein kleines Land eben über diese viele Jahrhunderte überhaupt existieren konnte ne- ben den großen Rivalen wie Preußen und Sachsen. Musik IV Atmo Wollen wir gleich rein gehen? Ich meine drinnen ist nicht viel wärmer, aber da zieht es nicht so. Er weiß es ja schon ... Schritte hoch über Metalltrep- pe, reingehen in die Ruine, Tür fällt zu ... Autorin: Die Autofahrt endet nach anderthalb Stunden in Zerbst. Böse Zungen behaupten, das Schloss stehe sinnbildlich für die Stadt. Betreten auf eigene Gefahr, steht auf einem Bauschild an der Schlossmauer. Kurz vor Kriegsende wurde das Schloss von den Alliierten zerschossen. Die riesige, dreiflügelige Barockanlage brannte bis auf das Mauer- werk nieder. Darüber ärgert sich Dirk Hermann bis heute. O-Ton Dirk Hermann: Es gab zwar eine große Zerbster Bürgerschaft, die die weißen Fahnen tatsächlich schon gehisst haben innerhalb der Stadt Zerbst. Aber die NS-Chargen, die also hier im Keller waren, sind dann also ausgeschwirrt und haben diese Fahnen wieder von den Häusern gerissen und haben mit Erschießung gedroht. Also es war ziemlich heftig hier in den letzten Kriegstagen hier in Zerbst und das war halt der Umstand, dass die Stadt zu 80 Pro- zent zerstört wurde und eben das Schloss in Gänze. Autorin: Er führt den Besucher über eine provisorische Metalltreppe hinauf ins Erdgeschoss. Vor 330 Jahren ließ Fürst Karl Wilhelm das imposante Barockschloss erbauen. Anhalt-Zerbst war allerdings ein kleines Fürs- tentum, nur 20.000 Menschen lebten in dem Residenzstädtchen an der Elbe. Das Steueraufkommen war also überschaubar. Um sich nicht haltlos zu überschulden, gab der Fürst nur den Mittelteil des Schlosses in Auftrag. Erst 70 Jahre später seien der Ost- und West- flügel dazugekommen worden, erklärt Dirk Hermann dem Prinzen von Anhalt. Insgesamt war das Schloss Zerbst über 6.000 Quadratmeter groß und hatte 203 Räume. O-Ton Dirk Hermann und Eduard Prinz von Anhalt: Es ist dann dank der Mittel des Fürsten Christian August, der eben in preußischen Diensten so viel verdient hat, dass er sich diesen Osttrakt in dem wir jetzt stehen, leisten konnte. ... Wo stehen wir jetzt hier, wenn ich fragen darf ... im rechten Teil im Osttrakt rechts ... und dieser ganze Teil ist kaputt gebombt. ... Der ist abgerissen, der war vom Erhaltungszustand genau wie dieser hier. Aber kommunistische Zeiten, Oberbürgermeister erzkommunistisch und dann Abbruch ab 1948 ... Schade. Autorin: Der Prinz schüttelt verständnislos den Kopf. Hätte er vor sechs Jah- ren der Ruine einen Besuch abgestattet, hätte er vom Erdgeschoss aus noch direkt bis in den Himmel schauen können. Der Brand hatte die Decken zerstört, aus dem Mauerwerk wuchsen Birken und Ge- strüpp. Doch Dirk Herrmann hat den Kampf gegen den Zahn der Zeit aufgenommen. Vor acht Jahren gründete er den Fördervereine Schloss Zerbst. Erklärter Wille ist, das Barockschloss vor dem weite- ren Verfall zu retten. Atmo Ja, ja. ... Das ist ja toll ... Wenn Sie können wir dort auch gerne noch einmal hingehen und uns das anschauen. Mischen mit Atmo Schritte Autorin: Prinz Eduard von Anhalt ist von soviel bürgerschaftlichem Enthusias- mus recht angetan. Fast ehrfürchtig schaut er sich in den Räumen um. Die Zerbster, sagt Dirk Hermann, hätten seine Leidenschaft für diese Ruine anfänglich nicht so teilen können. Selbst Freunde schüt- telten angesichts der verkohlten Ruine nur verständnislos mit dem Kopf. O-Ton Dirk Hermann: Ja, auch die Öffentlichkeit hat das 2003 bei der Gründung des Fördervereins gesagt, jetzt dreht der Hermann völlig ab. Der hat ne Meise, das wird sowieso nix. Und als dann hier die ersten Ge- rüste standen, war man hier ganz anderer Meinung. Autorin: Inzwischen ist viel Beton verbaut worden. Zwischendecken wurden eingezogen, neue Fenster eingesetzt. Auf bisher 900 Quadratmetern von einst 2.200 Quadratmetern wurde Platz für Ausstellungen, Le- sungen und Konzerte geschaffen. Herrmann ist zwar studierter Infor- matiker, seine Leidenschaft für das Schloss entwickelte er aber schon als Jugendlicher. O-Ton Dirk Hermann: Weil ich bin nämlich hier nebenan in das ehemalige Kavalierhaus zur Schule gegangen. Und da ich, sag´ ich mal, ich nicht zu den schlechtesten Schülern gehörte, war mir im Unterricht oft lang- weilig. Und der Blick aus den Fenstern auf dieses Gebäude hat natürlich immer schon fasziniert. Was war da, und wie ist es da und das Problem war, dass das eben zu DDR-Zeiten nicht statt- fand. Es gab ja kein Schloss im Gedächtnis, ein Fürstenhaus schon gleich gar nicht. Maximal, dass Katharina noch einmal ir- gendwo erwähnt wurde, aber dann war es das auch schon. Und dann habe ich trotzdem angefangen zu gucken, zu recherchie- ren, dann fing das eigentlich schon in der zehnten Klasse an, dass ich mich mit diesem Haus befasst habe. Postkarten sam- meln, Schlossführer sammeln. Und die ganz konkreten Recher- chen sind dann losgegangen 1990. Autorin: Nach dem Fall der Mauer lernte er das vereinte Deutschland durch seine Reisen in die Archive kennen. Angefangen hat er im Landes- hauptarchiv in Oranienbaum, recherchierte weiter im preußischen Staatsarchiv in Berlin, im Kunsthistorischen Institut in München und in der Staatsbibliothek. Herrmann wälzte stundenlang verstaubte Bü- cher, blätterte akribisch alte Dokumente durch - immer auf der Suche nach alten Bildern und Informationen über das Barockschloss. Zehn Jahre hat es gedauert, bis er endlich nachweisen konnte, wo Kathari- na die Große, eine Zerbster Prinzessin, einst ihre Wohngemächer hatte. 1998 mündeten seinen Nachforschungen in einer ersten Bau- monografie über das Zerbster Schloss. Die Ergebnisse seiner Arbeit kann man heute im Schloss bewundern. In den wieder hergestellten, ausgeschalten Räumen des Schlosses hängen viele großformatige Fotos: Sie zeigen die Pracht von einst - und den Verfall 200 Jahre später. Das zweite fürstliche Vorzimmer hat Dirk Hermann nachbilden lassen. Dazu hat er alte Fotos abfotografiert und die Möbel, Gemälde und Wandteppiche darauf in echter Größe als Fotomontage auf die Betonwand montiert. Man fühlt sich in die Vergangenheit zurückver- setzt - wenn auch nur in Schwarzweiß. O-Ton Eduard Prinz von Anhalt: Das wäre einfach traurig, wenn das hier vom Boden verschwin- den würde. Und vor allen Dingen auch die Zuwendung, die von den Menschen kommt vor Ort. Ist ja ganz wichtig, ist ja auch eine Art Liebe sich so zu engagieren und zu sagen, dass kann ich nicht einfach vergessen. Und das einfach so versacken zu las- sen, das kann man nicht zulassen. Autorin: Um das kulturelle Erbe Anhalts zu bewahren, müssen heutzutage die Bürger mit anpacken, sagt Eduard Prinz von Anhalt. Eine überschul- dete Kommune wie Zerbst könne sich doch solch eine Schlosssanie- rung gar nicht leisten. Der Förderverein konnte bislang über 600.000 Euro akquirieren. Das Geld stammt aus Fördertöpfen, von Lotto-Toto, Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Obwohl Dirk Herrmann und sein Verein schon viel erreicht haben, gibt es immer wieder Zerbster, die zu ihm sagen: Reiß den alten Ruinenkasten ab und steck die Gelder lieber in soziale Projekte. O-Ton Dirk Hermann: Kann ich ja in gewisser Weise nachvollziehen, aber für mich als gebürtiger Zerbster, der abends nicht nur vor dem Fernseher sitzt, gehört dieses Objekt als Kulturgut dazu und natürlich durch den Hintergrund Katharina, hat das für mich eine solche hohe geschichtliche und kunstkulturhistorisch-geschichtliche Bedeutung, dass man hier einfach was tun muss und nicht ein- fach sitzen kann und sagt, na ja, lasst das Objekt wie es ist und lass es verfallen. Das geht nicht. Atmo Schritte über Steintreppe hinauf Autorin: Um den Besuchern zu zeigen, wie sehr sich Engagement lohnen kann, führt Dirk Herrmann sie am liebsten in den ersten Stock, lockt sie in den hinteren Teil des Ostflügels. Er öffnet eine schwere Holztür, so groß wie ein Scheunentor. Atmo Schlüssel O-Ton Dirk Hermann: Und hier sieht man auch mal ganz gut wie der Zustand war als der Förderverein angefangen hat. Hier konnte man ja gar nicht stehen, weil keine Decke drin war. Aber so sah es also überall aus. Natürlich noch mit den entsprechenden Schuttbergen dazu. Denn manche Besucher sind der Meinung, ach der Förderverein hat hier mal einen flotten Besen geschwungen und dann war die Sache schon erledigt. Aber wenn ich die Leute dann hier reinfüh- re, sehen die dann auch mal, dass es anders war. Autorin: Im Sommer will Dirk Herrmann nach Russland reisen. Dort sollen sich angeblich noch 40 Kisten befinden, die aus dem Schloss stammen. MUSIK V Atmo Autofahrt Autorin: Am Nachmittag führt die Fahrt zu den Ahnen über Dessau nach Wör- litz. In Anhalt-Dessau schuf Leopold der III. Friedrich Franz sich und seinem Volk ein Utopia, ein friedliches Land, in dem vieles entstand, was einen heute noch begeistert: die Schönheit der Landschaft, das Abwägen von Landwirtschaft und Naturschutz, die Suche nach sozia- ler Gerechtigkeit, eine besseren Schulbildung für das ganze Volk und sogar - die freie Liebe. Atmo Autofahrt ... nach 300 Metern rechts abbiegen . Dem Straßenverlauf wei- ter folgen ... Autorin: Der Weg von Zerbst nach Wörlitz führt über Landstraßen, entlang an fruchtbarem Ackerland und durch mächtige Baumalleen. O-Ton Eduard Prinz von Anhalt: Der Spruch meines Vorfahren Vater Franz war ja, das Nützliche mit dem Schönen verbinden. Und eines seiner Projekte war, und wir fahren hier gerade durch so eine Allee, war Obstbäume an- zupflanzen. Das war gedacht als Vitaminversorgung für die Be- völkerung. Später konnte sich dann eine Familie so einen Kirsch- baum oder Apfelbaum mieten für ein paar Pfennige und konnten die dann ernten. Mussten sie aber auch schneiden und betreuen. Also das war meiner Meinung auch eine ganz gute Maßnahme, um eine Bevölkerung zu ernähren. Autorin: Vater Franz, sagt Prinz von Anhalt, sei von all seinen Ahnen ein be- sonders aufgeklärter Herrscher gewesen. Ein Mensch, der mit huma- ner Weitsicht regiert habe. Sein Volk hat es ihm gedankt und ihm ein Jahrhundert später ein Denkmal gesetzt. Atmo Autofahrt, mischen mit Atmo Straßenkreuzung Autorin: In Bronze gegossen steht der Vater aller Dessauer auf einem großen Sockel an einer Straßenkreuzung im Zentrum der Stadt Dessau. Mit seiner rechten Hand weist er visionär in sein schönes Anhalt. Auf der Rückseite seines Sockels steht mit goldenen Lettern eingraviert: Dem Vater des Vaterlandes, der fürstliche Enkel und das dankbare Volk 1858. Dass dieses Denkmal nun gerade vor der evangelischen Jo- hanniskirche steht, spricht irgendwie für sich. Denn die Evangelische Landeskirche Anhalt ist die einzige Institution in Anhalt, die noch die alten Grenzen der Grafschaft vertritt. Kirchenpräsident Joachim Lie- bing hat vor einem Jahr die Stiftung "Evangelisches Anhalt" ins Leben gerufen. O-Ton Joachim Liebig: Wir machen uns Gedanken über die Frage, wie lässt sich die Identität Anhalts, die seit Jahrzehnten verloren gegangen ist, und zwar nicht erst zur Zeit der DDR, sondern weit davor, also wenn man es ganz genau nimmt, seit 1918, 1919 war das auf der schiefen Ebene, wenn man so sagen kann. Also wie diese Identi- tät Anhalts zurück gewonnen werden könnte. Dass Anhalt wieder das wird, was es einmal war. Ein bemerkenswertes, überschau- bares, kreatives, innovatives Land mitten in Deutschland. Autorin: Anhalt ist in den vergangenen Jahrzehnten aber nicht nur seine Iden- tität abhanden gekommen, sondern auch seine Landeskinder - vor al- lem die jungen, gut ausgebildeten Frauen und Männer. O-Ton Joachim Liebig: Wir reden natürlich auch über die Frage, wie können wir gerade die gut ausgebildeten, jungen Menschen hier halten. Alles hängt an der Wirtschaft, es hängt an den Arbeitsplätzen, es hängt an den Perspektiven, die die Region bieten kann. Autorin: Der Motor der Innovation in Anhalt seien immer die Fürstenhäuser gewesen. Die viel gescholtene Kleinteiligkeit des Hauses Anhalt habe die Regenten eher angespornt, denn geschwächt, glaubt Joachim Liebig. O-Ton Joachim Liebig: Diese Kleinteiligkeit führte zu einer internen Konkurrenz. Gerade auch der kleinen Einrichtungen, der kleinen Regionen, der klei- nen Fürstenhäuser. Damit wurden die Mittel konzentriert in einer innovativen Weise, die beispielsweise die Reformation hier in Anhalt in sehr früher Zeit, 1522 folgende, in besondere Weise voran getragen hat. Während eben die großen Königreiche mit sich selbst beschäftigt waren, darf ich salopp sagen. Und die kleinen sagen konnten, wir möchten uns in besonderer Weise nach außen auch präsentieren und sicherlich im zweiten Schritt auch die Gewissheit, wenn wir uns nicht verändern, wird die Ver- änderung über uns hinweggehen. Autorin: Stattdessen trieben die Fürsten Veränderungen voran, die sich ande- re, mächtigere Regenten noch scheuten. Gerade deswegen spielte die jüdische Bevölkerung eine so große Rolle in dem so kleinen Land. Einer ihrer bekanntesten Vertreter ist Moses Mendelssohn gewesen, Philosoph und Verfechter der deutschen Aufklärung. Als 1918 der letzte Fürst seine Regentschaft aufgeben musste, war es mit der In- novationsfreudigkeit der Anhalter aber noch nicht vorbei. In den 20er Jahren entwickelte der Ingenieur Hugo Junkers Flugzeuge, die von Dessau bis in die USA und Japan flogen. Mitte der 20er Jahre zog Walter Gropius mit seinem Bauhaus nach Dessau. Es habe sich aus- geweimart, jetzt werde gedessauert. Erst als die Nazis an die Macht kamen, war es mit der Aufklärung in Anhalt vorbei. Im Krieg schwer zerstört, in den 60er Jahren als sozialistische Großstadt wieder auf- gebaut, hat sich die Stadt Dessau bis heute nicht von diesen Folgen erholt. Atmo Vogelgezwitscher Autorin: Nicht aber Wörlitz. Dort scheint die Zeit stehengeblieben zu sein und die Welt noch immer in Ordnung. Als Johan Wolfgang von Goethe das Dessau-Wörlitzer Gartenreich zum ersten Mal durchstreifte, schwärmte er inbrünstig. Sprecher: Hier ist´s iezt unendlich schön! Mich hats gestern Abend wie wir durch die Seen Canäle und Wäldgen schlichen sehr gerührt wie die Götter dem Fürsten erlaubt haben einen Traum um sich her- um zu schaffen. Autorin: Zum Fürsten selber fand Goethe indes kein rechtes persönliches Verhältnis. Vielleicht lag es daran, dass ihm Vater Franz zu aufgeklärt war. Auch das einfache Volk durfte im Gartenreich wandeln. Der Fürst bezahlte Ärzte, damit sie mittellose Kranke behandelten und gründete eine Armenkasse. Moderne landwirtschaftliche Geräte stellte er in seinen Musterwirtschaften aus, damit sie jeder nachbauen konnte und er reformierte das Schulwesen. Vater Franz war ein volksnaher Herr- scher. Das zeigt sich sogar in der Architektur seiner Schlösser. Das Wörlitzer Schloss nannte er Landhaus. Atmo Stiege hinauf laufen Autorin Statt einer hochherrschaftlichen Paradetreppe führt eine schmale, ausgetretene Holzstiege bis in den dritten Stock. Ein ungewöhnlicher Aufstieg für einen Herrscher, findet Eduard Prinz von Anhalt. Uwe Quilitzsch gibt ihm recht. O-Ton Uwe Quilitzsch: Das ist irgendwie ganz unglaublich, unfassbar modern. Dass man diese schmalen Stiegen nach oben geht. In Wörlitz hat man zwei dieser schmalen Stiegen. Da könnte man noch sagen: Okay, verkehrstechnisch wurde das so gelöst, links die fürstliche Fami- lie, rechts die Dienerschaft. Noch interessanter wird es im Luisi- um, da gibt es nur eine Treppestiege. Da musste also die Prin- zessin Luise und die Dienerschaft die gleiche Treppe benutzen. Autorin: Seit 24 Jahren betreut Uwe Quilitzsch von der Kulturstiftung Dessau- Wörlitz das Erbe des Fürsten Franz. Und noch immer kann er sich für den aufgeklärten Mann aus dem 18. Jahrhundert und seine Ideen be- geistern. Atmo Stiege hoch ... geht´s da noch weiter? ... Ja, bis ins Observatorium. Wol- len wir? Ja... Autorin: Eine faltbare Stiege führt hinauf in den Palmengarten, und von dort geht eine noch schmalere Wendeltreppe hinauf in einen kleinen Kup- pelbau. Die Wände sind rund, das Dach gewölbt. O-Ton Uwe Quilitzsch: Eine sensationelle Akustik. Ich nenne es Observatorium. Das ist dieser kleine Kuppelbau auf dem Belvedere des Wörlitzer Schlosses. Autorin: Der Prinz und Quilitzsch machen einen Test. Sie stellen sich gegen- über, sind zweieinhalb Meter von einander entfernt und klingen doch so, als stünden sie direkt nebeneinander. Atmo Ja ist komisch, wenn man ein bisschen aus der Achse dann ist es schon weg, genau, man hat sich dann wieder. Ja plötzlich ist es wieder da. ... Autorin: Welche Absicht hinter dieser Idee steckt? Wir wissen es nicht, sagt Uwe Quilitzsch. Vielleicht war es nur eine Spielerei des Fürsten, die er gemeinsam mit seinem Freund von Erdmansdorff ausheckte. Viel- leicht diente der Raum aber auch zu observatorischen Zwecken. Ganz sicher aber verprasste er sein Geld niemals sinnlos, sagt Prinz Eudard. Ihm liegt dieser Vorfahre nämlich besonders am Herzen. O-Ton Eduard Prinz von Anhalt: Ganz nah ist mir der Vater Franz, weil er meiner pazifistischen Erfahrungszeit, bzw. meiner Übersättigung durch Weltkriege den ruhigen Gegenpol setzt. Der so viel Tolles geschaffen hat, dass man ihn heute noch Vater nennt. Wo gibt es das in einem Herr- scherhaus, dass die Leute zu einem der Herrscher noch Vater sagen. Ich finde ein Herrscher ist eigentlich nur etwas wert, wenn er für die Menschen was getan hat. Autorin: Es ist schon etwas Besonderes, was das Fürstentum Anhalt einst ge- schaffen hat. Seine 800-jährige Geschichte sollte man darum nicht nur aus der Vergessenheit herausholen, sondern sich trauen, an die Ideen und Ideale von einst wieder anzuknüpfen. Kennmusik Deutschlandrundfahrt Sprecher vom Dienst: Terra incognita Reise durch das ehemalige Fürstentum Anhalt Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Susanne Arlt Ton: Inge Görgner Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2012 Manuskript und online-version der Sendung finden Sie im Inter- net unter dradio.de 1