KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe: LITERATUR 0.05 Uhr Redaktion: Sigried Wesener Sendetermin: 07.09.2014 Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Ich ist ein Wanderer. Über Schriftsteller, die gehen. von Gaby Hartel Regie: N. N. Produktion Deutschlandradio-Kultur 2014 Sprecher 1 (Zitate): Sprecher 2 (Übersetzung): Sprecherin: Autorin: Sprecher 1: Zitat Johann Gottfried Seume Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr als wer fährt. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbstständigste in dem Manne und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. [Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus, S. 447/448] Autorin: So Johann Gottfried Seume, berühmter Wanderer des 19. Jahrhunderts über seinen spektakulären "Spaziergang" von Grimma bei Leipzig nach Syrakus im Jahre 1802. Es war nach den Worten des 38jährigen sein erster "freier Entschluss von einiger Bedeutung". Was er da wollte? Zunächst einmal nur Feigen vom Baum essen und seinen Theokrit in dessen Heimat lesen. Thomas Macho, O-Ton 12:01- 12:42 Ich glaube ja, das hat ganz viel mit der Schule der Aufmerksamkeit zu tun. Die Kulturtechniken sind schon immer dabei, sie sind immer dabei [...] Aber sie gehen auch. Man kann sich auch Humboldt oder Seume oder diese Figuren nicht gut zu Pferd oder in der Kutsche vorstellen, das würde den Reisenden irgendwie begrenzen. Entdeckungsreisen kann man nur machen zu Fuß, das ist eine ganz wichtige und interessante Eigenschaft, die mit dem Gehen auch in Verbindung steht, in gewisser Weise. Sprecher 1: Zitat Seume So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man es soll: man tut notwendig zu viel oder zu wenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünschte ich nur selten zu fahren, und weil ich aus dem Wagen keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann. [Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syrakus, S. 448] Mark Ravenhill, O-Ton : 4:05 -4:21 So whereas before I had walked here and there and not really thought about it, I decided, actually, I`m going to built this into my - programme (lacht) and for an hour or so a day, take a very specific walk. Esther Kinsky, O-Ton: 1:09 - 1:16 - und für mich ist gehen einfach ein Lebensbedürfnis, und das verwächst dann natürlich auch mit der Arbeit, mit der schöpferischen Arbeit. Iain Sinclair O-Ton: 0:53 - 1:13 So we argue, we argue as we move between the realities of the city and the dreams that are deeper and richer and it's the lovely movement between these two things. So I think walking is inititally an erasure: it's putting aside all these concrete materials that you don't want and allowing liquid materials to come in. Sprecher 2 Übersetzer: Wir sind mit uns selbst im Zwiespalt, während wir uns zwischen der Wirklichkeit der Stadt und den Träumen bewegen, die dichter und tiefer sind. Diese herrliche Bewegung zwischen den beiden Zuständen ... Für mich heißt Gehen zuallererst: "Ausradieren". Man legt die Dinge beiseite, die man nicht will und lässt die flüssigen Materie ein. Autorin: Diese Leidenschaft für das Gehen, die Freude, ja fast schon Sucht am Zusammenspiel von Muskeln, Sinnen und Bewusstsein, von Assoziationsfähigkeit, Konzentration und Erinnerung haben viele Autoren: ein psychophysisches Bedürfnis, zu laufen. Wie der eben zitierte Seume, der vor gut zweihundert Jahren seine Leser in Atem hielt, und der als Anlass für seine monatelange Wanderschaft eben nicht Bildungshunger angab, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre. Er habe sich "sein Zwerchfell auseinanderwandeln" wollen, das er sich zuvor jahrelang als Lektor in Joachim Göschens Druckerei in Grimma zusammengesessen habe. Seume handelte dabei gewissermaßen im Zeitgeist. Denn, wie die amerikanischen Wanderforscherin Rebecca Solnit in ihrer Studie "Wanderlust" [sprich: "Wonderlast"] herausstellt, taten die englischen Dichter-Geschwister Dorothy und William Wordsworth und ihr Freund Samuel Coleridge ebenfalls pünktlich zur Wende ins 19. Jahrhundert den Schritt heraus aus der Parklandschaft, die ihrer Klasse bis dahin vorbehalten gewesen war. Und sie erfanden die Wanderung in der freien Natur als Ich- und Welterfahrung. Hierzu der Frankfurter Literaturwissenschaftler Jan Wilm. Jan Wilm, O-Ton 27:56 - 28:31 Und weil Sie jetzt diese Anekdote von Seume erwähnten: dass man einem Bettler zu Fuß ganz anders in die Augen sehen kann - in den Tagebüchern von Dorothy Wordsworth ist die Rede von der ökonomisch gebeutelten Zeit, es ist ganz interessant, sie beschreibt jeden Tag, wie sie gegangen ist und fast jeden Tag schreibt sie auch, wie sie bettelnde Kinder, bettelnde Menschen sah, und die Auseinandersetzung, die Konfrontation mit den Bettelnden ist eine ganz andere als sie es sein könnte, wenn man sich mit der Kutsche begegnete. Autorin: Die Lust der Schriftsteller am Gehen. Sie stellt sich oft schon bei den ersten vier Schritten ein, frühmorgens, vom Bett zum offenen Fenster. Dann der erste Kontakt mit der Außenwelt: ein tiefer Atemzug, herbgrüner Duft, unterlegt von Feuchtigkeit und Kühle, einer Note Geißblatt vielleicht, an der Grenze des Wahrnehmbaren. Der Blick schweift über die weißlich-grüne Fläche des Gartens, dessen unterschiedliche Formen in Schraffuren von Grün, Braun und weißen Licht pulsieren und ineinander schwimmen. Anschwellendes Rauschen des Windes in den Baumkronen, von fern, das rhythmische Rattern des Vorstadtzuges. Multisensorische Erfahrungen dringen ins Ich, das in seinen Konturen noch nicht ganz festgelegt ist. Es ist die angenehme Verwirrung des Zeit- und Ortsgefühls - genau so wie beim langen Wandern. Esther Kinsky, O-Ton: 6: 13 - 6:24 Also man ging und ging und wusste auch gar nicht mehr so richtig, wo man war, wenn man in diesem struppigen Marschland da herumstapfte, im Winter. Autorin: - sagt Esther Kinsky, Autorin des soeben erschienenen Buches "Am Fluss", das die Erlebnisse einer neunmonatigen Wandererkundung entlang des unscheinbaren Londoner Flüsschens Lea festhält. Eine kaum bekannte Gegend im einst industriellen Osten der Stadt, bevor dort nach 2004 das Olympiagelände entstand. Aber gerade die Entdeckung des im Alltag Übersehenen, ist ja Antrieb vieler wandernder Schriftsteller: dieses Gehen im Windschatten der lauten Welt, in einer Topografie der Übergänge. Der britische Dramatiker Mark Ravenhill sieht es so: Mark Ravenhill, O-Ton 10:28 And, actually, this place I've chosen, this Regent's Park outer circle, is very strange because it's unlike a city in many ways - it's really quite quiet but it's very definitely man-made. And maybe that's really one of the things that I find useful: that it's not quite a city place and it's not quite a country place - it's some other place. Sprecher 2, Übersetzer Und meine Laufstrecke, der Außenring des Regent Parks also, ist sehr merkwürdig, weil er sich überhaupt nicht wie eine Stadt anfühlt. Trotzdem ist er ganz klar menschengemacht. Und das kann ich vielleicht gut brauchen, dass es weder ein städtischer noch ein ländlicher Ort ist sondern irgend etwas anderes. Esther Kinsky, O-Ton: 12:54 - 13:39 Also, mir wurde dann auch so klar, dass diese riesige estuary, dieses Mündungsgebiet, sich da schon auftut und einfach dieses Reinfließen Rausfließen aus der Stadt, diese Bewegung - (Stimme oben). Ich ging von Norden nach Süden aber diese großen Einfallsstraßen, die sind ja alle Ost - West, die kreuzen diesen Weg und dessen wurde man sich unglaublich bewusst. Also auch, wie viele Schicksale da an Scheidewegen gestanden haben mögen, an diesem Fluss gerade, wo man merkt: hier kommt man jetzt aus dieser, ja, Teilswildnis wirklich in den urbanen Raum. Autorin: Wie sehr dieses dahingleitende Flüsschen dann auch sich spiegelndes Abbild des im Gehen dahin treibenden Bewusstseins wird, erkennt man schnell. Esther Kinsky, O-Ton, Lesung: 0:07 - 3:15 In den ersten Wochen am River Lea, ging ich immer nur bis zum Weidengehölz. Ich streifte den Erlenhain, wanderte über die Insel, kehrte zurück zum Weg am Fluss entlang durch die Eisenbahnunterführung. Unter dem Backsteinbogen war es immer feucht. Pfützen standen wochenlang, die Schritte auf dem unbefestigten Weg hallten rau von den Wänden wieder. Ich wartete bis ein Zug kam, Brücke und Boden bebten leicht, das Stoßen und Schlagen der Räder auf dem alten Gleisbett entfernte sich, ein Rhythmus, der mich an den Klang der Züge erinnerte, die durch die Nächte meiner Kindheit fuhren, wenn sich im Dunkel die Richtungen aller Geräusche verkehrten. Erst hinter der Unterführung begann der offene Flussweg. Die Schwäne gaben sich abwechselnd sittsam und schrill, der Himmel lag auf dem Wasser unter dem Spiegelbild der billigen kleinen Siedlungshäuser auf der anderen Seite, um die es immer still war. Ganz selten war jemand außer mir am River Lea unterwegs. Ein, zwei Male sah ich einen Angler, heimlich, zwischen zwei Büsche am Ufer geduckt, mit nervösem Blick, offensichtlich nicht einheimisch, doch kundig genug, um zu wissen, dass es sich hier nicht so einfach angeln ließ. [...] Vielleicht war er auch nur einer der berüchtigten Schwanenfänger, bei denen es, gelegentlichen Gerüchten zufolge, Sitte war, an Herbstabenden unter Brücken zu sitzen und auf offenem Feuer Schwäne zu braten, begleitet von fernen Klagelauten der Artgenossen der Beute. Der Weg verlief ein Stück zwischen dem Fluss und einem Sumpf mit hohem Schilf, der immer von Geräuschen erfüllt war. Von Wind und Getier, vor allem Vögel. Durch das Schilf waren Spazierstege angelegt, sicher von der gleichen Ordnungsliebe ersonnen wie die Rohdung im Erlenbruch und ebenso wie diese, eher als Schutz vor der Wildnis gedacht als für sie. Manchmal streifte eine Frau mit ihrem Hund auf den Stegen umher, die langen grauen Haare zu einem Zopf geflochten, ihre Kleidung sah winterlich, schilffarben aus. Ihr Hund wollte jagen und wartete bebend und mit unterdrücktem Fiepen auf ihr Handzeichen der Erlaubnis. Wenn sie die Hand hob, warf er sich ins Sumpfland. Unruhe machte sich zwischen den Stängeln breit, der Hund brachte eine kleine Beute. Einen Fußbreit aus der Stadt und schon wurde gegen den Hunger gejagt. In der Ferne sah ich das Weidengehölz, dort ging der Sumpf mit einem Tümpel zuende. Hinter den Weiden zweigte ein Weg ab in offenes Gelände, längs des Weges Raingebüsch des ländlichen England. Hasel, Weißdorn, Ulmen. Um den Tümpel weideten Kühe, sie blickten ahnungslos, wussten nichts davon, dass sie mit den heimlichen Jägern zusammen, zu Hütern dieser Zwischenwildnis bestellt waren. Autorin: Wandernde Schriftsteller wie Peter Handke etwa oder Elias Canetti schrieben und schreiben in diesen Momenten oder diesen Orten des Übergangs. Bemerkenswert ist Handkes Liebe zu einem geradezu industriell bewirtschafteten Wald nahe Paris. Der Roman "Mein Jahr in der Niemandsbucht" handelt vom Gehen durch diesen wenig romantischen Nutzwald und vom Schreiben in ihm. Sprecher 1 Zitat Handke Ich ging und ging während der letzten Wintertage im kalten Wind durch die Wälder hier, und bedachte, ob nicht eher ich es bin, der jenen anderen entfallen, von ihnen verloren gegeben ist. [Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht] Thomas Macho, O-Ton 20:00 - 20:26 Ich kann Handke gut verstehen, der nicht auf das Pathos der Wildnis `reinfallen will. Autorin: Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho. Thomas Macho, O-Ton Er hat natürlich die Vorstellung, dass er jetzt nicht einfach abgebildet werden will auf jemand, der das Wilde romantisier, sondern der einfach Gehen als so eine Art von Training macht - in Wahrnehmung, in Aufmerksamkeit, in Formen der Neugier, im Perspektivwechsel und solche Dinge. Autorin: Ob in diesem Wald oder beim Gehen in anderen Teilen der Welt, auf seinen langen Wanderungen erläuft sich Handke auch den erwünschten Zustand der Müdigkeit, "wenn alles Wollen weggewandert ist". Denn, so Handke, "dem ideal Müden wird Phantasie". Seit über vierzig Jahren schreibt der britische Autor Iain Sinclair über das Gehen: Iain Sinclair, O-Ton 16:44- 17:35 - it's all the senses sharpen, don't' they - especially if you're not walking for 20 minutes but if you walk for a whole day. You've gone through all the shifts of light - and you've responded to it, and you've gone through periods of being tired, and then coming back to being energised, you've probably stopped and engaged yourself with somebody for food and drink along the way, and all your senses are hightened by the end of the day and in that kind of tiredness your not self-censoring. Because all we're doing all the time is rebuffing information - you couldn't survive in a city, unless you have ways of sealing yourself off. And the walking is a way - a methodology - of slipping out of that and just becoming freed-up and liberated and allowing all the senses to be hightened and active. Sprecher 2 Übersetzer Es schärft eben die Sinne - vor allem, wenn Sie nicht nur 20 Minuten laufen, sondern den ganzen Tag. Dann haben Sie all die Lichtveränderungen durchlebt, Sie haben Zeiten der Müdigkeit durchgemacht, sie haben vielleicht bei jemandem etwas zu essen gekauft oder zu trinken. Und am Abend, in Ihrer Müdigkeit, kontrollieren Sie sich nicht mehr - wir wehren ja ständig Informationen ab, sonst könnten Sie gar nicht überleben in der Stadt. Das Gehen ist eine Methode, sich dem zu entziehen und so die Sinne zu schärfen und aktiv werden zu lassen. Autorin: Sinclair ist Londons berühmtester Fußgänger und gehört zu den bekannten Schriftstellern Großbritanniens. Demnächst wird er von Esther Kinsky endlich auch ins Deutsche übersetzt. In seinen zahlreichen Romanen tritt fast immer der Osten der Metropole als zentrale Figur auf. Jeden Morgen um sieben Uhr läuft er die immergleiche Strecke ab. Er ist eine Art Seismologe, der über die Jahre feine Veränderungen seiner Gegend registriert und in seinen Büchern erzählt: soziologische, politische, akustische. So beweist er, dass die Überführung der Selbstauflösung beim Gehen ins Produktive recht leicht herzustellen ist. Ein Schritt vor die Haustür und die Welt wird anders, magisch. Etwa in seinem Buch "Hackney. That Red-Rose Empire", dem er den Untertitel gibt: "A Confidential Report" - ein Geheimbericht. Sprecher 2 Übersetzer: "Stepping out" - hinaustreten, die Ausdehnung der Stadt vergrößert sich durch immer schlechter werdende Sicht, die Neuheit einer entfernt liegenden weißbebänderten King's Cross Siedlung: Highgate. Die lang- herabgleitende Rolltreppe des Hügels, sein gebrochener Wohlstand. Geht man hier, wird man ein Teil von all dem: Privatschulen für Privatvermögen, Whittingtons schwarze Katze, Marvells Absteige. Anna hat hier gewohnt, in ihren Träumen. Hoch über dem Sumpf. [Iain Sinclair, Hackney. That Red-Rose Empire. A Confidential Report. London, 2009, Hamish Hamilton, S. 17. Übers. GH] Autorin: "Stepping out", hinaustreten und woanders sein. Viele berühmte Wandertexte der Literaturgeschichte setzen sich mit diesem Phänomen auseinander. Etwa Samuel Becketts, 1934 erschienene Erzählung "Bim Bam": Sprecher1 Zitat Samuel Beckett: Der bloße Akt des Aufstehens und Fortgehens, gleichgültig wo und wohin, tat ihm wohl. Soviel stand fest. Dahin, daher, über die Länder, die Meere! das konnte er sich nicht leisten; denn er war arm. In seinem bescheidenen Rahmen aber tat er das mögliche. Vom Alkoven zum Fenster, vom Kinder- ins Schlafzimmer, sogar von einem Stadtviertel ins nächste und wieder zurück, diese kleinen Akte des Fortbewegens gelangen ihm durchaus. [Samuel Beckett, Bim Bam, in: ders., Mehr Prügel als Flügel, Frankfurt / M., 1996, Suhrkamp Verlag, S. 37] Thomas Macho, O-Ton: 31:39 - 32:02 Also Dasein ist eigentlich Wegsein, und wenn man da sein will, das heißt also eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich und die Welt haben will, dann muss man ein Stück weit weg sein von diesen vielfältigen Formen von sozusagen mobilen Sesshaftigkeiten, die durch die mobilen und nomadischen Objekte - Attali hat ja damals die Handies und Laptops tatsächlich als nomadische Objekte bezeichnet. Autorin: Auch Tomas Espedal, ein führender Vertreter der momentanen Wanderbewegung in der Literatur, reflektiert diesen Zusammenhang. In seinem 2011 erschienen Buch "Gehen oder die Kunst ein wildes und poetisches Leben zu führen", heißt es: Sprecher 1 Zitat Tomas Espedal: Der Traum vom Verschwinden. Vom Fortsein. Eines Tages zur Tür hinaustreten und nicht wiederkehren. Der Traum ein anderer zu werden. Freunde und Familie zu verlassen, sich selbst zu verlassen und ein anderer zu werden. [Tomas Espedal, "Gehen oder die Kunst ein wildes und poetisches Leben zu führen". Berlin 2011, Mathes&Seitz, S. 15] Esther Kinsky, O-Ton, 16:23 - 16:42 Ja, ich habe mich nicht so konkret mit der Frage beschäftigt, es ist nur eine Tatsache,16:30 es ist nur wirklich ne Tatsache - nur ist das so ein Kommentar, der mir immer begegnet, dass mein Schreiben nun mal nicht so gender specific (lacht) ist. Autorin Jede Zeit stellt sich mit ihren Gehtexten auch selbst dar. Heute sind es vor allem Männer, die, nicht selten in der Art eines journal intim, Auskunft geben über ihren aktuellen Lebensweg. Sprecher 1 Zitat Espedal Du bist glücklich. Hier und jetzt. Grundlos. In diesem Moment bist du glücklich, ein Geschenk. Anders lässt es sich nicht beschreiben. Ich habe nicht die geringste Veranlassung, glücklich zu sein. Ich bin verkatert, deprimiert, habe vier Tage ununterbrochen getrunken, wohne allein in einem dreckigen Haus in einer schäbigen Straße [...] ich trinke und gehe vor die Hunde, und dann bin ich urplötzlich glücklich. Warum? [...] Langsam wird mir klar: Du bist glücklich, weil Du gehst. [Tomas Espedal, Gehen oder die Kunst ein wildes und poetisches Leben zu führen. Berlin 2011, Mathes&Seitz, S. 8] Autorin: In einem ebenfalls dringlichen aber distanzierteren Unterton unternimmt Robert Walser den "literarischen Schritt" in seine Erzählungen. Etwa in "Der Spaziergang" von 1917. Sprecher 1, Zitat Robert Walser Ich teile mit, dass ich eines schönen Vormittags, ich weiß nicht mehr genau um wie viel Uhr, da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen, ankam, den Hut auf den Kopf setzte, das Schreib- oder Geisterzimmer verlies, die Treppe hinunterlief, um auf die Straße zu eilen. [...] Soviel ich mich heute, wo ich dieses alles schreibe noch zu erinnern vermag, befand ich mich, als ich auf die offene helle und heitere Straße trat, in einer romantisch-abenteuerlichen Gemütsverfassung, die mich tief beglückte. Die morgendliche Welt, die sich vor meinen Augen ausbreitete, erschien mir so schön, als sähe ich sie zum ersten Mal. Alles, was ich erblickte, machte mir den angenehmen Eindruck der Freundlichkeit, Güte und Jugend. Rasch vergaß ich, dass ich oben in meiner Stube soeben noch düster über ein leeres Blatt Papier hingebrütet hatte. [Robert Walser, Der Spaziergang. Prosastücke und Kleine Prosa. Frankfurt / M, Suhrkamp Verlag, S. 7] Autorin: Geradezu überfallartig hört sich der Aufbruch des Protagonisten an in einem vier Jahre zuvor veröffentlichten Kurztext von Franz Kafka. In "Der plötzliche Spaziergang" zeigt sich Kafka als Autor einer überraschend muskulösen, körperbetonten Prosa. Sprecher 1, Zitat Franz Kafka: Wenn man sich am Abend endgültig entschlossen zu haben scheint, zu Hause zu bleiben, den Hausrock angezogen hat, nach dem Nachtmahl beim beleuchteten Tische sitzt und jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen hat, nach dessen Beendigung man gewohnheitsgemäß schlafen geht, wenn draußen ein unfreundliches Wetter ist, welches das Zuhausebleiben selbstverständlich macht, wenn man jetzt auch schon so lange bei Tisch stillgehalten hat, daß das Weggehen allgemeines Erstaunen hervorrufen müsste, wenn nun auch schon das Treppenhaus dunkel und das Haustor gesperrt ist, und wenn man nun trotz alledem in einem plötzlichen Unbehagen aufsteht, den Rock wechselt, sofort straßenmäßig angezogen erscheint, weggehen zu müssen erklärt, [...] je nach der Schnelligkeit, mit der man die Wohnungstür zuschlägt mehr oder weniger Ärger zu hinterlassen glaubt, wenn man sich auf der Gasse wiederfindet, mit Gliedern, die diese schon unerwartete Freiheit, die man ihnen verschafft hat, mit besonderer Beweglichkeit beantworten, wenn man durch diesen einen Entschluß alle Entschlussfähigkeit in sich gesammelt fühlt, wenn man mit größerer als der gewöhnlichen Bedeutung erkennt, dass man ja mehr Kraft als Bedürfnis hat, die schnellste Veränderung leicht zu bewirken und zu ertragen, und wenn man so die langen Gassen hinläuft, - dann ist man für diesen Abend gänzlich aus seiner Familie ausgetreten, die ins Wesenlose abschwenkt, während man selbst, ganz fest, schwarz vor Umrissenheit, hinten die Schenkel schlagend, sich zu seiner wahren Gestalt erhebt. [Frank Kafka, "Der plötzliche Spaziergang", in: ders., Betrachtung, München dtv, 2006, S. 24 - 26) Autorin: Kafka schildert diesen psychischen Vorgang der Selbstwerdung im Weggehen in einem einzigen langen Hauptsatz, der trotz seiner Atemlosigkeit wie eine Zeitlupe wirkt. So entsteht eine Dramatik des Gehens, die zeittypisch ist: Fast scheint es, als sei das Drängen der deutschen Romantik hier noch zu spüren, einer Epoche, in der aus dem Laufen etwas sehr Existentielles wurde. Britisch gelassener und bodenständiger klingt dieses Bedürfnis bei der großen Fußgängerin Virginia Woolf, die ein Jahr älter war als Kafka und vier Jahre jünger als Walser. Sprecherin, Zitat Virginia Woolf: Wenn wir an einem schönen frühen Abends zwischen vier und sechs aus dem Haus treten, werfen wir das Ich ab, an dem uns unsere Freunde erkennen und werden Teil jener großen republikanischen Armee anonymer Wanderer, deren Gesellschaft so angenehm ist nach der Einsamkeit des eigenen Zimmers. (Virginia Woolf, "Stadtbummel. Ein Londoner Abenteuer", in, dies., Der Tod des Falters. Essays, Frankfurt / M., S. Fischer Verlag, 1997, S. 23) Autorin: Wie hier in dem 1927 veröffentlichten Essay "Stadtbummel. Ein Londoner Abenteuer", feiert Virginia Woolf auch in ihren Romanen, Tagebüchern, Briefen und Essays die anregende Wirkung des scheinbar ziellosen Gehens, das besonders wirkungsvoll ist, zu Tageszeiten, die das Transzendieren vom Ich zur Welt begünstigen. Mark Ravenhill vermutet, dass solche Momente vor allem abends oder nachts - auf jeden Fall bei schwachem Licht - entstehen. Mark Ravenhill, O-Ton 13:28 - 13:53 I would guess most of these writers are talking about night walks - certainly Dickens ... I suppose it is the balance of being stimulated but not being overwhelmed by it and that is somehow more possible at night. Sprecherin, Zitat Virginia Woolf: Die Stunde sollte der frühe Abend sein und die Jahreszeit Winter, denn im Winter sind die Champagnerklarheit der Luft und die Geselligkeit der Straße wohltuend. Die Abendstunde gibt uns auch die Verantwortungslosigkeit, die Dunkelheit und Lampenlicht gewähren, Wir sind nicht mehr ganz wir selbst. Denn dort [in unserem Zimmer] sitzen wir umgeben von Gegenständen, die unaufhörlich die Merkwürdigkeiten unseres eigenen Naturells ausdrücken und die Erinnerungen an unsere eigenen Erlebnisse bestärken. [...] Doch wenn die Tür hinter uns zufällt, verschwindet das alles. Die muschelartige Hülle, die unsere Seele um uns herum absondert, um sich eine Behausung zu schaffen, um sich eine von anderen verschiedene Gestalt zu geben, wird zerbrochen, und von all diesen Runzeln und Rauhheiten bleibt in der Mitte eine Auster des Wahrnehmungsvermögens, ein riesiges Auge. [Virginia Woolf, ebd., S. 23 /24] Autorin: So wird die durch die Stadt wandernde Frau zu einem Bilder und Rhythmen aufsaugenden Wesen, das sich Dinge einverleibt, die es vor sich sieht, hört und riecht. Ein Luxus, den sich Esther Kinsky knapp 90 Jahre später ebenfalls ins London gönnt: Esther Kinsky, 0-Ton: 7:11 - 7:22 Ich hab es mir wirklich geleistet, mich nur auf gehen, beobachten, fotografieren zu konzentrieren, neun Monate lang. Autorin: Und so entstehen vignettenhafte Bilder, auch im mitschauenden Leserbewusstsein. Die Verwandlung in ein "gehendes Auge" gibt beiden Schriftstellerinnen auch Gelegenheit, sich als Bildgestalterinnen zu profilieren. Sprecherin Zitat Virginia Woolf: Das Auge ist kein Bergmann, kein Taucher, kein Sucher nach einem vergrabenen Schatz. Es lässt uns sanft den Strom hinunter treiben; ruht, hält inne, das Gehirn schläft vielleicht, während es schaut. Wie schön eine Londoner Straße dann ist mit ihren Lichtinseln und ihren langen Hainen der Dunkelheit, und auf einer Seite vielleicht eine mit Bäumen bewachsene, grasgesprenkelte Stelle. [Woolf, ebd. S. ] Autorin: Natürlich ist Woolfs wanderndes Auge auch ein wenig unheimlich. Auch das ist zeittypisch. Spürbar ist es vor allem dann, wenn es vom Registrieren der impressionistisch schönen Stadtoberfläche ablässt und sich geradezu vampiristisch in die Beobachtung von Menschen und deren Geschichten verbeißt. "Raubauge" wird Samuel Beckett, ebenfalls ein großer Wanderer, dieses manchmal getriebene Jagen nach Sichtbarem, oft nach Gesichtern, in seinem kurzen Prosatext "Ausgeträumt träumen" nennen. Iain Sinclair spricht von sich als einem Stalker, um sich vom Typus des genießerischen Flaneurs abzusetzen. Er versteht sich als Stadtwanderer auf Raubzug. Seine Beute sind Geschichten, Szenen, historische Assoziationen und die Schwingungen eines bestimmten Ortes. Iain Sinclair, O-Ton 2:33 - 244 Whereas the other form of walking is more like a deeper from of stalking. You have a prey and you're moving out after it and all kinds of things happen as a result of that. Autorin Wie bei zahlreichen anderen Kollegen, schlägt sich der Rhythmus des Gehens bei Virginia Woolf auch in der Dramaturgie ihrer Texte nieder. Er wird mäandernd, assoziativ, nicht-linear, sprunghaft, kurz spaziergängerisch, wie Mark Ravenhill in Woolfs gesellschaftskritischen Essay "Ein eigenes Zimmer" beobachtet: Mark Ravenhill, O-Ton 42:50 -43:21 - and she realizes, particularly for gender but also for people with different backgrounds and different classes that there are routes that you can take and that you can't take, and it`s that that prompts all sorts of associations and thoughts. But that is a piece, that's a walking piece and the associtions that - passing under a bridge and passing across the lawn and into a college - so, my sense when I was reading that book was of being inside somebody's head as they took a walk. Sprecher 2 Übersetzer Und ihr fällt auf - vor allem in Bezug auf gender aber auch auf unterschiedliche Herkunft oder Klasse, - dass man über manche Wege gehen darf und über andere nicht. Und daraus ergeben sich alle möglichen Gedanken und Assoziationen. Das Stück ist ein Geh-Text. Mir jedenfalls kam es beim Lesen so vor, als sei ich im Kopf von jemandem, der geht. Sprecherin, Zitat Virginia Woolf Da war ich also (nennen sie mich Mary Beton, Mary Seton, Mary Carmichael oder wie immer es ihnen gefällt, es ist vollkommen unwichtig) und saß vor ein, zwei Wochen bei schönem Oktoberwetter am Ufer eines Flusses, in Gedanken versunken. [...] Man hätte dort rund um die Uhr sitzen können, in Gedanken versunken. Die Gedanken - um sie mit einem stolzeren Namen zu belegen als sie verdienten - hatten ihre Angelschnur in den Wasserlauf hinuntergelassen. Sie schwang, Minute um Minute, hierhin und dorthin zwischen den Spiegelungen und den Pflanzen, [...] bis - Sie kennen den kleinen Ruck - die plötzliche Verdichtung einer Idee am Ende der Angelschnur und dann das behutsame Einholen und sorgfältige Ausbreiten. [...] Doch leider, im Gras ausgelegt, wie klein, wie unbedeutend sah da mein Gedanke aus. [...] Aber wie klein er auch war, er besaß, trotzdem, die geheimnisvolle Eigenschaft seiner Art - in den Kopf zurückgesteckt, wurde er sofort sehr aufregend und wichtig und [...] löste einen solchen Schwall und Tumult von Ideen aus, dass es unmöglich war, stillzusitzen. So kam es, dass ich in außerordentlicher Eile über eine Grasfläche ging. Augenblicklich erhob sich die Gestalt eines Mannes, um mir den Weg abzuschneiden. [...] Beim Schlendern durch jene Colleges, vorbei an jenen uralten Gebäuden, schien die Rauhheit der Gegenwart fortgeglättet. [...] Aber hier stand ich tatsächlich vor der Tür, die in die Bibliothek selber führt. Ich muss sie geöffnet haben, denn augenblicklich erschien, wie ein Schutzengel mit einem Geflatter schwarzen Talars statt weißer Flügel den Weg versperrend, ein abwehrender, silbriger, freundlicher Herr, der, indes er mich fortwinkte, mit leiser Stimme bedauerte, dass Damen nur Zutritt zu der Bibliothek haben, wenn sie von einem Fellow des Colleges begleitet werden. [Virginia Woolf, Ein eigene Zimmer, Frankfurt / M, 2012, S. Fischer Verlag, S. 9/10] Autorin Texte, wie Virginia Woolfs Essay "Ein eigenes Zimmer", die aus so einer körperlichen Bewegung entstehen machen Umwege, sie schweifen ab, springen und schneiden aus. Eine Praxis, die immer wieder auch gesellschaftskritisch verstanden wurde. Sprecher 1 Zitat Seume: Du weißt, dass Schreibseligkeit nicht eben meine Erbsünde ist, und wirst mir auch Deiner selbst wegen sehr gern verzeihen, wenn ich Dir eher zu wenig als zu viel erzähle. Wenn ich recht viel hätte schreiben wollen, hätte ich eben so gut zuhause in meinem Postersessel bleiben können. Nimm also mit Fragmenten vorlieb, aus denen am Ende doch unser Leben besteht. [Seume, ebd., S. 24] Autorin: Auch in den Büchern des Wanderers Handke erleben wir zum Beispiel keine Geschichten, keinen Plot, sondern ein sich-Abzeichnen der Dinge in Sprache, das typisch ist für ein Schreiben in spaziergängerischer Aufmerksamkeit. Handke spricht in seiner "Geschichte des Bleistifts" von einem "Erzählen mit den Dingen", nicht "von ihnen". Gleichzeitig beschreibt er seine Schreibtechnik wie Schraffieren oder Durchpausen: die Schrift komme unmittelbar von den Gegenständen. In diesen Zusammenhang gehört auch die künstlerische Strategie des Auslassens, der Andeutung, die die Figur und ihre Umgebung so ausschnitthaft darstellt, wie die rhythmische Kopf- und Augenbewegung eines Fußgängers dies wahrnehmen würde. Sprecher 1: Zitat Handke Nun war es an diesem Tag zu spät noch einen Anfang zu machen. Gewohnt, sein Spiel zu verzögern, war er, wieder einmal, geradezu erleichtert und nutzte den Aufschub für einen Wanderung in die Steppe, um dort, sozusagen, ein paar mögliche Wege zu testen, auf ihre Bodenbeschaffenheit hin - weder zu hart noch zu weich - und auf ihre Luftverhältnisse: nicht gar zu sehr den Weststürmen ausgesetzt, aber auch nicht gar zu windstill. Dabei nun geschah etwas mit ihm. [Peter Handke, "Versuch über die Jukebox", in: ders., Versuch über die Müdigkeit, Versuch über die Jukebox, Versuch über den geglückten Tag, Frankfurt / M. 2001, Suhrkamp Verlag, S. 95 / 96] Autorin: Wie die Kunst des Auslassens, ist die Wiederholung, die der Mechanik des Gehens zugrunde liegt, ein Stilmittel. So entstehen etwa bei Samuel Beckett oder Thomas Bernhard Texte, die sich scheinbar sträuben gelesen zu werden. Texte von manisch Wandernden, deren Form des Schreibens etwas Extremes hat, wie etwa Bernhards Text "Gehen". Sprecher 1 Zitat Thomas Bernhard Während ich, bevor Karrer verrückt geworden ist, nur am Mittwoch mit Oehler gegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Karrer verrückt geworden ist, auch am Montag mit Oehler. Weil Karrer am Montag mit mir gegangen ist, gehen Sie, nachdem Karrer am Montag nicht mehr mit mir geht, auch am Montag mit mir, sagt Oehler, nachdem Karrer verrückt und sofort nach Steinhof hinaufgekommen ist. Und ohne zu zögern, habe ich zu Oehler gesagt, gut, gehen wir auch am Montag, nachdem Karrer verrückt geworden ist und in Steinhof ist. Während wir am Mittwoch immer in die eine (in die östliche) Richtung gehen, gehen wir am Montag in die westliche, auffallenderweise gehen wir am Montag viel schneller als am Mittwoch, wahrscheinlich, denke ich, ist Oehler mit Karrer immer viel schneller gegangen als mit mir, weil er am Mittwoch viel langsamer, am Montag viel schneller geht. [Thomas Bernhard, "Gehen", in: ders., Werke Band 2; Frankfurt / M, S. 143] Jan Wilm, O-Ton: 11:47- 12:41 Aber ich würde schon sagen, dass das Gehen - wenn man es bei Beckett, bei Bernhard, bei Coetzee - dann auch mit dem Prozess des Schreibens verbinden möchte, den ich auch dann als eine Art von Gehen sehen wollen würde, keine Art von Gehen ist, die jetzt wirklich weiß, erstens, wo sie hinkommt, und zweitens auch kein Gehen, das wirklich - ja eben auch da es nicht wirklich weiß wo es hinwill -, weiß wie irgendwelche Probleme, irgendwelche Hindernisse aufzulösen sind. Ich würde es dort eher, gerade wenn man es auch auf den Schreibprozess bezieht, sehen als etwas, das auch ein bisschen ein Ausprobieren ist, durchaus auch ein Gehen in eine Offenheit, in eine Dunkelheit hinein, auch in etwas Weißes hinein, das sich dann langsam erst mit irgendwelchen Versatzstücken wirklich ausfüllt oder vom Schriftsteller ausgefüllt wird. Autorin: Nicht wissen, wohin beim Gehen und beim Schreiben, das ist für Mark Ravenhill eine wichtige Vorraussetzung. Mark Ravenhill O-Ton: 25:53 - 26:04 Acutally, one other thing I love and I don't know how it feeds into writing but I do feel often, particularly when I start writing, this other thing of being totally lost which I do really like. Sprecher 2 Übersetzer Übrigens finde ich noch etwas anderes toll - auch wenn ich nicht genau weiß, wie das mit dem Schreiben zusammenhängt - aber ich mag es total gern, wenn ich mich vollkommen verlaufe. Autorin: Mark Ravenhill denkt nach. Dann fällt es ihm ein: Mark Ravenhill O-Ton: 26:47 - 27:16 And I think, if I was going to draw a comparison I think that part of the writer's brain needs to be able to do that as well, certainly with the first draft I don't have a map, I don'thave a route, I allow myself just to see were one thing leads me and another thing leads me. And sometimes, you know, you realise that you've disappeared into a little cul de sac, or you're completely - or you've been walking up and down the same road three times without realising it. Sprecher 2 Übersetzer Wenn ich einen Vergleich ziehen würde, dann wohl den, dass meiner Meinung nach ein Autor sich zumindest mit einem Teil seines Gehirns verlaufen können sollte. Ich habe jedenfalls keine Landkarte, wenn ich an meiner ersten Fassung sitze. Da weiß ich nicht, wo's langgeht. Ich lasse es zu, einfach nur zu beobachten, wo mich die ein oder andere Sache hinführt. Und dann fällt einem manchmal auf, dass man in einer kleinen Sackgasse gelandet ist oder dass man dreimal die gleiche Strasse lang gelaufen ist, ohne es zu merken. Autorin: College-Gärten, Wälder, Bergschluchten, Laubengänge, Straßen, Plätze, Innenräume gehören zu den Schauplätzen, an denen sich zahlreiche Wanderungen der Kulturgeschichte abspielen. Denn ohne körperliche Bewegung, heißt es, konnten antike Philosophen nicht denken, die Aufklärer nicht finden und die Romantiker nicht suchen. Sind diese Gehräume wirklich so entscheidend? Thomas Macho, O-Ton: 19:30 - 19:58 Natürlich. Da gibt es ganz große Unterschiede. Je nachdem, worüber man läuft und auch, welchen Untergrund man sieht und wahrnimmt. Das sind Effekte, die ziemlich interessant sind und da spielt der Unterschied zwischen Groß- und Kleinstädten eine Rolle, und da spielt natürlich auch der Unterschied zwischen einem Stadtwald oder einem Wald, der weiter abliegt von bewohnten Gebieten eine ganz große Rolle. Autorin: Kulturwissenschaftler wie Thomas Macho haben in den letzten Jahren viel über das Wandern nachgedacht und über das, was bei 5 km pro Stunde in den Köpfen der Wandernden vor sich geht. Denn auch im Alltag hat das Laufen Hochkonjunktur: es wird gepilgert und gewandert, was das Zeug hält. Am Mount Everest steht man Schlange und bezwingt ihn im Gänsemarsch. Thomas Macho: 00:55 - 1:32 - und dann kommt natürlich dazu, dass es auch eine Art von Inbesitznahme des Gehens durch die Therapeuten und die Lebenskünstler gibt, der man nicht gerne folgt. Also Schrittzähler, die einem sagen, wie viele Schritte man am Tag schon absolviert hat oder noch absolvieren muss. Das ist natürlich der Tod des Gehens. Zum Gehen gehört auch die Unbewusstheit dieses Flanierens, Nachdenkens, des Ungebundenen. Wenn man beim Gehen darüber nachdenken muss, wie viele Schritte man jetzt absolviert hat, dann ist es schon verloren und dann macht's keinen Spaß mehr. Autorin: Thomas Macho ist selbst ein leidenschaftlicher Spaziergänger. Und wenn er auch die Nebeneffekte der neuen Wanderbewegung mit einiger Skepsis registriert, ist er davon überzeugt, Thomas Macho, O-Ton 43:10 -43:29 - dass das Gehen eine Form ist, Depressionen zu kurieren. Depressionen habe offenbar etwas mit dem Aufenthalt in Räumen und in engen Räumen zu tun - und das, was man mit Schwermut und dem Niederdrückenden und dass einem die Decke auf den Kopf fällt meint, das vergeht im Gehen. Autorin: Bereits Friedrich Nietzsche oder Sören Kierkegaard machten in der Analyse ihrer Geh- und Schreibpraxis tatsächlich physiologische Beobachtungen, die therapeutischen Charakter im heutigen Sinne haben. Sprecher 1: Zitat Kierkegaard: Vor allem verliere nicht Deinen Wunsch, zu gehen: Ich erlaufe mir jeden Tag den Zustand des Wohlseins und laufe jeder Krankheit davon, ich habe mich in meinen schönsten Gedanken ergangen und weiß von keinem so bedrückenden, dass ich ihm nicht entfliehen könnte. Aber beim Stillsitzen und je mehr man stillsitzt, desto näher ist man dem Gefühl der Krankheit. Daher, wenn man in Bewegung bleibt, wird alles in Ordnung sein. Autorin: Und hier Friedrich Nietzsche: Sprecher 1, Zitat Nietzsche: So wenig wie möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung - in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurteile kommen von den Eingeweiden. [Friedrich Nietzsche, Ecce Homo. München 1990, S. 486] Autorin: Beides Beobachtungen, die auch Mark Ravenhill bestätigt: Mark Ravenhill, O-Ton: 02:21-03:06 But I notice when I sit my thoughts become quite melancholy and quite angry and quite bitter often and I think that's a necessary resource to draw on for your writing as well to - really two or three hours sitting alone and I can really convince myself how terrible the world is and how awful human beings are to each other. But then I noticed when I was training to run that I - I didn't suddenly become a reckless optimist but I did notice that, actually, my thoughts about the world were more constructive than when I was sitting still. Sprecher 2 Übersetzer Mir fällt auf, dass ich im Sitzen auf ziemlich melancholische Gedanken komme, oder wütende und enttäuschte, und ich glaube, dass das für das Schreiben eine notwendige Quelle sein kann - ein paar Stunden still sitzen und ich kann mich wirklich in die Überzeugung reinsteigern, dass die Welt ein furchtbarer Ort ist und die Menschen sich abscheuliche Dinge antun. Bei meinem Lauftraining ist mir dann aufgefallen, dass ich - na ja, vielleicht nicht gerade ein übermütiger Optimist wurde - aber, dass meine Sicht auf die Welt eindeutig konstruktiver war als im Sitzen. Autorin: Diese fast harmonische Verstellung des milden, schweifend-assoziativen und dennoch scharfen Denkens im Wiege- oder Laufschritt muss auch Beckett gefesselt haben, denn seine Kunstfiguren durchwandern, oft komisch gebrochen aber immer variantenreich, sein gesamtes Werk. Becketts Geschöpfe interessieren sich sehr für ihre Laufausrüstung. Schuhe sind ein großes Thema, sie beklagen kaputte Füße und haben ein Auge für die Geh-Auffälligkeiten anderer. Sprecher 1, Zitat, Samuel Beckett: Watts Gewohnheit, geradewegs, zum Beispiel, nach Osten zu gehen, bestand darin, dass er seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Norden drehte und gleichzeitig sein rechtes Bein so weit wie möglich nach Süden schleuderte, dann seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Süden drehte und gleichzeitig sein linkes Bein so weit wie möglich nach Norden schleuderte, dann wieder seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Norden drehte und sein rechtes Bein so weit wie möglich nach Süden schleuderte [...] und so weiter, immer und immer wieder, viele, viele Male, bis er sein Ziel erreichte und sich hinsetzen konnte. [Samuel Beckett, Watt, Frankfurt / M., 1995, Suhrkamp Verlag, S. 30/ 31] Autorin: Komische Gangarten faszinierten Beckett, der in seinen Romanmanuskripten oft comicartige Bewegungsstudien entwarf. In seinem Werk wimmelt es dann derart von grotesken Varianten des aufrechten Gangs, dass mancher Leser sich schon an Monty Pythons "Ministry of Silly Walks" erinnert fühlte. "Er hatte", heißt es zum Beispiel über den Detektive Cooper, der im Roman "Murphy" einem Beschattungsauftrag nachkommt, "einen eigenartigen gehetzten Gang, wie der eines mittellosen Diabetikers in einer fremden Stadt." Watts exzentrische Fortbewegungsart, dieser "seiltänzerische Taumel", wirkte übrigens weit über die Grenzen der Literatur hinaus und schrieb 1968 mit Bruce Naumans Videoarbeit Slow Angle Walk (Beckett Walk) Kunstgeschichte. Wer so präzise, kompetent und unermüdlich wie er über das Laufen schreibt, schöpft meist aus der eigenen Erfahrung. Schon als Junge und Jugendlicher wanderte der junge Sam enorm weite Strecken im Dubliner Umlands mit seinem Vater, einem großen Sportsfan. Sprecher 1, Zitat Beckett Letzten Sonntag machte ich mich zu einem Spaziergang auf - von Rathfarnham nach Enniskerry, durch den Pine Forest. Alles schön und lancinant, und hinkend im Dunkeln den Berg hinab nach Enniskerry. [...] Perlorson sagt, er versteht Rimbaud, der im Gehen dichtete. Doch wenn ich gehe, versinkt mein Verstand in einer äußerst wohligen & melancholischen Schlaffheit, wird zum carrefour der Erinnerungen, an die Kindheit zumeist, moulin á larmes. [Samuel Beckett. Weitermachen ist mehr als ich tun kann. Briefe 1929- 1940, Berlin, 2013, Suhrkamp Verlag, S. 166] Autorin: Schon früh wurde für Beckett das Laufen nicht nur zur Wahrnehmungsschule sondern auch zum physischen Ausdruck seiner Gemütsbewegungen. So haben sich die langen Fußmärsche in sein körperliches wie emotionales Gedächtnis eingeschrieben, was deutlich wird an seiner Reaktion auf den plötzlichen Tod des geliebten Vaters: "Ich kann nicht über ihn schreiben. Ich kann ihm nur nachwandern über die Felder und hinter ihm her in die Gräben steigen." Geradezu leitmotivisch taucht dieses Zusammenspiel zwischen Körper und Geist auch in Becketts Berliner Tagebucheinträgen auf und sicher ist es kein Zufall, wenn die wundervoll atmosphärische Beschreibung seines Silvesterspaziergangs 1936 - "wunderschöner Spaziergang, im Zickzack durch den Tiergarten" -, auf dem, wie so oft, die Abenddämmerung seine Beobachtungsgabe anregt in dem Ausruf kulminiert: "How I ADORE Solitude!" Alleinsein - ein wichtiges Stichwort. Fast alle der hier vorgestellten Schriftsteller gehen ohne Begleitung. Würde Mark Ravenhill zum Beispiel in Gesellschaft gehen? Mark Ravenhill, O-Ton 16:16 That would, that would absolutely horrify me (lacht), that would be stealing my thinking time away from me. Autorin: Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho hat eine interessante Erklärung: Thomas Macho, O-Ton: 24:17 Mit anderen zu gehen ist aus meiner Perspektive nur im Lehren möglich, und ich habe immer das Gefühl, dass viele, die gut und gern gemeinsam gehen - da gehört auch Canetti dazu -, deshalb gerne gemeinsam gehen, weil sie gerne belehren. Autorin: Belehren will mancher literarischer Spaziergänger. Doch für Mark Ravenhill kann die Literatur der Gesellschaft auch etwas schenken; etwas, das der Autor, die Autorin im Gehen gewonnen haben mag: Mark Ravenhill, O-Ton: 02:12- 02:20 So I think still or walking, one of the things that the writer has to offer contemporary society is quiet and not really doing anything, and, actually, I think in different ways for artists to offer possibilities of something that exists for what it is - even the word "leasure" implies that it is the opposite of work - but just something that is.That it's time that exists for it's own sake and for it's own worth and that it's neither leasure nor work. And I think, you know, partly the work of art itself can be that - but the process of making the work of art can be that too. Sprecher 2 Übersetzer Ob im Gehen oder im Sitzen - eine Sache, die ein Schriftsteller der heutigen Gesellschaft geben kann ist ein Gefühl der Ruhe - und des Nichtstun. Und wenn Künstler Möglichkeiten anbieten, etwas zu erleben um seiner selbst willen - nicht als Freizeitgestaltung, dann wäre es ja schon wieder das Gegenteil von Arbeit - nein, etwas, das einfach nur ist. Also Zeit, die einen Wert an sich hat und weder Arbeit noch Freizeit ist. 1