Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) DeutschlandRadio Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 01.10.2012, 19.30 Uhr Einsame Spitze. Warum der Elite die Ostdeutschen fehlen. Von Susanne Balthasar Sprecher: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, auch 22 Jahre nach der Wiedervereinigung sind Ostdeutsche, insbesondere gebürtige Brandenburger nur selten in Führungspositionen der Landesverwaltung anzutreffen. In den Ministerien gibt es kaum einen Abteilungsleiter ostdeutscher Herkunft. In den mittleren Führungsebenen sind oftmals nur zirka 20-30 Prozent gebürtige Ostdeutsche beschäftigt. In den Führungsebenen der nachgeordneten Geschäftsbereiche scheint es noch düsterer zu sein... Regie: langsam ausblenden Musik Sprecher vom Dienst: Einsame Spitze. Warum der Elite die Ostdeutschen fehlen Ein Feature von Susanne Balthasar Musik Atmo Rotkäppchensalon Autorin: Die Berliner Humboldt Universität im Sommer 2012. Das Thema: Können wir über Ostdeutschland reden? Ein Streitgespräch zwischen zwei Generationen in der Reihe Rotkäppchensalon. Auf dem Podium sitzt Johannes Staemmler, 29 Jahre alt: Regie: Atmo 1 OT Staemmler Wir die jungen Ostdeutsche waren vielleicht acht oder zehn Jahre alt, den größten Teil unseres Lebens haben wir im wiedervereinigten Deutschland mit all seinen Freiheiten gelebt, wir sind angekommen, wir haben die alten Ost-West Gräben hinter uns gelassen. Das glaubten wir beinahe selbst. Regie: Atmo unter Autorin blenden Atmotrenner Autorin: Deutschland wird im Jahr 22 nach der Wende von einer Kanzlerin aus Brandenburg und einem Präsidenten aus Mecklenburg Vorpommern geführt. Mit Angela Merkel und Joachim Gauck an der Staatsspitze scheint sich die deutsche Einheit vollendet zu haben. Tatsächlich ist die Geschichte der Ostler, die es ganz nach oben geschafft haben, damit fast schon wieder zu Ende erzählt. Die Schaltstellen der Macht sind nach wie vor überwiegend von Westdeutschen besetzt. Sprecher: Die Fakten: Kein Bundsminister kommt aus dem Osten. In der Bundeswehr dient ein General aus den neuen Bundesländern und rund 200 aus den alten und soweit bekannt gibt zwei Daxvorstände Ost und mehr als 180 West. Bei den Bundesgerichten, an den Hochschulen und in den Medien sieht es kaum besser aus. Grundsätzlich gilt die Faustregel: Je höher die Position, desto eher sitzt ein Wessi drauf. Atmo Rotkäppchensalon Autorin: Für die Gäste des Rotkäppchensalons bedeutet das: Wer aus Westdeutschland kommt, hat die bessere Karrierechance. Die jungen Akademiker regt das nicht auf: 2 OT Collage Habe ich mir ehrlich gesagt noch nie Gedanken drüber gemacht, ob es da ne gleiche Repräsentanz gibt. So richtig bewegen tut mich die Frage nicht, die finde ich von meiner Situation auch abstrakt abgehoben. Dass es das alleinige Kriterium für oder gegen eine Position ist, halte ich eigentlich für relativ ausgeschlossen. Autorin: Johannes Staemmler hat das Podium verlassen. Staemmler ist Mitbegründer der 3. Generation Ost. Das Projekt vernetzt 25 bis 35-Jährige. Es geht um ostdeutsche Identität und die Frage, wie man sie positiv in die Gesellschaft einbringen kann. Ein Karrierenetzwerk ist die 3.Generation nicht. Wie die meisten jungen Ostdeutschen hier, schaut Johannes Staemmler gut gelaunt in die Zukunft: 3 OT Steammler Für mich persönlich ist das kein Thema, weil ich glaube, dass ich gut ausgebildet bin und auch meinen Weg machen werde. Autorin: Raj Kollmorgen ist skeptisch. Eine gute Ausbildung, sagt der Jenaer Soziologe, reiche nicht: 4 OT Kollmorgen Dieses meritokratische Idealbild, dass man allein durch individuelle Leistung, Elitepositionen zu besetzen Imstande ist, also das muss man eher ins Reich der Fabeln und der Märchen verweisen. Autorin: Die Zahlen lassen nur einen Schluss zu: Eine Herkunft aus dem Staatsgebiet der ehemaligen DDR ist Gift für die Karriere. Kollmorgen rechnet vor: Ostdeutsche besetzen ungefähr fünf bis neun Prozent der Elitepositionen bei einem Bevölkerungsanteil von rund 17 Prozent - trotz inzwischen gleicher Bildungsabschlüsse. Diese Unterrepräsentanz ist mehr als ein individuelles Problem. Sie ist ein Problem für die Demokratie, sagt Kollmorgen. 5 OT Kollmorgen Sie besetzen tatsächlich die Hälfte der Positionen, die sie eigentlich besetzen sollten nach dem Normativ, dass alle Bevölkerungsgruppen angemessen partizipieren an den Elitepositionen. Autorin: Menschen in Führungspositionen stellen die Spielregeln für die Gesellschaft auf. Wenn zahlenmäßig die erfahrenen West-Spieler das Feld dominieren, setzen sie auch ihre gesellschaftlichen Vorstellungen durch - Einwände werden nicht gehört. Ein Beispiel: 6 OT Kollmorgen Mit Sicherheit ist das zu Beginn der 90er Jahre erkennbar am Umgang mit dem Volksvermögen der DDR, also das Stichwort wäre Treuhand. Und da auch hier die Ostdeutschen in all den entsprechenden Gremien auf Landes- wie auf Bundesebene, also der Treuhand-Zentrale in Berlin, nicht angemessen vertreten waren, ist jedenfalls, ich drücke es vorsichtig aus, der Verschwendung, den verunglückten Sanierungen und der Deindustriealisierung Vorschub geleistet worden. Autorin: Der Osten wird vom Westen mitregiert, das ist auch heute noch so. Eine aktuelle Bürgeranfrage an Matthias Platzeck, Ministerpräsident von Brandenburg: Sprecher: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, auch 22 Jahre nach der Wiedervereinigung sind Ostdeutsche, insbesondere gebürtige Brandenburger nur selten in Führungspositionen der Landesverwaltung anzutreffen. In den Ministerien gibt es kaum einen Abteilungsleiter ostdeutscher Herkunft. In den mittleren Führungsebenen .... sind oftmals nur ca. 20-30 Prozent gebürtige Ostdeutsche beschäftigt. In den Führungsebenen der nachgeordneten Geschäftsbereiche scheint es noch düsterer zu sein. (...) Das sind wirklich ungesunde Verhältnisse und es ist kein Wunder, wenn in der Bevölkerung der Eindruck entsteht, dass die Landesverwaltung fremd gesteuert wird. Autorin Auch Jana Hensel, stellvertretende Chefredakteurin der Wochenzeitung Freitag, sieht in den ossifreien Führungsetagen ein grundsätzliches Problem: 7 OT Hensel Die deutsche Gesellschaft ist nicht mehr durchlässig, wir kriegen nahezu wöchentlich Zahlen und Studien darüber, wie entscheidend Herkunft für Aufstieg und Karriere ist. Das Phänomen ist größer und stellt im Grunde genommen zentrale Fragen an die innere Verfasstheit der Bundesrepublik heute. Autorin: Wieso haben Ostdeutsche schlechtere Karrierechancen? Weil sie als gelernte DDR- Bürger den Eliten misstrauen? Oder mangelt es ihnen sozialisationsbedingt an Ehrgeiz? Ist es der Stallgeruch der westdeutschen Eliten, der ihnen fehlt? Oder werden sie am Ende sogar diskriminiert? Hier die Antwort von Ministerpräsident Matthias Platzeck auf die Bürgeranfrage: Sprecher: Sehr geehrter Herr Friedrich, Sie haben recht: Mit Blick auf die regionale Herkunft gilt für die Landesverwaltung in Brandenburg - wie auch in den anderen ostdeutschen Bundesländern -, dass in den Spitzenämtern solche Beschäftigte zahlenmäßig dominieren, die aus den alten Bundesländern stammen. Das hat in erster Linie historische Ursachen. Atmo - Trenner Wendezeit mit O-Tönen Sprecher: Karriere mit DDR-Biografie - die über 60-Jährigen 8 OT Wanka Die friedliche Revolution, das ist ja immer noch etwas, worüber man sich riesig freut, ich jedenfalls, und damals war das für uns Befreiung, und es war auch klar, dass sich im Arbeitsbereich alles verändern wird und es war auch völlig klar, dass der Hochschulbereich, in dem ich tätig war, sich verändern wird, dass Personal in Größenordnung abgebaut wird, und es bestand auch die Gefahr, dass man arbeitslos wird. Autorin: Johanna Wanka. Damals 38 Jahre alt und wissenschaftliche Oberassistentin an der Technischen Hochschule Merseburg: 9 OT Wanka Ich war eigentlich immer optimistisch, dass man mit einer ordentlichen Ausbildung und wenn man sich engagiert auch Arbeit findet. Autorin Wegen ihrer Distanz zum DDR-System stand Johanna Wankas Karriere 1989 still. Mit den politischen Umwälzungen wurde der Malus zum Bonus: Die Mathematikerin konnte sich endlich auf eine Professur bewerben. An allen ostdeutschen Universitäten wurden die Lehrstühle neu besetzt. Überhaupt wurde das ganze Land umgebaut. Nach Maßgabe der Wessis, sagt der Soziologe Raj Kollmorgen rückblickend 10 OT Kollmorgen Es hat Prüfungen über Prüfungen gegeben, sowohl fachlicher als auch moralischer Natur, das geht bin in die Wissenschaft hinein, in den Kulturbereich, die Massenmedien also überall da, wo der öffentlichen Dienstrecht herrschte, sind die Ostdeutschen in den entsprechenden Gremien, sind sie deutlich in der Minderheit gewesen. Und das Ergebnis ist unter anderem, dass wir eben die Ostdeutschen so unterrepräsentiert finden in den Verwaltungen, in Kernbereichen politischer und staatlicher Macht. Autorin Eine heutige Sicht auf die Ereignisse. Damals war das Bild undeutlicher, sagt Johanna Wanka: 11 OT Wanka Es war eine Situation, die es noch nie so gegeben hat. Es gab keine Regeln dafür und da ist ganz klar, dass da auch Fehlurteile gefällt wurden oder Entwicklungen angeschoben wurden, die man aus heutiger Sicht vielleicht nicht als gut oder optimal empfindet, aber es ging schlecht anders. Autorin: Der Karriere Johanna Wankas stand die Dominanz der Westdeutschen in den Kommissionen nicht im Wege, sie bekam die Mathematikprofessur. Viele ihrer Kollegen hatten jedoch das Nachsehen gegen die Konkurrenten aus dem Westen: 12 OT Wanka Damals, als man Führungspersonal rekrutierte, da gab es drei große Gruppen, die in Frage kamen: das waren zum Einen solche, wozu ich mich rechne, Ingenieurstudium, Mathematikstudium oder anderes, die nicht in der SED waren, die also ne Distanz zum System hatten, die aber Fachleute waren in bestimmten Bereichen, das waren also Leute aus den neuen Bundesländern, Ostdeutsche. Dann brauchte wir, und das will ich ganz definitiv sagen, brauchten wir in Größenordnung Hilfe aus den alten Bundesländern, in den gesamten Verwaltungsstrukturen brauchten wir Leute mit Erfahrungen, das war also die zweite große Gruppe, und dann sollten wir nicht vergessen, dass auch diejenigen, die in der SED schon Positionen hatten auch gern in den Positionen belassen wurden oder Führungspositionen bekommen haben. Das heißt, es war für mich natürlich, dass damals eine große Zahl von Menschen aus den alten Bundesländern in Führungspositionen in den Osten gekommen ist, aber nicht nur. Autorin: Weil damals massenweise Führungskräfte aus der alten BRD in die neuen Länder gingen, spricht die Wissenschaft von Kolonisierung oder - etwas neutraler - von Elitentransfer. Dass die Aufbauhilfe aus der BRD effizient war, räumen selbst Kritiker ein. Nur, dass eben zu einem großen Teil die Wessis den Umbau des Landes geleitet haben. Aber eben nicht nur. Johanna Wanka saß bald selber in diversen Entscheidungsgremien. Im Jahr 2000 wechselte sie als Ministerin für Wissenschaft und Kultur ins Landeskabinett Brandenburg. Bundesweit Schlagzeilen machte Wanka als sie 2010 nach Niedersachsen ging: Sprecher: Johanna Wanka - erste Ostdeutsche in einem West-Kabinett Sprecherin: So etwas gab es noch nie - eine Ostdeutsche wird Ministerin in einem westdeutschen Bundesland Sprecher: Ost-Import: Eine Sächsin regiert in Wulffs Kabinett 13 OT Wanka Dass ich die erste Ostdeutsche in einem westdeutschen Bundesland war, fand ich schon komisch, das fand ich schon komisch. Weil zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution war ich schon verblüfft, dass das so war, man hat eben nicht nachgezählt oder gekuckt, und das hat mich doch ein Stück stutzig gemacht. Autorin: Eine historische Berufung, keine Frage. Aber was ist ihre Botschaft? Der Spiegel jubelte: Sprecher Die Personalie ist ein Schritt zur Vollendung der inneren Einheit. Autorin: Oder aber ein Indiz dafür, dass der innerdeutsche Elitentransfer nur eine Richtung kennt: Von West nach Ost. In Zahlen: Gut ein Prozent Ostdeutscher sitzt in westdeutschen Landeskabinetten- nämlich Johanna Wanka. Andersherum sind es dreißig Prozent. Wenn man den jeweiligen Bevölkerungsanteil mit einrechnet, stehen unter dem Strich wieder die üblichen Verhältnisse. Am Beispiel Politik fasst Raj Kollmorgen den Stand der Forschung zusammen. Ein paradoxer Befund: 14 OT Kollmorgen Auf der einen Seite hat so etwas wie eine Normalisierung eingesetzt und nicht zuletzt sind die Übernahme des Parteivorsitzes durch Matthias Platzeck, der ihn ja dann wieder abgegeben hat, und Angela Merkel ein sichtbares Zeichen, dass Ostdeutsche bis an die Spitze haben vordringen können. Auf der anderen Seite zeigen uns aber alle Zahlen, dass es keine durchgehende Verbesserung, zum Teil sogar wieder eine Abnahme des Anteils Ostdeutscher im Bereich der politischen Elitepositionen gibt. Das gilt für das Bundeskabinett und auch die Staatsekretäre in der Bundesregierung, das gilt interessanterweise auch für die Abgeordneten in den Landesparlamente, in Ostdeutschland - der ostdeutschen Landesparlamente - sind heute wieder zu einem höheren Anteil westdeutsch als sie das vor zehn Jahren waren. Autorin: In manchen Berufen ist die "Verwestlichung" besonders krass: Das Beispiel Soziologie.12 Professuren sind mit Ostdeutschen besetzt, 301 mit Westdeutschen. Na klar, könnte man einwenden. Die DDR-Professoren mussten doch mitsamt ihrer überholten Gesellschaftslehre nach der Wende abgesetzt werden. Aber auch bei den unter 45-Jährigen sind nur sechs Prozent der Soziologieprofessoren aus dem Osten. Anhaltend schlecht sind die Karrierechancen auch in anderen Berufsfeldern, in denen DDR-Bürger nach der Wende abgewickelt wurden, so im Bereich Militär, Inneres, Polizei und Justiz. Die Zeitungen meldeten im Sommer, dass mit Jens Möller in Brandenburg erstmals ein Ostdeutscher ein Verfassungsgericht leitet. Auch in der Wirtschaft und Finanzwelt sind die Ossis nur selten an einflussreichen Positionen zu finden. Atmo-Trenner Wende Sprecher: Nadelöhr Wende - die Generation der über 40-Jährigen 15 OT Schmidt Ich bin ja dann ans deutsche Nationaltheater als Geschäftsführer berufen worden und habe fest gestellt, dass Leitungspositionen in der Kultur, insbesondere die mit wirtschaftlichen Aspekten verbundenen ganz, ganz stark eben nicht mit Personen betraut werden, die aus Ostdeutschland kommen, weil man immer noch voraussetzt, das die Ausbildung in betriebswirtschaftlichen Dingen, in administrativen Dingen, in kommunikativen Aspekten, in Aspekten der Werbung einfach qualitativ besser in Westdeutschland war. Dass inzwischen zwei Generationen nachgewachsen sind spielt da gar keine so maßgebliche Rolle im Zeitverlauf, erstaunlicherweise. Autorin: Thomas Schmidt hat es geschafft. Der Mittvierziger ist Geschäftsführer des Staatstheaters in Weimar, außerdem Professor für Theater- und Orchestermanagement in Frankfurt am Main. Der gebürtige Thüringer studierte zur Wendezeit Sprach- und Wirtschaftswissenschaften in Rostock. Sein Diplom machte er nach 89, aber: Eingestellt wurde zum Teil nach West-Kriterien. Fließende Englischkenntnisse, Auslandserfahrungen, Kommunikationsskills - was man in der neuen Arbeitswelt brauchte, konnte damals kein Ostdeutscher vorweisen. Thomas Schmidt hatte wieder Glück. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau stellte ihn ein: 16 OT Thomas Schmidt Ich bin mit 24, 25 Jahren dort als erster und lange Zeit einziger Ostdeutscher in diesen Bereich internationale Zusammenarbeit gekommen und habe da über mehrere Phasen ein Traineeprogramm absolviert und das war für mich sozusagen der Sprung in die neue Gesellschaft. Es war ein Institut, in dem sehr, sehr viel Wert auf Weiterbildung gelegt worden ist, sehr, auf soziale Kompetenzen, Kommunikation hat eine große Rolle gespielt, Fremdsprachen, all diese Aspekte, von denen man ja weiß, dass sie in einer klassischen ostdeutsche Karriere nicht so ausgebildet waren. Autorin: Starre Anforderungsprofile bevorteilen den Mainstream. Ostdeutsche und andere Bewerber mit unkonventionellen Biografien bleiben draußen. Typisch deutsch, findet Thomas Schmidt: 17 OT Thomas Schmidt Ich sehe einen ganz großen Bedarf eines gesellschaftlichen Umbruchs nach dem Vorbild der USA, von denen wir viel lernen können. Und ich habe von meinen Reisen eine ganz wichtige Botschaft mitgenommen, dass man immer wieder neu anfangen kann und seinen eigenen Lebensweg überdenkt. Autorin: Aber es gibt noch andere Selektionsmechanismen, die zu Benachteiligungen führen. Im Land der Transfereliten sogar dauerhaft. Thomas Schmidt: 18 OT Thomas Schmidt Wenn man Personal rekrutiert, dann sucht man Menschen, zu denen man eine hohe Affinität hat, weil man glaubt, mit denen am Besten arbeiten zu können. Also sucht man hier nicht die Differenz, sondern die Ähnlichkeit. Und so erkläre ich mir eigentlich auch, dass in vielen der Bewerbungsverfahren für potenzielle Nachwuchskräfte in Ostdeutschland, es diese Sogwirkung gab. War dort jemand aus dem Bundesland, nennen wir es Bayern oder Baden Württemberg, dann war sicherlich die Affinität zu jemand aus dem eigenen Bundesland höher. Autorin: Was Thomas Schmidt hier beschreibt hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu die feinen Unterschiede genannt. Der Begriff meint die Tendenz gesellschaftlicher Schichten, sich gegeneinander abzugrenzen. Vor allem Eliten reproduzieren sich am liebsten aus den eigenen Reihen. Das hat dazu geführt, dass die Transfereliten auch über zwanzig Jahre nach der Wende noch zahlreich im Osten zu finden sind - in der zweiten Generation. Wessis stellen Wessis ein. Der Jenaer Soziologe Raj Kollmorgen 19 OT Kollmorgen Es ist bestimmte Form, eine weiche Form der Diskriminierung. Und sie funktioniert eben nicht über eine bewusste, politisch gesteuerte Ausgrenzung Ostdeutscher, sondern sie funktioniert im Kern über eine habituelle Außenseiterposition (...) Was ist mit dieser habituellen Außenseiterposition gemeint? Es ist damit gemeint, dass die Ostdeutsche, die jetzt für Elitepositionen in Frage kommen, und das sind die, die zwischen 35 und 55 Jahre alt sind, dass die zu einem Großteil noch in der DDR sozialisiert wurden, und was Sprache betrifft, Ausdrucksfähigkeit, Formen der Selbstdarstellung, aber auch bestimmte Wissensbestände, die divergieren bis heute zwischen Ost und West, und das schafft eine Position der Differenz. Atmo-Trenner Wende Sprecher: Die BRD-Ossis - die Generation der über 30-Jährigen Atmo Rotkäppchensalon Autorin: Differenzen zwischen Ost und West. Ist das nicht etwas für die älteren Generationen, die mit der Mauer gelebt und sie in den eigenen Köpfen nicht wirklich eingerissen haben? Kennen auch die jungen Leute, die sich im Rotkäppchensalon treffen solche Fremdheitsgefühle? 20 OT Collage Es war mir lange Zeit peinlich, wenn Leute festgestellt haben: Ach so, Du kommst aus Ostdeutschland. Ich wusste nie richtig, was meinen sie damit. Meinen sie das mediale kommunizierte Bild einer etwas strukturschwachen Gegend oder meinen sie das völlig wertfrei, so dass das meistens das Ende der Gespräche war. Ich war mal in nem Vorstellungsgespräch, da hat es definitiv Einfluss genommen Erstens haben wir uns nicht verstanden, die Chemie stimmte nicht. Dann habe ich auch gemerkt, dass ich nicht das gesagt habe, was sie hören wollten. Also ich habe lange daraus versucht, daraus ein Geheimnis zu machen, dass ich aus Ostdeutschland komme. Und habe dann mit dem Beginn meiner Promotion eigentlich damit enden wollen und hatte das Wort Ostdeutschland im Titel. Und da raunte mir auf einer Konferenz ein Professor zu, ich solle doch das Wort Ostdeutschland aus dem Titel nehmen, das sei Karriere hemmend. Regie: Atmo Rotkäppchensalon abblenden Autorin: Nachteil ostdeutsche Herkunft. Die Folge: Ostler knüpfen die für den Erfolg so wichtigen Seilschaften und Netzwerke untereinander nur selten, sondern orientieren sich an den dominanten Wessis. Die SPD ist die einzige Partei, die ein Netzwerk Ost vorweisen kann. Die Publizistin Jana Hensel findet das symptomatisch: 21 OT Hensel Ostdeutsche Netzwerke gibt es nicht. Eigentlich müsste jeder Ostdeutsche sich in einer Führungsposition in dieser Ausnahmesituation wahrnehmen und danach handeln, also er müsste politisch handeln. Er müsste kucken, dass er andere Ostdeutsche nachzieht und so weiter. Aber das Phänomen ist ja immer, dass die wenigen, die es schaffen eigentlich eher versuchen, dass sie nicht auffallen. Anpassung an gegebene Strukturen ist ja auch häufig eines der Kriterien für den Aufstieg. Autorin: Solche Anpassungsstrategien sind bekannt, zum Beispiel von Migranten: 22 OT Hensel In Wahrheit ist es ein klassisches Minderheitenproblem, was die Ostdeutschen da haben. Aber es ist natürlich politisch inkorrekt zu sagen: Die Ostdeutschen sind eine Minderheit, das dürfen sie nicht sagen. Und dadurch, dass sie das nicht sagen dürfen, verhindern sie, dass diese Situationen bekannt sind und thematisiert werden. Autorin: Bloß nicht auffallen. Karriere-Ossis wie Angela Merkel spielen ihre Herkunft deshalb häufig herunter. Die deutsche Kanzlerin nehmen laut einer Statista-Umfrage 89 Prozent als gesamtdeutsche Kanzlerin wahr, nur acht Prozent sehen in ihr die ostdeutsche Politikerin. Das ist wahrscheinlich taktisch geschickt. Man denke an den Satz von Edmund Stoiber, er lasse nicht zu, dass der Osten bestimmt, wer Kanzler wird. Natürlich geht es auch um Macht. Und um Geld. Das Geld war und ist fest in westdeutscher Hand. Die Altbundesrepublikaner besitzen drei Mal mehr Vermögen und bekommen im Schnitt vier Euro mehr Stundenlohn. Dafür führt der Osten in der Arbeitslosigkeit und im Niedriglohnsektor. Alles Fakten, die die Verhältnisse zementieren, sagt der Jenaer Soziologe Raj Kollmorgen: 23 OT Kollmorgen Wenn wir uns jedenfalls die letzten Jahrzehnte anschauen, dann ist es eben so dass, was die Verteilung der Mittel- und Oberschichten betrifft, wir eine klare Asymmetrie zwischen Ost und Westdeutschland haben, das heißt, wir haben einen höheren Anteil von Angehörigen der oberen Mittel- und Oberschicht in Westdeutschland Also das Interessante ist, das Menschen die Vorstellung, was sie erreichen können, generieren aus dem, was sie oder ihre Eltern sind, oder ihre Region darstellt und insofern ist es ein großer Unterschied, ob wir im Speckgürtel um Stuttgart aufwachsen oder in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Autorin: Tja, und jetzt? Sind die "ollen Wessis" an allem schuld? Oder haben auch die " armen" Ossis ihren Anteil an der deutsch-deutschen Schieflage? Atmotrenner oder Musik Autorin: Ein bisschen guter Wille war ja da: Nach der Wende hat man peinlichst darauf geachtet, dass zumindest in der Regierung die neuen Bundesbürger angemessen vertreten waren. Mit Angela Merkel, Günther Krause und Rainer Ortleb schmückte sich das Kabinett Kohl nach der Wiedervereinigung mit gleich drei Ministern aus den neuen Bundesländern. Heute sitzt nur noch Angela Merkel am Kabinettstisch. Die Publizistin Jana Hensel setze sich in einem Zeitungsartikel mit der Unfähigkeit oder dem Unwillen der Ostdeutschen auseinander, an der Macht zu bleiben: Sabine Bergmann-Pohl, Wolfgang Tiefensee, Matthias Platzeck, Claudia Nolte - die Liste der Absteiger ist lang. 24 OT Hensel Ich beobachte das ganz oft, auch an mir selber, dass es vielen Ostdeutschen schwer fällt, Machtansprüche zu formulieren, sich durchzusetzen. Autorin: Jana Hensel hat in Büchern wie Zonenkinder oder Achtung Zone - warum Ostdeutsche anders bleiben sollten über die ostdeutsche Mentalität geschrieben. In ihr sieht sie auch eine Ursache für das Scheitern an der Macht: 25 OT Hensel Karriere in der DDR war verpönt, hatte etwas Anrüchiges. Man wusste dass man fadenscheinige Kompromisse eingehen musste, um in der DDR Karriere zu machen. Sie mussten Parteimitglied sein, auf Parteisitzungen gehen. Und nach 89 passiert Folgendes: Da kommt die westdeutsche Elite und setzt sich quasi in die ostdeutschen Institutionen hinein, und wenn sie dann Karriere machen wollten mussten sie quasi mit denen kooperieren. Sie mussten also wiederum ne Art von Kompromiss eingehen, der in der Breite der Gesellschaft nicht gut angesehen war. Autorin: Immerhin: So erheblich wie zwischen Männern und Frauen scheint der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen nicht zu sein: Zum 22. Tag der deutschen Einheit bleibt die gute Nachricht zu vermelden, dass noch niemand eine Ossi-Quote gefordert hat. Das sind die Gründe: 26 OT Collage OT Staemmler Ich glaube, dass das dem deutschen Zusammenwachsen auch in seiner Vielfalt nicht gerecht wird, weil es weiterhin die Ost-West-Grenze aufrechterhält. OT Kollmorgen Das Problem bleibt auch, das mittlerweile durch die ganz erheblichen Migrationsflüsse, die es zwischen Ost und Westdeutschland in den letzten zwanzig Jahren gegeben hat, man bei den Jugendlichen auch nicht mehr gut sagen kann, sind das Ostdeutsche oder Westdeutsche. Atmotrenner Autorin: Was wird aus der nächsten Generation? Alle sagen: Das wird sich hoffentlich auswachsen! Wenn die deutsche Einheit ihren 30. Geburtstag feiert, dann steht die erste Generation echter Nachwendekinder an der Schwelle zum Berufsleben. Die deutschen Teilstaaten kennen sie nur noch aus den Geschichtsbüchern. Vielleicht spielt die Himmelsrichtung der Herkunft dann keine Rollen mehr. Der Jenaer Soziologe Raj Kollmorgen hält das für wenig wahrscheinlich: 28 OT Kollmorgen Andererseits muss man sagen, dass die Daten der letzten zwanzig Jahre einen auch skeptisch in die Zukunft blicken lassen, weil es keine durchgreifenden Verbesserungen in wichtigen Schlüsselbereichen gegeben hat. Und insofern ist es kein Selbstläufer. Autorin: Das zeigen auch die Beispiele Frauen und Migranten die es auch nicht so recht aus der Minderheitenecke heraus schaffen. Derweil wird viel von Diversität geredet, dass unterschiedliche Erfahrungen wertvoll sind. Auf Werbefotos werden die Teams gern bunt gemischt. Die Realität sieht anders aus. Ostdeutschen sieht man ihre Herkunft nicht an, oft merkt man sie auch nicht. Aber weil die der Ausgrenzungsapparat eine besonders sensible Mechanik hat, sortiert er nach wie vor zuverlässig. Eine undurchlässige Gesellschaft ist aber nicht nur weniger erfolgreich, sie ist auch weniger menschenfreundlich. Vielleicht wird die kommende Generation über das alles gar nicht mehr nachdenken. Wenn es nämlich so wenige junge Deutsche gibt, dass sich das Land Ausgrenzung nicht mehr leisten kann. Zum Geburtstag der deutschen Einheit noch ein versöhnliches Schlusswort: 29 OT Schmidt Es gibt ganz, ganz viele wunderbare ostdeutsche Karrieren, jenseits der von Merkel und Gauck, man muss sie suchen, die sind noch nicht so flächendeckend verbreitet, und man kann sicherlich viel dafür tun, aber es ist nicht so, dass sie gar nicht existieren. Sprecher vom Dienst: Einsame Spitze. Warum der Elite die Ostdeutschen fehlen. Ein Feature von Susanne Balthasar Es sprachen: Axel Wandtke und die Autorin Ton: Inge Görgner Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur, 2012 (c) 1