Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 05.September 2011, 19.30 Uhr Der lange Schatten des 11. September 2001 Der demokratische Rechtsstaat unter Druck Von Heiner Dahl Atmo: Anschlag 11/9 New York O-Ton: Präsident Obama Justice has been done. O-Ton: Merkel Ich freue mich, dass es gelungen ist, Osama Bin Laden zu töten. Sprecher vom Dienst: Der lange Schatten des 11. September 2001 Der demokratische Rechtsstaat unter Druck Eine Sendung von Heiner Dahl O-Ton: Tomuschat Ich bin ganz offen der Meinung, dass diese Tötung von Osama Bin Laden nicht vereinbar war mit geltenden Rechtsnormen. Man hätte ihn ja auch sehr leicht mitnehmen können und dann auch vor Gericht stellen können. Aber es gibt ja Stimmen, die gesagt haben, das wäre alles viel zu kompliziert gewesen. Dann wären die ganzen Schwierigkeiten eines Strafverfahrens mit internationalen Maßstäben oder nach US-Recht, die wären dann aufgetreten, politisch hätte das auch viel zu sehr Aufsehen erregt, also, es war sehr viel besser, den kurzerhand umzubringen. Sprecher: Christian Tomuschat, Völkerrechtler an der Humboldt-Universität in Berlin. O-Ton: Bendiek Nach zehn Jahren ist Zeit, genau hier mal anzuhalten und zu fragen, ob hier der Zweck die Mittel heiligt. Dass man im Prinzip auf mittelalterliche Methoden wieder zurückgreift. Dass jegliche Art von Habeas-Corpus-Rechten, von Rechtswegegarantien, vom Recht auf Leben, dass das ausgehebelt wurde. Sprecher: Annegret Bendiek. Politikwissenschaftlerin und Soziologin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. O-Ton: Heinz Die Haupterfahrung des 11.Septembers war der Eindruck einer Katastrophe. Die Konsequenz war, dass die Menschenrechte völlig an die Seite gestellt worden sind - und damit meine ich nicht den offiziellen Diskurs, der hat immer betont: Menschenrechte werden eingehalten bei der Terrorismusbekämpfung. Aber in der Praxis hat man sich überlegt, wie Polizei, wie Geheimdienste, wie auch Militär, denken Sie an Afghanistan, sehr wirkungsvoll Terrorismus bekämpfen konnte. Und der Hauptgesichtspunkt war: die Effektivität der Maßnahmen. Sprecher: Wolfgang Heinz, Politikwissenschaftler am Deutschen Institut für Menschenrechte. Atmo: Anschlag New York Sprecherin: 11. September 2001. Ein historischer Einschnitt. Die mörderischen Terroranschläge auf das World Trade Center erschüttern Amerika - und verändern danach die Welt. In New York kosten sie fast 3000 Menschen das Leben. In der Folge rufen die USA den "Krieg gegen den Terrorismus" aus. Er hat bis heute weltweit Tote und Verletzte mit sich gebracht. Er hat zudem zu weitreichenden politischen Veränderungen mit enormen rechtlichen Auswirkungen geführt. Grund genug grundsätzliche Fragen zu stellen. Sprecher: Welche international anerkannten Rechtstandards erlauben es demokratischen Staaten Menschen wie Osama bin Laden zu töten? Sind gezielte Tötungen vereinbar mit rechtsstaatlichen Grundprinzipien? Was bedeutet in diesem Zusammenhang "Krieg gegen den Terrorismus?" O-Ton: Tomuschat Einen Krieg gegen Terrorismus gibt es nicht. Terroristische Taten, Bombenattentate gegen die Zivilbevölkerung, das sind einfach Straftaten, sonst nichts. Und einen Rechtsbegriff des Krieges gegen Terrorismus gibt es nicht. Damit kann man nicht arbeiten, damit löst man auch kein einziges Problem. O-Ton: Heinz Der Begriff des globalen Krieges gegen Terrorismus war wichtig, weil er zentrale Elemente enthielt. Das erste Element war, dass, wenn es einen globalen Krieg gibt, man dann auch Kriegsrecht anwenden kann. Man steht nicht mehr vor der schwierigen Lage vielleicht, dass man ausländische Terrorverdächtige vor US- Gerichten stellen muss, was ja bewusst politisch nicht gewollt war. Nummer zwei: Es würde weltweit gelten, was ja für die USA ein Problem ist, denn warum sollte denn US-Recht in Afghanistan oder Irak zum Beispiel gelten. Und der dritte noch viel wichtigere Punkt ist: Bei Kriegsrecht dürfen Sie einen Gegner - das wird sozusagen ein legitimes Ziel. Sie dürfen ihn töten. Das Verständnis der USA ist sehr viel mehr als, in der Mehrzahl der europäischen Länder darauf ausgerichtet Terrorverdächtige zu töten. Atmo: Versammlung Sprecherin: 28. Mai 2010. Generalversammlung der Vereinten Nationen, Menschenrechtsrat, vierzehnte Tagung: Förderung und Schutz aller Menschenrechte. Zusammenfassung der Studie über gezielte Tötungen. Zitator: In den letzten Jahren haben sich einige Staaten eine Politik zu eigen gemacht, die den Einsatz gezielter Tötungen, auch im Hoheitsgebiet anderer Staaten, zulässt. Diese Politik wird oft als notwendige und legitime Antwort auf "Terrorismus" und "asymmetrische Kriegführung" gerechtfertigt, hat sich jedoch insofern als sehr problematisch erwiesen, als sie die Grenzen des jeweils anzuwendenden Rechts verschwimmen lässt und ausdehnt. Sprecher: UNO-Sonderberichterstatter Philip Alston, Rechtsprofessor an der New York University, kritisiert damit speziell die USA wegen der Tötung mutmaßlicher Al Kaida Mitglieder. Für solche Einsätze fehlten die rechtlichen Grundlagen. O-Ton: Heinz Diese Kritik von Herrn Alston teile ich. Sprecher: Wolfgang Heinz, Politikwissenschaftler und Ausschussmitglied im UN- Menschenrechtsrat. O-Ton: Heinz Eine Politik der gezielten Tötung aktiv betreibt die USA, aber wir haben keine Informationen im Sinne von öffentlich verfügbaren Informationen, wie viele Personen betroffen sind, was ist der Anteil von Zivilisten und so weiter und so fort. Es gibt Studien, die von zehn bis 25 Prozent toten Zivilisten zum Beispiel ausgehen. Das ist natürlich aus menschenrechtlicher Sicht ein sehr bedenklicher Trend, weil sich hier bestimmte Staaten das Recht herausnehmen, ohne jedes Gerichtsverfahren ohne jede objektive Überprüfung Menschen in Drittländern, im Ausland zu töten. Und damit ist ein Grundmenschenrecht, das Recht, nicht willkürlich seines Lebens beraubt zu werden, verletzt und wenn es zu einer verallgemeinerten Praxis wird, dann ist das eine große Bedrohung für die Menschenrechte. Musik Sprecherin: Verlieren im Krieg gegen den Terrorismus elementare ethisch-moralische Prinzipien und rechtliche Grundstandards ihre Bedeutung? Gewinnt eine Politik an Legitimität, in der emotionale Aufwallungen aus Rache und Bedürfnisse nach effizienter Vergeltung vorherrschen? Sprecher: Man darf mit Fug - und buchstäblich auch mit Recht - bezweifeln, ob mit dem gezielten Töten Osama Bin Ladens "der Gerechtigkeit Genüge getan" wurde. Im Rechtsstaat sind dafür Normen die Bedingung und international anerkannte Grundsätze. Jede Sanktionierung eines Straftäters erfordert ein förmliches Strafverfahren und ein ebensolches Urteil. Sprecherin: Der Massenmörder Adolf Eichmann wurde im souveränen Staat Argentinien entführt, festgenommen und 1961 nach einem förmlichen Strafprozess in Israel zum Tode verurteilt. Der mutmaßliche Massenmörder Osama bin Laden wurde 2011 im souveränen Staat Pakistan aufgespürt, nicht festgenommen und keinem förmlichen Strafprozess zugeführt. Mit ihm wurde "kurzer Prozess" gemacht. O-Ton: Bush I want justice. There's an old poster out West that said: Wanted, dead or alive. Sprecher: Schon kurz nach dem 11.September 2001 hat der damalige US-Präsident George Bush damit klar gemacht, dass er Terroristen nach Wildwestmanier verfolgen will. O-Ton: Bendiek Man hat Listungsverfahren eingeführt. Also aufgrund von geheimdienstlicher Information werden mutmaßliche Terroristen gelistet, auf VN-Listen, auf EU-Listen aber auch auf nationalen Terroristenlisten. Und ohne dass die gelisteten Personen wissen, warum sie gelistet wurden, und damit ist eine alte rechtsstaatliche Errungenschaft, eben der Rechtswegegarantie, wurde damit sozusagen umgangen. Und gleichzeitig ist man auf der europäischen Ebene, fordert man für sich eine Rechtswegegarantie, Datenschutz, die Wahrung von rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Prinzipien, die man aber dann in der Praxis bei der Gefahrenabwehr so nicht einhalten kann. Sprecherin: Annegret Bendiek, stellvertretende Forschungsgruppenleiterin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik hat in einer aktuellen Studie mit dem Titel "An den Grenzen des Rechtsstaates: EU-USA-Terrorismusbekämpfung" zentrale politische Dilemmata beschrieben und nach nicht aufgebbaren Positionen für die deutsche Politik gefragt. Zitator: Wie geht unser Rechtsstaat mit transnationaler Gewalt und Terrorismus um? Innerhalb seiner Grenzen, bis an die Grenzen - oder darüber hinaus? Orientieren wir uns an rechtsstaatlichen Grundsätzen oder gewichten wir sicherheitspolitische Notwendigkeiten stärker? O-Ton: Bendiek Ich glaube, dass die rote Linie für uns sein muss, dass man Transparenz darüber schafft, wie viel Personen observiert werden. Mit welchen Mitteln. Ob sie gelistet werden für Listen zur Gefangennahme oder zur Tötung. Und darüber muss im Bundestag eine Debatte stattfinden, wieweit sozusagen die Gefahrenabwehr reicht und auf welchen Indizien sie beruht. Und mir scheint es zu sein, dass zu wenig Interesse besteht auch seitens der Abgeordneten weil, die Mehrheit im Bundestag stellt die Regierung und welche Mehrheit im Bundestag ist daran interessiert, die eigene Regierungsmehrheit in Frage zu stellen. Und daher glaube ich, könnte die parlamentarische Aufarbeitung der Beteiligung an diesem Krieg besser sein. Sprecherin: Die Gretchenfrage deutscher Politik im sogenannten Krieg gegen den Terrorismus stellt sich in aller Schärfe beim Engagement in Afghanistan. Wie verhalten wir uns als Partner der Weltmacht USA, die dort bei vielen Aktionen den Eindruck erweckt, dass nicht das Recht den Umgang mit einem oft uneindeutigen Gegner bestimmt, sondern militärische Stärke und tödliche Effektivität. O-Ton: Kiesewetter Wenn die Amerikaner Drohnen gegen Einzelpersonen einsetzen, so ist das ein rein amerikanischer Einsatz. Das hat mit ISAF und dem Einsatz der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan unmittelbar nichts zu tun. Das wirkt sich allerdings mittelbar aus auch auf die Frage der Glaubwürdigkeit und auf die Frage, wie internationale Interessen durchgesetzt werden. Aber ich möchte schon sehr deutlich machen, dass das mit deutschem Recht nicht vereinbar ist. Sprecher: Roderich Kiesewetter, CDU-Bundestagsabgeordneter, Oberst a.D. Drei Jahre im Stab des NATO Hauptquartiers und Mitglied der Clausewitz-Gesellschaft. O-Ton: Neskovic Dort wo man es mit Kämpfern zu tun hat, die plötzlich und unerwartet zuschlagen und sich wieder verziehen, dort haben wir kein klares rechtlichen Instrumentarium, wann und unter welchen Voraussetzungen hier Tötungshandlungen möglich sind. Klar ist jedenfalls, dass bei Gefechtshandlungen, also bei Angriffen auch die angreifenden Kämpfer getötet werden können. Darüber hinaus wird alles andere schwierig. Gezielte Tötungen, zum Beispiel auf Taliban-Führer, so wie es die Amerikaner mit Drohnen vornehmen, wären nach unserem Rechtsverständnis eindeutig unzulässig. Dafür gibt es kein geeignetes rechtliches Instrumentarium, das das rechtfertigt. Ich halte das auch nicht für wünschenswert. Sprecher Wolfgang Neskovic, ehemaliger Bundesrichter und heutiger Justiziar der Bundestagsfraktion die Linke. O-Ton: Arnold Ich fürchte dass ne Vorgehensweise, die gezielt darauf hinausgeht, Menschen zu töten, dass dies in den Köpfen von Streitkräften zu Veränderungen führt, die wir uns nach dem deutschen Bild der Bundeswehr - Staatsbürger in Uniform - nicht so sehr wünschen können. Die Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Mittel ist für mich in einem Staat, der souverän ist, ganz zentral. Und was Amerika mit Kräften tut, von denen wir ja teilweise gar nicht genau wissen, was sie machen, wer sie führt, gehören sie zu ISAF oder sind es Geheimkräfte, sind aus meiner Sicht rechtlich unmoralisch in einem Bereich, der zu hinterfragen wäre. Sprecher: Rainer Arnold, Obmann der SPD im Verteidigungsausschuss des Bundestags. O-Ton 14 Nouripur Die Frage, die übrig bleibt ist: Wie definieren wir die Personen, die manchmal Zivilisten sind und manchmal nicht. Die vielzitierten Zehn-Dollar-Taliban, die eigentlich Bauern sind und ab und an ne Kalaschnikov rausnehmen, und dann irgendwo hin schießen, das sind nicht die klassischen Kombattanten. Die kann man auch so nicht behandeln. Dann wird's nämlich uferlos. Dann verlieren wir nämlich nicht nur dort die Köpfe und Herzen der Menschen bestimmt, weil wir viele, viele Zivilisten zu Schaden kommen lassen, sondern wir verlieren vor allem an rechtsstaatlicher Glaubwürdigkeit. Sprecher: Omid Nouripur, verteidigungspolitischer Sprecher und Obmann von Bündnis 90/Die Grünen im Verteidigungsausschuss des Bundestages. Sprecherin: Deutsche Politiker in einer Momentaufnahme. Nicht repräsentativ. Dennoch in zwei Punkten über die Parteigrenzen hinweg übereinstimmend und eindeutig. Auch der "neue Antiterrorkrieg" mal gegen organisierte Talibanverbände, mal gegen unorganisierte Teilzeitkämpfer, mal gegen aufständische Warlords und mal gegen eifernde Halbzivilisten, ist nicht frei von rechtlichen Bindungen. Darüber hinaus werfen militärische Terrorismusbekämpfung und asymmetrische Kriegsführung ganz neue Rechtsfragen auf. Gesicherte Antworten darauf gibt es nicht. Rainer Arnold und Roderich Kiesewetter. O-Ton: Arnold In den heutigen asymmetrischen Konflikten ist es schon so, dass jeweils im Einzelfall genau geschaut werden muss, welche Art von Konflikt ist, welche Teile des Kriegsvölkerrechts gelten und jeder Konflikt ist hier auch ein Stück anders. Beispiel Afghanistan, dort haben wir einen souveränen Staat. Und jenseits der Frage, ist dies nach dem Kriegsvölkerrecht ein nicht internationaler bewaffneter Konflikt, gilt zunächst mal das nationale Recht des Staates Afghanistan. O-Ton: Kiesewetter Deshalb ist es für uns gerade mit Blick auf Afghanistan besonders wichtig, dass wir ne Klärung haben, in welcher rechtlichen Situation die Soldaten dort sind. Es handelt sich aus politischer Sicht um einen bewaffneten Einsatz in Bürgerkriegsform. Wo also das humanitäre Völkerrecht gilt, was früher Kriegsvölkerrecht hieß. Sprecher: Das Nachdenken über verlässliche Rechtsregeln im Antiterrorkrieg ähnelt etwas dem sprichwörtlichen Stochern im Nebel. Die Einsatzrealitäten vor Ort sind dafür umso eindeutiger. Das militärische Engagement in Afghanistan gibt deutschen Politikern allen Grund, die Schimäre "gefühlter Friedenseinsätze" hinter sich zu lassen und die nüchterne Realität "geführter Antiterrorkrieg" mit unverstelltem Blick und ohne Rücksicht auf Tabus zuzulassen. Nur dieser Paradigmenwechsel eröffnet reelle Chancen, diese Art "neuer Kriege" politisch und rechtlich besser einzuordnen. Der konstituierende deutsche Nachkriegsmythos "nie wieder Krieg" ist ebenso wenig aufrechtzuerhalten wie die politische Lüge uniformierter deutscher Sozialarbeiter für Demokratie und Menschenrechte. Deutsche Soldaten sind an offenen Kämpfen und geheimen Einsätzen beteiligt, an Festnahmen und an Verhören, an Haft und an Überstellungen. Nach fast 10 Einsatzjahren muss jedem klar sein: Deutsche Soldaten töten und werden getötet. An dieser Realität müssen sich neue rechtliche Fragestellungen nach den Grenzen des Zulässigen orientieren. O-Ton: Tomuschat Die eine große Grenze ist, dass man diejenigen, die in einem solchen nicht internationalen bewaffneten Konflikt antreten, nicht als echte Kombattanten anerkennt und das schlägt sich dann gelegentlich auch nieder in der Kampfführung, wo dann doch auch mit einer gewissen Großzügigkeit gehandelt wird und dann wird gebombt und geschossen ohne große Rücksichtnahme - auch auf die Zivilisten, die sich in der Umgebung befinden. Also hier müsste man nachdenken. Aber es ist außerordentlich schwierig, die richtige Lösung zu finden. Auf der anderen Seite darf nicht die gesamte Menschenrechtskultur dabei zu Grunde gehen. Auch diejenigen, die nur für bestimmte Ziele kämpfen, die müssen als menschliche Wesen mit einer gewissen Würde auch anerkannt werden. Wenn Leute sich bestimmten bewaffneten Verbänden anschließen, die zum Beispiel ein Lager der Bundeswehr angreifen, dann ist das kein Terrorismus. Sprecherin: Christian Tomuschat kritisiert die alten Kategorien von Kombattant und Zivilist als teilweise überkommen. Er verlangt für die neuen Antiterrorkriege auch ein neues differenziertes Austarieren der Beteiligungsformen, der Rechte und der Rechtsträger. Musik Sprecher: Die Weltmacht USA zeigt, dass sie von alledem wenig hält. Sie hat sich mit gezielten Tötungen und Drohnenangriffen in Afghanistan, Pakistan und anderswo ins rechtliche Niemandsland manövriert. Ihr geht es seit dem 11. September 2001 offenkundig nicht zuerst ums Recht, sondern darum, "wer für uns ist und wer gegen uns ist". So damals Präsident Bush wörtlich immer wieder in seinen Reden an die Nation. Wer wirklich oder vermutlich gegen die Weltmacht ist, hat wenig Rechte. Das beweist sie aller Welt an rechtsfreien Orten wie Guantánamo oder Baghram. Das praktiziert sie mit Folter und Verschleppung. Niemand kann angesichts dessen im Unklaren bleiben: die USA haben Recht als Anspruch und Status ersetzt durch willkürliche Zuweisungen von Recht und Unrecht nach dem Motto: "Im Recht ist, wer für uns ist." Hohe amerikanische Regierungsstellen haben diese Rechtsverstümmelungen zugelassen, angeordnet, installiert. Seit Langem fungieren sie als politisch-militärische Grundlage eines Systems illegitimer und extralegaler Rechtspositionen, die den Einsatzbedingungen im Antiterrorkrieg einfach untergeordnet worden sind. Christian Tomuschat macht es am Beispiel deutlich. O-Ton: Tomuschat Die Figur des rechtswidrigen Kämpfers, des unlawful combatant haben Amerikaner in die Welt gesetzt, um Leuten die Behandlung nach dem Kriegsrecht verweigern zu können. Da geht es vor allem um den Status des Kriegsgefangenen. Kriegsgefangener ist nur der, der tatsächlich in einem bewaffneten internationalen Konflikt auch gefangen genommen worden ist und die USA haben nun versucht mit allen Mitteln aus dieser Falle herauszukommen, um die Taliban-Kämpfer, die sie in Afghanistan gefangen genommen haben in dem Gefangenenlager in Guantanamo nicht nach den Regeln des Kriegsrechts behandeln zu müssen. Sprecherin Der Begriff Taliban ist weder als politische Definitionskategorie brauchbar, noch als rechtliches Abgrenzungskriterium, um Kombattant und Zivilist auseinander halten zu können. Dessen ungeachtet werden in Afghanistan ohne sichere Erkenntnisse Menschen fallweise aufgrund geheimdienstlicher Aussagen, von Denunziationen und sogar schlicht vorbeugend als Taliban-Kämpfer identifiziert und daraufhin gezielt getötet. In dieser Grauzone töten amerikanische Special Forces bei ihren geheimen Einsätzen auch immer wieder unbeteiligte Zivilisten. Der asymmetrische Antiterrorkrieg wird in diesem Dunkelfeld symmetrisch geführt. Denn beide Konfliktparteien verletzen dabei Kriegs- und Völkerrecht. Und beide tragen dazu bei, dass Recht und Realität anhaltend weit auseinander klaffen. O-Ton: Tomuschat Der leichtfertige Umgang mit den Regeln des Kriegsrechts ist verheerend. Die Amerikaner haben sich da selbst in gewisser Weise ins Bein geschossen, denn sie müssen damit rechnen, dass eines Tages ihre eigenen Leute auch nicht nach Kriegsrecht behandelt werden. Wenn es zu einem bewaffneten Konflikt kommt, wo es dann auch amerikanische Gefangene gibt. Also es besteht wirklich ein Interesse einer jeden Nation daran, diese Regeln sehr genau einzuhalten, so schwierig das manchmal auch sein mag. Sprecherin: Die sogenannte "asymmetrische Kriegsführung" gegen Terroristen ist nicht unwesentlich dadurch gekennzeichnet, dass an ihren Grenzen vermeintlich eherne Rechtsnormen klar missachtet werden. Das ist in Afghanistan nicht nur auf Seiten sogenannter Aufständischer der Fall. Denn auch angestellte Söldner privater Subunternehmer dieses Krieges wie die von den USA eingesetzten Firmen erledigen viel "Drecksarbeit". Aus Staatkassen bezahlte Ballermänner töten in Afghanistan bei Nacht-und-Nebel-Einsätzen buchstäblich "zahllose" Menschen. Dass wir darüber so gut wie keine Information haben, hat nichts damit zu tun, dass es diese Opfer nicht gibt. Sie werden allzu oft einfach unsichtbar gemacht. O-Ton: Arnold Alles muss eigentlich unter einer Überschrift stehen: Das Menschenleben der Afghanen ist genauso viel wert wie das Menschenleben eines jeden Erdenbürgers, auch eines deutschen und da hab ich schon manchmal die Sorge, dass die Anonymisierung dazu führt, dass manche meinen, nun ja, in Afghanistan sterben eben mal Menschen, ist es halt normal, dass Zivilisten sterben. Zu diesem Denken dürfen wir nicht kommen. Und hier gegenzuhalten muss Politik leisten, und ich hab den Eindruck, da tauchen viele ab, aber es ist leider nicht sachgerecht und hilfreich. Sprecher Am Beispiel des Bombenangriffs auf zwei von Taliban entführte Tanklastwagen bei Kunduz im September 2009 offenbart sich manches der rechtlich-moralischen Dilemmata wie unter einem Brennglas. Erst gab es angeblich keine zivilen Opfer, dann ganz wenige, dann doch eine bedauernswerte Anzahl. Dabei haben Angehörige des Bundesnachrichtendienstes bereits am Tag des Angriffs in einer E- Mail nach Deutschland berichtet. Zitator: Das Verheerende daran ist, ( ... ) dass dabei zahlreiche Zivilisten ums Leben gekommen sind. Zahlen variieren von 50 bis 100. Sprecherin: Auch der NATO-Untersuchungsbericht dazu spricht von vielen Zivilisten unter den "bis zu 142 Toten." Dennoch ist zum Sachverhalt "getötete Zivilisten" vieles im Dunkeln geblieben. Der Kunduz-Untersuchungsausschuss hat bis heute nicht zweifelsfrei aufklären können, auf welcher Rechtsgrundlage Oberst Klein wie gehandelt hat. Daran hat sich durch den formellen strafrechtlichen Einstellungsbeschluss der Bundesanwaltschaft nichts geändert. Daran wird sich auch im Oktober nichts ändern, wenn im Bundestag über den Kunduz- Abschlussbericht und seine abweichenden Bewertungen debattiert wird. Regierungsamtliche Vertuschung, Aussageverweigerungen und Geheimniskrämerei halten die Heimatfront geschlossen. Der Völkerrechtler Christian Tomuschat besteht gerade bei toten Zivilisten auf Transparenz. Denn am Antiterroreinsatz beteiligte Bundeswehrkräfte seien überall und immer verpflichtet, die oberste aller Regeln einzuhalten: Zivilisten zu schonen. O-Ton: Tomuschat Ein legitimes Ziel sind Personen, die sich unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligen. Ist das nicht der Fall, dann sind sie eben Zivilisten, und sie dürfen nicht zum Ziel von bewaffneten Angriffen gewählt werden. Musik Sprecher: Egal ob und wie man neues Recht für neue Kriege im Antiterrorkampf herleiten kann und will, eines bleibt für alle Ansätze bindend: Humanitäres Völkerecht ist in all seinen Ausprägungen ein Recht der Gegenseitigkeit. Jedes Regelwerk muss darauf ausgerichtet sein, keiner Partei zu erlauben den Gegner willkürlich und unmenschlich zu behandeln. Militärische Einsatzführer müssen auch im Antiterrorkampf alles tun, um Unbeteiligte möglichst zu schonen. Die Realität ist eine andere. Nach Angaben der Vereinten Nationen ist die Zahl getöteter Unbeteiligter in den letzten Jahren extrem angestiegen. Christian Tomuschat macht dafür auch die Art von Antiterrorkampf verantwortlich, wie ihn die USA politisch propagieren und militärisch umsetzen. Er warnt vor schlimmen denkbaren Eskalationen. O-Ton: Tomuschat Ich denke, dass doch festgehalten werden muss, dass jemand nur getötet werden darf, wenn es um unmittelbare Beteiligung an Kampfhandlungen geht. Jemand, der nun irgendwann einmal eine Waffe in der Hand gehabt hat oder jemand, der in einem Planungsprozess drin ist, kann nicht einfach umgebracht werden. Dass dann die Geheimdienste einer Seite bestimmen, der wird nun als Ziel markiert und irgendwo, mitten im zivilen Leben wird der umgebracht. Das ist eine Perversion der Tötungserlaubnisse, die das humanitäre Recht gibt. Wir müssen also wirklich darauf achten, dass nicht morgen, Drohnen einer fremden Macht in Deutschland einfliegen und dass dann hier bei uns irgendwo, in Berlin, jemand abgeschossen wird, weil er angeblich irgendwann an terroristischen Taten beteiligt gewesen sein soll. Das ist mit dem geltenden Recht nicht zu vereinbaren, und ich glaube auch nicht, dass das geltende Recht so etwas zulässt. Sprecherin Für jeden Rechtsstaat ist die konsequente Achtung der Menschenrechte ein konstitutiver Grundwert. Die USA haben sie bei ihrem "Krieg gegen den Terrorismus" teilweise aufgegeben. Der ehemalige Justizminister Alberto Gonzalez hat das vor aller Welt formuliert. Amerika dürfe sich durch die Achtung der Menschenrechte nicht "schwächen" lassen. Das ist der zentrale dunkle Kern des langen Schattens des 11. September 2001. Weg von der Stärke des Rechts hin zum Recht des Stärkeren. Wolfgang Heinz vom Deutschen Institut für Menschenrechte definiert das Punkt für Punkt als Amerikas Schwäche, der wir uns nicht hingeben sollten. O-Ton: Heinz Der erste Punkt: Das Hauptziel der Terrorismusbekämpfung besteht nicht mehr Terroristen zu fassen und dann vor Gericht zu stellen, sondern wir müssen Leute irgendwo festhalten können, ohne Anklage oder Gerichtsverfahren. Daraus ist die Idee Guantanamo, Geheimgefängnisse in Bagrahm und Geheimgefängnisse in Drittländern entstanden. Nummer zwei: Noch gravierender vielleicht. Der Folterbegriff wurde intern umdefiniert. Dass nur das bewusste Zufügen von Schmerzen an der Grenze des Organkollaps oder Tod als Folter verstanden werden soll. Unterhalb dieses völlig rechtswidrigen Verständnisses von Folter sind wir frei, zu tun, was wir für nötig halten um Informationen zu bekommen von Terrorverdächtigen. Dritter Punkt: Die USA waren beteiligt an der Entführung von Terrorverdächtigen in Drittländern in ihre Heimatländer, damit sie dort verhört, sprich gefoltert werden. Man kriegt - so der Gedanke - dann ganz schnell Information, völlig außerhalb von Justizkontrolle. Sprecherin Der "Krieg gegen den Terrorismus" hat wichtige Bereiche der Politik grundlegend verändert. Im Rahmen neuer weltumspannender sicherheitspolitischer Strategien flossen hohe Investitionen in neue militärtechnologische Aufrüstungen in der Absicht, Konflikte mit komplexen gesellschaftlichen, religiösen, kulturellen Verwerfungen vorrangig mit militärischer Gewalt zu lösen. Nach einem Jahrzehnt Erfahrung damit sollte eines klar sein: Anhaltend wirksame Erfolge können nicht vorrangig mit militärischer Schlagkraft erzielt werden, sondern mit politisch-moralischer Überzeugungskraft. Niemand darf bei den Versuchen, globalen Terrorismus einzuhegen, seine Gefahren und Risiken beschönigen. Aber diese dürfen auch nicht als Legitimation dafür missbraucht werden, eherne Grundprinzipien des modernen Rechtsstaates zurückzudrängen. Am Ende drückt sich die Stärke demokratischer Staaten nicht in militärischer Überlegenheit aus, sondern in der Strahlkraft ihrer offenen Gesellschaften. Wenn wir das Spannungsverhältnis zwischen individueller Freiheit und kollektiver Sicherheit in diesem Sinne wieder zeitgemäß neu austarieren, können wir aus dem langen Schatten des 11. September 2001 heraustreten. Sprecher vom Dienst: Der lange Schatten des 11. September 2001 Der demokratische Rechtsstaat unter Druck Eine Sendung von Heiner Dahl Es sprachen: Neumann, Victor Grasse, Gerd Sauer, Viola Musik: The Enemy's Fierce Attack; K & I: reborn; Album: Reborn; Lizenz: Creative Commens CC-BY - Sphinx; K & I: Doc; Album: Sphinx; Lizenz: Creative Commens CC-BY - up and down; K & I: BIGSMALL; Lizenz: Creative Commens CC-BY - Ton: Görgner, Inge Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Constanze Lehmann. Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 Am nächsten Montag hören Sie an dieser Stelle: Faire Fische und gerechtes Gemüse - wem nützt Fair Trade? Manuskripte und weitere Informationen zu unseren Zeitfragen-Sendungen finden Sie im Internet unter www.dradio.de 18