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Schriftstellerin Emily Wu engl. /m. Übersetzerin ) Allein in meiner Familie haben wir 17 Familienmitglieder verloren zu den Zeiten der Kulturrevolution und der politischen Bewegungen. Sie wurden erschlagen, erschossen, es gab teilweise überhaupt keinen Grund, oder ein Grund wurde erfunden. Es ist wirklich schrecklich. / ? for no reason. It is horrible.) Kreuzblende (Originalton Bosnier/ m. Übersetzerin) Die sind ja von Haus zu Haus gegangen, und plötzlich kamen viele serbische Soldaten rein, und die haben dann angefangen, uns zu schlagen, und ? (Er) Maschinengewehre ? viele sind liquidiert, heute weiß man noch nichts von denen. Kreuzblende (Überlebender Goldstein bei Gedenkfeier) In Gedanken sind wir in diesen Tagen bei den Frauen Männern und Kindern, die für ewig in Auschwitz geblieben sind. Die Nazis wollten, dass sie vergessen werden. Wir haben die Pflicht, das zu verhindern. Spr.: Terroranschläge, Kriege, politische Verfolgung, Folter und Völkermord ? solche extremen Gewalterfahrungen hinterlassen Spuren. Nicht nur bei einzelnen Menschen, sondern auch in den betroffenen Gemeinschaften und Völkern. Sie setzen sich im kollektiven Gedächtnis fest und prägen Fühlen, Denken und soziales Handeln von Gruppen. Sprin: "Kollektives Trauma" lautet der inzwischen gebräuchliche Begriff dazu, der aus wissenschaftlicher und politischer Sicht jedoch äußerst schwierig ist. So sagt die Münchener Traumaforscherin Angela Kühner: O-Ton 2: Kühner (0'09") Ich finde das ein Riesenproblem, dass mit einem Begriff so inflationär umgegangen wird, sowohl auf individueller Ebene als auch auf kollektiver Ebene. Das tut nicht gut. Sprin: Und der Berliner Sozialpsychologe Dr. David Becker: O-Ton 3: Becker (0'11") Ich mag das Wort kollektives Trauma nicht, dieser Begriff tut so, als ob man diese Brücke zwischen Individuum und Gesellschaft einfach so überspringen könnte, indem man sie zusammen wirft. Sprin: Etwas anders der Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt, Professor Hans Joas: O-Ton 4: Joas (0'24") Ich teile die Vorsicht. Aber einen wirklichen Zweifel an der Übertragbarkeit grundsätzlich hab ich nicht, weil es doch so ist, dass manche Traumata eben nicht von einem vereinsamten Individuum erlitten werden, sondern von diesem Individuum zusammen mit anderen Menschen. Vor allem wenn ihr ganzer sozialer Zusammenhalt durch das Ereignis erschüttert worden ist oder vernichtet worden ist. Regie: Musik, darauf, als "Kapitelüberschrift " ("Zit." = Programmsprecher?) Zit.: Von der Unfallchirurgie zur Sozialpsychologie: Die Erweiterung des Begriffs Trauma. Regie: Musik hoch und weg Spr.: Das Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet "Wunde", auch "Niederlage". Ursprünglich wurde es in der Chirurgie benutzt, für körperliche Verletzungen durch äußere Einwirkung. Die Psychoanalyse übertrug den Begriff Trauma dann auf seelische Zustände: Extreme Schreckenserlebnisse können oft nicht verarbeitet werden und setzen sich langfristig fest. Die Folgen sind immer wiederkehrende, alptraumhafte Erinnerungen, intensive Furcht oder völlige Gefühlsstarre sowie viele andere seelische und körperliche Störungen. Sprin: Psychisches Trauma ? eine seelische Wunde, die nicht heilen will. Spr.: Das Phänomen an sich ist schon länger bekannt. Als "Kriegsneurose" bezeichnete man es bei Soldaten des 1. Weltkrieges. Systematisch beobachtet und erforscht wurde es in den USA bei Vietnam- Veteranen. Aber erst 1980 wurde das seelische Trauma als anerkannte Diagnose ins Handbuch der Amerikanischen Psychiatrie eingetragen. Inzwischen trägt es den Namen "Posttraumatische Belastungsstörung", englisch abgekürzt PTSD. Sprin: Doch schon die auf Individuen bezogene Definition von Trauma ist für den Sozialpsychologen David Becker problematisch: O-Ton 5: Becker (0'28") Der Vorteil davon ist, dass man zumindest mal sich gestattet hat zu benennen, dass es psychisches Leiden gibt, das wirklich durch externe schwere Erlebnisse ausgelöst werden kann. Der Nachteil, dass es für die posttraumatische Belastungsstörung zum Beispiel wurscht ist, ob Sie im KZ waren oder ob sie einen Herzinfarkt hatten oder ob Sie vergewaltigt worden sind, das ist alles eine Stressreaktion. Sprin: Wenn die Krankheitsbeschreibung schon bei einzelnen Menschen zu undifferenziert ist ? wie kann sie dann sinnvoll auf eine Gruppe übertragen werden? Der allgemeinste Definitionsversuch beschreibt kollektives Trauma als... Spr.: "... Gewaltereignisse, die langfristig tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen und dadurch das Verhalten der betroffenen Gemeinschaft beeinflussen." Sprin: Welcher Personenkreis ist nun gemeint, wenn von einem "kollektiven Trauma" die Rede ist? Es kann eine große Zahl von Opfern sein ? aber nicht zwangsläufig. Eine Vergewaltigung etwa ist eine furchtbare Erfahrung für jede betroffene Frau, aber die Gesamtheit aller vergewaltigten Frauen, etwa in Deutschland, leidet nach der sozialwissenschaftlichen Definition nicht an einem "kollektiven Trauma". Oder: Es können alle Angehörigen eines Volkes sein ? es muss aber nicht so sein. Nicht jeder Schock für die meisten Menschen eines Landes ist gleich ein kollektives Trauma. Das Phänomen ist sehr viel komplexer. Spr.: Der Berliner Traumaforscher David Becker arbeitet mit traumatisierten Gruppen in aller Welt. Er glaubt nicht, dass man von einem individuellen Trauma auf eine Gruppe einfach "hochrechnen" kann: O-Ton 6: Becker (0'45") Es ist gar keine Frage, es gibt kollektive Dimensionen traumatischer Prozesse, also wir müssen uns überlegen, wenn in einem Land wie Ruanda ein Genozid stattgefunden hat, was bedeutet das für die Gesamtgesellschaft. Und mir ist auch wichtig, nie zu vergessen, dass Trauma im eigentlichen Sinne immer an konkrete Körper gebunden ist, also in einem Individuum stattfindet. Wenn tausende von Menschen umgebracht werden oder vergewaltigt werden, dann ist das an so und so vielen einzelnen Menschen passiert. Und irgendwie müssen wir den Spagat hinkriegen, bei bestimmten Arten von Leid, wie es in Kriegen, in Genoziden, in Unterdrückungs-prozessen zustande kommt, von den Menschen zu sprechen und gleichzeitig von der Gesellschaft. Sprin: Auch Dr. Angela Kühner, Sozialpsychologin in München, hält es für problematisch, den individualpsychologischen Ausdruck "Trauma" auf Gruppen oder Gesellschaften anzuwenden. In gewisser Weise aber helfe der Begriff: O-Ton 7: Kühner (0'30") Er leistet, dass er uns drauf aufmerksam macht, dass es Phänomene gibt, komplizierte Mechanismen, die vielleicht dazu führen, dass jemand Monate oder Jahre später an psychischen Problemen leidet, die mit einem schlimmen Ereignis zu tun haben. Und so ähnlich kann man sich das natürlich auf kollektiver Ebene auch vorstellen: also dass was Furchtbares passiert ist und dass man erst denkt, na ja, dieses Gesellschaft oder diese Gruppe kommt gut damit klar und dann langfristig stellt man fest, das hat irgendwie verborgene Schäden hinterlassen, die erst später sichtbar werden. Sprin: Der Begriff "kollektives Trauma" ist also durchaus geeignet, gesellschaftliche und politische Vorgänge besser verständlich zu machen, und so das Verhalten von Gruppen, Völker oder Staaten zu erklären. Dafür gibt es gute Beispiele. Regie: Musik, darauf, als "Kapitelüberschrift " Zit.: Angst, Entfremdung, Resignation ? "Kollektives Trauma" als nützliches Erklärungsmodell Regie: Musik hoch und weg Spr.: Der Holocaust. O-Ton 8: Kühner (0'04") Natürlich ist das das Beispiel schlechthin, was man mit kollektivem Trauma assoziiert. Sprin: ? sagt die Sozialpsychologin Angela Kühner. O-Ton 9: Kühner ff. (0'13") ? und da muss man dann aber schon wieder anfangen, genauer hinzuschauen ? für wen? Also ein Genozid ist natürlich erstmal ein kollektives Trauma für das Opfer des Genozids. Also für die Juden kann man den Holocaust mit gutem Gewissen als kollektives Trauma bezeichnen. Sprin: Diese Art von Trauma macht vieles am Verhalten und Agieren von heutigen Juden verständlich. Für sie ist der nationalsozialistische Völkermord geradezu ein Teil ihrer Identität geworden, wenn auch individuell unterschiedlich gewichtet. In seinen Essay: "Jenseits von Schuld und Sühne" schreibt Jean Amery: Spr.: "Ich glaube nicht an den Gott Israels. Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer. Die liest sich kürzer als der Talmud und gibt doch gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel der jüdischen Existenz." Sprin: Der Holocaust, hebräisch Shoah für "große Katastrophe", kann auch deswegen als kollektives Trauma für die Juden gesehen werden, weil es sich über Generationen fortpflanzt. Der Autor David Dambitsch hat das in seiner eigenen Familie erfahren und in den zahlreichen Gespräche mit Überlebenden und deren Nachkommen, die er in einem Buch gesammelt hat: O-Ton 10: Dambitsch (0'39") Ich bin aufgewachsen mit einem Vater, bei dem die Zeit des NS zu jeder Tages- und Nachzeit lebendig war, das Thema Shoah, und die Shoahopfer der ersten Generation, mit denen ich noch habe sprechen können. Sie alle haben das Gefühl, "warum habe ich überlebt und warum die vielen, vielen anderen nicht?" Und dieses alles, jede Lebensäußerung dominierende Lebensgefühl beherrschte unseren Alltag und beherrscht den Alltag der Shoah-Überlebenden, so sie heute noch leben. Dieses ist ein so schweres Erbe, das sie nicht abschütteln können. Sprin: Ein Erbe, das ? gewissermaßen kollektiv ? auf die Kinder über geht. Dieses "Second-Generation-Syndrom" erklärt, warum auch jüngere Juden in Deutschland mitunter ganz konkret Angst bekommen und besonders empfindlich auf antisemitische Tendenzen reagieren. David Becker, Leiter der Internationalen Akademie für innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie: O-Ton 11: Becker (0'31") Die traumatischen Erfahrungen bleiben in den Personen, die sie erlitten haben drin, und selbstverständlich geben sie das an ihr Beziehungsgefüge weiter. Also Traumatisierung betrifft nie nur eine Person, sondern immer auch das Umfeld. Das ist ja auch der Grund, warum politische Unterdrückung oft so einen Symbolcharakter hat. Man will ja das Umfeld kaputtmachen und das gelingt dann auch. Kinder und Enkelkinder sind also auch betroffen und handeln weiter über das Trauma der Eltern. Sprin: Unangemessen ist der Umgang mit dem Begriff "kollektives Trauma" da, wo im Zusammenhang mit dem Holocaust auch von einem "deutschen Trauma" die Rede ist. Angela Kühner: O-Ton 13: Kühner (0'43") Für uns jetzt als Tätergesellschaft, also für Deutschland, kann man auch sagen, es hat ne kollektive Beschädigung gegeben oder wir sind kollektiv ganz sicher ganz stark durch dieses Ereignis geprägt, ob es jetzt für uns auch ein kollektives Trauma ist, da würde ich schon wieder ein Fragezeichen hinsetzen wollen. Das war ein Bruch auch für unsere kollektive Identität, auch wenn das auch ein schwieriger Begriff ist, und wir haben es viel mehr, als das in den öffentlichen Debatten sichtbar und besprochen worden ist, mit Scham zu tun, und natürlich ist Scham auch ein Symptom von Traumatisierungen, aber in dem Fall finde ich, die Scham bezieht sich darauf, dass wir das mit unserer Identität schlecht vereinbaren können, dass wir als Kollektiv zu so was fähig waren. Spr.: Der Berliner Historiker und Faschismusforscher Professor Wolfgang Wippermann sieht die heutige Wahrnehmung des Staates Israel als psychologische Abwehr der Geschichte. O-Ton 14: Wippermann (0'35") Ein so genannter neuer oder sekundärer Antisemitismus, ein Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz, dass man den Opfern vorwirft, ermordet worden zu sein. Und sie damit gleichzeitig zu Tätern macht. Indem man sagt, "sie lernen nichts aus der Geschichte, sie unterdrücken die Palästinenser genau wie wir die Juden oder die Nazis die Juden" und dann klagen sie uns an, eine Schuld begangen zu haben." Das ist vielleicht eine Abwehrbemühung, die man vielleicht auch psychologisch erklären kann und hier vielleicht den Traumabegriff einführen kann, aber nur in der Abwehr. Sprin: Die Bedrohung im Nahen Osten werde oft einseitig beschrieben. Und die Behauptung, der "Judenstaat" dürfe doch "nicht ewig" mit dem Holocaust argumentieren, übersieht, dass Bomben in Tel Aviv oder auf Haifa bei der dortigen Bevölkerung das kollektive Trauma reaktiviert. Spr.: Der Holocaust und seine sozialpsychologischen Folgen sind das wichtigste Beispiel für eine sinnvolle Verwendung des Begriffs "kollektives Trauma". Sprin: Er ist jedoch auch anwendbar auf das, was diktatorische Systeme bewirken, zu deren Herrschaftsmitteln politische Verfolgung und Folter gehören. Spr.: Folter ist für den einzelnen Menschen das traumatisierende Erlebnis schlechthin. Trotz der Ächtung durch die Vereinten Nationen wird sie auch heute noch in mehr als der Hälfte aller Staaten angewandt ? offenbar auch wieder in demokratischen. Sprin: Sie dient keineswegs "nur" dazu, Informationen zu erpressen, sondern zielt auf Erniedrigung und Zerstörung der Persönlichkeit eines Menschen und betrifft damit immer auch die soziale Gemeinschaft. Wie, das erklärt Traumatherapeut David Becker, der lange in Chile gelebt und gearbeitet hat, wo zu Zeiten der Militärjunta von 1973 bis 1990 massenhafte Folter Mittel politischer Unterdrückung war. O-Ton 15: Becker (0'42") Natürlich ist es genau so: der individuell Gefolterte, der soll ja auf sein Kollektiv wirken. Sie brauchen nicht ein ganzes Volk umbringen, damit dieses sich unterwerfen lässt, es langt, wenn sie sozusagen zielgerichtet genug Terror verbreiten, dann haben alle Angst. In Chile sind real Verschwundene und Ermordete während der Diktatur, ich weiß nicht, vielleicht 6000, 8000. Ich weiß aber genau, dass wir alle in der Diktatur geglaubt haben, es wären mindestens 40.- oder 50.000. Wenn Sie in chronischer Angst leben, dann führt das dazu, dass ihr Verhalten immer misstrauischer wird, sie sehen überall Gefahren. Sie protestieren auch nicht mehr, sie unterwerfen sich, es geht nur noch um Überleben. Und Schweigen. Spr.: Ganz ähnlich hat die "Große Kulturrevolution" in China zehn Jahre lang, von 1966 bis 1976 nicht nur den einzelnen Menschen, sondern ein ganzes Volk traumatisiert: Folter, Vergewaltigungen, Massaker und die Verfolgung Intellektueller, erniedrigende Haft in Umerziehungs-lagern, Denunziation, öffentliche Anprangerung und Hinrichtungen. Sprin: Der Psychologe Dr. Tomas Plänkers, Chinaexperte am Sigmund Freud-Institut in Frankfurt, sieht die politische und soziale Entwicklung im heutigen China durchaus auch als Folge dieser kollektiven Traumatisierung während der Kulturrevolution: O-Ton 16: Plänkers (0'43") Individuell können Sie bei traumatisierten Menschen häufig beobachten, dass sie eine überwältigende Erfahrung hatten, die psychisch nicht integriert werden kann, und das führt zu einer so genannten Abkapselung oder zur Bildung eines "Fremdkörpers im Psychischen". Was das Soziale angeht, so ist es ein gewisses Pendant, dass eine ?Dissoziation? auf der gesellschaftlichen Ebene zu beobachten ist. Wenn wir zum Beispiel auf China blicken, dass anlässlich des 30jährigen Endes und des 40jährigen Beginns der Kulturrevolution in diesem ganzen Land keine öffentliche Diskussion zu diesen Ereignissen stattfand ? das heißt, dieses Ereignis wird komplett aus dem öffentlichen Diskurs verbannt, existiert aber nach wie vor in der Erinnerung der meisten Menschen. Sprin: Eine Konkrete Folge ist, dass die Entwicklung demokratischer Verhältnisse behindert wird. O-Ton 17: Plänkers (0'21") Man kann beobachten, dass viele Menschen in China eine Art "autoritären Charakter" haben, wie Adorno das einmal ausgedrückt hat, das heißt, man verzichtet weitgehend auf die eigenen Positionen und kann sich nicht öffentlich dafür einsetzen oder mit anderen auseinander setzen, und der Hintergrund ist natürlich eine historische Erfahrung, in der der Staat immer übermächtig gegenüber dem Einzelnen erlebt wurde. Regie: Musik, darauf, als "Kapitelüberschrift " Zit.: Erklärung und Entschuldigung für Alles: Vom Missbrauch eines Begriffs. Regie: Musik hoch und weg O-Ton 18: Krakau (0'07") Der 11. September war ein traumatisierendes Ereignis von einmaliger Dimension in der amerikanischen Geschichte. Sprin: ? sagt der Historiker und Nordamerikaexperte Professor Knud Krakau von der Freien Universität Berlin O-Ton 19: Krakau (0'26") Es gibt alle möglichen Traumata in der amerikanischen Geschichte, aber der 11. September war eine Steigerung von traumatischen Erfahrungen gegenüber früheren Ereignissen, auch für die Nation als ganzes. Denn dieses Ereignis, der 11. September, brach mit einer Tradition des Selbstbewusstseins in Amerika, die eigentlich immer gegolten hatte, nämlich der Tatsache und dem Bewusstsein davon, dass Amerika unverwundbar ist. Sprin: Anders sieht das der Sozialpsychologe. O-Ton 20: Becker (0'20") Die Gefahr des politischen Missbrauchs ist sehr groß, wenn von kollektiven Traumata gesprochen wird. Sehr häufig ist dies Teil eines politischen Diskurses, welcher versucht, Opfergruppen zu definieren. Also ABC-Volk ? sind alle traumatisiert, entsprechend sind sie alle Opfer geworden. Sprin: Generell gibt es keinen Zweifel an der Legitimität des "Opfer- Seins". Das Problem entsteht dann, wenn sich Jeder dazu stilisiert und damit alle Reaktionen entschuldigen will. Spr.: Gerade im Zusammenhang mit dem 11. September wurde und wird immer wieder der Begriff "kollektives Trauma" bemüht. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass Terroranschläge, die sich anscheinend wahllos gegen viele Menschen richten, als Angriff auf das entsprechende Kollektiv oder die Gruppe empfunden werden. Sprin: Die Münchener Sozialpsychologin Angela Kühner hat sich eingehend mit der Frage befasst, welchen Sinn und welche Implikationen diese Bezeichnung hat. Ein Fazit ihrer Untersuchung: O-Ton 22: Kühner (0'10") Es ist eher eine Möglichkeit den Begriff zu missbrauchen und zu sagen, "schaut her jetzt erinnern wir uns alle bewusst an diesen Tag und dann müssen wir doch alle einer Meinung sein, wehe du denkst anders, dann bist du unser Feind!? Spr.: Mit der Bezeichnung der Anschläge als "attack on America" oder gar als "Angriff auf die westliche Zivilisation" werde das kollektive Trauma zum Freibrief für jedes politische Handeln: O-Ton 23: Bush mit Simultanübersetzer (0'14") Wir werden sie finden. Und wir werden sie bestrafen. Wir werden weiterhin die Freiheit verteidigen und alles, was gut und gerecht ist in der Welt. Danke und gute Nacht. And God bless Amerika". Sprin: Niemand zweifelt an der Berechtigung zur Selbstverteidigung. Spr.: Doch es besteht die Gefahr, dass darüber jene Tausende von Individuen vergessen werden, die tatsächlich am 11. September 2001 traumatisiert wurden. Psychiater in den USA berichten, wie sehr ihre Patienten unter den immer wiederkehrenden Fernseh-Bildern gelitten haben, die das Kollektiv auf die Sicherheits- und Anti-Terror- Maßnahmen der Bush-Regierung einstimmen sollten. Sprin: "Sicherheit" ist gerade für Traumatisierte tatsächlich extrem wichtig, aber Krieg sei nicht zwangsläufig ein probates Mittel, findet Professor Joas: O-Ton 24: Joas (0'25") Der Traumatisierte hat gerade Schwierigkeiten, das traumatisierende Erlebnis überhaupt auf einen Begriff zu bringen. Die müssen lange daran arbeiten, bis sie dem traumatisierenden Ereignis einen Sinn abgerungen haben. Es sind ja auch jetzt gerade nicht die Angehörigen der Opfer des 11. September, die zum Beispiel begeistert für den Irakkrieg eingetreten sind. Sprin: Auch für Traumaforscher David Becker führt die Wahrnehmung des 11.September als kollektives Trauma in die Irre ? und er vermutet dahinter bestimmte Absichten. O-Ton 25: Becker (0'38") Ich glaube, der 11. September ist benutzt worden in den USA, die Angst der Menschen ist benutzt worden, um eine politische Manipulation ziemlich hohen Ausmaßes durchzusetzen, und ich glaube, sie haben aufgrund schwerer Angst, die völlig nachvollziehbar ist, sich manipulieren lassen von relativ gewissenlosen Leute, die ihnen versucht haben, beizubringen, dass es sinnvoll ist, auf viele demokratische Rechte und Grundlagen zu verzichten, und das Ganze dann auch noch mit einer solchen Psychosprache zu verklären, das ist für mich genau das Beispiel dafür, wie der Traumadiskurs politisch schwer missbraucht werden kann. Regie: Musik, darauf, als "Kapitelüberschrift" Zit.: Verletzte Gemeinschaften "auf die Couch" ? Gibt es Therapien für kollektive Traumata? Regie: Musik hoch und weg Sprin: Psychotherapeuten, die einem einzelnen traumatisierten Menschen helfen, hüten sich davor, über irgendwelche "gesellschaftlichen" Hintergründe zu reden ? dies käme dem Opfer so vor, als müsse er auch Verständnis für Täter haben. Anders ist es beim kollektiven Trauma, betont David Becker: O-Ton 26: Becker (0'16") Es gibt immer gleichzeitig auch eine politische Dimension, und mit der muss umgegangen werden. Da würde ich sagen: Umgang mit der Vergangenheit, Gerichte usw. sind ein Teil der möglichen Therapie auf der gesellschaftlichen Ebene von Traumata. Sprin: ?Kollektive Trauma-Therapien? müssen sich also im Spannungsfeld von individuellem Leid und sozialen Prozessen bewegen. Und das öffentlich. Tomas Plänkers, Chinaexperte am Frankfurter Sigmund- Freud-Institut: O-Ton 27: Plänkers (0'43") Das heißt auf einer therapeutischen Ebene für eine Gesellschaft, dass man versuchen muss, dass so etwas wie eine freie, öffentliche Diskussion über die historischen Ereignisse, die Erfahrungen von Millionen von Menschen und deren Auswirkungen bis in die Jetztzeit stattfinden kann. Das hat es in China gegeben zu Beginn der 80er Jahre in Form der so genannten ?Narbenliteratur?. Da entstand erstaunlicherweise eine ganze Vielfalt von Literatur, in der die Einzelnen mit ihren Verletzungen und Erfahrungen während der Kulturrevolution zur Sprache kamen. Das alles hatte aber ein abruptes Ende mit dem Massaker auf dem "Platz des himmlischen Friedens" 1989, und seitdem herrscht in China, was die Kulturrevolution angeht, Totenstille im öffentlichen Diskurs. Spr.: Gerade nach dem Ende der "kollektiven Traumatisierung" in Diktaturen ist es für die einzelnen Opfer, aber auch für die soziale Gemeinschaft besonders wichtig, wie sich "die neue Gesellschaft" zu dem traumatischen Geschehen der Vergangenheit verhält. Sprin: Der Berliner Psychoanalytiker Klaus Behnke ? einst selbst den Stasi- Machenschaften ausgesetzt ? behandelt heute noch Opfer der DDR- Diktatur, und seinem persönlichen Eindruck zufolge steht die bundesdeutsche Gesellschaft einer kollektiven Traumatherapie mitunter im Wege: O-Ton 28: Behnke (0'39") Es gibt die generelle Meinung, Opfer stören nur, Opfer nerven, Zweitens: die Opfer sind konfrontiert mit ihren Tätern auf allen möglichen Ebenen. Also Sie müssen sich vorstellen, dass das Arbeitsamt in Berlin-Lichtenberg, in der ehemaligen Stasizentrale, untergebracht ist. Oder: vor einiger Zeit war ein Mann bei mir, der in der Zwischenzeit nun 70 Jahre alt geworden ist, der aufgrund einer geringen Kleinigkeit, eines Witzes in der Kneipe, für eineinhalb Jahre ins Gefängnis gewandert ist. Der Denunziant fährt heute ? wohl situiert ? in einem großen deutschen Auto an ihm vorbei und wird in keiner Weise zur Rechenschaft gezogen. Sprin: Rechenschaft ? das ist etwas anderes als Rache. Spr.: Dieser Grundsatz gilt auch für Tribunale wie etwa am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, wo Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verhandelt werden, zum Beispiel in Ex-Jugoslawien oder dem Kongo. Öffentliche Menschenrechts-Prozesse können bei den einzelnen Opfern sowie in den betroffenen Gemeinschaften dazu beitragen, dass traumatische Verletzungen gelindert werden. Ähnliches galt übrigens schon für die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg oder den Eichmann-Prozess in Jerusalem. Sprin: Generell sagt Dr. David Becker zur "Aufarbeitung" in Form von Gerichts-Prozessen: O-Ton 29: Becker (0'20") Ich denke, sie haben eine extrem hohe Bedeutung, weil sie eine Anerkennung unter anderem der Verhältnisse ermöglichen. Ich glaube, es geht nicht so sehr um Strafe, ich glaube es geht mehr um die Wahrheit im gesellschaftlichen Prozess. Und die Wahrheit wird nun mal bei uns gesellschaftlich unter anderem durch das Justizwesen hergestellt. Sprin: Auch Wahrheitskommissionen, wie es sie zum Beispiel nach dem Ende des südafrikanischen Apartheid-Regimes oder nach den Militär- diktaturen in Chile und Argentinien gab, können ein Therapeutikum für traumatisierte Kollektive sein. Sie sind kein alleiniges Heilmittel, können aber politisch viel bewirken: O-Ton 30: Becker (0'19") In Chile hat die Wahrheitskommission dazu geführt, dass der demokratisch gewählte Präsident im Namen des Staates sich bei den Opfern entschuldigt hat. Das war eine therapeutisch extrem relevante Geste. Das ist dann etwas, was dazu führt, dass Demokratie wieder etwas Lebendiges wird. Und darum gehts. Regie: Musik, darauf, als "Kapitelüberschrift" Zit: Übers Ziel hinaus ? "Trauma total". Regie: Musik hoch und weg Sprin: In einer sozialen Gemeinschaft kann der sensible Umgang mit Traumatisierten dazu beitragen, das kollektive Grauen zu lindern und politische Konfliktpotentiale zu verringern. Sensibel sollte aber auch der Umgang mit dem Begriff "kollektives Trauma" sein, mahnt Professor Hans Joas. O-Ton 32: Joas (0'34") Also mir ist folgendes enorm wichtig: Dass wir den Traumabegriff wirklich bezogen auf Menschen ausschließlich verwenden, die tatsächlich, empirisch feststellbar als Personen traumatisiert worden sind. Und nicht für Menschen, die sich nur diesen wirklich traumatisierten irgendwie selber zurechnen, sich denen durch politische Sympathie oder was immer verbunden fühlen, und dann für sich in Anspruch nehmen, dass ihr Verhalten durch diese Traumatisierung ausgelöst worden sei. Sprin: Für den Erfurter Soziologen ist besonders bedenklich, dass neuerdings statt vom kollektiven vom ?kulturellen Trauma? die Rede ist. O-Ton 33: Joas (1'07") Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus der amerikanischen Diskussion über die traumatisierenden Wirkungen der Sklaverei: also die Sklaverei hat zweifellos traumatisierende Wirkungen in Fülle gehabt, ja. Und zwar nicht nur bei der Versklavung selbst, was unvorstellbar grauenvoll sein muss, sondern auch weiterhin, weil ja eben etwa Familienzusammenhänge durch den Sklavenhandel immer wieder neu zerrissen wurden. Deshalb halte ich es für eine wirklich seriöse Frage, inwiefern solche traumatisierenden Wirkungen der Sklaverei sich in folgenden Generationen ehemaliger Sklaven feststellen lassen. Aber dies ist etwas völlig anderes, als wenn ein Schwarzer oder ein Sympathisant der amerikanischen Schwarzen pauschal in Anspruch nimmt, dass die Sklaverei eben eine Traumatisierung sei, und er deshalb einfach durch die Zugehörigkeit zu dieser Kategorie sich selber auch als traumatisiert bezeichnen kann. Da beginnt der Missbrauch der Traumakategorie. Sprin: Die Floskel "kulturell", so Joas, lässt nun überhaupt keine Differenzierung mehr zu. Spr.: Von einem "kulturellen Trauma der Muslime" ist dann die Rede, das beispielsweise durch den Karikaturenstreit oder die Papstäußerungen aktualisiert worden sei. Als kulturelles Trauma wird aber auch schon mal "das Waldsterben" bezeichnet oder der Hurricane Katrina, weil er die Kulturstadt New Orleans zerstörte. Sprin: Umgangssprachlich scheinen ohnehin längst alle Dämme gebrochen, wie im Titel eines Buches: "Das Dosenmilch-Trauma der Kinder". Solche Sprach-Schludereien verhindern eine rationale Auseinander- setzung mit politischen und gesellschaftlich bedeutsamen Phänomenen, meint David Becker: O-Ton 34: Becker (0'50") Wenn man einen Begriff inflationär gebraucht, dann schafft man auf die Dauer eine völlige Sinnentleerung. Und das ist das, was zur Zeit passiert, Trauma bedeutet eigentlich gar nichts mehr, es bedeutet nur noch "schrecklich". Die Sache hat zwei Seiten. Die eine ist, dass viele von uns jahrelang darum gekämpft haben, dass Traumatisierungen überhaupt anerkannt werden. Und in dem Sinne ist es natürlich etwas Positives, dass es heute irgendwie ins allgemeine Bewusstsein gedrungen ist, dass man an den realen Verhältnissen krank werden kann. Auf der anderen Seite, meine Tochter kommt auch aus der Schule, wenn es irgendwie furchtbar war, und sagt: "heute war's wieder total traumatisch", und dann frag ich mich, haben wir nicht des Guten zuviel getan? Ich denke, man muss sich wieder Mühe machen, wenn von Trauma die Rede ist, wirklich von extremem menschlichen Leid zu sprechen. 1 __________________________________________________________________________________________