COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Literatur, 13.10.2009, 19.30 Uhr Wind ist kälter als Schnee Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller im Blickpunkt der Öffentlichkeit Von Sigried Wesener Autorin Schlag 13.00 Uhr öffnet sich am vergangenen Donnerstag die berühmte weiße Tür im Börsensaal der Schwedischen Akademie in der Kellergasse 4 der Stockholmer Altstadt. Per Livestream schaut die Welt gespannt zu. Allerdings ist das Interesse an den live-Bildern derartig groß, dass die server überlastet abschalten. Viele Zuschauer werden wieder zu Lesern der Agenturmeldungen und zu Zuhörern: Take: engl. 10`? Peter Englund Autorin Dieser Satz geht in die Welt, verkündet von Peter Englund, dem neuen Jury-Vorsitzenden der schwedischen Akademie für den Literaturnobelpreis. Erst kurz zuvor hatte die in Berlin lebende Autorin der Anruf aus der schwedischen Hauptstadt überrascht. Überall laufen die Telefone heiß, Statments werden abgegeben und um 17.30 steht Herta Müller im Büro des Börsenvereins am Schiffbauer Damm in Berlin Take: 5?? O-Ton Herta Müller Ich weiß es, aber ich glaube es noch immer nicht. Es ist jetzt im Kopf angekommen Autorin Glückwünsche auch aus dem Bundeskanzleramt von Angela Merkel, die sich sichtlich freut. Take: 30??Angela Merkel: ?Ich gratuliere ihr von ganzem Herzen. Autorin Die Kritiker haben das Wort: Im Programm von Deutschlandradio Kultur zum Beispiel Verana Auffermann Take: 5?? Auffermann: Mich hat sie sehr überrascht und um es auch gleich zu sagen, auch sehr sehr gefreut. Autorin Den Verleger Michael Krüger erreicht die Nachricht in der Schweiz, zu weit entfernt, um rechtzeitig an der Seite seiner Autorin zu sein. Am Telefon für Deutschlandradio Kultur sagt er: Take: 15?? Krüger: Na, ich freu mich natürlich für die Autorin aber auch für uns. Denn das sind ja alles nicht Bücher, die leicht sind und mit denen man Hunderttausende macht und wenn die ausgezeichnet werden, dann freut einen das ganz besonders. Autorin Auf der Pressekonferenz in Berlin kann Kulturstaatsminister Bernd Neumann persönlich gratulieren: Take: 10?? Neumann: Ich fand, sie hatten schon vorher vom Format her Weltrang aber jetzt´ist es noch einmal durch den Literaturnobelpreis bestätigt. Ich darf nur sagen: wir sind stolz auf Sie und auf diese Auszeichnung. Autorin Und für Deutschlandradio Kultur berichtet Dorothea Westphal: Take: 40?? (Beifall) ?..Zeit, um das einzuordnen (Müller) Autorin Als die Blitzlichter aus-, die Kameras abgeschaltet sind, gibt Herta Müller am Telefon einem schwedischen Hörfunkreporter ein Interview, ihr einziges an diesem Tag. Take: 30?? Müller: Ich habe immer versucht, dass, was ich erlebt habe, was mich beschäftigt und was mit dieser Diktatur zu tun hat, was mit dem Einzelnen mit dem Individuum in einer totalitären Welt passiert, das nachzuvollziehen. oder welches sind die Unterschiede zwischen Verweigerung und stillem Opportunismus bis zu Tätern und warum passiert das: Was man nicht erklären kann und das kann die Literatur auch nicht und wenn ich dann an einem Text schreibe, suche ich danach. Autorin Herta Müller ist in Rumänien geboren, am 17. August 1953. Vier Monate nach Stalins Tod. Rumänien gehört nach dem zweiten Weltkrieg zum sozialistischen System. Sie wächst auf in einem Dorf, das bessere Zeiten erlebt hat, als die Banater Schwaben in der Hitler-Ära ihr Deutschsein herausstellen konnten. Dieses privilegierte Gefühl endet mit dem Zusammenbruch des Weltgefüges 1945 abrupt. Die politischen Farben sind rot, viele Frauen und Männer zwischen 18 und 40 Jahren aus Siebenbürgen werden zum Wiederaufbau in die Sowjetunion verschleppt. Die deutsche Minderheit ist jetzt eine unterdrückte Minderheit. Es ist eine enge Welt, in die Herta Müller hineingeboren wird. Das sensible Kind baut sich eine andere, eine phantastische Welt. Take: 1?10 Hörbuch: Katzengeschrei Autorin Die von vielen Kritikern gelobte bildhafte Sprache Herta Müllers hat hier ihren Ursprung. Darauf bezieht sich auch Verana Auffermann im Gespräch mit Sigrid Brinkmann und Ernst Wiechner: Take 3?40 Take Hörbuch: 1?50: Die Verfolgung steckt tief Autorin Ob sie von der eingeschworenen Freundschaft rumäniendeutscher Studenten schreibt oder einen Tag im Leben einer jungen Frau schildert, die zum Verhör bestellt ist. Angst treibt die Figuren um, drängt sich in die Gespräche und Erinnerungen, löst Alpträume in einer kranken, korrumpierten Welt aus. Die bedrückende Grundstimmung ist in ihren Büchern immer gegenwärtig, bisweilen schlägt sie um in bitteren Spott. Über die literarischen Welten der Herta Müller sagt Kritikerin Sigrid Löffler. Take: 2? Autorin ?Niederungen?, der erste Prosaband von Herta Müller durfte 1982 erst nach Streichungen der Zensurbehörde in Rumänien erscheinen. Für ihr Debüt erhielt sie dennoch drei rumänische Literaturpreise. Als die deutsche Übersetzung 1984 erschien, setzte der Aspekte-Literaturpreis ein erstes internationales Ausrufezeichen. Die Autorin wurde als neue Stimme aus einer unbekannten, vergessenen Welt gefeiert. Heimatlosigkeit, die Existenz zwischen den Sprachen wird eine zentrale Erfahrung im literarischen Werk und im Leben der Herta Müller. Als Angehörige der deutschen Minderheit, die sich den Nachstellungen der Securitate entzieht, wie als Intellektuelle, die der dörflichen Enge im Banat und der Sprachlosigkeit in der Familie zu entfliehen sucht, gerät sie in doppelte Fremdheit. Zudem ist sie sozial geächtet, weil sie aus politischen Gründen als Lehrerin und Übersetzerin entlassen, keiner geregelten Arbeit nachgehen darf. Sie bewegt sich auf fragilem Terrain, aus diesem schmerzhaften Dazwischen entstehen ihre literarischen Texte. Auch Richard Wagner, ihr früherer Lebenspartner und Schriftstellerkollege, mit dem sie 1987 Rumänien Richtung Deutschland verlassen hat, kommt aus dieser Welt. Im Gespräch mit Sigrid Brinkmann spricht er über diese Zerrissenheit. Take: 3? ? sie werden sich mit ihr jetzt dann loben. Autorin Seit dem Verlassen Rumäniens 1987 ist sie immer mal wieder zurückgekehrt, auch in ihren Geburtsort. Ein Gefühl der Heimkehr gab es nie. In einem früheren Gespräch hatte sie mir erzählt, dass sie sich trotz Traumatisierung in der Ceausescu-Ära die Sympathie für die rumänische Sprache stets bewahren konnte: Take 25?? Mich hat diese Sprache fasziniert, ich hab sie gern gelernt, und sie schreibt bis heute mit, weil ich nicht weiß, was ich in welcher Sprache erlebt habe, und sie hatte sehr oft die für mich passenden Wörter als meine Muttersprache, gerade in den Redewendungen, im Aberglauben. Das Rumänisch ist eine sehr sinnliche und frivole Sprache? Autorin Und vor allem das Fluchen auf rumänisch hat sich ihr eingebrannt, drängt sich beim Schreiben in die Erinnerungen. Die Zweisprachigkeit bildet ein wichtiges Element für die bildhafte, poetisch aufgeladene, bisweilen von überraschenden Bildern, mit veralteten Wörtern und Wendungen gespickte Sprache der Herta Müller. ? Take: 20?? Müller: Das ist ja wie Pantomime. Das Schreiben ist ja nicht das Leben, Man lebt ja nicht, damit es aufgeschrieben wird. Gott sei Dank! Und die Sprache ist ein künstliches Metier, die durch eine ganz künstliche Art wieder aufbaut, was im Leben so von sich aus passiert. Und das geht ja nicht 1:1. Autorin ?Die Literatur geht dorthin zurück, wo die stärkste Beschädigung sitzt?, sagt Herta Müller. Ihre Beschädigung sitzt tief. Die rigorose Moralistin steht in der Tradition eines Paul Celan, von Primo Levi, Jorge Semprun und Imre Kertész. In ihren autobiographisch gezeichneten Romanen und Essays hat sie über Traumata geschrieben, die bis ins Exil nachwirken und noch heute ihr Schreiben prägen, zeigt sie, dass Leid, Verzweiflung, Widerstehen in außergewöhnlichen Zeiten ein unerschöpfliches Reservoir sein können, aus dem gute Literatur entsteht. Immer wieder versucht sie, dem Grauen Konturen, den Verwundungen der Seele eine Stimme zu geben. ?Angst hat immer das gleiche Gesicht?, schreibt Herta Müller in ihrem Roman ?Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet?. Und so lesen sich ihre Texte als ein Widerstehen des Individuums in totalitären Verhältnissen. Ein Thema, das auch auf der Buchmesse in Frankfurt/Main die Öffentlichkeit bewegt. Take: 30?? Es ist ja egal, welche Diktatur das ist, es gibt ja immer noch Diktaturen, wenn wir an Kuba denken oder Russland ist ja kein Demokratie oder in China, auch da , wo es wirtschaftlich aufwärts geht, das heißt ja noch lange nicht, dass es die Freiheiten gibt, wie wir sie im Westen für selbstverständlich halten. Wenn Einschnitte im Leben sind , die ein auch beschädigt haben. Autorin Im Käthe-Kollwitz-Museum habe ich die Berliner Buchpremiere von Herta Müllers neuem Roman ?Atemschaukel? erlebt. Die Autorin steht in einem Raum mit der ?Pieta? aus dem Jahr 1937. Von diesem Nebeneinander ging eine berührende Seelenverwandtschaft aus. Die Mutter, die den toten Sohn im Arm hält, daneben die Autorin, die von menschlichen Verwundungen erzählt. Ihr neuer Roman beginnt in Rumänien nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Die Hauptfigur ist ein 17jähriger Homosexueller, der in die Sowjetunion deportiert wird. Lageralltag, das Leben am Abgrund, gezeichnet von Hunger, Demütigung, Tod und - die Zeit der Rückkehr, als es unmöglich war, sich in die Familie, in die ersehnte, einst verlassene Welt wieder einzugewöhnen. Wie Oskar Pastior hatte auch ihre Mutter die Verbannung als Gepäck mit in die Familie gebracht. Als Überlebende schwieg sie. Bei der Buchvorstellung zeigten Fotos auf einer Leinwand Herta Müller und Oskar Pastior auf Spurensuche am Don. Die gemeinsame Reise förderte Erinnerungssplitter zutage. In ?Atemschaukel? erobert Herta Müller dieses bittere Thema für die nachgeborne Generation über Sprache. Eine hoch poetische Sprache, in der sie über die Schwerstarbeit in einer Zementfabrik und den Hunger schreibt. Der Hungerengel begleitet die Häftlinge Tag und Nacht, sitzt mit am Tisch, erniedrigt, treibt den Egoismus an. Nach der Lektüre wird das Meldekraut nicht mehr das überflüssige Unkraut sein, sondern ein Synonym für das Überleben und Überlisten der Angst. Und reicht bis in Küche und Stuben im Banat, in denen Herta Müller aufgewachsen ist. Im Gespräch mit Jürgen König erzählt sie von diesen Kindheitserinnerungen. Take: 2?30 Autorin Die 56jährige Autorin gehört zu den jüngsten Literaturnobelpreisträgern. Wie in den Biographien von Günter Grass und Thomas Mann, die ebenfalls vom schwedischen Nobel-Komitee geehrt worden sind, hat das verhängnisvolle 20. Jahrhundert tiefe Spuren im Leben der Herta Müller hinterlassen. Die Wucht von Verdrängung und Vertreibung haben immer wieder auch zu Schreibpausen geführt. ?Atemschaukel? ist nach dem Roman ?Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet? der erste große Prosatext der Autorin seit 1997. Der Verleger Michael Krüger hat Herta Müller mit dem Essayband ?Der König verneigt sich und tötet? vor sechs Jahren zum Hanser-Verlag geholt und sieht sich nicht erst seit der Preisvergabe bestätigt, wie er im Gespräch mit Susanne Führer erzählt: Take: 2? Michael Krüger: Autorin Herta Müllers Romane und Essaysammlungen wurden mit zahlreichen nationalen und internationalen Literaturpreisen geehrt. 1994 erhielt sie den Kleist-Preis, 1998 den Impac- Literaturpreis, 2003 den Joseph-Breitbachpreis, seit dem 8.Oktober 2009 ist sie eine würdige Literaturnobelpreisträgerin. Auf der offiziellen web-site des Nobelpreises ist eine Umfrage geschaltet, die die Besucher auffordert, ein Votum abzugeben. Haben Sie schon mal etwas von Herta Müller gelesen? 7 % haben mit Ja, 93 % mit Nein geantwortet. Sicherlich keine repräsentative Umfrage, aber ein Indiz dafür, dass das Nobelkomitee sich nicht an einen Massengeschmack andient und mit seinen Entscheidungen immer wieder für Überraschungen sorgt. Gute Nachrichten kommen aus den Buchhandlungen hierzulande, denn die Bücher Herta Müllers sind ausverkauft. Nachschub ist für Mitte der Woche annonciert und die nächsten Lesetermine in Hamburg, Berlin und anderswo sind verabredet. Hier wird die Autorin sich den Zuspruch ihrer Leser abholen und ihren Alltagsrhythmus wieder aufnehmen, denn schließlich: Take: PK / Gefühl Nobelpreisträgerin / Eier kochen 30?? A: Ich werde ja nicht .. E: ?. die die bedrückende Atmosphäre, 3 Müller Herta2-09.doc