COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Forschung und Gesellschaft - 24.9.2009 "Wahrheit und Lüge vor Gericht" Gespräch mit Max Steller Liane von Billerbeck: Vor Gericht, besonders in Strafverfahren, ist die Antwort auf die Frage, ob ein Mensch lügt oder die Wahrheit sagt, von zentraler Bedeutung - für Opfer, für Zeugen und für Menschen, die angeklagt sind, ein Verbrechen begangen zu haben. Spätestens seit den spektakulären Prozessen in Münster und Mainz Mitte der 1990er Jahre, in denen sich ganze Menschengruppen des massenhaften sexuellen Missbrauchs bezichtigt hatten oder dessen bezichtigt worden sind, war auch in Deutschland klar, dass es besonderer Expertise bedurfte, um herauszufinden, wer vor Gericht die Wahrheit sagt und wer nicht, Expertise, wie sie Rechtspsychologen haben. Ihr Fach, die Rechtspsychologie, gibt es zwar schon seit etwa 100 Jahren, dennoch ist sie hierzulande erst seit einigen Jahrzehnten auch im Blick der Öffentlichkeit. Einer der renommiertesten deutschen Rechtspsychologen ist der Berliner Professor Max Steller, der jahrzehntelang - zuerst in Kiel und dann am Institut für Forensische Psychiatrie in Berlin - gelehrt hat. In zahlreichen Verfahren war und ist er als Aussagegutachter tätig, beispielsweise im Mordfall Pascal 2007 in Saarbrücken und im Holzklotzwerferprozess 2009 in Oldenburg. Mit Prof. Steller will ich heute Abend über Wahrheit und Lüge vor Gericht sprechen. Herzlich willkommen. Prof. Max Steller: Guten Abend. von Billerbeck: Über so große Fragen, wie Wahrheit und Lüge, zu urteilen und das auch zu seinem Beruf zu machen, könnte man ja glatt als Anmaßung verstehen. Wie kamen Sie denn zur Rechtspsychologie? Steller: Wie so vieles im Leben geschah das durch Zufall. Ich habe in meinem Studium an der Universität Kiel einen Professor kennen gelernt, den ich sehr geschätzt habe. Dieser Prof. Hermann Wegener, Psychologe und Arzt, hat mir die Gerichtspsychologie sehr nahe gebracht. Ich wurde dann in Kiel sein Assistent und habe bei ihm das rechtspsychologische Gutachten von der Pieke auf gelernt. von Billerbeck: Sie waren ja nicht nur Professor und haben Ihr Fach unterrichtet. Sie sind auch seit Jahrzehnten Gutachter vor Gericht. Wie wird man das denn? Was muss man dafür wissen und können? Steller: Es gibt keine eigentliche Ausbildung als Gutachter oder Sachverständiger. Man wird es eigentlich durch Ernennung durch Gerichte oder Staatsanwaltschaften. Und wichtig ist, dass Sie von Ihrem Fach etwas verstehen. Wenn Gerichte meinen, dass sie selbst, dass ihr eigener Sachverstand nicht ausreicht, dass sie selbst nicht ausreichende Sachkenntnis in einem Gebiet haben, zum Beispiel in der Beurteilung von Zeugenaussagen, dann holen sie sich Sachverständige zur Hilfe. von Billerbeck: Wie wird man denn nun Aussagegutachter? Was muss man selber dafür wissen? Steller: Die Aussagepsychologie ist ein spezielles Fachgebiet der Psychologie. Man wird das, indem man Psychologie studiert hat, das reicht aber nicht aus, sondern dass man sich dann auf dieses spezielle Gebiet ausgerichtet hat, spezielle Sachkunde erworben hat. Das ist in unserem Bereich dann doch sehr zufallsabhängig. Es gibt nur sehr wenige Personen, die diese Expertise haben. Und ich hatte eben das Glück, vor 40 Jahren einen Altmeister des Faches kennen zu lernen und von diesem zu lernen. von Billerbeck: Wenn Sie eine Aussage begutachten, wie müssen wir uns das vorstellen? Müssen Sie einen Menschen gesehen haben? Oder genügt es, dessen Äußerungen in den Akten zu lesen, die Polizei oder Staatsanwaltschaft angelegt haben, um herauszufinden, ob seinen Aussagen zu trauen ist oder eben doch lieber nicht? Steller: Wie der Begriff "Aussagepsychologie" schon sagt, müssen wir ihn mehr gehört als gesehen haben. Wir betreiben eben keine Charakterausdeutung oder Irisdiagnostik, indem wir ihm tief in die Augen schauen, sondern wir analysieren den Inhalt von Aussagen sehr akribisch. Dazu ist es meistens von Vorteil, den Zeugen selbst befragt zu haben. Es ist aber nicht immer nötig. Manchmal liegt so viel Material in den Akten vor, dass auch die Aktenanalyse reicht. Aktenstudium, das will ich an dieser Stelle sagen, ist zumindest zur Vorbereitung der eigenen Befragung ganz wichtig. Manchmal reicht es sogar aus. Aktenstudium ist ein ganz zentraler Bestandteil. Man muss sehr genau lesen. Dann erkennt man in den Akten meinst schon die Wahrheit. Man muss aber nicht nur genau lesen, man muss auch behalten, was man liest. Man muss sozusagen auf Seite 400 noch wissen, was man auf Seite 10 gelesen hat, und diese Dinge zusammenbringen. Dann erschließt sich manchmal die Wahrheit von allein. von Billerbeck: Das klingt ganz einfach. Ist es so einfach? Steller: Es klingt - glaube ich - einfacher als es ist. Man muss Bestandteile zusammensetzen. Was ich an der Aussagepsychologie, an der Begutachtung von Zeugenaussagen liebe, ist, dass es auch so eine Art Kriminalistik ist, also ein Zusammensetzen von Puzzles. von Billerbeck: Es sind nicht selten Fälle von mutmaßlichem sexuellem Missbrauch, in denen sie als Gutachter gefragt sind. Oft sind in diese Verfahren auch Kinder involviert, die man ja auch möglichst schonen möchte, damit sie bestimmte Erlebnisse oder vermeintliche Erlebnisse nicht noch mal durchmachen müssen. Begutachten Sie Kinder anders als Erwachsene? Steller: Ja und nein, würde ich beinahe gern antworten. Natürlich muss ich mich mit meinem eigenen Sprachgebrauch dem kindlichen Entwicklungsstand anpassen, aber falsch ist der Glaube, man könne mit Kindern kein ernsthaftes Gespräch führen. Kinder mögen es überhaupt nicht, wenn sich Erwachsene zu ihnen runter begeben. Kinder ziehen es vor und reagieren positiv darauf, wenn man sie ein bisschen auf das Niveau der Erwachsenen herauf holt. Will sagen - in diesen Befragungen von Kindern in diesen ernsten Angelegenheit: kein Spiel, keine Babysprache und keine Anbiederung im Gespräch mit den Kindern, sondern sachlich ausgerichtete Befragung. Auch ein kindlicher Zeuge weiß, dass er oder sie in einer ernsten, das heißt wichtigen Sache befragt wird. Wen ich kindlichen Zeugen in Verdachtsfällen auf sexuellen Missbrauch mit Spiel, Ablenkung und Verharmlosung begegne, so schade ich dem Ziel der Befragung. von Billerbeck: Ich hatte es am Anfang erwähnt. Mitte der 90er Jahre gab es hier in der Bundesrepublik zwei sehr spektakuläre Verfahren, einmal den so genannten Montessori-Prozess in Münster, in dem ein Erzieher des massenhaften sexuellen Missbrauchs angeklagt war, und die Wormser Missbrauchsprozesse, in denen sich zwei verfeindete Familien in einen Strudel von sexuellen Missbrauchsvorwürfen rissen. Sie waren damals als Gutachter in Mainz dabei. Ihr Gutachten hat am Ende auch zum Freispruch geführt. Was haben Sie damals gelernt? Was waren das für Verfahren? Steller: Zunächst vielleicht als Vorbemerkung: Diese später angeklagten Familien haben sich zwar im Vorfeld der Prozesse gestritten, zum Teil haben sie sich auch nach Scheidungs-, nach Trennungsstreitigkeiten den sexuellen Missbrauch um die Ohren gehauen, sich also wechselseitig des sexuellen Missbrauchs beschuldigt, aber wichtig ist, diese Familien haben die Anklagen, also die Prozesse, nicht herbeigeführt. Herbeigeführt wurden diese Prozesse durch Personen, die sich beruflich dem Kinderschutz verschrieben hatten, also eigentlich Gutes tun wollten, die aber gravierende Fehler in der Befragung von Kindern gemacht haben. von Billerbeck: Welche waren das? Welche Fehler haben die gemacht? Steller: Es waren so genannte "Marathonbefragungen" von Kindern, die dort vorgenommen wurden. Also, sehr junge Kinder, vier-, fünf-, sechsjährige Kinder wurden von derselben Person zum Teil über Wochen oder Monate immer nach dem gleichen Sachverhalt mit immer neuen Varianten und immer neuen Vorgaben befragt. Das "Nein" der Kinder galt gar nichts. Man hat sie so lange befragt, bis sie wunschgemäß, erwartungsgemäß irgendwann auch mal auf sexuelle Handlungen zu sprechen kamen. Diese sexuellen Komponenten wurden ihnen aber in den Vorbefragungen induziert, vorgegeben. Es waren keine originären Bekundungen der Kinder selbst. von Billerbeck: Wie haben Sie herausgefunden, dass das so war? Steller: Es war ein Glücksfall - in Anführungszeichen -, dass in diesen Prozessen von den Befragern sehr viel protokolliert wurde, sehr viel aufgeschrieben wurde, so dass man den Gang der Befragung sehr gut nachvollziehen konnte. Man konnte sogar nachvollziehen, wie eine Information über Erwachsene an weitere Kinder gelangte, so dass dann auch dieses Kind wieder denselben Namen benannte und dieselbe Handlung, die angeblich ein anderes Kind schon beschrieben haben sollte. Wie gesagt, die Aussageentwicklung und die Analyse dieser Aussageentwicklung war möglich. Die erbrachte Aufschluss darüber, dass nichts, keinerlei Belastung, keinerlei Beschuldigung von den Kindern selbst kam, sondern in die Kinder hineingefragt worden waren. von Billerbeck: Welches Interesse hatten denn die Kinderschützer, von denen Sie Anfangs gesagt haben, sie sind eigentlich Positive, die wollen was Gutes? Welches Interessen hatten sie, den Kindern nahe zu legen, dass da so ein massenhafter sexueller Missbrauch stattgefunden hat? Steller: Sie haben natürlich kein Interesse, im Sinne einer Absicht etwas Falsches zu tun. Aber sie waren ideologisch verblendet. Das muss man heute im Rückblick ganz klar sagen. Sie hatten bestimmte Grundannahmen, bestimmte Philosophien, die sie zu diesem hanebüchenen Tun veranlasst haben. von Billerbeck: Diese Prozesse von Münster und Mainz hatten aber Folgen, in erster Linie für die Familien selbst, denn bis heute sind nicht alle Kinder von damals zu ihren Familien zurückgekehrt, obwohl die Verfahren - auch Dank Ihrer Gutachten - mit Freisprüchen endeten. Fühlen Sie sich als Gutachter da manchmal ohnmächtig, wenn Sie zwar Ihre Arbeit gemacht haben, es aber dazu führt, dass Familien dennoch zerstört sind? Steller: Ganz kurz nur vorweg: Ich war nicht allein als Gutachter, sondern zwei Kollegen von mir - eine Kollegin, ein Kollege - haben völlig unabhängig von mir gleiche Analysen mit dem gleichen Ergebnis damals durchgeführt. Aber zu Ihrer eigentlichen Frage, ob man sich manchmal hilflos fühlt: Als Sachverständiger für Gerichte müssen Sie ganz neutral vorgehen. Das heißt, Sie beantworten die Fragestellung des Gerichts. Sie dürfen sich nicht in alle möglichen Teil- und Unterfragestellungen der Gerichtsverhandlung einmischen. Das ist manchmal schwer zu ertragen. Diese Neutralität muss Sie davon abhalten, in Einzelfällen eingreifen zu wollen. Sie sind nicht Therapeut. Sie sind der Gehilfe des Gerichts. Das ist manchmal schwer zu ertragen. Aber Sie sind deswegen natürlich nicht mundtot gemacht. Sie dürfen schon in allgemeiner Form, wie wir das hier ja gerade tun, dann doch die Mängel beklagen und versuchen, an der Behebung dieser Mängel mitzuwirken. von Billerbeck: Diese Verfahren, diese großen Missbrauchsverfahren, die mit Freisprüchen damals endeten, hatten nicht nur Folgen für die Familien. Sie hatten auch Folgen für die deutsche Strafjustiz. Der Bundesgerichtshof hat 1999 - und Sie waren daran auch beteiligt - Standards für die Aussagebegutachtung vor Gericht festgelegt. Was meinen Sie? Werden diese Standards inzwischen überall eingehalten? Also, werden von Gerichten nur noch entsprechend ausgebildete Gutachter beauftragt? Steller: Ob Sie überall eingehalten werden, kann ich natürlich nicht sagen. Ich kann Ihnen aber sagen: Nach meinen eigenen Beobachtungen ist es bei vielen Gerichten, auch bei vielen Staatsanwaltschaften, aber auch bei vielen Kinderschutzverbänden, die früher was Falsches gemacht haben, besser geworden. Es ist Besinnung eingekehrt und man hat ernsthaft versucht, die alten Fehler zu vermeiden, die Fehler, die eben in Dauerbefragungen oder in spielerischer Umwegbefragung bestanden. von Billerbeck: Oder in der Deutung von Kinderzeichnungen. Steller: Oder in der Deutung von Kinderzeichnungen. Diese Fehler darf es eigentlich nicht mehr geben, gibt es wenn, dann sehr viel weniger als in den 90er Jahren. Leider gibt es natürlich aber auch Uneinsichtige. Und wir sind nicht davor geschützt, dass einige ihre Fehler eher verdecken, als dass sie sie zu korrigieren bereit sind. von Billerbeck: Unter Ihren Kollegen? War das jetzt eine Kritik an der eigenen Zunft? Steller: Ja, ich denke da auch an Diplompsychologinnen und Diplompsychologen, die in Beratungsstellen arbeiten und in dem Übereifer, ich hätte beinahe gesagt, in dem "verständlichen" Übereifer, der trotzdem nicht sein darf in der Arbeit gegen den sexuellen Kindesmissbrauch, dann eben doch versuchen, durch Umwegsprechen, durch Tricks, durch Spiel irgendwie an die Diagnostik heranzukommen. Diese Menschen müssen damit rechnen, dass sie Fehldiagnosen begehen. von Billerbeck: Man hätte ja nun annehmen können, dass nach den Erfahrungen Mitte der 90er von Mainz und Münster so spektakuläre Falschbezichtigungen nicht mehr geschehen. Aber es gab einen Fall, da kann man nur sagen, das war wohl dann doch ein Irrtum. Denn 2007 ging in Saarbrücken der Mordfall Pascal auch mit einem Freispruch zu Ende. Die Sachlage war folgende: Ein fünfjähriger Junge war Jahre vorher verschwunden. Man hat weder ihn, noch seine Leiche gefunden, dafür aber gab es die Aussage eines Jungen, eines Siebenjährigen, der behauptete, dieser Pascal und er seien früher sexuell missbraucht worden. Sie waren in Saarbrücken Gutachter. Wie kam es denn zu diesen Aussagen dieses Jungen? Steller: Zunächst einmal, "Mordfall Pascal", das halten wir alle für selbstverständlich. Heute weiß man eigentlich nur ganz genau, dass dieser Pascal im September 2001 verschwand. Es gibt keine Leiche. Wir wissen nicht, was mit diesem Jungen passiert ist. Wenn wir heute auf der Straße eine Umfrage machen würden, würden uns alle Personen zu dem Stichwort Pascal und Saarbrücken antworten, dass dieser Junge und ein anderer Junge in der so genannten "Tosa-Klause" in Saarbrücken schwer sexuell missbraucht wurde und dann anschließend der Pascal eben getötet wurde. Das ist eine Theorie, eine Vorstellung, was damals passiert ist, die auf der Aussage eines Jungen basiert. Dieser Junge wiederum hat diese entsprechenden Bekundungen zwei Jahre später gemacht, nachdem er aus dem Umfeld der "Tosa-Klause" längst herausgenommen war. Er hat dort gelebt. Für den Pascal ist noch gar nicht mal klar, ob er jemals in der "Tosa-Klause" gewesen ist. Man weiß nur, dass er in der Nähe gewohnt hat. Diese Verbindung von dem lebenden Jungen und dem verschwundenen Pascal ist in Dauerbefragungen dieses siebenjährigen, in der Entwicklung zurückgebliebenen Jungen entstanden, die seine Pflegemutter allabendlich mit ihm über ein halbes Jahr lang durchführte, nachdem der Junge ihr durch - sage ich mal - "sexuell wirkendes" Verhalten aufgefallen war. Beim Baden im Swimmingpool an einem heißen Sommertag hat sie ihn dann auf der eigenen vierjährigen Tochter wieder gefunden. von Billerbeck: Daraus hat sie geschlossen, dass da irgendwas gewesen sein muss? War sie denn ausgebildet dafür, überhaupt diese Befragungen durchführen zu können? Steller: Nach der Aktenlage hat sie vielleicht selbst noch gar nicht das geschlussfolgert. Sie hat den Gedanken gefasst, ist in diesem Gedanken dann durch eine Beratungsstelle bestärkt worden und hat durch diese Beratungsstelle auch die falschen Ratschläge bekommen zu der Befragung des Jungen. Und dann ist es eben in einer sehr psychologisierenden, den Jungen beeinflussenden Weise zu Dauerbefragungen gekommen - mit dem Produkt, dass dieser Junge nach langen, langen Wochen immer drastischere, immer schlimmer werdende Missbrauchsschilderungen machte, die zum Teil dann auch sehr irrealen Charakter bekamen. von Billerbeck: An welchem Punkt kommt man dann als Gutachter ins Spiel? Wenn die Aussagen schon gemacht sind und das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, um das mal so zu sagen? Kann man da überhaupt noch was retten? Steller: Man konnte insofern nichts mehr retten, weil man diese Befragungen - die waren ja erfolgt - nicht mehr stoppen konnte. Auch hier war es so, dass man zunächst über die ersten Befragungen nur aus Berichten, Emaildarstellungen der Pflegemutter an die Polizei wusste. Dann ist dieser Junge aber ganz häufig polizeilich befragt worden, was auf Audiokassette aufgenommen wurde, und ganz häufig, da er immer wieder ja was Neues sagte, noch einmal vernommen wurde. Zahlreiche polizeiliche Vernehmungen sind auch auf Video aufgenommen, so dass man ein sehr breites, ein sehr umfangreiches Analysematerial zur Begutachtung vor sich hatte. von Billerbeck: Als Sie dieses Material dann gesehen und gehört haben, was für einen Eindruck hatten Sie dann? Steller: Ich habe 2003 auf Bitten der Saarbrücker Polizei, man wollte erkennbar Worms-Mainzer Zustände vermeiden, also diese Aussagen begutachtet und habe dargestellt, dass suggestive Einflüsse nicht nur nicht auszuschließen waren, sondern recht offenkundig zu erkennen waren. Das habe ich dort in Beratungsgesprächen der Polizei vorgetragen. Und als ich das Gefühl hatte, möglicherweise nicht intensiv genug durchgedrungen zu sein, habe ich das noch mal schriftlich zusammengefasst. von Billerbeck: Welche Folgen hatte das? Steller: Das hatte zunächst die Folge, dass ich noch von der Staatsanwaltschaft Gutachtenaufträge bekam. Ich hatte die Staatsanwaltschaft darauf hingewiesen, dass dort nichts anderes drinstehen könnte als in der Beurteilung für die Polizei, also noch einmal, Tenor: Es ist nicht nur wahrscheinlich, sondern sehr, sehr, sehr wahrscheinlich, dass das keine erlebnisbegründeten Aussagen sind, sondern Suggestionsprodukte der Dauerbefragung, dass man also darauf keinen Prozess aufbauen könnte. Sowohl Polizei als auch Staatsanwaltschaft war dieses Ergebnis offensichtlich nicht ... von Billerbeck: Genehm? Steller: Das haben Sie jetzt gesagt. Ich habe einen Satzanfang gewählt, der das Wort nahe legte. Ich kann das auch anders formulieren. Meine Gutachten haben nicht überzeugt. Das kann nun an der Senderseite liegen, also an meiner Seite. Das kann aber natürlich auch daran liegen, dass die Empfängerseite das nicht hören, nicht lesen wollte. von Billerbeck: Es kam dann zum Prozess und auch in diesem "Fall" Pascal, um nicht "Mordfall" zu sagen, weil Pascal ist ja bisher immer noch "nur" verschwunden, haben dann Menschen begonnen, sich durch Geständnisse irrwitziger Verbrechen zu bezichtigen, die sie nicht begangen hatten. Es gibt ein Buch über diesen Fall, geschrieben von der "Spiegel"- Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen. Sie hat da geschrieben: "Wer glaubt, er würde nie eine Tat zugeben, die er nicht begangen hat, der irrt. (...) Niemand kann sicher sein, auch seiner selbst nicht." Herr Prof. Steller, wie kommt ein Mensch dazu ein Verbrechen zu gestehen, das er oder sie gar nicht begangen hat? Steller: Es ist richtig, die Schilderungen des Jungen bekamen scheinbare Unterstützung dadurch, dass vier bis fünf Beschuldigte Geständnisse ablegten. Gleichzeitig muss man aber sagen, viele andere Beschuldigte haben nicht gestanden. Wenn man nun diese beiden Gruppen der Geständigen und der Nichtgeständigen vergleicht, so kann man sich der Beantwortung Ihrer Frage annähern. Man stellt nämlich fest: Geständnisse wurden von psychisch labilen, das heißt, zum Teil von minderbegabten und durch Alkoholkrankheit gekennzeichneten Personen abgegeben. Die stabileren haben alle Anschuldigungen durchgehend verneint. Und die Polizei hat eben nicht erkannt, durch Druck und Psychobeeinflussung bekommt man nicht nur wahre Geständnisse, sondern läuft Gefahr, im ungünstigen Fall auch falsche Geständnisse zu erhalten. Und die Polizei in Saarbrücken hätte das eigentlich wissen können. Denn, was in der Bevölkerung kaum bekannt ist, gleich ganz kurze Zeit nach dem Verschwinden von Pascal im Jahre 2001 gestanden eine Stiefschwester des Pascal und deren Freundin, den Pascal mit einer Eisenstange erschlagen zu haben. Diese Geständnisse waren nach Meinung der Polizei mit den vorliegenden Fakten nicht vereinbar und daher falsch. Mit anderen Worten: Dieselbe Polizei, die Saarbrücker Polizei hatte Erfahrung mit Falschgeständnissen in Kapitaldelikten. Als ich daran 2003 noch mal erinnerte und schrieb, dass man auch möglicherweise bei vier Geständnissen keine ausreichende Grundlage habe, wollte man darauf nicht weiter hören. von Billerbeck: Woran liegt das eigentlich? Liegt das auch daran, dass die Polizei durch die Staatsanwaltschaft oder durch die Öffentlichkeit oder durch die Medien unter Druck gesetzt wird, möglichst schnell Ergebnisse zu bringen, so dass man dann in so einer Zwangslage ist als Polizist, der da ermittelt? Steller: Das glaube ich ganz bestimmt. Die Wirkung so eines Erfolgsdrucks - ein Kind ist verschwunden - darf man nicht unterschätzen. Aber wir müssen von Menschen, die berufsmäßig tätig sind, verlangen, dass sie Besonnenheit und Gründlichkeit an den Tag legen. Und zur polizeilichen Kompetenz sollte auch das Wissen gehören, dass eine Aussage auch immer das Produkt der Befragung ist. Und wenn ich labile Persönlichkeiten vor mir habe, muss ich damit rechnen, dass ich durch zu intensive Befragung, durch zu "harte Ansprache", wie es im polizeilichen Sprachgebrauch dann heißt, möglicherweise auch falsche Geständnisse in Kapitaldelikten evozieren kann. von Billerbeck: Nun haben Sie eben den Konjunktiv benutzt. Es "sollte" gehören. Wie ist denn die Lage bei der Polizei und bei der Staatsanwaltschaft? Wie ist der Kenntnisstand, auch was dieses Gebiet, Ihr Fachgebiet betrifft? Steller: Das kann ich bundesweit nicht überblicken. Ich weiß, dass in vielen Regionen entsprechende Schulungen stattfinden. Ich bin selbst paar Mal eingeladen gewesen, habe auch entsprechende Einladungen noch vor mir. Also, ich überblicke das nicht. Ich stelle nur immer wieder fest, dass es gerade in Fällen, wo Kinder beteiligt sind, also die sexuellen Missbrauchsfälle, oder so hoch angehängte Mordverdachtsfälle, doch zu Fehlern kommen kann. Was ich überhaupt nicht mehr verstehe, ist, dass in diesen Bereichen zum Beispiel Vorgespräche stattfinden, die nicht vernünftig dokumentiert sind, so dass wir letztlich gar nicht mehr richtig wissen, welche möglichen Beeinflussungen stattgefunden haben können. Ich meine also, dass in diesem Bereich Gespräch sofort aufgenommen werden müssen. Das ist technisch heute ohne Weiteres mögliche. Das ist kein Aufwand, den man nicht treiben könnte. Das muss ja nicht alles abgeschrieben werden, aber diese unselige Praxis, zunächst ein umfangreiches Vorgespräch, in dem dann meinetwegen das Geständnis stattfindet, und dann wird es protokollgerecht noch mal nachgestellt. Das ist das, was wir dann in der Akte lesen. Und da lesen Sie dann von schwer minderbegabten, sprachlich kaum fähigen Menschen fast druckreife Erzählungen. von Billerbeck: Es gibt ja etwas, um mal von dem Faktor Mensch zum Faktor Maschine zu kommen, das beispielsweise in amerikanischen Krimis immer wieder auftaucht, nämlich den so genannten "Lügendetektor", also ein Gerät, das bei uns nicht zugelassen ist. Sie haben mal in einem Interview vor vielen Jahren gesagt: "Einen Lügendetektor gibt es nicht." Wird es sie je geben, diese Maschine, die klar anzeigt, ob einer lügt oder ob er die Wahrheit sagt? Oder braucht man da immer jemanden wie Sie? Steller: Also, ich bin ganz sicher, dass es diese Maschine nicht geben wird. Einen Lügendetektor gibt es tatsächlich nicht. Den wird es auch nicht geben. Die Maschinen zur Aufzeichnung körperlicher Reaktionen gibt es. Die stehen in jeder Arztpraxis. Und das wird jetzt verfeinert, indem es nicht mehr die autonomen Reaktionen sind, also die Schweißdrüsentätigkeit, sondern indem mit bildgebenden Verfahren die Hirnaktivitäten aufgezeichnet werden. Wir werden aber dasselbe Problem haben. Wir werden niemals die Angst vor falscher Entdeckung von der Angst vor der tatsächlichen Entdeckung unterscheiden können. Mit anderen Worten: Die autonomen Reaktionen, die Schweißdrüsenabsonderungen bei Falschverdacht sind dieselben wie bei zutreffendem Verdacht. Und die Hirnaktivität wird sich auch nicht unterscheiden lassen. Das heißt, dieser immer wieder gesuchten Forschungsrichtung, diese Hoffnung, an körperlichen Reaktionen Wahrheit und Lüge erkennen zu können, wird kein Erfolg beschieden sein. von Billerbeck: Also, Sie und Ihre Kollegen werden weiterhin genug zu tun haben. Sie haben, wenn man das mal zusammenfasst, ja etwa 40 Jahre Erfahrung in der Aussagepsychologie, haben viele Menschen, viele Fälle gesehen und begutachtet. Haben Sie sich eigentlich in den langen Jahren nie geirrt? Steller: Irren ist natürlich menschlich und das kann mir auch passieren. Aber ich bin froh, dass mir in der langen Zeit niemals ein Fehler nachgewiesen werden könnte. Aber ich habe Gutachten korrigieren müssen und korrigiert. Das ist dann eigentlich selbstverständlich, wenn neue Fakten bekannt werden, wenn also, wie wir sagen, neue Anknüpfungstatsachen bekannt werden. Und darum ist es leider auch vorgekommen, dass mir nicht ausreichende Tatsachen zur Kenntnis gegeben wurden, also Tatsachen zurückgehalten wurden, oder dass man sich auf Tatsachen, die als solche in Akten bekundet wurden, nicht verlassen konnte. von Billerbeck: Können Sie mal ein Beispiel nennen? Steller: Es gab vor ungefähr zwei Jahren einen großen Mordprozess, einen spektakulären Mordprozess, in dem eine Zeugin 25 Jahre nach dem infrage stehenden Geschehen Beobachtungen gemacht haben will. Und es war in der Akte vorzufinden, dass diese Zeugin Details gesagt hat, die kein Mensch wissen konnte. Da ist die ganz normale kriminalistische Schlussfolgerung, wenn jemand Insiderwissen, Täterwissen oder hier Beobachterwissen produziert, dann sagt er die Wahrheit. Es ist aber heute ganz klar, dass dieses Wissen irgendwie an diese Zeugin herangetragen worden sein muss, weil andere Fakten zeigten, sie kann nicht die Wahrheit gesagt haben. von Billerbeck: Als Sie in diesem Jahr emeritiert wurden, gab es einigermaßen Aufregung, weil nämlich Ihr Lehrstuhl nicht wiederbesetzt werden sollte. Inzwischen haben Sie - in einer anderen Konstellation zwar - eine Nachfolgerin, Ihre langjährige Mitarbeiterin Professor -Renate Volbert. Dennoch die Frage: Wie ist Ihr Eindruck? Gibt es genügend Rechtspsychologen in der Bundesrepublik und ist das Fach in der Öffentlichkeit anerkannt genug - beispielsweise wie die Gerichtsmediziner, die ja so einen Wahnsinnsruf genießen? Steller: Meine Professur als Psychologe war in einem medizinischen Fachbereich angesiedelt. Ich habe sogar ein bisschen Verständnis, dass die Mediziner die Psychologie bei Geldmangel als erstes Mal opfern. Meine Kollegin, Frau Prof. Volbert, ist jetzt in der Lage, das Gebiet weiterzuführen an unserem Institut für Forensische Psychiatrie hier in Berlin. Ich bin also der Universitätsmedizin da sehr dankbar. Wenn Kritik erlaubt ist, dann geht sie in die Richtung meiner Mutterwissenschaft, der Psychologie. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie hat es nicht fertig gebracht, an Universitäten die Aussagepsychologie, die Gerichtspsychologie ausreichend zu verankern. Das ist ganz eindeutig zu beobachten. Studenten haben nur zufällig das Glück in wenigen Universitäten, dieses hochinteressante Gebiet kennen zu lernen. Aus der Medizin heraus wird Frau Prof. Volbert hier das in Berlin weiter an die Psychologiestudenten weitergeben. Wir haben noch in Kiel, wo ich herkomme, eine gute forensische Psychologie. Wir haben in Erlangen-Nürnberg eine aktive Gerichtspsychologie. Und damit ist es aber eigentlich schon genug. Und wir hätten ganz eindeutig einen größeren Bedarf. von Billerbeck: Wenn Sie Ihren Beruf noch mal wählen müssten, würden Sie wieder Rechtspsychologe werden? Steller: Wenn ich wieder Psychologie studieren würde, würde ich gern und mit Freuden wieder Rechtspsychologie und ausschließlich Rechtspsychologe werden. Wenn Sie mithelfen, jemanden vor einer Falschbeschuldigung, vor einer Falschverurteilung zu bewahren, tun Sie etwas Gutes. Wenn Sie einem Opfer dazu verhelfen, dass ihm seine Opfergeschichte geglaubt wird, tun Sie etwas Gutes. Also, ich finde in dieser Kombination von kriminalistischer Vorgehensweise und psychologischer Hilfestellung doch große Befriedigung und würde es auf jeden Fall wieder tun. von Billerbeck: Über Wahrheit und Lüge vor Gericht sprach ich mit dem Rechtspsychologen Prof. Max Steller. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch. 1 090924-Wahrheit und Lüge vor Gericht.doc