KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : 5526 Titel der Sendung : Die heilige Hölle der Vorstadt. Mit John Cheever auf der Suche nach einem amerikanischen Mythos Autor : Andreas Schäfer Redaktion : Kolja Mensing Sendetermin : Dienstag, 18. September 2012 / 19.30 Besetzung : Tonio Arango (Zitator) Regie : Stephanie Lazai Ton : Bernd Friebel Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 ANMODERATION: Die amerikanische Vorstadt ist ein Sehnsuchtsort. Zurzeit wird sie in der erfolgreichen Fernsehserie "Mad Men" wieder einmal nostalgisch in Szene gesetzt: Der Werbetexter Don Draper - er ist gutaussehend, talentiert, aber innerlich vollkommen leer - zerstört darin in den sechziger Jahren in einem paradiesischen Vorort von New York systematisch seine perfekt eingerichtete Ehe. Einer der literarischen Bezugspunkte von "Mad Man" ist das Werk des amerikanischen Schriftstellers John Cheever, das in Deutschland gerade ein kleines Revival erlebt. Romane wie "Die Lichter von Bullet Park" und Erzählbände wie "Der Schwimmer" werden neu übersetzt und von der Kritik begeistert aufgenommen. Cheever lotet in seinen Texten aus den fünfziger und sechziger Jahren die Abgründe des amerikanischen way of life aus. Kleinfamilie und Karriere, die Heilsversprechen des Konsums einerseits, Rassismus, Neurosen und Doppelmoral andererseits: Niemand hat den Alltag in den Suburbs zwischen Bungalow, Pool und klirrenden Whiskeygläsern so hingebungsvoll beschrieben und zugleich so gründlich zertrümmert wie der Anfang der achtziger Jahre verstorbene John Cheever. Auch unter jüngeren deutschsprachigen Schriftstellern hat er darum Fans und Anhänger, zum Beispiel Gregor Hens, Peter Henning oder Stefan Mühldorfer. Sie machen sich nun gemeinsam in Cheevers Welt auf - und suchen nach einem Mythos, der seine Strahlkraft auch in Deutschland bis heute nicht verloren hat: "Die heilige Hölle der Vorstädte". Hören Sie eine Sendung von Andreas Schäfer. O-Ton Mühldorfer (4:30) Geniale Lage, vergessener Ort. O-Ton Hens (48:15) So dramatisch ist die Landschaft nicht....Alles, was man sieht, ist eine bewaldete hügelige Landschaft. Da gibt es keine dramatischen Kliffs oder hohen Berge, das ist alles so grün und nicht so wahnsinnig interessant - bis auf das Licht. Alle Leute, auch die, die Gegend gut kennen, sagen immer, das Licht ist das Besondere daran. O-Ton Henning (30:09) Die Vorstadt wird dann ja nur zu dem Kokon, in dem die Lügen der Stadt ausschlüpfen. Autor Vergessene Orte, in denen unter betörendem Licht die Lügen ausschlüpfen. Wo sind wir überhaupt? Atmosphäre Kleinstadtbahnhof, falls vorhanden. Sonst Musik. Sprecher Stellen wir uns einen kleinen Bahnhof vor, zehn Minuten bevor es dunkel wird...Ein Zug kommt an, ein Fahrgast steigt aus und wird von einem Immobilienmakler namens Hazzard empfangen, der wie kein anderer das genaue Alter, die Brauchbarkeit, den Wert und die Behaglichkeit des Häuser in der Stadt kennt....´Willkommen in Bullet Park! Wir hoffen, Ihnen gefällt es so gut, dass Sie zu uns ziehen.´ Autor Stellen wir uns vor, das mit diesen Sätzen nicht nur der Roman "Die Lichter von Bullet Park? von John Cheever, dem "Tschechow der Vorstädte, wie er genannt wurde - sondern auch unsere nostalgische Reise durch einen literarischen Kosmos. Willkommen in Cheever-County. Der Zug kommt aus New York, und wir befinden uns in Suburbia. Fünfziger oder sechziger Jahre. Schöne Häuser umgeben von Gärten mit Pools. Sprecher Die Lichter funkeln, die Schornsteine rauchen, und an einer Wäscheleine weht der rosa Plüschbezug eines Toilettensitzes. Autor Wie es in Cheever County aussieht, erfährt man in den fünf Romanen und Dutzenden von Erzählungen, die der amerikanische Autor von den vierziger Jahren an bis zu seinem Krebstod im Jahr 1982 geschrieben hat. Oder neuerdings aus der Fernsehserie "Mad Men", die von einer New Yorker Werbeagentur in den sechziger Jahren erzählt und deren Drehbuch-Autoren sich gerne auf John Cheever berufen. In Amerika ist die Serie und ihre Ästhetik, so eingeschlagen, dass inzwischen Kaufhäuser die Kleider anbieten, die die Hauptfigur Don Draper und seine Kollegen tragen. Hens (25.59) "Mad Men" finde ich auch absolut großartig, Ich glaube, es hat mit der Mode zu tun. Mit dem Design, dieses Retrodesign...Dann ist bestimmt auch so eine Nostalgie da. 27.00. Wir sind nostalgisch und denken mit einer gewissen Sehnsucht. Mensch, was für tolle Häuser. Wie weit die mit ihrem Geld gekommen sind. Man kann drei Martini zum Mittagessen trinken und ist immer noch nicht betrunken, Wie geht das? Autor Das fragt der Autor Gregor Hens, der seit fast fünfundzwanzig Jahren in den USA lebt und dort an Universitäten lehrt. Auch in Deutschland ist "Mad Men" Kult. Und nicht nur das: Auch die amerikanische Literatur aus dieser Zeit ist in Mode. Deutschsprachige Verlage fahnden fieberhaft nach vergessenen amerikanischen Autoren, die sie als wiederentdeckte Klassiker auf den deutschen Markt bringen: Paula Fox, Richard Yates, James Salter, John O`Hara oder die Erzählungen der Gesellschafts- oder Reisereporterdamen Maeve Brennan und Martha Gellhorn wurden in den letzten Jahren übersetzt. John Cheever war hierzulande zwar nie ganz vergessen - seine Bücher erschienen schon in den neunziger Jahren bei Rowohlt - aber mit der Neuübersetzung seiner Werke, die der Dumont Verlag in Auftrag gegeben hat, wird sein literarischer Rang immer deutlicher, wird sein Nachruhm immer größer. Henning (8.00) Sowohl Yates als auch Cheever gehören zu den Gründungsvätern der neueren amerikanischen Kurzgeschichte. Und wenn man mit jüngeren, nachrückenden Autoren wie Jonathan Franzen oder Jeffrey Eugenides spricht, die sagen unisono, dass Cheever nach vier vor ein großer Orientierungspunkt ist. Autor Das findet der Schriftsteller und Journalist Peter Henning, der fast zwanzig Jahre für den "Spiegel" über Amerikanische Literatur geschrieben und das Nachwort zu dem in diesem Jahr erschienen Roman "Willkommen in Falconer" verfasst hat und sich also bestens in Cheever County auskennt, jener literarischen Landschaft John Cheever, in der die Orte Bullet Park oder St. Boltophs oder Shady Hill heißen. Von den Träumen und Nöten der Vorstadtgesellschaft schrieb Cheever in dem Erzählungsband "Der Schwimmer", in den beiden Whapshot-Romanen und in dem schon erwähnten "Die Lichter von Bullet Park." Aber warum gerade die Vorstädte? Zu Beginn des Romans "Der Wapshot-Skandal", in Amerika 1957 erschienen, beantwortet Cheever diese Frage aus dem Mund einer seiner Figuren so: Sprecher Nirgends ist es so schön wie hier, dachte Mr. Jowett. Trotz seines Freifahrtscheins hatte er sich nie danach gesehnt, zu verreisen. Er wusste, in dieser Stadt gab es wie überall Rohlinge und zänkische Weiber, Diebe und Perverse, aber auch wenn man wie in allen anderen Städten versuchte, den Schleier der Wohlanständigkeit darüber zu breiten, geschah das nicht aus Heuchelei, sondern aus Hoffnung. Autor Die Männer in Cheever County rauchen viel und tragen wie Don Draper aus der Fernsehserie enge Anzüge und Hut. Wenn sie überhaupt etwas tragen und sich nicht in Badehose, ein Glas in der Hand, auf einer Poolparty amüsieren. Partygeräusche. Eiswürfelgeklimper Sprecher Man saß am Schwimmbecken der Westerhazys, das sich aus einem artesischen Brunnen mit stark eisenhaltigem blassgrünem Wasser speiste. Es war ein schöner Tag...Neddy Merrill saß an dem grünen Wasser, eine Hand hinein getaucht, in der anderen ein Glas Gin....Er war schwimmen gewesen und holte nun tief und schnaufend Luft, als könnte er die einzelnen Elemente jenes Moments in seine Lunge saugen - die Wärme der Sonne, sein tiefes Glücksgefühl, alles schien in seine Brust zu strömen. Autor: Wer möchte nicht an diesem verführerischen Moment der Fülle teilhaben? Lassen wir uns also nieder, auf dem gestutzten Rasen eines sonnenbeschienenen Westchester-Grundstücks, um uns bei leisem Eiswürfelgeklingel im Hintergrund über John Cheever und den Mythos der amerikanischen Vorstadt zu unterhalten - und, das versteht sich von selbst - über die unerschöpflichen Liebe des deutschen Lesers zur amerikanischen Literatur. Mühldorfer (36:20) Die Weite, die dich umgibt, ist ein Sehnsuchtsort und zugleich eine Weite, in der du jederzeit verloren gehen kannst. Autor Neben Peter Henning und Gregor Hens ist auch Stefan Mühldorfer noch dabei. Ihn fasziniert das amerikanische Lebensgefühl, die amerikanische Literatur so sehr, dass er seinen ersten Roman "Morgens dieses strahlende Blau" gleich in Amerika spielen lässt. Mühldorfer: (40:30) ...diese Ehepaare, die an der Ostküste ins Verhängnis stolpern...Übergangsmomente im Leben, die mit einer großen Unsicherheit verknüpft sind, Protagonisten, die...keine Antwort haben - und das Ganze eingebettet in ein Setting, das viel mit Natur zu tun hat, viel mit Gewalten im weitesten Sinne... Henning (4:25) Jemand, der einen starken Sonnenbrand hat, den muss man nur leicht berühren, und dann fängt er an zu schreien. Atmo-Ende Musikakzent Hens (2:05) Ein Ort wie Westchester oder Long Island, die in diesem Strahlbereich von New York liegen, die sind mit kultureller Bedeutung eingeschrieben, die haben eine Geschichte, von Fitz Gerald bis Cheever, bis heute sind das Orte, an denen Menschen geschrieben, erfunden, gelebt haben. Salter. Das sind Leute, die immer diesen Ort auch gebraucht haben, um ihre Geschichten zu erzählen. Das ist ja fast schon eine romantische, nostalgische Form des Vorstadtlebens im Vergleich zu diesen Vorstädten die in den 80er, 90 er Jahren in den USA entstanden sind. Das ist ein richtiger Horrortrip im Vergleich dazu. Autor Heute sieht es natürlich auch in Cheever County, in John Cheever Vorstadt, ganz anders aus. Gregor Hens: Hens (3:44 und f.) Das was Cheever als Gebiet der oberen Mittelklasse bezeichnet, ist heute ein Land von Millionären, Multimillionären, da kann sich kein Mensch mehr ein Haus leisten...In Westchester wohnt jetzt Bill Clinton. Autor Der Hauch des Vergangenen liegt freilich schon zu Cheevers Zeiten über der in seinen Texten beschworenen Welt. Als 1978 die gesammelten Erzählungen in Amerika erscheinen, schreibt er im Vorwort: Sprecher Manchmal wirken sie wie Geschichten aus einer längst untergegangen Welt, als New York noch eine vom flirrenden Licht zweier Flüsse durchwirkte Stadt war, als man aus dem Radio im Schreibwarengeschäft an der Ecke das Benny Goodman Quartett hörte und als so gut wie jeder einen Hut trug. Hier treten die letzten aus jener Generation von Kettenrauchern auf, die morgens alle Welt mit ihrem Gehuste weckten, die sich auf Cocktailparties regelmäßig zudröhnten und aus der Mode gekommene Tänze wie den "Cleveland Chicken" beherrschten, die per Schiff nach Europa reisten, sich voller Wehmut nach Liebe und Glück sehnten und deren Götter so alt waren wie Ihre (wer immer Sie sein mögen) und meine. Autor Aber vielleicht liegt dieses Sentiment nicht nur daran, dass die Welt dieser längst Geschichten Vergangenheit ist. Vielleicht liegt es an dem illusionären Charakter der Welt selbst. Denn was ist ein Vorort anderes als ein Bild, ein Versprechen oder ein Urteil, ein Bild, das sich in Opposition zur Stadt definiert? Henning (28:09) Es hat mit Verlorenheit zu tun, diese Vorstädte, die immer ...auf die großen Arenen schielen, in denen das vermeintlich einzig wahre Leben zirkuliert. Die amerikanische Kurzgeschichte bringt das sehr schön auf den Punkt.....Wir sehen eine kleine Bühne. Ein Vorhang geht auf, wir müssen uns in die Szenerie einfinden, und ehe wir es geschnallt haben, geht der Vorhang wieder zu....3009 Das passiert in den Vorstadtgeschichten so stark. Autor: Für Peter Henning ist die amerikanische Vorstadt ein Gefängnis, ein Ort, in dem man gezwungermaßen lebt, weil man sich eine Wohnung in der Stadt nicht leisten kann. Bei John Cheever meint der Vorort etwas völlig anderes. Bei ihm ist er der Rückzugsraum der Erfolgreichen, eine Zone der Behaglichkeit, das hart erarbeitete Paradies der Aufsteiger, ein Ort, überschaubar und abgeschlossen wie eine Insel, an dem Realität und die imaginierte Hochglanzversion eines glücklichen Lebens idealerweise zur Deckung kommen. Gregor Hens: Hens (13:50) ... Ich glaube, die Motivation dorthin zu ziehen ist die, dass man mit Leuten zusammen sein will, die ähnlich leben und denken und vielleicht auch eine ähnliche Hautfarbe haben...In den USA kommt dazu, dass die Schulen örtlich organisiert sind, das heißt, wenn man in einem wohlhabenden Viertel lebt, sind auch die öffentlichen Schulen besser, die ihre Gelder aus den Steuern beziehen. Insofern will jeder, der eine Familie gründet, in diese Viertel ziehen Musikakzent Autor Für John Cheever ist das Leben in der Vorstadt der Beweis, gesellschaftlich anerkannt zu sein, es geschafft zu haben - auch als Schriftsteller. 1912 wird er in Quincy, Massachuchetts, in bescheidenen Verhältnissen geboren. Henning (8:25) Sein Vater war Schuster und das ist eben kein angesehener Beruf. Er hat immer auch dieses Armutsgefühl sozusagen hineingerettet in seine sogenannten mittleren Jahre, in denen er versucht hat, nie so abzurutschen. Ich glaube, das war ihm ein abschreckendes Beispiel, dass sein Vater sich sozusagen mit Handarbeit durchschlagen musste. Autor Der Vater beginnt zu trinken. Als die Mutter, um die Familie durchzubringen, ein Souvenir-Laden eröffnet, schämt der Sohn sich für den billigen Plunder in den Auslagen. Die einfachen Lebensumstände passen nicht zu dem Stolz, dem der Vater ihm eingetrichtert hatte: Die Cheevers seien etwas Besonderes! Diese Diskrepanz zwischen dem Gefühl, etwas Besseres zu sein, und den prekären Lebensumständen, die Kluft zwischen repräsentativer Außendarstellung und innerer Not sollen ihn lebenslang begleiten. Der junge John will Schriftsteller werden. Und esgelingt. Er zieht nach New York und beginnt schon mit Anfang zwanzig erste Geschichten an den renommierten "New Yorker" zu verkaufen. Die literarische Welt nimmt ihn auf wie eine Familie. Als er einige Jahre später noch Mary Winternitz heiratet, die Tochter eines wohlhabenden Chirurgen, ist er auch Teil der Oberschicht. Vater, Mutter, drei Kinder und ein Hund - bald kann es sich die Familie leisten, nach draußen zu ziehen, in ein Haus nach Osinning, einer Kleinstadt bei New York. Sprecher Willkommen in Bullet Park....Die Lichter funkeln, die Schornsteine rauchen, und an einer Wäscheleine weht der rosa Plüschbezug eines Toilettensitzes. Autor Willkommen in der Hölle John Cheevers. Jetzt ist er dort, wo er hinwollte, und er ist erfolgreich. Er gewinnt den Pulitzer Preis, schafft es, was nur wenigen Autoren vergönnt ist, auf das Titelblatt des "Time Magazines". Aber er steht trotz seines Erfolges finanziell permanent unter Druck und hat Angst, seiner Frau nicht den gewohnten Lebensstil bieten zu können. Er trinkt viel. Er sieht sich als Hochstapler, leidet wie ein Hund, wenn der "New Yorker" eine seiner Geschichten ablehnte. Vom Ausmaß seiner Not erfährt die Welt erst, als Anfang der Neunziger, lange nach Cheevers Tod, Auszüge aus seinen Tagebüchern erschienen. Henning (20:02) Wenn man als Werk hinter dem Werk seine Tagebücher liest, dann wird glaube ich dieses Auseinandergehen der Schere sehr deutlich. Denn er war natürlich jemand, der immer mit einem geheimen Wissen geschrieben hat. Er hat sich selbst einmal als einen Spion in einer fremden Welt bezeichnet, der natürlich nach außen hin den Schein gewahrt hat, dieser neuenglischen Oberschicht anzugehören, Country Clubber, mit einem großen Hund durch die Wiesen zu streifen, mit den Kindern Schlittschuh zu laufen, tatsächlich aber, wenn man seine Tagebücher durchstreift, immer wieder Passagen findet, wie etwa: gestern zitterten meine Hände derart, "dass er nicht mehr tippen konnte, weil er nichts mehr zu trinken hatte. Er vergeht sich am Ende sogar am Haarwasser, weil er ständig neuen Sprit braucht, um weiter schreiben zu können. 2:40 Musikakzent Autor Spion in einer fremden Welt: Vielleicht hat John Cheever deshalb so großartige Geschichten über das Leben in den Vorstädten geschrieben, weil die stark empfundene innere Zerrissenheit mit der Zweigesichtigkeit des Vortstadtlebens so fruchtbar harmonierte. Denn natürlich neigt die Welt eines Vororts, in der man zum Glück verdammt ist, zu Doppelmoral, Verdrängung und untergründig rumorenden Aggressionen. Die Häuser, der Erfolg, die Partys. Zu schön, zu verführerisch, um wahr zu sein. Hens (39:50) Ich glaube, dass dieser Mythos des Vorstadtlebens in erster Linie ein produzierter Mythos ist. Das hat wirtschaftliche, politische Gründe gehabt. Man wollte die Leute auf Linie bringen. ..In den 50er, 60er Jahren hat die amerikanische Autoindustrie Bahntrassen aufgekauft und stillgelegt, damit die Leute Autos kaufen....Die Vororte haben natürlich auch sehr viel mit dem Auto zu tun....41.50 Ein gefeierter Architekt wie Frank Lloyd Wright ist....auch deshalb so bekannt geworden, weil er das Auto ins Leben, ins Haus integriert hat. Er war derjenige, der praktisch die Garage erfunden hat, beziehungsweise das Haus, in das man direkt reinfahren kann.... Autor Das Vorstadtleben als Ideologie im Sinne der Autoindustrie, als permanente Aufforderung, mehr zu konsumieren, als Ort des Leistungs - und Repräsentationsdrucks, als überdüngter Garten, in dem Missgunst und Neid erblühen und sich in untergründiger Stille der nächste Amoklauf zusammenbraut. John Cheever ist ein großer Moralist, in dessen Geschichten man auf den Auftritt des Störenfrieds nie lange warten muss. Während der Immobilienmakler in "Die Lichter von Bullet Park" den Fremden durch die adrette Siedlung führt, springt der nervöse Erzähler plötzlich in den Kopf eines zufällig vorbeistreunenden Jugendlichen. Sprecher Aus unwahrscheinlicher Entfernung mit den Augen eines hitzigen, rachsüchtigen Jugendlichen gesehen, der gerade über den Golfplatz streift, scheint der rosa Plüsch das Sigel, der Lohn, das Ehrenzeichen und Wappen...zu sein, hinter dem, in engen englischen Schuhen , Legionen von partnertauschenden, judenhetzerischen, trunksüchtigen geistigen Bankrotteuren marschieren. Hol sie doch alle der Teufel, denkt der Junge. Zur Hölle mit den hellen Lichtern, bei denen niemand liest...., zur Hölle mit den Konzertflügeln, auf denen niemand spielen kann,...zur Hölle mit den weißen Häusern, die bis zur Dachrinne mit Hypotheken belastet sind. Autor Andererseits: Die Süße des konventionellen Lebens - das Berückende der überschaubaren Idylle - es ist genau das, was Cheever will und so präzise beschreibt. Henning (13:14) Das ist natürlich das Unbeschmutzte, das Unbefleckte...Er ist natürlich ein großer Stilist, großer Erzähler. Die Sätze kann man abklopfen, die sind auch noch nach vielen Jahrzehnten haltbar. Autor Ein großer Stilist, der mit sprachmächtiger Virtuosität die Schönheit eines Sonnenuntergans, die Kraft eines kindlichen Wunsches, die Unbeschwertheit eines Liebesaktes besingt. Sprecher Man liegt im Bett, zieht an seiner Zigarette, und der rote Lichtschein fällt auf einen Arm, eine Brust und einen Schenkel, um die sich die Welt zu drehen beginnt. Diese Bilder sind wie die Glut unsere besten Empfindungen, und wenn wir diese erste Stunde am Strand verbringen, kommt es uns vor, als könnten wir daraus ein Feuer entfachen. Autor Cheever feiert den besonderen, den verdichteten Moment - um seine Figuren und sich selbst für die Einfältigkeit und Verantwortungslosigkeit dieser Glückssehnsucht sogleich zu bestrafen. Ohne Rache, ohne surrealistische Wendung, ohne satirische Überspitzung und ohne Verachtung gegenüber dem eigenen Milieu kommt kaum eine Erzählung aus. Die Verteidigung der Behaglichkeit einerseits, die aufklärerischen Kräfte, die im Namen der Wahrheit an der Zerstörung arbeiten, andererseits. Wie in einem biblischen Showdown lässt er unter dramatischem Donnergrollen das Gute gegen das Böse antreten, wobei perfiderweise der Gute immer auch hässliche Giftzwerganteile aufweist und die Taten des Bösen gar nicht böse, sondern sehr nachvollziehbar erscheinen. Cheever spielt mit seinem Personal wie ein mal wohlmeinender, mal sadistischer ungeduldiger Halbgott, der mit solch einem überbordendem Einfallsreichtum gesegnet ist, dass ihm im Zweifel die gelungene Pointe wichtiger ist als das Überleben seiner leicht zu ersetzenden Figuren. Peter Henning: Henning (19:50) Sie haben vielleicht etwas von Schmetterlingen, die er aufspießt und zeigt, die dann sehr schön funkeln, die dann in sich aber erstarrt sind, weil sie eine Nadel im Rücken haben. Autor In dem furiosen "Bullet Park" lässt er den nahe am Wahnsinn angesiedelten Paul Hammer um ein Haar den kurz vor der Verzweiflung stehenden Familienvater Eliot Nailles in eine Kirche ermorden. Sprecher Wie er erklärte, wollte er mit dieser Tat die Welt aufrütteln. Musikakzent Henning (20:20) Es sind schon sehr eigene Metaphern, die er sozusagen für die Sinnlosigkeit des Lebens findet. Es hat was Sisyphoshaftes, denke ich im Moment gerade, der sein Glück in der Tat findet, nämlich im Heraufrollen des Steins....Vielleicht sind das wirklich Metaphern der Vergeblichkeit, die er gezeigt hat. Vielleicht sind das aber auch Metaphern der inneren und äußeren Verwirrung, die da aufeinander treffen.... Autor Spion in einem fremdem Leben: Die innere Verwirrung hatte bei John Cheever, wie es seine Tagebücher verraten, auch mit seiner lange Zeit verheimlichten Bisexualität zu tun. Sie hat seine Ehe zunehmend zur Qual werden lassen und dürfte ihn der wohlgeordneten Mittelschichtswelt noch weiter entfremdet haben als das Gefühl, wegen seiner ärmlichen Herkunft nicht dazuzugehören. Henning (6:19) ....diese Fassade, die er aufrecht zu erhalten hatte. Gleichzeitig das ständige Verliebtsein und Schielen nach Männern, die er gern erobern wollte, da gibt es auch Eintragungen. Das Ganze dann aber nicht mehr halten können, aus der Balance kippen und der Versuch, das Ganze durch Alkohol erträglich zu machen. Ich glaube, da kamen viele Dinge zusammen... Autor: Zeitweise ist Cheever so verzweifelt, dass er im Zug nach New York wildfremde Männer anspricht und sie fragt, ob sie sich, statt zu lesen, nicht mit ihm unterhalten wollen. Als ihn 1975 der Schriftstellerkollege John Updike einmal von zu Hause abholt, um mit ihm in ein Konzert zu fahren, öffnet Cheever ihm die Tür - nackt. Er sitzt mit Obdachlosen trinkend auf Parkbänken und geht zu männlichen Prostituierten. "Mein Name ist John Cheever", schreit er abschätzig, als ihn ein Polizist betrunken verhaften will. Henning (4:25) Mir fällt dazu ein Bild ein: Jemand, der einen starken Sonnenbrand hat, den muss man nur leicht berühren, und dann fängt er an zu schreien. Ich glaube, das ist die hohe Anspannung, unter der er gelitten hat....3:00 Wenn man in den Tagebüchern guckt... gibt es noch diese großen Glücksmomente, die in den vierziger und fünfziger Jahren aufscheinen, aber ab den Siebzigern ist eine einzige Qual, und immer wieder gibt es diese Fehlgriffe, dieses schon am frühen Morgen betrunken sein, was dazu führte, dass er auf Anraten seiner Frau irgendwann tatsächlich zu den Anonymen Alkoholikern gegangen ist. Autor: Cheever hört auf zu trinken und schafft es, trocken zu bleiben. Ohne Alkohol kommt er zu sich selbst, soll seine Tochter Susan Cheever später über ihn sagen. Sie ist sich sicher ist, dass ihr Vater, wenn er noch ein paar Jahre länger gelebt hätte, seine Homosexualität auch öffentlich gemacht hätte. Er hätte seine Frau und mit seinem letzten Geliebten Max Zimmer zusammen gelebt. Sprecher: Farragut lag auf der Pritsche. Er hatte Verlangen nach Jody. Die Sehnsucht macht sich zuerst in seinen sprachlosen Genitalien bemerkbar, für die seine Gehirnzellen als Dolmetscher fungierten. Dann breitete sie sich von sein den Genitalien zu den Eingeweiden aus, von da zu seiem Herzen, seiner Seele und seinem Denken, bis sein gesamter Körper von Sehnsucht erfüllt war. Er wartete auf das Quietschen der Basketballschuhe und auf die Stimme, jugendlich - vielleicht aus Berechnung -, aber nicht zu hell, die ihn aufforderte: "Rutsch rüber, Süßer." Autor Erst in seinem letzten Roman "Falconer", der 1977 erscheint, erlaubt sich Cheever, über homosexuelle Sehnsüchte und Begierden zu schreiben. Er lässt er den drogensüchtigen Universitätsdozenten Ezekiel Farragut eine leidenschaftliche Affäre mit einem jungen Mann namens Jody erleben. Diese Amour fou findet aber nicht in einem der üblichen Cheever-Bungalows statt, sondern im Gefängnis. Ezekiel ist in Haft, weil er seinen Bruder mit einem Schürhaken erschlagen haben soll. Erst im Schutz der Gefängnismauern, erst aus dem Chor der Ausgestoßen heraus, schreibt Cheever über seine Homosexualität, die ihm selbst nicht geheuer zu sein scheint. Sprecher Und dann musste er an die Beschwörung des Todes und an des Todes dunkle Arznei denken, denn wenn er Jodys Körper bedeckte, umarmte er bereitwillig Zerfall und Verderbnis. Einem Mann auf den Hals küssen, ihm leidenschaftlich in die Augen blicken, war so unnatürlich wie die Riten und Abläufe in einem Bestattungsunternehmen..." Hens (50:30) Es gibt ja auch diesen Outsidermythos, dieses Außenseitertum, was in der Beat-Literatur der 50er und 60er Jahre gefeiert wurde, aber immer im Kontext dieser Gegenkultur. Cheever bewegt sich...im Mainstream, in der Mittelklasse. Er umgibt sich mit Leuten, denen es gut geht. Da gibt es praktisch nur die einzige Möglichkeit, da auszusteigen, ist die, verrückt zu werden oder was total krasses zu machen, mit dem keiner rechnet und im Gefängnis zu landen oder Heroin zu nehmen. Das ist eine interessante Umkehrung dieses positiven Outsidermythos. Musikakzent Autor Das Gefängnis ist wie der Vorort eine geordnete Welt, in der jederzeit das Schlimmste passieren kann, eine Bühne, deren Enge und Überschaubarkeit die abgründigsten Konflikte und Krisen wie ein Katalysator verstärkt zum Vorschein bringt. Warum werden wir nicht müde amerikanische Vorortgeschichten zu lesen, während der deutsche Vorort-Bungalow in der deutschen Literatur schnell etwas von Gartenzwergwelt und Fernsehvorabend hat? Stefan Mühldorfer: Mühldorfer (34:20) Ich habe als Leser amerikanischer Literatur immer fraglos akzeptiert, dass diese Figuren eine enorme Fallhöhe haben können: dass da ein Mord passieren kann. Dass da einer auf der Insel Enten jagt und danach ein schlimmer Unfall mit der Schrotflinte passiert. Das heißt, dieser Einbruch des Gewalttätigen Lebens, der ist, glaube ich, da erlebbar und dadurch auch für mich als Leser akzeptierbar - und so einen Aspekt habe ich in Deutschland nicht. Hens (35:38) Allein schon durch die Beschaffenheit der Landschaft, durch die Größe des Landes, durch die extremen Wetterbedingungen, durch die junge Geschichte gibt es natürlich so etwas wie ein mythische Komponente. Mühldorfer (30:25) Das Alltägliche darf zugleich das Besondere sein. Die Intellektualität hat einen anderen Stellenwert. Die steht nicht so im Vordergrund wie bei uns....Die großen Fragen des Lebens verknüpfen sich viel entspannter mit dem Alltäglichen. ...Und glaube ich auch, dieses Gefühl, es gibt immer etwas Größeres. Ob es stellenweise die Natur ist, die immer als etwas Größeres dich umgibt, oder ob es dieses Land ist in seiner Vielgestaltigkeit, das, glaube ich, macht was mit den Menschen. Whiskyglasgeklimper. Partygeräusche. Autor Nicht mehr als ein Lidschlag ist vergangen. Neddy Meryll aus der Erzählung "Der Schwimmer" sitzt noch immer am Rand des Pools, eine Hand ins Wasser getaucht und atmet schnaufend, um "die einzelnen Elemente jenes Moments" in seine Lunge zu saugen. Auch er wird gleich etwas Ungewöhnliches tun. Sprecher Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass er einen Bogen nach Südwesten schlagen und auf dem Wasserweg zu seinem Haus gelangen könnte....Ihm war, als sähe er die Kette der Schwimmbecken, den gleichsam unterirdischen Strom, der sich durch den ganzen Bezirk zog, mit den Augen eines Geografen vor sich. Er hatte eine Entdeckung gemacht, einen Beitrag zur modernen Geografie geleistet und würde den Strom nach seiner Frau Lucinda nennen...Er streifte den Pullover ab, der über seinen Schultern hing, und sprang ins Wasser. Atmo leiser werdend und verklingend, darüber: Autor Er ist der erste Mann, und er schwimmt durch den Vorort wie in einem Urstrom, um zu Lucinda, der ersten Frau zu gelangen. Die Geschichte umfasst nicht einmal zwanzig Seiten, seine ungewöhnliche Fortbewegung dauert eine oder zwei Stunden, aber als er in der Dämmerung nach Hause kommt, ist er müde wie ein alter Mann. Sprecher Das Haus war verschlossen, und er dachte, die dumme Köchin oder das dumme Hausmädchen hätten alles abgeschlossen, doch dann fiel ihm ein, dass sie schon seit einiger Zeit kein Hausmädchen und keine Köchin mehr hatten. Er schrie, er hämmerte an die Tür, versuchte sie mit der Schulter aufzubrechen, und dann, als er zum Fenster hineinschaute, sah er, dass das Haus leer war. Autor Neddy Merryl - der Mann, der mit der Kraft und dem Mut der ersten Siedler durch beschauliche Gärten krault, doch das Haus, von dem er träumt, ist leer: Ist das nicht John Cheever? Henning (32:04) Es gibt in den Tagebüchern, glaube ich, eine Quintessenz seines Lebens. In den Tagebüchern schreibt er: ´Das Leben hat etwas wunderbar Ernsthaftes, und es macht für einen Schriftsteller keine Ausnahme. Unterhalb unserer alltäglichen Welt gibt es noch eine andere Welt. Das Chaos. Und darüber hängen wir an einem seidenen Faden. Aber der Faden hält.´ Von der Spannung in diesem Faden handelt sein Leben und sein Schreiben. ENDE 1