COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Zeitreisen am 12. Mai 2010 Redaktion: Peter Kirsten Der lange Weg der Versöhnung. Die Vertriebenenverbände in Deutschland Von Otto Langels Musik Take Auszug aus der Charta der Heimatvertriebenen Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, das im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat. Autor Stuttgart, August 1950: Die Charta der Heimatvertriebenen, von Vertretern der Landsmannschaften und Vertriebenenverbände unterzeichnet, wird auf einer Kundgebung feierlich verkündet. Take Auszug aus der Charta der Heimatvertriebenen Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Zwang und Furcht leben können. Autor Sechs Jahrzehnte später ist das geeinte Europa weitgehend Wirklichkeit geworden. Dagegen blieb das "Recht auf die Heimat", wie es die Charta für alle Flüchtlinge forderte, unerfüllt. Dennoch ist die Integration der Vertriebenen nach 1945 in Niedersachsen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und anderswo eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte, trotz immenser materieller Verluste und psychischer Leiden der Betroffenen, trotz der Jahrzehnte des verordneten Schweigens in der DDR und der schwierigen Anfangsjahre in der Bundesrepublik. Take Sepp Wir wussten, es geht nach Bayern, das war aber auch alles. Autor erinnert sich Werner Sepp, ein aus dem Sudentenland vertriebener Deutscher. Er kam 1946 nach Geretsried, ein südlich von München gelegenes Barackenlager eines ehemaligen Rüstungsbetriebs. Take 3 Sepp Dann wurden wir am Sonntagmorgen hier um acht Uhr ausgeladen und ich seh' meine Großmutter noch auf ihrer Kiste sitzen und sagen: Da sollen wir wohnen? Und es war also dieses Barackenlager, hatte doppelten Stacheldraht drum herum, die Baracken waren - zum Teil die Fenster raus gerissen, die Türen rausgerissen - in einem absolut desolaten Zustand. Autor Als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Millionen Flüchtlinge im Westen ankamen, mussten viele nicht nur jahrelang in provisorischen Unterkünften wohnen, ihnen schlugen auch Abwehr und Verachtung entgegen. In den Augen ihrer Landsleute zwischen Rhein und Oder waren sie "dahergelaufenes Pack", "Gesockse aus dem Osten", "Polacken". Zitat Herrgott im Himmel, sieh unsere Not, wir Bauern haben kein Fett und kein Brot. Flüchtlinge fressen sich dick und fett und stehlen uns unser letztes Bett. Wir verhungern und leiden große Pein. Herrgott, schick das Gesindel heim. Autor Ein Schmähgebet, das 1946/47 in Schwaben in Umlauf war. In einem Buch mit dem programmatischen Titel "Kalte Heimat" hat der Berliner Historiker Andreas Kossert beschrieben, wie feindselig Flüchtlinge nach 1945 aufgenommen wurden. In Schleswig-Holstein z.B. hätten Politiker nahtlos an nationalsozialistisches Gedankengut angeknüpft. Take 4 Kossert Wo einheimische Parteien zum Teil wirklich gesagt haben: Die ostpreußischen Flüchtlinge sind eine Mulattenzucht, sie gehören nicht zu unserer germanischen blonden Rasse und gefährden unsere schleswig-holsteinische Eigenart. Und es gab auch ähnliche Beispiele in Süddeutschland, wo auf Karnevalsumzügen sich über Vertriebene lustig gemacht wurde. Als ich mich im Rahmen des Buches mit Archivmaterialien beschäftigt habe, recherchiert habe, hat das dann noch ein viel schockierenderes Bild ergeben, und zwar deutschlandweit von Bayern bis nach Schleswig-Holstein, aber auch in der Sowjetischen Besatzungszone, eine Ausgrenzung, eine Diskriminierung in einem Ausmaß, die ich nie erwartet hätte von einem Volk, was ja gemeinsam den Krieg begonnen hat und auch gemeinsam verloren hat. Autor Im Emsland hieß es noch lange nach dem Krieg: Zitat Die drei großen Übel, das sind die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge. Autor In Bayern tauchte 1947 eine Flugschrift auf: Zitat Gebt dem Sudetengesindel die Peitsche statt Unterkunft! Autor Die Militärverwaltungen der Westalliierten waren gezwungen, Wohnraum zu requirieren und Zwangseinweisungen vorzunehmen, weil die einheimische Bevölkerung nicht freiwillig zusammenrücken wollte. Mancherorts bezogen die Vertriebenen unter dem Schutz von Maschinenpistolen ihre neuen Quartiere. Take Schäffer Ich wundere mich manchmal, wie rasch ein Mensch und wie rasch ein Volk vergessen kann. Autor äußerte sich Bundesfinanzminister Fritz Schäffer 1951 enttäuscht über die mangelnde Solidarität der westdeutschen Bevölkerung mit den Vertriebenen. Take Schäffer Vergessen haben vielleicht viele von denen, die damals die Goebbels-Frage - Wollt ihr den totalen Krieg? - mit ja beantwortet haben, welche Verantwortung sie für das Schicksal eines gesamten Volkes auf sich genommen haben. Musik Autor Bei Kriegsende war Herta Mahlo 13 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und ihrer fünfjährigen Schwester in das polnische Arbeitslager Potulice eingesperrt wurde. Sie musste vier Jahre Zwangsarbeit auf umliegenden Gütern verrichten, bis sie im Juli 1949 das Lager Richtung Thüringen verlassen konnte. Take Mahlo Und dann sind wir tatsächlich in Transporte gekommen, in Viehwagen. Da wurden wir - werde ich nie vergessen - begrüßt, was wollt ihr Polacken denn, werden ja immer noch mehr. Was wollt ihr hier? Das war schrecklich. Ich hab ja unterschreiben müssen, dass wir nie über unser Lager sprechen, als wir dort weggingen. Autor In die sowjetische Besatzungszone kamen nach 1945 mehr als vier Millionen Vertriebene. Bis 1989 war das Thema Flucht und Vertreibung in Ostdeutschland jedoch tabu, denn es widersprach aus Sicht der DDR-Führung den freundschaftlichen Beziehungen zu den sogenannten sozialistischen Bruderstaaten. Andreas Kossert spricht von einer radikalen Zwangsassimilation. Take Kossert In der DDR wurde das Problem ideologisch relativ bald gelöst. Man hat einfach das Wort Vertreibung gemieden, man hat dafür den Begriff Umsiedler gewählt; und auch dieses Problem der Umsiedler 1950 offiziell per Dekret für erledigt erklärt. Und fortan waren die 4,3 Millionen Vertriebenen in der DDR zum Schweigen verpflichtet. Autor In der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR konnten sich die Flüchtlinge nicht in Interessenverbänden zusammenschließen. Auch in Westdeutschland ließen die Alliierten zunächst keine entsprechenden Organisationen zu, sie lockerten das Verbot aber schon nach wenigen Jahren. Die ersten Vertriebenenverbände entstanden 1948/49, berichtet der Würzburger Historiker Matthias Stickler: Take Stickler Die Gründung eines Dachverbandes ist den Vertriebenen erst zehn Jahre später gelungen, also 1958. Bis dahin hatte es zwei Verbände gegeben, einen für die Landsmannschaften, einen für die sogenannten Landesverbände. Die schlossen sich dann 1958 zum heute noch existierenden Bund der Vertriebenen zusammen. Der Bund der Vertriebenen war in den 50er, 60er Jahren eine wichtige pressure group, die man durchaus mit den Gewerkschaften vergleichen kann, auch was ihre Einwirkungsmöglichkeiten auf die Parteien anbelangt. Der BdV war damals in beiden großen Volksparteien, Union und SPD, stark verankert. In den ersten Jahren stand natürlich die soziale Frage im Vordergrund, also die Integration der Vertriebenen, also alles das, was dann später in das Lastenausgleichsgesetz eingemündet ist 1952. Autor Knapp 150 Milliarden DM erhielten die Vertriebenen in den folgenden 50 Jahren als Kompensation für die materiellen Verluste sowie als Eingliederungs- und Aufbauhilfen. Die Vertriebenenverbände konnten ihren Forderungen großen Nachdruck verleihen, da sie über eine breite Massenbasis verfügten, die regelmäßig öffentlich in Erscheinung trat. Take Tag der Heimat (Musik) In Ehrfurcht und Treue gedenken wir der Toten. Autor Tag der Heimat, 1956. Take Tag der Heimat Nach dem Inferno des Zweiten Weltkriegs begann die Passion von 1945. Millionen unserer Landsleute verloren mehr als die Heimat. Sie wurden hingemordet oder starben, gejagt, vor Erschöpfung. Autor Zehntausende kamen zu den jährlichen Treffen der Landsmannschaften und Vertriebenenverbände, folkloristisch untermalt durch Trachtengruppen, Volkstänze und feierliche Gelöbnisse. Take 12 Czaja Nichts, nichts ist endgültig geregelt, es sei denn einigermaßen gerecht geregelt. Unser Ziel bleibt die freie Heimat im freien Europa. Autor Der langjährige Präsident des Bundes der Vertriebenen, Herbert Czaja. Die Tage der Heimat galten nicht nur als willkommene Gelegenheiten, frühere Landsleute zu treffen und alte Erinnerungen aufzufrischen, sie waren auch machtvolle Demonstrationen, um Druck auf die politischen Parteien auszuüben. Den Repräsentanten von BdV und Landsmannschaften boten die Treffen einen wirkungsvollen Rahmen, um den Verzicht auf die verlorenen Gebiete im Osten als Verrat anzuprangern. Take Stickler Bis in die 60er Jahre hinein war es so, dass der BdV schon noch eine repräsentative Klientel der Gesamtvertriebenenschaft vertreten hat. In den 50er Jahren waren das noch bis zu vier Millionen, dann hat sich das reduziert auf etwa zwei Millionen. Gemessen an etwa neun Millionen Vertriebenen, die es in der Bundesrepublik Deutschland gab, war das immer schon noch eine bedeutsame Zahl. Autor Matthias Stickler ist einer der wenigen Historiker, die sich eingehend mit der Geschichte der Vertriebenenverbände beschäftigt haben. Allerdings hat auch er nicht näher erforscht, welche personellen Kontinuitäten zwischen NS-Regime und BdV bestanden. Eine entsprechende Studie des Münchener Instituts für Zeitgeschichte ist zwar seit längerem angekündigt, aber noch nicht veröffentlicht. Bekannt ist, dass von rund 200 Vertriebenen-Funktionären der ersten Nachkriegsjahre etwa ein Drittel Mitglieder der NSDAP gewesen waren, deutlich mehr als im Bevölkerungsdurchschnitt. In das erste Präsidium des BdV wurden überwiegend frühere Nationalsozialisten gewählt. Dem ersten Präsidenten Hans Krüger wurde vorgeworfen, als Richter an einem Sondergericht im Osten an Todesurteilen mitgewirkt zu haben. Gleichwohl widerspricht Matthias Stickler dem Vorwurf, die Vertriebenenorganisationen seien ein Sammelbecken von Alt- und Neo-Nazis gewesen. Take Stickler Es hat zwar im BdV immer auch Mitglieder und Repräsentanten gegeben, die Flecken auf ihrer Weste hatten aus der Zeit des Dritten Reiches. Affinität zu rechtsextremen Parteien hat's im Bund der Vertriebenen an den äußersten Rändern immer mal wieder gegeben, allerdings die Verbandsspitzen sowohl in den Landsmannschaften als auch im BdV selbst haben das immer konsequent unterbunden. Musik Autor Die neue Ostpolitik Ende der 60er Jahre markiert eine Zäsur in der Geschichte der Vertriebenenverbände. Die sozialliberale Bundesregierung unter Willy Brandt und Walter Scheel schloss Verträge mit Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion, worin die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen zugesichert wurde, ein Schritt, den die DDR schon Jahrzehnte zuvor vollzogen hatte. Faktisch verzichtete die Bundesrepublik damit auf die deutschen Ostgebiete. Musik Take Steinbach Mit der Brandtschen Ostpolitik, da war eine abgrundtiefe Enttäuschung. Autor Die heutige Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach. Take Steinbach Weil natürlich die Sozialdemokraten streckenweise auch sehr markige Töne zugunsten der Vertriebenen auf Lager hatten. "Verzicht ist Verrat" ist einer der Sätze, die Willy Brandt und Herbert Wehner den Schlesiern zu einem Schlesiertag geschickt haben. Man glaubt immer, das seien Originaltöne der Vertriebenen, nein das waren Sozialdemokraten, die solche Sätze von sich gegeben haben, schriftlich. Da haben sich viele abgewendet von den Sozialdemokraten. Das ist in weiten Teilen so geblieben über die letzten Jahrzehnte hinweg, das muss man auch sehen. Autor Trotz massiver und zum Teil äußerst aggressiver Propaganda konnten die Vertriebenenverbände die neue Ostpolitik nicht verhindern, was letztlich zu einem Bedeutungsverlust führte. Die Mitgliederzahl des BdV ging von vier Millionen in den 50er Jahren auf zwei Millionen in den 70ern zurück. Der Verband habe auch nach dem Regierungswechsel von 1982 in der nachfolgenden Ära des CDU-Kanzlers Helmut Kohl weiter an Einfluss verloren, meint der Historiker Matthias Stickler. Take Stickler Helmut Kohl hat zwar sehr viel symbolische Politik für die Vertriebenen gemacht, ist allerdings im Kern bei der Fortsetzung der alten Ostpolitik aus der Ära Brandt/Scheel geblieben. Und das zeigt sich eben dann auch bei der Wiedervereinigung 1990, dass es dem BdV nicht gelungen ist, in der Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch das vereinigte Deutschland in irgendeiner Form Einfluss zu nehmen auf die Politik der Bundesrepublik. Autor Nach 1990 konnten die Vertriebenenverbände in bescheidenem Umfang von der deutschen Einheit profitieren. Sie bekamen Zulauf aus den neuen Bundesländern. Außerdem schlossen sich Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion ihren Organisationen an. Die osteuropäischen Nachbarstaaten befürchteten zunächst angesichts der offenen Grenzen, dass die Heimatvertriebenen in Scharen zurückkehren und ihr früheres Eigentum beanspruchen könnten. Doch die Ängste waren unbegründet. Kaum jemand erwog ernsthaft eine Rückkehr in die alte Heimat. Stimmen am Rande eines Schlesiertreffens im Jahr 2007: Take Vertriebene Da haben wir uns schon damit abgefunden, da gibt's nichts mehr nach 60 Jahren, was soll man da noch fordern. Eine Rückgabe wäre unmöglich, die Vertriebenen haben sich in Deutschland inzwischen was aufgebaut, ihre Kinder sind dort geboren, aber die Heimat bleibt Heimat. Autor Stattdessen entstanden an der Basis vielfältige Initiativen zwischen Deutschen und Polen bzw. Tschechen. Vertriebene organisierten Treffen in Ost- und Westpreußen oder dem Sudetenland, sie schlossen Partnerschaften mit ihren früheren Heimatorten oder halfen beim Wiederaufbau zerstörter Kulturgüter. Sibylle Dreher, Bundesvorsitzende der Landsmannschaft Westpreußen: Take Dreher Gerade die Landsmannschaft Westpreußen hat über die Arbeit in ihrem Museum, das in Münster ist, Kontakte geknüpft zu den Museen im heutigen Polen, also im Land Westpreußen. Da passiert also ganz viel an Gemeinsamkeit, an Verständigung, auch an Verständigungsbereitschaft, und wenn Sie so wollen, auch an Versöhnung. Autor Als sie 1945 in das Lager Potulice kam, war Gertraud Engelskircher 16 Jahre alt. Potulice, zwischen Stettin und Danzig gelegen, war bis 1945 ein Außenlager des KZs Stutthof für polnische Gefangene gewesen. 1200 Menschen gingen dort an Hunger und Krankheit zugrunde oder wurden ermordet, darunter viele Kinder. Dann nutzten es die Polen fünf Jahre lang, um 35.000 Deutsche zu internieren. 3.500 kamen ums Leben. Viereinhalb Jahre war Gertraud Engelskircher dort eingesperrt. Seit zehn Jahren fährt sie mit einem kleinen Kreis deutscher Vertriebener regelmäßig nach Potulice, um eine Gruppe von Polen zu treffen, die vor 1945 in dem Lager saßen. Take Engelskircher Wir haben Aussöhnung gemacht, und das ist eine ganz tolle Sache. Wir haben viel erreicht in den 10 Jahren auch, sehr viel, zusammen gesessen, erzählt, alles an den Kopf geschmissen, die uns, und wir ihnen. Die zu deutscher Zeit da drin gesessen haben, die waren ja auch so alt wie wir. Und wir sind gute Freunde jetzt, nee. Autor Gleichwohl wollen manche Vertriebenenfunktionäre die Ansprüche auf die alte Heimat nicht aufgeben. Der Sudetendeutsche Tag im Jahr 2006 stand unter dem Motto: Zitat Vertreibung ist Völkermord. Autor Beim Deutschlandtreffen der Schlesier im Jahr 2007 trugen Trachtengruppen ein Transparent auf die Bühne mit der Aufschrift: Zitat Schlesien ist nicht Polen. Die Wahrheit wird Euch frei machen. Autor Der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft Schlesien, Rudi Pawelka, erklärte: Take Pawelka Die um sich greifende Schlussstrichmentalität stärkt das Völkerrecht nicht, sondern ist ihm abträglich. Mit einer Verdrängung wird Unrecht nicht wieder gut gemacht. Es ist kurzsichtig, sich davon Befreiung und Versöhnung zu erhoffen. Musik Autor Rudi Pawelka versuchte vor Jahren, unter dem Etikett Preußische Treuhand mit Gleichgesinnten auf juristischem Wege Eigentumsansprüche in Schlesien geltend zu machen. Der Gang bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte war freilich vergebens. Musik Autor Die unversöhnlichen Töne mancher Funktionäre haben sich im doppelten Wortsinn überlebt. Denn die "Erlebnisgeneration", wie die von Flucht und Vertreibung direkt Betroffenen genannt werden, stirbt langsam aus. Und die Kinder und Enkelkinder zeigen wenig Interesse an der Heimat ihrer Vorfahren. Rüdiger Jakesch, Vorsitzender des Berliner Landesverbandes der Vertriebenen: Take Jakesch Die Vertriebenen haben es nicht geschafft, ihre Kinder über die Jahrzehnte so stark zu integrieren in den Landsmannschaften, dass sie da mitmachen. Alle Nachgewachsenen haben ihre Heimat hier in der jetzigen Bundesrepublik gefunden, so dass man ihnen das nur geschichtlich beibringen kann, welche Kulturschätze eigentlich im Osten waren. Autor Die Landsmannschaften haben es versäumt, den nachwachsenden Generationen zeitgemäße Angebote zu machen. Und das, obwohl seit einigen Jahren Themen wie Heimat und Vertreibung größere Resonanz finden, z.B. durch Fernsehfilme und Dokumentationen oder durch die Bilder von Massenvertreibungen auf dem Balkan oder in Afrika. Die altbackene Folklore mit Trachtenumzügen, Volkstänzen und Fahnen übt jedoch offensichtlich keinen Reiz auf junge Menschen aus. Der Historiker Matthias Stickler: Take Stickler Für mich ist auffällig, dass in der öffentlichen Selbstdarstellung, wie offensichtlich der Bund der Vertriebenen selbst gesehen werden will, wenn man sieht, was da für Bilder veröffentlicht werden, spielt das Traditionelle doch noch eine sehr große Rolle, und damit Trachten, Fahnen und all das, was wir aus den 50er und 60er Jahren kennen. Autor Die Vertriebenenverbände sind in den letzten Jahren weiter geschrumpft. Fragt man Erika Steinbach, wie viele Mitglieder der BdV als Dachorganisation heute noch vertritt, erhält man eine ausweichende Antwort. Take Steinbach Kann ich Ihnen nicht sagen, weil das in den Händen meiner Landsmannschaften und Landesverbände liegt, und die hüten ihre Daten ziemlich intensiv, aus gutem Grund. Autor Offensichtlich will der BdV keine konkreten Angaben machen, um weiterhin den Eindruck einer machtvollen Organisation aufrecht zu erhalten. Denn statt der immer wieder lancierten Zahl von zwei Millionen zählt er wohl weit weniger als 500.000 Mitglieder. Nach internen Aufstellungen entrichten sogar nur noch gut 100.000 Personen Beiträge an den BdV. Der Bund der Vertriebenen ist längst nicht mehr die starke politische Kraft wie noch vor Jahrzehnten. Immerhin ist es dem Bunde der Vertriebenen gelungen, mit dem Vorschlag einer Erinnerungsstätte in den letzten Jahren öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Take Stickler Hier kommt dann dieses Konzept eines Zentrums gegen Vertreibungen, das dann entwickelt wird und das den BdV verweist auf eine neue Funktion noch mal im Rahmen historischer Erinnerung an Flucht und Vertreibung, aber auch aktualisiert Auftreten gegen neue Vertreibungen. Das ist dann ein neues Thema, das im Wesentlichen mit Erika Steinbach kommt. Take Steinbach Die Vertreibung von 15 Millionen Menschen, das ist die größte Massenvertreibung, die es auf diesem Erdball jemals gegeben hat, das ist keine Petitesse, sondern das ist ein Teil unserer eigenen deutschen Identität. Autor Mit ihren selbstbewussten und provozierenden Auftritten hat es die streitbare BdV-Präsidentin geschickt verstanden, immer wieder mediales Interesse auf sich zu ziehen. Erika Steinbach brachte polnische Nachbarn und deutsche Politiker gegen sich auf, sie säte Zwist in der großen und in der sozialliberalen Koalition. Schließlich gelang es ihr, gegen viele Widerstände im In- und Ausland das Zentrum gegen Vertreibungen durchzusetzen. Im Dezember 2008 beschloss der Bundestag mit großer Mehrheit die Gründung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Take Merkel Die Bundesregierung bekennt sich zur gesellschaftlichen und historischen Aufarbeitung von Zwangsmigration, Flucht und Vertreibung. Autor Erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Take Merkel Dokumentation, Vernetzung und Versöhnung werden zentrale Aspekte dieses sichtbaren Zeichens sein, das an einem angemessenen Ort in Berlin gesetzt werden soll. Autor Der angemessene Ort ist inzwischen gefunden, das sogenannte Deutschlandhaus in Berlin am Anhalter Bahnhof, unweit des Potsdamer Platzes, ein denkmalgeschütztes Bürogebäude aus den 20er Jahren. Bevor die inhaltliche Arbeit für die Dokumentationsstätte beginnen konnte, entbrannte allerdings eine heftige Debatte um die Besetzung des Stiftungsrates. Neben Bundestag, Bundesregierung, Religionsgemeinschaften und Museen sollte der Bund der Vertriebenen drei Vertreter in das 13köpfige Gremium entsenden. Die Nominierung Erika Steinbachs war äußerst umstritten, nicht zuletzt, weil sie 1991 im Bundestag gegen die Anerkennung der Oder-Neiße- Linie als Grenze zwischen Deutschland und Polen gestimmt hatte. Erika Steinbach verzichtete schließlich auf ihren Sitz, setzte dafür aber durch, dass der BdV künftig sechs statt drei Mitglieder in den Rat entsenden darf und die Ausstellungsfläche um 1.000 Quadratmeter vergrößert wird. Doch auch danach kam die Stiftung nicht zur Ruhe. Inzwischen sind drei Mitglieder des wissenschaftlichen Beraterkreises zurückgetreten, darunter zwei ausländische Experten. Sie argwöhnen, dass in der Ausstellung trotz gegenteiliger Bekundungen die deutsche Perspektive dominieren könnte. Die Befürchtung ist angesichts des Geschichtsbildes der Landsmannschaften nicht ganz unbegründet. In der Charta der Heimatvertriebenen, an deren Verabschiedung vor 60 Jahren der BdV in diesem Sommer feierlich erinnern will, heißt es u.a.: Zitat Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden. Autor Ein "Traktat deutscher Verdrängungskunst" nannte der Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Ralph Giordano die Charta. Nachdem er zunächst das Zentrum gegen Vertreibungen unterstützt hatte, hat sich Giordano inzwischen von dem Projekt distanziert. Seine Begründung: Zitat Es geht nicht an, die Geschichte der Vertreibungen bilderreich auszubreiten, das Blutbad der Vorgeschichte aber in marginalen Nebensätzen zu verstecken. Autor Tatsächlich widmet z.B. die Landsmannschaft Schlesien in ihrem sechsseitigen historischen Abriss, beginnend mit dem 1. Jahrhundert vor Christus, der NS-Zeit ganze zehn Zeilen: Zitat Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg musste der wertvollste Teil des oberschlesischen Industriegebietes auf Veranlassung der Alliierten an das wiedererstandene Polen abgetreten werden. Die dadurch geschaffenen Probleme belasteten die Nachkriegszeit schwer, die 1933 in den Nationalsozialismus und 1939 in den Krieg mündete. Schlesien wurde von der Roten Armee überflutet, ihr folgte die polnische Miliz. Autor Ähnlich fragwürdig ist das von der Landsmannschaft Ostpreußen gezeichnete Geschichtsbild. Zitat Während des Krieges war Ostpreußen lange die Befehlszentrale für den Ostfeldzug. Drei Jahre nachdem Hitler im Sommer 1941 den Angriff auf die Sowjetunion befahl, hatte sich das Bild umgekehrt. Mit unvorstellbarer Grausamkeit ging die Rote Armee während der Besetzung gegen die wehrlosen Zivilisten vor, die in ihre Hände fielen. Ungezählte friedliche Menschen sind bei und nach dem Einbruch der Sowjettruppen in viehischer Weise umgebracht worden, mehr noch an Hunger und Seuchen gestorben. Was die Überlebenden auf der Flucht bei Schnee und Frost auszuhalten hatten, übersteigt jede Vorstellungskraft. Autor Es scheint schwer vorstellbar, wie solche einseitigen Darstellungen mit dem Konzept einer Stiftung vereinbar sein sollen, die das Wort Versöhnung im Titel trägt. Den Vorwurf der Geschichtsklitterung weist Erika Steinbach jedoch zurück. Take 30 Steinbach 0.30 Die Polen haben Schreckliches erlitten, die Russen haben den höchsten Blutzoll in diesem Zweiten Weltkrieg überhaupt gezahlt, das gehört alles dazu. Aber eines muss ich auch sagen, was ich in Deutschland hier feststelle, es wird einfach als Entschuldigung hergenommen, als Rechtfertigung für die Vertreibung, und das hat natürlich eher was mit Blutrache als mit Gerechtigkeit zu tun. Unser Ziel muss am Ende sein, die Geschichte insgesamt auszuleuchten, aber nicht ein Verbrechen mit einem anderen rechtfertigen und alles daran zu setzen, dass sich so etwas nicht mehr wiederholen kann. Autor Doch geht es Historikern, wenn sie die Vertreibungen der Deutschen nach 1945 mit den vorhergehenden Ereignissen zu erklären versuchen, nicht eher um Zusammenhänge und Hintergründe und weniger um Rechtfertigung? 1997 erklärte der damalige Bundespräsident Roman Herzog in einer bemerkenswerten Rede vor dem tschechischen Parlament: Take 31 Herzog 0.45 Während der Historiker darum bemüht ist, die Wahrheit zu erkennen und bei historischen Abläufen Ursachen und Folgen voneinander zu trennen, sehen die betroffenen Menschen die Geschichte stärker aus der Perspektive ihrer persönlichen Erfahrung, und diese Perspektive ist auf beiden Seiten häufig die des Opfers. Wir müssen aber über die subjektiven Wahrheiten hinaus zu objektiven Wahrheiten kommen. Wir bedauern das Leid und wir bedauern das Unrecht, das dem tschechischen Volk zugefügt wurde. Und uns ist auch bewusst, dass diese Politik der Gewalt und des Verbrechens es war, die den Boden für die nachfolgende Flucht und Vertreibung geebnet hat. (Beifall ausblenden) 1