KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR Titel der Sendung : "Wie unsere Fantasie tatsächlich funktioniert". Der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong'o über seine "Ästhetik des Widerstandes" AutorIn : Johannes Kaiser Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 23.10.2012 Regie : Friederike Wigger Besetzung : Autor Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 MUSIK: Titel 3 - Wa Winjigo ero - ca. 1.30' kurz stehen lassen, dann Take drüberlegen, ausblenden, nach Take wieder hochziehen Komp.+ Interpr. Ayub Ogada, von der CD ,En Mana Kuoyo, Realworld, LC 3098 Gema 7 87947 2 TAKE A: engl. O-Ton Ngugi kurz stehen lassen, dann Spr. drüberlegen, am Ende wieder hochziehen Spr.: "Fantastisches zu schreiben, scheint einfach zu sein, ist tat- sächlich aber schwer, wenn man versucht, jenes Bewusstsein einzufangen, das über das enge materielle Leben hinaus- reicht." MUSIK: kurz hochziehen, dann Take 2 einblenden TAKE B: engl. O-Ton Ngugi kurz stehen lassen, dann Spr. drüberlegen, am Ende wieder hochziehen Spr.: "Kunst braucht keine Rechtfertigung, keine messbare Wirkung, sie beeinflusst die Fantasie. So sollte man sie sehen." MUSIK: kurz hochziehen, dann Take 3 einblenden TAKE C: engl. O-Ton Ngugi kurz stehen lassen, dann Spr. drüberlegen, am Ende wieder hochziehen Spr.: "Meine Bücher sind ein Versuch, die Geschichte Kenias zu er- zählen, die Geschichte Afrikas, die Geschichte des menschli- chen Widerstands, geleitet von einer Ästhetik des Wider- stands." MUSIK: kurz hochziehen, dann Erz. drüberlegen, ausblenden Erz.: Der 74jährige kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong'o, einer der großen Erzähler afrikanischer Geschichten. MUSIK: kurz hochziehen, dann Erz. drüberlegen, ausblenden Zit.: "Jeden Abend versammelten wir Kinder uns um die Feuerstelle in ihrer Hütte und die Vorstellung begann. Manchmal, vor al- lem an den Wochenenden, brachten die älteren Geschwister ihre Freunde und Freundinnen mit, und dann gab es für alle eine Nacht voller Erzählungen. Jemand gab eine Geschichte zum Besten, und wenn sie zu Ende war, sagte ein anderer aus dem Publikum so etwas wie "Das erinnert mich an..." oder so ähnlich. Das war das Zeichen, dass er oder sie eine Geschichte erzählen wollte, selbst wenn diese, wie sich meistens heraus- stellte, mit der, die sie ausgelöst hatte, überhaupt nichts zu tun hatte... Ich freute mich auf diese Abende; es kam mir wie ein herrliches Wunder vor, dass ihnen so schöne und manche auch schaurige Geschichten über die Lippen kamen. Am liebs- ten mochte ich Geschichten, bei denen das Publikum in den Chor einstimmte. Die Melodie war jedes Mal ergreifend; ich hatte das Gefühl, als würde ich, sogar wenn sie traurig war, in eine Welt dauernder Harmonie versetzt. Das verstärkte meine Erwartung auf das, was als nächstes geschehen würde." Erz.: Aus den Erinnerungen des kenianischen Schriftsteller Ngugi wa Thiong'o. TAKE 1: engl. O-Ton Ngugi kurz stehen lassen, dann Spr. drüberlegen, am Ende wieder hochziehen Spr.: "In meiner Autobiografie ,Träume in Zeiten des Krieges' habe ich über das abendliche Geschichtenerzählen im Haus meines Vaters oder in einem der Häuser meiner Mütter berichtet. Ich habe stets geglaubt, dass der Wunsch, Geschichten zu erzäh- len, in diesen Stunden begonnen hat. Ich habe aber auch von meiner Begegnung mit der Bibel, insbesondere mit den Ge- schichten im Alten Testament gesprochen. Das ist die andere Quelle meines ursprünglichen Wunsches, Geschichten zu er- zählen. Und dann bin ich zur Schule gegangen und dort bin ich auf die vereinfachten Kurzversionen englischer Romane gesto- ßen, zum Beispiel auf Dickens ,Oliver Twist' oder Stevensons ,Schatzinsel'. All diese Faktoren zusammen haben mich inspi- riert, schreiben zu wollen. Ich lausche bis heute außerordent- lich fasziniert Geschichten, aber ich selbst konnte nie gut öf- fentlich erzählen. Mit den Büchern hatte ich die Möglichkeit ge- funden, Geschichten erzählen zu können ohne dabei selbst reden zu müssen." Erz.: Es ist eine harte Zeit, in der Ngugi wa Thiong'o, was nichts anderes heißt als Sohn von Thiong'o, aufwächst. Ein Jahr, nachdem er 1938 geboren wird, beginnt in Europa der 2. Weltkrieg. Die englische Kolonialmacht rekrutiert in Kenia Ein- heimische als Soldaten und schickt sie nach Europa. So auch einen der Brüder Ngugis, der verstört und in sich gekehrt zu- rückkehrt, ein Schatten seiner selbst. So jedenfalls zeichnet ihn kaum verhüllt der Schriftsteller in einem seiner frühen Romane. Wenige Jahre später bricht der Befreiungskampf aus. Die Mau-Mau kämpfen für Kenias Unabhängigkeit. Die Briten versuchen den Aufstand mit grausamer Härte niederzuschla- gen. Tausende werden verhaftet, gefoltert, gehängt, erschos- sen. Auch Ngugis Familie ist betroffen: MUSIK: Titel 2 - Dala - ca. 1.30' kurz stehen lassen, dann Zit. drüberlegen, drunter liegen las- sen, nach Spr. wieder hochziehen Komp.+ Interpr. Ayub Ogada, von der CD ,En Mana Kuoyo, Realworld, LC 3098 Gema 7 87947 2 Zit.: ""Man hat ihn auf frischer Tat ertappt", behaupteten einige. "Stellt euch vor, der hatte Patronen bei sich. Am helllichten Tag." Alle, sogar wir Kinder, wussten, dass es als Hochverrat galt, wenn ein Afrikaner auch nur mit einer einzigen Patrone oder Patronenhülse erwischt wurde; sofort wurde er zum Terroris- ten erklärt und sein Tod am Strang war die logische Folge. "Wir haben Gewehrfeuer gehört", sagten andere. "Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie auf ihn ge- schossen haben." "Aber gestorben ist er nicht!" "Gestorben? Hmmmm! Die Kugeln flogen auf die zurück, die auf ihn geschossen haben." "Stimmt nicht, er flog in den Himmel und verschwand in den Wolken."... Alle waren sich einig darin, dass die Polizei den Mann, nach- dem sie ihm Handschellen angelegt hatte, auf die Ladefläche ihres Lastwagens verfrachtete. Plötzlich war der Mann he- runter gesprungen und davon gerannt... Die Polizei eröffnete das Feuer. Der Mann fiel, stand aber wieder auf und floh, Ha- ken schlagend, weiter... den Hang hinab, am afrikanischen Ba- sar vorbei, über die Gleise... bis er, offensichtlich unverletzt, im saftigen Grün der Teeplantagen der Europäer verschwand. Un- vermittelt hatte die Verfolgungsjagd den Gejagten zur Legende gemacht, an der sich bei denen, die das Ereignis miterlebt, und bei jenen, die diese Geschichte aus zweiter Hand erfahren hatten, zahlreiche Geschichten über Heldentum und Magie entzündeten... Mein Bruder Wallace Mwangi ... war am Nachmittag nur knapp dem Tod entgangen. Wir beten dafür, dass er in den Bergen sicher ist. Das ist dieser Krieg, sagte (Mutter)." Erz.: Willkürliche Verhaftungen, Folter, Erschießungen - der briti- sche Machtapparat kann den Aufstand nicht stoppen. 1963 muss Großbritannien Kenia schließlich in die Unabhängigkeit entlassen. Viele der Geschichten, die Ngugi in seiner Kindheit und Jugend hörte, erzählen Ereignisse aus den kriegerischen Zeiten vom 2. Weltkrieg bis zum Mau-Mau-Aufstand. Mythen und Legenden entstehen, beeindrucken den Jungen und finden später Einzug in seine ersten Romane. Sie bilden den Hintergrund der dörfli- chen Geschichten über Heranwachsende, die versuchen, die Welt der Erwachsenen zu verstehen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Religion, denn die Briten hatten frühzeitig erkannt, wie sehr sie ihre Macht durch die Christianisierung der keniani- schen Bevölkerung und durch die Verteufelung der alten Gott- heiten stärken konnten. TAKE 2: engl. O-Ton Ngugi kurz stehen lassen, dann Spr. drüberlegen, am Ende wieder hochziehen Spr.: "Zur Kolonisierung wurden nicht nur kriegerische Mittel einge- setzt, sondern auch Institutionen: die Erziehung, dann die Re- ligion, in diesem Fall die Christianisierung. So ist es zu erklä- ren, dass die Bibel und die Geschichten der Bibel zu einem in- tegralen Bestandteil meines Bewusstseins geworden sind. Und zwar ungeachtet dessen, wie ich zum Christentum stehe." Erz: Die Bibel und das Christentum spielen denn auch in den frühen Romanen Ngugis eine wichtige Rolle. Waiyaki, der Protagonist seines ersten Romans ,Der Fluss dazwischen', stammt aus einer traditionellen Dorfgemeinschaft. Als er sich in ein Mäd- chen aus einem Nachbardorf verliebt, dessen Bewohner zum Christentum übergetreten sind, kommt es unweigerlich zum Konflikt. In seinem zweiten, 1964 kurz nach der Unabhängig- keit Kenias erschienenen Roman ,Wein nicht, Kind' greift der junge Autor die Konflikte auf, die während des Befreiungskrie- ges in den Dörfern aufgekommen waren: Konflikte zwischen Kollaborateuren und Sympathisanten der Guerilla, zwischen weißen Farmern und schwarzen Landarbeitern. MUSIK: Titel 4 - Thum Nyatiti - ca. 1.30' kurz stehen lassen, dann Zit. drüberlegen, drunter liegen las- sen, nach Spr. wieder hochziehen Komp.+ Interpr. Ayub Ogada, von der CD ,En Mana Kuoyo, Realworld, LC 3098 Gema 7 87947 2 Zit.: "Sie alle waren auf dem Weg zu einer christlichen Versamm- lung... Plötzlich hörte Njoroge eine Stimme: "Halt!" ... Angst ergriff sie: Vor ihnen stand ein weißer Offizier... Sie hoben die Hände, so dass die Bibeln und die Gesangsbücher in der Luft hingen, als wollten sie allen sichtbar das Wortes Gottes offen- baren... Njoroge ... merkte, dass sie von vielen Soldaten umzingelt wa- ren, die in den Büschen lagen und ihre Maschinenpistolen dro- hend auf den Weg richteten. Njoroge packte die Bibel fester. Sie mussten sich nun hinhocken und ihre Ausweispapiere vor- zeigen. Zum Glück hatten Njorge und Mucatha Briefe ihres ehemaligen Direktors bei sich, aus denen hervorging, dass sie noch Schüler waren. Die Männer hinter ihm waren nicht so gut dran. Einer wurde derartig geschlagen, dass ihm Urin die Bei- ne hinunterlief. Aber er bat nicht um Gnade, er sagte nur im- mer: "Jesus!" vor sich hin. Isaka hatte sich hingehockt und beobachtete ruhig die Szene. Er hatte keine Papiere. Als der weiße Soldat ihn anbrüllte, antwortete er in ruhigem, fast ergebendem Ton. Wo er seine Papiere habe? Satan sei schuld, dass er sie zuhause vergessen habe. Aber der weiße Soldat wusste es besser. Isaka sei ein Mau-Mau, behauptete er... Dann ließ man die anderen gehen, und Isaka musste zurückbleiben. Er widersetzte sich nicht. "Komm hier lang, und dann wollen wir mal sehen, was Jesus für dich tut." Er wurde in das dichte, dunkle Gehölz geführt, und die ande- ren waren noch nicht weit gekommen, als sie einen furchtba- ren Schrei vernahmen, der durch den ganzen Wald hallte. Sie wagten nicht, sich umzublicken... da erklang ein zweiter Auf- schrei, den das ohrenbetäubende Geknatter von Maschinenpis- tolen übertönte. Dann war es still. "Sie haben ihn umgebracht", sagte einer der Männer. Njoroge war plötzlich übel, alles widerte ihn an. Es war einfach nicht zu fassen, dass er Isaka, seinen weltlichen Lehrer,... nie wieder sehen sollte." Erz.: Ngugi wa Thiong'o Geschichten zeichnen ein realistisches Bild der Wirklichkeit, beschönigen nichts. Sie erzählen von weißer Arroganz und schamloser Ausbeutung, vom Aufbegehren gegen vorsätzliche Enteignungen uralten Landbesitzes durch koloniale Siedler und von anderen, den dörflichen Konflikten. Es sind Geschichten von mühsamer Selbstfindung und dem allmählichen Entstehen schwarzen Stolzes und Selbstbewusst- seins, die die eigene Kultur und Sprache preisen. Dieses zunehmende Selbstbewusstsein führt auch dazu, dass der Schriftsteller bestimmte Relikte der Vergangenheit neu bewertet. Er legt seinen christlichen Vornamen James ab und wechselt die Sprache. Künftig wird er nicht mehr Englisch schreiben, sondern in seiner Muttersprache Gikuyu: TAKE 3: engl. O-Ton Ngugi kurz stehen lassen, dann Spr. drüberlegen, am Ende wieder hochziehen Spr.: "Wenn man als Afrikaner Christ wurde, hatte man einen engli- schen oder europäisch klingenden Namen anzunehmen. Ich begann das damals infrage zu stellen: warum sind diese Na- men heiliger als andere? Ein Name ist ein Name und wenn man getauft wird, kann man sich einen Namen aussuchen. Ich begann also, meinen Namen abzulehnen. Und dann fing ich an, die Namensgebung im größeren Kontext des kolonialen Systems zu sehen. Die Kolonisierten verloren oftmals nicht nur ihren individuellen Namen, sondern auch ihr System der kol- lektiven Namensgebung und damit ihre Sprache. Die gesamte intellektuelle Produktion der Elite in Afrika und in großen Teilen Asiens findet derzeit in Englisch, Französisch oder einer ande- ren europäischen Sprache statt. Für mich symbolisierten mein Name James und das Englische, also die Sprache, in der ich zu schreiben anfing, die koloniale Entfremdung von der afrikani- schen Art, etwas zu benennen. Und dazu gehört sowohl das Recht, sich selbst einen Namen zu geben als auch Worte für seine Umwelt in der eigenen Sprache zu finden." Erz.: Ngugi politisiert sich immer stärker, kämpft für eine neue, eigenständige Kultur, die sich nicht mehr nach den kulturellen Maßstäben des Westens richtet. Die Forderung nach einer ,antiimperialistischen Kultur', so ein typisch linkes Schlagwort jener Zeit, und die heftige Kritik an den ungerechten Verhält- nissen machen den Schriftsteller bei den regierenden Macht- habern äußerst unbeliebt, insbesondere beim damaligen Vize- präsidenten, dem späteren Diktator Daniel Arap Moi. Auf seine Veranlassung hin wird Ngugi wa Thiong'o, damals noch Hoch- schullehrer an der Universität von Nairobi, 1977 ohne Anklage ein Jahr lang in das Hochsicherheitsgefängnis Kamiti in Nairobi gesperrt. Sein Verbrechen: Er hatte ein Theaterstück über das mühevolle und entbehrungsreiche Leben der Bauern und Arbeiter in seiner Heimat verfasst und zwar in Gikuyu, der Sprache seiner Ethnie, und dann zusammen mit Laienschau- spielern aufgeführt. Das Publikum ist begeistert, die Staats- macht empört. Weitere Aufführungen werden verboten. Vor al- lem Arap Moi, der sich 1978 zum Präsidenten küren lässt, sieht in dem Schriftsteller einen gefährlichen Widersacher sei- ner postkolonialen Politik. Ngugi wird mit seinem beißenden Spott, seiner feurigen Ironie zum Hassobjekt der Regierung. Als er 1982 auf einer Lesereise durch England unterwegs ist, warnt man ihn vor der Rückkehr nach Kenia, da das Regime seine Ermordung plane. Er bleibt in London, übernimmt Lehraufträge, engagiert sich in einem Ko- mitee für die Freilassung politischer Gefangener in Kenia. Das Regime Arap Mois verlangt wiederholt seine Auslieferung, schickt 1986 sogar ein Killerkommando zu einer Konferenz in Harare in Simbabwe, zu der er eingeladen ist. Die Todes- schwadron wird von den Sicherheitskräften rechtzeitig verhaf- tet. 1989 zieht Ngugi dann in die USA, wo er nach Gastprofes- suren schließlich ordentlicher Professor für Englisch und Ver- gleichende Literatur an der Universität von Kalifornien in Irvine wird. TAKE 4: engl. O-Ton Ngugi kurz stehen lassen, dann Spr. drüberlegen, am Ende wieder hochziehen Spr.: "Lassen Sie mich etwas zum physischen Exil sagen: ganz ehr- lich gesagt ist es schrecklich, von seiner Gesellschaft oder dem, was man als seine Heimat ansieht, getrennt zu sein. Aber das Exil ist als Erfahrung und Selbsterfahrung nicht not- wendigerweise negativ. Das Exil hat in der Realität einen sehr großen Einfluss auf die Geschichte der Ideen und auch auf die Geschichte der Welt. Für Intellektuelle hat es immer Exil und Gefängnis, manchmal sogar Tod gegeben und das war immer ein Teil des Risikos, die Muse zu besitzen oder von ihr beses- sen zu sein. Wenn Sie sich die Literaturgeschichte anschauen, finden sie keine Phase, in der Schriftsteller nicht ins Exil gehen mussten. Die Schriftsteller stehen da stellvertretend für die in- tellektuelle Fantasie der Menschheit insgesamt." Erz: Zwei Jahre nach Arap Mois Rücktritt 2004 traut sich Ngugi, mit seiner Frau nach 22jährigem Exil nach Nairobi zurückzukeh- ren. Dort wird das Ehepaar in der eigenen Wohnung von vier bewaffneten Männern überfallen, Ngugis Frau vor seinen Au- gen vergewaltigt. Offenkundig hat der Schriftsteller immer noch mächtige Feinde in Kenia. Das hält ihn allerdings nicht davon ab, regelmäßig zurückzukehren, nicht zuletzt ermutigt durch die öffentlichen Empörung im Land über den brutalen Überfall. Man muss diesen persönlichen Hintergrund nicht kennen, um Ngugi wa Thiongo's letzten, 2011 auf Deutsch erschienenen Roman ,Der Herr der Krähen' zu verstehen, aber es hilft zu begreifen, warum der Schriftsteller sechs Jahre lang an diesem fast tausendseitigen Werk gesessen hat. Er ist die Quintessenz eines siebzigjährigen Lebens, das sowohl afrikanische Diktatur als auch westliche Demokratie gesehen hat. Während Ngugi in seinen früheren Romanen realistische Darstellungen der Wirk- lichkeit bevorzugte, ist sein jüngstes Werk eine Allegorie der Macht, eine Satire mit humoristischen Einschüben, eine Fik- tion, in der Magie und Wirklichkeit durcheinander wirbeln. Sie vereint Schelmenroman, Liebesgeschichte und Freiheitskampf - eine Art Märchen und zugleich ein vielstimmiges Lehrstück. Die Protagonisten tragen quasi afrikanische Masken: jede von ihnen symbolisiert - wie im Puppentheater - einen typischen menschlichen Charakterzug, oftmals überspitzt bis ins Lächer- liche. Eines von vielen Beispielen: Um dem Herrscher seine Loyalität zu beweisen, lässt sich einer der Abgeordneten der einzig zu- gelassenen Partei die Augen vergrößern. So kann er die Feinde des Herrschers leichter ausmachen. Dafür wird er zum Staatsminister ernannt. Ein zweiter lässt sich die Zunge ver- längern, um die Ideen des Diktators eloquenter zu vertreten. Er wird Informationsminister: MUSIK: Titel 5 - Kromkronhiko - ca. 1.30' kurz stehen lassen, dann Zit. drüberlegen, drunter liegen las- sen, nach Spr. wieder hochziehen Zit.: "Links vom Herrscher saß ein anderes Kabinettsmitglied ... auch er hatte als wenig herausragender Abgeordneter ange- fangen... Da er nicht über ausreichend Geld verfügte, veräu- ßerte er heimlich den Acker seines Vaters und borgte sich den Rest zusammen, um sich ein Flugticket nach Frankreich und ein Krankenhausbett in Paris zu kaufen, wo er sich die Ohren vergrößern ließ, um, wie er in einer Erklärung mitteilte, besser zu hören und die privatesten Unterhaltungen zwischen Mann und Frau, Kindern und ihren Eltern, Schülern und Lehrern, Priestern und ihren Gemeindemitgliedern, Psychiatern und ihren Patienten belauschen zu können - und dies alles im Dienste des Herrschers. Seine Ohren waren größer als die eines Kaninchens und beständig aufgestellt, um zu jeder Zeit und aus allen Richtungen Gefahren ausmachen zu können. Seine Hingabe blieb nicht unbemerkt. Er wurde Staatsminister und das Ausspionieren der Bevölkerung fiel in seine Zustän- digkeit." MUSIK: kurz wieder hochziehen, ausblenden TAKE 5: engl. O-Ton Ngugi kurz stehen lassen, dann Spr. drüberlegen, am Ende wieder hochziehen Spr.: "Das hat mir viel Spaß gemacht. Eine der interessanten Erfah- rungen des Schreibens, die Magie der Sache besteht doch da- rin, dass man sich Dinge ausdenken kann. Dennoch existieren sie auch in der Realität. So erzähle ich von den chirurgischen Manipulationen verschiedener Organe, um dem Diktator bes- ser dienen zu können. Es gibt tatsächlich viele solcher Manipu- lationen, wenn auch nicht unbedingt im Sinne von körperlichen Veränderungen. Es geht vielmehr um die mentale Chirurgie, wenn Sie so wollen. Die kommt in einer Diktatur häufig vor. Sie wären überrascht, was die Menschen in einer Diktatur alles tun. Leute, von denen Sie annehmen, sie seien mutig, tapfer und freimütig, werden zu Psychopathen. Und andere, die es ablehnen, eine Meinung zu äußern, zeigen plötzlich allergröß- ten Mut." Erz.: Als Gegenspieler des skrupellosen Herrschers, seiner Minister und Polizeichefs, die das fiktive Land Aburiria mit harter Hand regieren, treten Kamiti und Nyawira auf. Er ist Ingenieur, hat in Indien studiert, aber mangels Beziehungen keinen Job. So wird er zum Bettler. Sie, rebellische Tochter aus reichem Haus, arbeitet als Sekretärin bei einem Bauunternehmer. Ihre Na- men haben Symbolcharakter: Kamiti bedeutet in Ngugis Mut- tersprache Gikuyu so viel wie kleine Bäume oder jemand, der aus den Wald stammt und Nyawira heißt übersetzt Arbeiterin. Nyawira wird im Verlauf der Geschichte von Geheimdienst und Polizei gesucht, denn sie ist zur Anführerin einer Oppositions- bewegung geworden. Als Zeichen des Protestes stehen die Leute Schlange. Prompt wird das Schlangestehen landesweit verboten. Nyawira verliebt sich schließlich in Kamiti, als der auf Arbeitssuche im Büro des Bauunternehmers Tajirika auf- taucht. Der reißt sich das Bauvorhaben ,Marching to heaven' unter den Nagel - das größenwahnsinnige Projekt des Herr- schers, sich einen Regierungspalast zu bauen, der bis in den Himmel ragt. Dieser Turmbau zu Babel wird letztlich scheitern. Doch zuvor kassiert der Bauunternehmer erst einmal Beste- chungsgelder all jener, die als Subunternehmer gerne mitma- chen würden. Er wird unermesslich reich und gerät daraufhin in Panik, das ganze schöne Geld wieder zu verlieren. Stattdes- sen verliert er die Sprache - und stottert. Ironie des Schicksals oder besser gesagt ironische Volte des Schriftstellers, dem es an absurden Einfällen nicht fehlt: In seiner Verzweiflung wen- det sich der Bauunternehmer um Rat und Hilfe an einen Zau- berer, den Herrn der Krähen. Das ist ausgerechnet jener Ka- miti, den er zuvor aus seinem Büro gejagt hat. Der Ex- Ingenieur weiß seine wahre Identität gut zu verbergen. Schon bald reihen sich jeden Morgen hunderte vor seiner bescheide- nen Hütte in einem Außenbezirk der Landeshauptstadt auf, um seinen Prophezeiungen zu lauschen. Ngugi sieht sich bei allen wunderlichen und phantastischen, bisweilen märchenhaften Wendungen, die der Roman nimmt und das sind nicht wenige, als Nachfolger der Brüder Grimm. Sie sind für ihn die Erfinder eines magischen Realismus. TAKE 6: engl. O-Ton Ngugi kurz stehen lassen, dann Spr. drüberlegen, am Ende wieder hochziehen Spr.: "Die deutschen Leser werden sich an die Märchen der Gebrü- der Grimm erinnern. Deren Geschichten stecken voller Magie und von dieser Magie spreche ich, wenn es um ,Herr der Krä- hen' geht. Ich nutze dieselbe Art von Magie. Fantastisches zu schreiben, scheint einfach zu sein, ist tatsächlich aber schwer, wenn man versucht, jenes Bewusstsein einzufangen, das über das enge materielle Leben hinausreicht. Der magische Realis- mus in der Tradition der Brüder Grimm steht der Realität viel näher - der Realität, wie der Geist funktioniert. Ich kann in meiner Fantasie an jeden Ort reisen und dann wieder in meine Wohnung in Irvine in Kalifornien zurückkehren. Der magische Realismus, so könnte man es formulieren, stützt sich darauf, wie unser Geist und unsere Fantasie funktionieren. Träume verbinden vieles miteinander oder trennen es. Wenn das, was wir beim Aufwachen sehen oder was im Reich des Unbewus- sten stattfindet, als real angesehen wird, dann benutzt ,Herr der Krähen' eben diese Wirklichkeit innerhalb des Unwirkli- chen." Erz.: Mit ,Herr der Krähen' schlägt Ngugi einen neuen Ton an, dem man in seinen bisherigen Romanen noch nicht begegnet ist. Die waren alle im herkömmlichen Sinne realistisch, stark von den persönlichen Erfahrungen des Autors geprägt, traditionell erzählt. Sein vielstimmiges, grandioses Alterswerk ,Herr der Krähen' kann man wohl als die Summe seiner Lebenserfah- rung ansehen. TAKE 7: engl. O-Ton Ngugi kurz stehen lassen, dann Spr. drüberlegen, am Ende wieder hochziehen Spr.: "Ich würde es so ausdrücken: Die Gejagten erzählen ihre eigene Geschichte. Wenn der Löwe seine Geschichte erzählt, dann wird sie ihn selbst preisen und nicht den Jäger. Viele der Geschichten, die wir über andere Menschen und auch über uns selbst hören, sind vom Standpunkt des Jägers erzählt worden und der ist stets überlegen und Teil der herrschenden sozialen Minorität, der Oberschicht. Wenn wir jetzt auf das Gestern schauen, sehen wir es in einem anderen Licht, denn Jäger und Gejagter können das Gestern nicht auf dieselbe Art und Weise sehen. Das gilt auch für die Gegenwart und deswegen unter- scheiden sich auch beider Vorstellungen von der Zukunft grundsätzlich. Sie prallen aufeinander. Der Jäger will weiter mit Gewinn jagen. Die Gejagten werden sich weiterhin als Ge- jagte fühlen. Diese beiden Haltungen kann man nicht mitei- nander versöhnen. Meine Bücher sind also ein Versuch, die Geschichte Kenias zu erzählen, die Geschichte Afrikas, die Ge- schichte des menschlichen Widerstands, geleitet von einer Äs- thetik des Widerstands." Erz.: Der 74jährige Ngugi ist sich allerdings der Machtlosigkeit des Schriftstellers durchaus bewusst. Die Gesellschaft ist auf sie nicht angewiesen und die Politik kümmert sich, allen Verfol- gungen zum Trotz, kaum um das, was die Literatur ausspricht. Und dennoch ist er überzeugt davon, dass die Menschen ohne die Fantasie, die Künstler und Schriftsteller kennzeichnet, nicht leben können. TAKE 8: engl. O-Ton Ngugi kurz stehen lassen, dann Spr. drüberlegen, am Ende wieder hochziehen Spr.: "Frühere Gesellschaften kannten alle fantasievolle Geschich- ten, Gedichte, Künstler, Bildhauer, Musik als zentralen Be- standteil des Erziehungssystems. Sie haben instinktiv die Wichtigkeit der Fantasie erkannt und das wiederum fördert die Fantasie. Kunst braucht keine Rechtfertigung, keine messbare Wirkung, sie beeinflusst die Fantasie. Es gibt solche, die für die Fantasie gute Anregungen geben und andere, die eher negati- ve Auswirkungen auf sie haben." Erz.: Ngugi wa Thiong'os Werke gehören zweifelsohne zu jenen Kunstwerken, die einen positiven Einfluss haben, noch lange nachwirken werden. Afrikas Literatur verdankt ihm viel. Er hat sie vom kolonialen Erbe befreit, das heißt er hat ihr die Vielfalt der eigenen Sprachen wiedergegeben und sie von der Fixie- rung auf Europas Literatur abgebracht. Mit Ngugi wa Thiong'o hat Afrika eine eigene Stimme gefunden. 21